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Wo in Europa kann man noch wirklich wilde Orte entdecken, Freiheit spüren, Abenteuer erleben? Von dieser Sehnsucht getrieben begeben sich Andreas Winkelmann und Markus Knüfken auf die Suche – und werden fündig. Am Polarkreis in Schwedisch-Lappland, in den Alpen im Val Grande und sogar im Harz. Dort finden sie Gegenden, in denen gepflegte Wanderwege irgendwann genauso aufhören wie der Handy-Empfang. Sie übernachten im Zelt, begegnen wilden Tieren, erleben unberührte Natur, überwinden reißende Flüsse, kämpfen gegen Sturm und Schnee – und gegen die eigenen Ängste.
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Seitenzahl: 201
Andreas Winkelmann
Auf der Suche nach Europas letzten Abenteuern
Wo in Europa kann man noch wirklich wilde Orte entdecken, Freiheit spüren, Abenteuer erleben? Von dieser Sehnsucht getrieben begeben sich Andreas Winkelmann und Markus Knüfken auf die Suche – und werden fündig. Am Polarkreis in Schwedisch Lappland, in den Alpen im Val Grande und sogar im Harz. Dort finden sie Gegenden, in denen gepflegte Wanderwege irgendwann genauso aufhören wie der Handy-Empfang. Sie übernachten im Zelt, begegnen wilden Tieren, erleben unberührte Natur, überwinden reißende Flüsse, kämpfen gegen Sturm und Schnee – und gegen die eigenen Ängste.
Andreas Winkelmann, geboren 1968 in Niedersachsen, ist verheiratet und hat eine Tochter. Er lebt mit seiner Familie in einem einsamen Haus am Waldrand nahe Bremen. Wenn er nicht gerade in menschliche Abgründe abtaucht, überquert er zu Fuß die Alpen, steigt dort auf die höchsten Berge oder fischt und jagt mit Pfeil und Bogen in der Wildnis Kanadas. Mit seinen Thrillern «Das Haus der Mädchen», «Die Lieferung» und «Der Fahrer» eroberte er die Bestsellerliste und begeisterte Hunderttausende Leserinnen und Leser.
Markus Knüfken, 1965 in Essen geboren, zog nach dem Abitur erst nach München und dann in die weite Welt. Er wirkte als Schauspieler in über hundert Filmprojekten, u.a. «Bang Boom Bang», und Krimireihen wie «Notruf Hafenkante» mit. Mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebt er in Hamburg oder in einer alten Fischerkate an der Ostsee.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Alle Fotos im Innenteil © Markus Knüfken und Andreas Winkelmann
Karten Seite 36 und 61 © Peter Palm, Berlin
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung privat
ISBN 978-3-644-00813-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Für Andrea, Lona und Nele, die mir erlauben, den Abenteurer in mir leben zu dürfen.
Dieses Buch ist unter dem Eindruck der Corona-Pandemie entstanden. Es ist ein Gemeinschaftswerk meines Freundes Markus Knüfken und mir, aber wir durften nicht zusammen daran arbeiten, jedenfalls nicht in einem Zimmer. Das Virus hielt Markus an der Ostsee fest und mich in der Mitte Niedersachsens, und als wir so plötzlich und unvermittelt der Möglichkeit des Reisens beraubt waren, wurde uns noch einmal sehr deutlich und eindringlich bewusst, welche Freiheit wir sonst genießen.
Die Freiheit des Reisens.
Noch die entferntesten Orte unseres Planeten sind in kürzester Zeit zu erreichen, irgendwo hinzufliegen ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Doch wir zahlen einen Preis dafür, der möglicherweise viel zu hoch ist. Wir alle lieben das Reisen, und auch Markus und ich sind in den vergangenen Jahren weite Strecken mit dem Flieger unterwegs gewesen. Doch es setzt ein Umdenken ein, und die Corona-Pandemie beschleunigt diesen Prozess noch einmal. Das Virus zwingt uns, innezuhalten und nachzudenken. Ressourcen sind begrenzt, und auch die nachfolgenden Generationen möchten noch genauso angenehm auf der Erde leben wie wir. Das bedeutet nicht, zu Hause zu bleiben. Aber es kann bedeuten, für sich selbst das Reisen anders zu definieren.
Wir wollen und können in diesem Buch nicht auf all die vielfältigen Wünsche und Sehnsüchte eingehen, die wir Menschen in uns tragen, die uns rastlos und erlebnishungrig werden lassen. Aber wir wollen und können Vorschläge machen, wie sich viele dieser Wünsche und Sehnsüchte in einer nachhaltigen, schonenden Art und Weise verwirklichen lassen.
Markus und ich sind immer auf der Suche nach einem Abenteuer, das entspricht unserem Wesen, und wir wissen, vielen anderen geht es ebenso. Abenteuer muss aber nicht bedeuten, teure Expeditionen zu organisieren, sich bis über beide Ohren für Ausrüstung zu verschulden und das Leben aufs Spiel zu setzen. Und man muss dafür auch kein Flugzeug besteigen.
Die Welt ist voll schöner, atemberaubender, skurriler, interessanter und wilder Orte, und manche davon liegen direkt vor unserer Haustür.
Wir haben lange gesucht nach den letzten Abenteuern Europas, und dieses Buch handelt von den Schwierigkeiten und den mitunter haarsträubenden Erlebnissen beim Suchen und Finden. Aber wir können euch versprechen, es gibt sie noch, die wirklich wilden Ecken, in denen normale Menschen wie du und ich Abenteuer erleben können, die uns bereichern und glücklich machen.
Wir möchten euch einladen, uns auf unserer Suche zu folgen, und wenn ihr mögt, tut es uns gleich. Vielleicht findet ihr, was wir gefunden haben. Unfassbar schöne Natur, die uns herausgefordert und an unsere Grenzen geführt hat. Die uns Demut gelehrt und uns den reinen ungefilterten Spaß an einem Leben unter freiem Himmel wiedergegeben hat. Nichts gegen einen Urlaub am Strand oder relaxen unter Palmen, das kann wunderschön sein. Aber draußen unterwegs zu sein, draußen zu schlafen, ein Lagerfeuer zu machen, Essen auf dem Gaskocher zu kochen, Grenzerfahrungen durchzustehen, sich auf sich selbst zu verlassen und über sich selbst hinauszuwachsen, das macht etwas mit dir. Das Leben justiert sich neu, Bedeutungen verschieben sich, du erlebst Glücksmomente viel intensiver und nachhaltiger. Gar kein Vergleich zu den kurzen Momenten nach einem Shoppingrausch. Und dann spürst du ein wildes, ungezwungenes, einzigartiges Leben in dir, denn es steckt in jedem von uns, wartet nur darauf, einmal ausbrechen zu dürfen.
Lass es raus!
Sei Mensch!
Wilder wird’s nicht!
Markus und Andreas
Im Dezember 2020
Die Suche nach den letzten Abenteuern Europas hat uns in die Hölle geführt, und die ist ganz anders, als ich sie mir immer vorgestellt habe.
Zum einen liegt sie vor der Haustür, zum anderen ist sie weiß und kalt. Und auch wenn es kein erbaulicher Gedanke ist, im Fegefeuer zu verglühen, wünsche ich es mir in diesem Moment ein bisschen, denn dann wäre mir wenigstens warm. Doch hier draußen werden keine Wünsche erfüllt. Markus und meine schon gleich gar nicht, weil wir dumm genug gewesen waren, trotz aller Warnungen loszulaufen. Selbst schuld, höre ich die Bergretter sagen, die im Frühjahr unsere steif gefrorenen Leichen aus dem Eis kratzen. Aber wie hätten wir auch wissen können, dass eines unserer größten Abenteuer an diesem unwahrscheinlichen Ort lauert!
Der Sturm schaukelt sich zu immer stärkeren Böen auf, die uns den Schnee schaufelweise ins Gesicht treiben. Kleine, scharfkantige Flocken sind das, und ich muss daran denken, dass ebensolche Eiskristalle die Ursache für Schneeblindheit sein können, da sie einem die Hornhaut von den Pupillen raspeln. Natürlich kann man sich dagegen schützen, mit einer Schneebrille, und ich besitze auch eine, aber die liegt sauber und ordentlich zu Hause in der Schublade. Für diese Tour haben wir nur dabei, was man für eine Tagestour benötigt, für einen Spaziergang sozusagen, und so ist auch Markus den Unbilden der Natur schutzlos ausgeliefert. Schräg gegen den Sturm gelehnt, den Kopf tief gesenkt, einen Fuß vor den anderen setzend, gehen wir langsam voran … aber nicht einmal das ist einfach. Denn mittlerweile versperren brusthohe Schneewehen den Anstieg zum Gipfel, immer wieder sinken wir knietief ein, und es ist ein Kraftakt, den Fuß herauszuziehen, nur um ihn dann wieder zu versenken.
Seit erst gut drei Stunden sind wir unterwegs, wir haben quasi noch den Kaffeegeschmack vom Frühstück auf den Lippen, sind mit unserer Kraft aber bereits am Ende. Leider haben wir noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft, und mir schwant Böses, wenn ich an die zweite Hälfte denke. Die Steigung wird zunehmen, zudem ist der Weg in der Nähe des Gipfels um einiges ausgesetzter, der Sturm damit noch stärker.
Furcht überkommt mich.
Angefeuert von Selbstvorwürfen.
Warum tust du dir das an?
Warum liegst du jetzt nicht zu Hause auf der Couch und liest ein gutes Buch?
Warum hörst du nie auf Warnungen?
Warum gehst du immer wieder an diese wilden Orte?
Diese Fragen stelle ich mir nicht zum ersten Mal. Zuverlässig poppen sie immer dann auf, wenn ich mich in ähnlich brenzligen Situationen befinde – gelernt habe ich daraus aber nichts.
Ich habe eine wilde Seele, die durch nichts zu bändigen ist, zudem vergesse ich schnell die Angst, den Schmerz, das Leid einer solchen Tour. Außerdem habe ich eine Heidenangst vor Langeweile, mehr noch als vor dem Tod. Das ist ein Grund, warum ich bei Zombiefilmen mit den Zombies leide und nicht mit den Menschen. Das Dasein eines Zombies muss entsetzlich langweilig sein, und ich will nicht so durchs Leben gehen. Lieber erfriere ich hier draußen oder werde von einer Lawine den Hang hinabgeschleudert.
Die Chancen dafür stehen gut.
Ich gebe es nicht gern zu, noch nicht einmal mir selbst gegenüber, aber leugnen lässt es sich auch nicht mehr: Wir sind in den schlimmsten Whiteout geraten, den ich je erlebt habe, und unser Überleben hängt von einem Quäntchen Glück ab. Es liegt nicht mehr in unserer Hand. Und das Absurde daran ist, wir werden mehr oder weniger im eigenen Vorgarten sterben und posthum nicht mit einer heldenhaften Abenteurergeschichte à la Alexander Supertramp verewigt werden.
In diesen Minuten begreife ich, dass es wilde Ecken und echte Abenteuer doch noch vor der Haustür gibt. Man muss nicht in den Flieger steigen, sich keiner Expedition anschließen, die Natur nicht misshandeln, sein Bankkonto nicht plündern, kein austrainierter Athlet in sündhaft teurer Ausrüstung sein. Es reicht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Ich fluche laut vor mich hin, um mir Mut zu machen, kann aber meine eigenen Worte nicht hören. Markus ruft mir etwas zu, doch ihn kann ich auch nicht verstehen. Der Sturm dröhnt. Er ist die Stimme der alten Götter dieser Welt, wütend brüllen sie mir ins Ohr, ihre Sprache ist fremdartig, zugleich aber irgendwie auch vertraut.
Woran erinnert sie mich nur?
… Schnarchen?!
Der Boden bebt unter diesem Schnarchen.
Das allein ist schlimm genug, aber die zum Schnarcher gehörende Nase steckt in meinem rechten Ohr. Nicht wirklich tief drin, aber es reicht, um mich aus meinen traumatischen Erinnerungen zu reißen und mir die Grausamkeit der Realität vor Augen, Ohren und Nase zu führen.
Ich stapfe nicht durch tiefen Schnee, kämpfe nicht gegen Sturmböen an, sondern liege im Matratzenlager der Memminger Hütte auf 2242 Meter Höhe über dem Parseiertal in den österreichischen Alpen. In der Beschreibung steht, die Hütte liege wildromantisch in einem wunderschönen Hochtal neben dem glasklaren Seewisee. Und das stimmt auch, aber hier im Matratzenlager bekommt man davon nichts mit.
Für den Fall, dass es Menschen gibt, die noch nie in einem solchen Lager übernachtet haben, möchte ich es kurz beschreiben. Stellt euch einen zwar großen, aber niedrigen Raum im Dachgeschoss eines uralten Hauses vor. In der Mitte ein schmaler Gang, rechts und links davon Liegeplatz neben Liegeplatz. Man schläft dort aber nicht getrennt voneinander, sondern dicht beieinander in Reih und Glied auf einer endlos langen Matratze, wie die Sardinen in der Büchse. Zu beiden Seiten ein unbekannter Mitschläfer, und wenn man einmal den Fehler begeht, sich aus der Rückenlage auf die Seite zu drehen, ist die Chance vertan, sich in dieser Nacht wieder zurückzudrehen. Die Löffelchenstellung ist mit der richtigen Partnerin oder dem richtigen Partner eine wunderschöne Sache, hier aber ist sie einfach nur schrecklich!
Das Lager ist proppenvoll. Ich denke, von den 120 Plätzen sind 140 belegt. Männlein und Weiblein wild durcheinander, mitunter halb übereinander, und das vielstimmige Schnarchkonzert lässt das Fundament der Hütte erbeben. Die Nase meines Lagernachbarn – es handelt sich übrigens um eine Frau – hat sich in meinen Gehörgang gebohrt, als sie sich umdrehte, aber das ist bei weitem nicht das einzige Problem.
Der Weg herauf zur Memminger Hütte vom Talort Bach über Madau dauert fünf Stunden und ist anstrengend. Heute hat uns dazu noch die Sonne geröstet. Alle 140 Wanderer haben ordentlich in ihre Kleidung und Bergstiefel geschwitzt, und weil es am Abend zu regnen begonnen hat, fristet die Wäscheleine draußen vor der Hütte ein ungenutztes Dasein. Dafür ist im gesamten Schlaflager überall Funktionswäsche aus Polyester und anderen geruchsintensiven Materialien zum Ausdünsten aufgehängt. Und wenn ich schreibe «überall», dann meine ich das auch so. Sie hängt an den wenigen dafür geeigneten Haken, aber auch an Lampen, auf Kanten, an Bettpfosten, auf Schnürsenkeln, die besonders Pfiffige irgendwo aufgespannt haben – es sieht aus wie nach einer Rabattschlacht bei Primark.
Stiefel, die im Schuhraum keinen Platz mehr gefunden haben, stehen paarweise herum. Die nassgeschwitzten Einlagen hängen heraus wie nekrotische Zungen. Und als würden diese Ausdünstungen nicht reichen, kommen noch die Verdauungsgase hinzu, die dem deftigen, mit Hefeweizen heruntergespülten Abendessen geschuldet sind. Diese obergärige Mischung muss natürlich irgendwann den Körper verlassen.
Gegen die olfaktorische Belästigung kann man sich nicht schützen, aber es empfiehlt sich dringend, Gehörschutz einzupacken, wenn man auf eine Hüttentour geht. Wiegt nicht viel, bringt aber eine Menge, denn Nachtschlaf ist wichtig.
Ich rücke zwei Zentimeter von meiner Matratzennachbarin fort, damit ich keinen Tinnitus davontrage. Dann richte ich mich auf und suche im Halbdunkel des beginnenden Morgens nach meinen Freund Markus, mit dem ich diese Alpenüberquerung auf dem legendären Fernwanderweg E5 mache. Ich habe ihn dazu überreden müssen. Er wollte lieber woandershin, und jetzt fühle ich mich ein bisschen schuldig.
Markus ist ebenfalls schon wach. Stocksteif liegt er auf dem Rücken, die Arme dicht am Körper. Er hat noch weniger Platz als ich, denn sein Nachbar zur Rechten ist ein echter Kaventsmann, wie wir im Norden sagen. Markus wirkt gequält, seine Gesichtsfarbe hat einen Stich ins Orange, aber das kann auch am Licht liegen.
Wortlos verabreden wir uns zur Flucht …
Legt euch unbedingt Unterwäsche und Shirts aus Merinowolle zu. Die gibt es in jedem guten Outdoor-Laden von den verschiedensten Herstellern. Die Sachen sind nicht ganz billig, aber das Geld ist besser investiert als in eine maßlos überteuerte Regenhose. Mit zwei Shirts, zwei Unterhosen und zwei Paar Socken aus Merinowolle kann man ohne Probleme vierzehn Tage am Stück wandern, ohne die Wäsche waschen zu müssen. Denn Merinowolle verfügt über einen natürlichen Schutz gegen Geruch. Ihr tut euch und euren Mitmenschen einen großen Gefallen damit!
Merinowolle wird vom Merinoschaf gewonnen, größter Produzent ist Australien. Achtet aber bitte darauf, dass die Wolle aus Neuseeland, Südafrika oder Argentinien stammt, denn dort ist das sogenannte «Mulesing» der Schafe verboten bzw. nicht üblich. Leider ist nur zehn Prozent der Merinowolle aus Australien mulesingfrei. Mulesing ist ein großes Tierschutzproblem, den Schafen wird dabei furchtbares Leid zugefügt. Ich möchte hier nicht näher beschreiben, worum es dabei geht – nur für den Fall, dass jemand einen empfindlichen Magen hat.
Es ist noch sehr früh, die Sonne hinter den Berggipfeln noch nicht zu sehen. Die Wärmegewitter des gestrigen Abends sind abgezogen, und der wolkenlose Himmel schürt die Hoffnung auf einen wunderschönen Tag.
Ich weiß nicht, ob es an dem Matratzenlager-Trauma liegt, aber mir kommt die Luft außergewöhnlich klar vor, so als wären wir nicht auf knapp dreitausend Metern in den Alpen, sondern auf sechstausend Metern im Himalaja. Da ist nichts zwischen uns und dem Horizont, er scheint zum Greifen nahe, und der Blick über die umliegenden Berge lässt mein Herz gleichmäßiger schlagen und meinen Atem ruhiger werden. Berge hatten schon immer diese Wirkung auf mich, keine Ahnung, woher das kommt, denn in meiner Familie gab es niemanden, der in die Berge zog.
Bis zum Frühstück halten Markus und ich uns draußen auf. Wir schlendern zur Hütte des großen grünen Steinbeißers, der dort oben lebt, und besprechen, sofort nach dem Frühstück aufzubrechen. Als wir dann aber sehen, wie viele Wanderer sich zeitgleich auf den Weiterweg machen, beschließen wir, dass wir uns weder von der Masse treiben lassen noch ihr hinterherlaufen wollen. Herumsitzen und warten wollen wir aber auch nicht, das entspricht nicht unserem Naturell.
Was tun?
Wir reden mit dem Hüttenwirt, erklären unser Dilemma und unseren Wunsch nach Ruhe und Einsamkeit auf dem Weg.
«Tja, Jungs, dann dürft ihr nicht auf dem E5 laufen. Das ist sozusagen der Jakobsweg der Alpen. Oder ihr hättet vor zehn Jahren kommen müssen, da gab es hier droben noch a Ruhe und a Frieden …»
Der Blick des Hüttenwirts geht sehnsüchtig zu den benachbarten Gipfeln hinauf, und ich erkenne, dass er unter dem täglichen Ansturm über die Sommermonate mindestens genauso leidet wie wir.
Ich behalte für mich, dass ich tatsächlich vor zehn Jahren zum ersten Mal zu Fuß über die Alpen gestiegen bin. 2010 war das, damals ließ ich gerade mein altes Leben als Taxifahrer hinter mir und stürzte mich in ein neues Leben als Schriftsteller. Nach langen und harten Jahren mit einem Verdienst, der weit unter dem lag, was heute als Mindestlohn gilt, schien mein Lebenstraum endlich in Erfüllung zu gehen. Die ersten beiden Bücher, Tief im Wald und unter der Erde sowie Hänschen klein, hatten sich gut verkauft, und ich hatte einen Vertrag für zwei weitere Bücher bekommen. Endlich konnte ich den Schritt in die Selbständigkeit als freier Autor wagen. Diese neue Ära wollte ich mit einem 12-tägigen Marsch über die Alpen beginnen. Von Oberstdorf nach Bozen. Allein. Um begreifen zu können, was gerade mit mir geschah, mich neu auszurichten, Kraft und Mut zu tanken.
Damals war es wirklich ruhig und einsam, und ich muss noch heute oft daran denken, wie frei, ungebunden und wild ich mich gefühlt habe. Ich hatte ein Zelt dabei und habe einige Nächte draußen verbracht, dort wo es ging. Zweimal wurde ich fortgescheucht, weil wildes Campen in Österreich verboten ist – Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo sie dem Geschäftsmodell der Hütteninfrastruktur schadet.
«Nehmt euch zwei Stunden Zeit und besteigt unsere drei Hausgipfel», rät uns der Hüttenwirt. «Die drei Seeköpfe. Hinterer, Vorderer und Mittlerer Seekopf. Da droben ist koa Mensch. Und wenn ihr damit fertig seid, lauft ihr weiter mit der Herde nach Bozen!»
Markus’ Blick folgt der Perlenschnur von Wanderern, die sich über die schneebedeckte Flanke des Berges hinauf zur Seescharte zieht, dem Übergang nach Zams, das ist der nächste Talort auf unserem Weg über die Alpen. Wir schauen uns an, nicken uns wortlos zu.
Rucksack geschultert, und los geht’s.
Wir wandern am großen Unteren Seewisee vorbei und geraten unversehens zwischen grasende Steinböcke. Imposante männliche Tiere sind darunter, mindestens einhundert Kilo schwer und mit mächtigen Hörnern. Wir halten Abstand, weil wir nicht wissen, wie sie reagieren, aber sie nehmen uns lediglich gelassen zur Kenntnis. Über ein steiles Schotterfeld und eine anschließende Felsscharte kommen wir zum Mittleren Seewisee, der in einer grandiosen Schlucht ruht. Schließlich steigen wir aus deren Schatten heraus und erreichen den 2718 Meter hohen Hinteren Seekopf.
Es ist gerade einmal zehn Uhr, der Himmel wolkenlos blau, die Aussicht phantastisch. Wir setzen uns auf einen Felsen und unterhalten uns bei einem zünftigen, mehltrockenen Müsliriegel über die entsetzliche Nacht im Matratzenlager.
«Das hat doch alles wenig mit Abenteuer, Wildnis und Freiheit zu tun», befindet Markus.
Er hat recht. Ich gehe den alpinen Teil des Fernwanderweges E5 dieses Jahr zum dritten Mal und muss feststellen, dass die Faszination mit jedem Mal weniger geworden ist.
Markus und ich kennen uns noch nicht lange, und dies ist unsere erste gemeinsame Tour. Kennengelernt haben wir uns bei den Trailer-Dreharbeiten für einen Film, zu dem ich das Drehbuch geschrieben habe. Wir hatten schnell einen guten Draht zueinander, und als wir dann herausfanden, dass wir beide Outdoor-Fanatiker sind, war die Idee für eine gemeinsame Tour geboren. Aus dem Film ist leider nie etwas geworden, aber immerhin sind wir beide seitdem befreundet. Das ist viel wert, denn wir sind beide um die fünfzig Jahre alt, ein Alter, in dem man sich gemeinhin keine neuen Freunde mehr sucht. Aber das Schicksal hatte entschieden, dass wir gut zusammenpassen, und dem Schicksal kann man vertrauen.
Markus, seit vielen Jahren ein erfolgreicher Schauspieler, sollte in dem Film einen alkoholabhängigen Ex-Profiler spielen, und ich werde nie den Moment vergessen, als ich ihn bei der ersten Szene beobachtete, nachdem der Regisseur die Klappe geschlagen hatte. Plötzlich war er ein anderer Mensch, und ich war tief beeindruckt von seiner Leistung. Er spielte und sagte, was ich zuvor geschrieben hatte, und zwar genau so, wie ich es mir in meinem inneren Kino vorgestellt hatte.
Viel mehr noch als für die Schauspielerei schlägt Markus’ Herz aber für die Natur. Er war schon auf der ganzen Welt unterwegs, von Neuseeland bis Mordor und wieder zurück.
«Kannst du dich noch an den Artikel aus dem Outdoor-Magazin erinnern?», fragt mich Markus. «Ich habe ihn dir gemailt, als wir auf der Suche nach einem Ziel für unsere erste gemeinsame Wanderung waren.»
«Den über den Sarek-Nationalpark?», frage ich.
«Genau. Weißt du auch noch die Überschrift?»
Ich schüttele den Kopf.
«Europas letzte Wildnis», sagt Markus, und in seiner Stimme schwingt Sehnsucht und Abenteuerlust mit.
«Vielleicht hätten wir lieber dorthin gehen sollen.»
Blick auf das Hochtal mit der Memminger Hütte und dem Seewisee.
Der Europäische Fernwanderweg E5 führt von der Atlantikküste Frankreichs in der Bretagne bei Pointe du Raz nach Verona in Italien. Das alpine Teilstück von Oberstdorf nach Bozen ist als Alpenüberquerung sehr bekannt.
Markus und ich gehen nicht den kompletten E5, sondern nur das alpine Teilstück, und auch nur eine leicht verkürzte Variante, die im Schnalstal endet statt in Bozen.
Die nächsten Wandertage nach der Memminger Hütte sind alles in allem wirklich schön, auch wenn die Nächte in den Hütten eine Belastungsprobe bleiben – und ihren Höhepunkt in der heillos überfüllten Braunschweiger Hütte finden. Sie liegt in den Ötztaler Alpen bei Mittelberg auf 2759 Meter ü.A. und verfügt über 56 Betten, 127 Lagerplätze sowie 15 Notlager.
Beim Abendessen ist es so laut, dass man brüllen muss, um sich zu unterhalten. Wir sitzen mit drei Jungs Anfang zwanzig zusammen, von denen einer Markus erkennt, weil der Vater des Jungen Regisseur eines Films war, in dem Markus mitgewirkt hat. Ich habe bis zu diesem Tag zwölf Bücher veröffentlicht, aber mich erkennt niemand … Na ja.
Nach dem Abendessen fällt das Pumpensystem der Toiletten aus, und alle Gäste müssen sich ein einziges Plumpsklo teilen, dessen Tür sich nicht verschließen lässt. Die Schlange ist lang, und jeder bekommt die Geräusche mit, die man auf einem Klo halt so macht. Jetzt bin ich froh, dass mich hier niemand kennt.
Ich halte mich an einen Rat meiner Lektorin, dass nicht jedes Grauen bis in alle Einzelheiten beschrieben werden muss, und sehe davon ab, die Nacht näher zu schildern.
Am nächsten Morgen sind wir unter den Ersten beim Frühstück und verlassen danach geschwind die Hütte und steigen hinauf zum Pitztaler Jöchl auf 2995 Metern. Dabei holen wir einen jungen Mann ein, der statt eines Rucksacks sein Mountainbike auf der Schulter trägt. Auf Nachfrage versichert er, in einem Führer gelesen zu haben, diese Gegend sei ideal für Downhill-Touren. Kopfschüttelnd lassen wir diesen Verrückten hinter uns. Ich bin mir sicher, er wird sein Fahrrad den ganzen Weg ins Ötztal hinuntertragen.
Von Pitztaler Jöchl hat man bei gutem Wetter einen wunderschönen Ausblick auf die vollkommen verbaute und brutal misshandelte Bergwelt des Ötztals. Straßen, Skilifte, Beton, Tunnel, Parkplätze. Man kann nicht nur, man sollte wütend werden, wenn man sieht, was der Ski-Tourismus mit den Bergen anstellt. Und man sollte es anprangern, immer wieder! Gerade in den voranschreitenden Zeiten des Klimawandels muss man hinterfragen, ob diese Art von Freizeitspaß noch tolerierbar ist. Wenn nicht genügend natürlicher Schnee fällt, laufen Dutzende Schneekanonen, die mit ihren Abgasen den Klimawandel beschleunigen, der dann wiederum durch die Erderwärmung für weniger Schnee sorgt … Den verheerenden Kreislauf, den wir Menschen in Gang gesetzt haben, kann man gerade hier sehr gut erkennen.