Wildes Vergessen - Steph Jagger - E-Book

Wildes Vergessen E-Book

Steph Jagger

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Beschreibung

Wie eine Tochter ihre Mutter kennenlernt, während diese sie nach und nach vergisst...  Steph Jagger hatte nie das beste Verhältnis zu ihrer Mutter. Doch mit einem Mal muss sie miterleben, wie die Erinnerungen  v on sich und ihren Liebsten  der Frau ,  die sie geliebt und großgezogen hat, unter dem Einfluss ihrer Demenzerkrankung mehr und mehr verschwinden. Wie viel weiß sie als Tochter eigentlich selbst von ihrer Mutter? Die beiden begeben sich auf eine (erste und letzte) gemeinsame Reise in die Wildnis der Nationalparks von Wyoming und Montana – auf einen Campingtrip, der schöne und traurige Erinnerungen weckt, aber auch neue Momente des Glücks und der Versöhnung schafft. Ein schonungslos ehrlicher und erstaunlich erkenntnisreicher persönlicher Blick auf die Krankheit Demenz und eine alles verändernde Reise.

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Seitenzahl: 317

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Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

POLYGLOTT ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Die Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel »Everything Left to Remember: My Mother, Our Memories, and a Journey Through the Rocky Mountains« bei Flatiron Books erschienen.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Anne-Katrin Scheiter

Übersetzer: Christa Prummer-Lehmair, Heide Horn

Lektorat: Dr. Katharina Theml

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

eBook-Herstellung: Vicki Braun

ISBN 978-3-8464-0963-3

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: Gisela Goppel

Fotos: Gretchen Powers

Syndication: www.seasons.agency

GuU 4-0963 01_2023_06

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GRÄFE UND UNZER VERLAG

»Zu Beginn unserer Reise hatte meine Mutter

im hinteren Teil unseres Reiseführers einige Seiten

mit Landkarten entdeckt. Sofort hatte sie bemerkt, wie praktisch sie wären. Ich stimmte ihr zu, obwohl ich wusste, dass wir sie nicht brauchen würden. Schließlich hatte ich mein Smartphone, das über eine GPS-Funktion verfügte.

Jedes Mal, wenn wir ins Auto stiegen, fragte sie nach diesen Karten, und ich erfüllte ihr nur allzu gern ihre Bitte. In meinen Augen war das die perfekte Ablenkung – das Alzheimer-Roadtrip-Pendant dazu, einem Kind ein iPad mit all seinen Lieblingsvideos zu geben.

Doch ich irrte mich. Die ganze Situation gab mir das Gefühl, mit Siri zu reisen, nur dass Siri ständig vergaß, wo wir waren, wohin wir fuhren und welche Karte sie benutzen sollte.«

Für meine Mutter

Die Art und Weise, wie du dich offenbart hast, während du gleichzeitig verschwandest, hat mich mehr gelehrt als die Sonne und der Mond und der Rhythmus des Ozeans.

Wenn wir geboren werden, tragen wir bereits Anweisungen und eine Landkarte in unserem Herzen.

PrologBlätter aufsammeln

Meine Mutter hat eine Geschichte, die sie seit 1966 mit sich herumträgt und tief in ihrem Innern verschlossen hat. Und sie hat Alzheimer. Von dem Moment ihrer Diagnose an spürte ich, dass diese beiden Dinge – ihre Krankheit und diese Geschichte – untrennbar miteinander verbunden waren. Sie schienen zu einem dicken Seil verknüpft zu sein, und ich hatte das Gefühl, wenn ich es nur aufdröseln könnte, würde ihr das helfen, sich zu befreien.

Bereits bei meiner Geburt war die Geschichte meiner Mutter in der Doppelhelix meiner DNA festgeschrieben. Wie ein tief in der Erde schlummernder Samen, der vom Garten meiner Mutter in meinen gelangt war.

Sie gehörte zu meinem Vertrag, war das Kleingedruckte, ausgehandelt vom Universum, meiner Mutter und Teilen meiner Seele, bevor ich in ihre Arme gelegt werden durfte.

Meine Mutter verlor kaum je ein Wort darüber – dass sie von meinem Vater schwanger wurde, als sie noch nicht verheiratet waren, dass sie das Kind zur Adoption freigab und ihr jugendlicher Fehltritt jahrzehntelang vertuscht wurde. Sie sprach auch nicht darüber, was sie dabei empfand – oder ob und wann sie überhaupt Gefühle zugelassen hatte. Ihre lebenslange Abneigung gegen Worte und schließlich ihre Alzheimer-Erkrankung verhinderten das. Stattdessen übergab sie mir diese Geschichte als Teil meines Erbes.

Während ich heranwuchs, ahnte ich noch nicht, dass das Erzählen ihrer Geschichte meine Aufgabe sein würde. Als Zwölfjährige sah ich meinen Daseinszweck eher darin, glitzernde Plastiksandalen zu tragen und ungefragt meine Meinung zu verkünden. (Irgendwie entwickelte ich auf dem Weg zum Erwachsenwerden eine gesunde Portion Selbstbewusstsein und eine Art tollkühnen Mut, aber das nur am Rande.)

Meine Aufgabe wurde mir erst 25 Jahre später klar, als ich mit meiner Mutter im Wald spazieren ging. Sie blieb mitten auf dem Weg stehen und sagte mir ganz genau, was ich zu tun hatte.

Es war ein klarer Tag Anfang November, Strahlen aus dunstigem Licht tanzten zwischen den großblättrigen Ahornbäumen, die rote und gelbe Wegweiser für uns abwarfen.

»Was hältst du davon, wenn ich ein Buch über uns schreibe?«, fragte ich, als wir den für mich schönsten Abschnitt des Weges erreichten. »Über dich?«

»Ein Buch über mich?«, erwiderte sie überrascht. »Aber an mir ist doch nichts besonders interessant.«

Und dann blieb sie abrupt stehen. Sie überlegte. Ihr dabei zuzusehen, war inzwischen so ähnlich wie ein kleines Kind mit einer Sortierbox zu beobachten: der langsame und eher unpräzise Versuch, den blauen Baustein ins dafür vorgesehene Loch zu stecken, bevor es sich dem kleinen roten Würfel zuwandte.

»Würde ich …« Langsam schaffte es ihr Gehirn, die Frage zu formulieren. »Würde ich irgendetwas davon selbst schreiben müssen?«

»Nein, Mom«, antwortete ich. »Du musst kein einziges Wort schreiben.«

Sie sah mich an, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Lächelnd streckte sie die Arme aus, nahm meine Hände und drückte sie.

»Oh, gut. Ich gehe einfach, und du schreibst.«

Und mit diesen Worten lief sie flott weiter.

Ich war sicher, sie würde noch mehr dazu sagen, aber das tat sie nicht.

Unser Weg führte durch ein Wäldchen mit besonders hohen Ahornbäumen, unter denen hie und da Blätter verstreut lagen. Ich hob eines auf und reichte es meiner Mutter, als sei es ein großer orangefarbener Luftballon an einer Schnur. Es dauerte nicht lange, bis sie ein Versteckspiel begann, indem sie sich das Blatt vors Gesicht hielt und mit einem »Kuckuck« ruckartig dahinter hervorspähte.

»Da bin ich!«, sagte sie lachend.

Beim zweiten Mal fiel ihr das Blatt aus der Hand und segelte zu Boden. Ich hob es auf und gab es ihr zurück.

»Das ist deine Aufgabe«, sagte sie. In diesem Moment wirkte sie ungewöhnlich klar.

»Was?«, fragte ich.

»All die Blätter aufzusammeln, die ich fallen gelassen habe.«

Einige Zeit nach der Alzheimer-Diagnose meiner Mutter und eine ganze Weile vor diesem Waldspaziergang hatten meine Mutter und ich eine gemeinsame Reise unternommen – wir waren zwei Wochen lang unterwegs, besuchten eine Reihe von Nationalparks und zelteten. Zu dieser Zeit wollte ich unbedingt mehr über ihr Leben erfahren, alles über meine Mutter wissen, es brannte mir förmlich unter den Nägeln. Die Vorstellung, dass Alzheimer einen Teil ihres Wesens raubte, bevor ich das Gesamtbild kannte, war mir unerträglich, zumal ich immer schon gespürt hatte, dass da etwas fehlte.

Es gab so vieles an meiner Mutter, was ich nicht verstand. Ein ganz bestimmtes Puzzleteil entzog sich meiner Kenntnis – was vor und nach der Geburt meines ältesten Bruders 1966 passiert war. Aber es kam mir auch so vor, als würde sie generell Dinge verschleiern.

Ich konnte es nicht benennen. Ich hatte keine Worte für das, was meinem Gefühl nach zurückgehalten wurde. Aber das Gefühl war da, und im Laufe der Jahre sagte es mir immer wieder, dass ein bestimmter Teil meiner Mutter für mich – und vielleicht sogar für sie selbst – unerreichbar war.

Der innige Wunsch, mehr von meiner Mutter zu erfahren, hatte schon lange bestanden, aber nach ihrer Diagnose verwandelte sich der eher dumpfe Schmerz in ein heftiges Brennen.

Ich wollte alles über sie wissen – wer sie gewesen war, was sie empfunden hatte, die Summe ihrer Einzelteile –, und diese gemeinsame Reise war so etwas wie meine letzte Chance, ein kurzer Moment, in dem meine Mutter schon etwas von ihrem Filter eingebüßt hatte, aber noch bei einigermaßen klarem Verstand war. Also nahm ich sie bei der Hand, um gemeinsam mit ihr durch die Wildnis zu wandern.

Manchmal werden uns die Geschichten unserer Mütter und Väter, ihrer Vorfahren und wiederum deren Vorfahren geschenkt. Ein Bündel aus Worten, niedergeschrieben oder ausgesprochen, die uns sagen, wo wir herkommen, wer diese Menschen wirklich waren und aus welchem Stoff sie gemacht sind. Ein anderes Mal wiederum müssen wir abwarten, bis die Geschichten aus den tiefen Schichten in uns selbst oder um uns herum aufsteigen, von den Orten, an denen sie begraben, zur Ruhe gebettet wurden. Wir müssen nach diesen Geschichten Ausschau halten – ihren winzigen, kaum wahrnehmbaren Sporen, die sich nach den Stürmen des Lebens in der Luft verteilt und uns in feinen Nebel gehüllt haben.

Ich wusste nicht, wie ich eine Geschichte in Worte fassen sollte, für die es keine Worte gab. Ich wusste nicht, wie ich die Blätter meiner Mutter aufsammeln und aus ihnen schlau werden sollte, wie ich die Sporen aus der Luft, die ich einatmete, herausfiltern sollte. Doch meine Mutter gab mir die Antwort. Denn der Schlüssel dazu lag in der Sprache, der beredten Wortlosigkeit, die sie mich auf unserer gemeinsamen Reise lehrte, lag in allem, was ein Schweigen aussagen kann.

Wir hatten eine klare Abmachung. Meine Mutter lebte die Geschichte, ich würde sie schreiben.

Es würde eine Art Gebrauchsanweisung sein, ein Reiseführer zur Befreiung meiner Mutter. Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste: Dieser Reiseführer enthielt auch Anweisungen für mich selbst.

1Eine Familienkonstellation

Es dauerte elf Monate, bis ich den Riss im Gewebe bemerkte, und acht Worte sorgten dafür, dass es mitten entzweiriss. Elf Monate und acht Worte.

Im Juni 2015 wurde bei meiner Mutter Alzheimer diagnostiziert. So entstand der erste Riss in unserem gemeinsamen Gewebe – die Diagnose war der Nagel, der sich im Stoff verhakte und an seinen Fäden zerrte.

Damals hatte ich noch nicht verstanden, wie stark meine Mutter und ich miteinander verbunden waren, auf welch komplexe Weise unsere Säume vernäht waren und dass sich, wenn man an einem Faden zog, eine andere Stelle auftrennen würde.

Ich sagte mir, ich könne damit umgehen, dass ihre Säume und Synapsen in Auflösung begriffen waren. Ich sagte mir, meine Säume und Synapsen seien davon nicht betroffen. Das tat ich mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der keinerlei Ahnung hat.

Es sollte elf Monate dauern, bis mir klar wurde, dass das nicht stimmte. Bis ich erkannte, dass die Fülle an Fragen, die die Erkrankung meiner Mutter aufwarf, in direktem Zusammenhang mit den Fragen zu meinem eigenen Leben standen. Bis ich die Schichten von Wut entdeckte, die unbenannt und unausgesprochen zwischen uns beiden lagen.

Es dauerte bis zu dem Augenblick, in dem meine Therapeutin Sara etwas sehr Offensichtliches und Schmerzhaftes zu mir sagte: »Sie glauben, Sie sind größer als Ihre Mutter.«

Ich hörte, wie das Gewebe riss. Sofort wandte ich den Blick von Sara ab und heftete ihn auf meine Schuhe. Es ist nämlich sehr schwer, Blickkontakt zu halten, während man merkt, wie man innerlich in Stücke zerfällt.

Ich weiß nicht, wie viele Sekunden oder Minuten vergingen, aber irgendwann wiederholte sie: »Sie glauben, Sie sind größer als Ihre Mutter.«

Es war keine Frage, die ich beantworten sollte, doch ich wusste, Sara wartete auf eine Bestätigung, irgendein Zeichen von mir, dass ich ihr recht gab.

Mein Körper gab die Antwort, noch bevor mein Gehirn die Chance hatte, Saras Bemerkung zu verarbeiten. Ich hatte die Augen niedergeschlagen, Tränen quollen unter den Lidern hervor. Mein Magen verkrampfte sich. Das Einzige, was mich aufrechterhielt, war die Anspannung in meinen Schultern, die mich nach oben zog und nicht nachlassen wollte.

Ich biss mir auf die Innenseite der Unterlippe, während mein Unbehagen wuchs. Als ich Saras Blick begegnete, spürte ich wieder eine Träne über mein Gesicht rinnen.

»Das dachte ich mir«, meinte sie.

Sanft wiegte ich mich auf den Füßen vor und zurück. Es war eine kaum merkliche Gewichtsverlagerung von den Fersen auf die Zehen. Meine Handflächen ruhten auf den Oberschenkeln, und die Finger meiner rechten Hand zeichneten kleine Kreise auf den Stoff meiner Hose. Alles – das Wiegen und die Kreise auf den Jeans – diente dazu, mich selbst zu beruhigen, es waren Bewegungen, die ich auch von meiner Mutter und meiner Großmutter kannte. Und ich bekam eine Gänsehaut, als mir klar wurde, dass ich nun diejenige war, die diese Bewegungen vollführte.

Meine Körpersignale waren für Sara Bestätigung genug. Zwischen Körper und Gehirn besteht eine interessante Verbindung. Der Erstere bereitet den Raum, den das Letztere für das Begreifen benötigt.

»Tief atmen«, sagte Sara, nachdem ich mir die Tränen vom Gesicht gewischt hatte.

»Es geht mir gut«, erwiderte ich. »Es geht mir gut.«

Es ging mir nicht gut.

Was Sara angesprochen hatte, war mir selbst nie in den Sinn gekommen. Was bedeutete »größer« in diesem Zusammenhang überhaupt? Dachte ich, ich sei besser als meine Mutter oder bedeutender? Dachte ich, ich sei irgendwie klüger als sie?

Auf all diese Fragen hätte ich rein verstandesmäßig unumwunden mit Nein geantwortet. Doch unsere kognitiven Fähigkeiten haben ihre Grenzen und werden von unserer körperlichen Wahrnehmung stets übertroffen. Während unser Verstand noch rätselt, was eine Frage bedeutet, kennt unser Körper schon die Antwort. Und offensichtlich steckte mir die Antwort in den Knochen.

Ich hatte meine Mutter nie wirklich wahrgenommen, jedenfalls nicht alles, nicht in ihrer Gesamtheit. Diese Erkenntnis, zusammen mit der Ahnung, dass ihr Verschwinden bereits begonnen hatte, war mehr, als ich ertragen konnte.

Plötzlich drängten all meine Gefühle – meine Traurigkeit, meine Scham – an die Oberfläche, es war, als stünden meine Hände unter Strom. Ich weinte, und während ich weinte, spürte ich, wie auch der letzte Faden riss. Und von da an begann alles zu zerfallen. Nur dass ich nicht genau wusste, was dieses »alles« war. Ich war mir nur des Gefühls bewusst – des Gefühls eines kompletten inneren Zusammenbruchs.

»Sie müssen die Mauer zwischen sich und Ihrer Mutter beseitigen«, sagte meine Therapeutin. »Alles, was errichtet wurde, um Sie beide zu trennen, muss aus dem Weg geräumt werden.«

Ich war mir nicht sicher, was genau da errichtet worden war oder wann oder wie – aber das Reißen, das ich spürte, war ein Zeichen, dass schon etwas im Gange war, ob es mir nun gefiel oder nicht.

Die Idee zu der Reise traf mich fast gleichzeitig mit dem Wasserstrahl.

Fahr zurück nach Montana, sagte eine innere Stimme, als ich in die Dusche gestiegen war.

Aber dort war ich doch gerade erst, dachte ich.

Ich reise recht viel, kehre jedoch selten, wenn überhaupt, ein zweites Mal an ein und denselben Ort zurück. Und vor allem nicht an einen Ort, von dem ich gerade erst zurückgekommen bin. Und damit es klar ist: Mit »gerade erst« meine ich, dass mein Gepäck von der Reise nach Montana immer noch in der Diele unseres Hauses lag.

Ich nahm die Seife und wischte die Idee beiseite. Keine Minute später war der Gedanke wieder da. Diesmal in einer leicht abgewandelten Version.

Fahr zurück nach Montana, hörte ich. Und nimm deine Mom mit.

Ich hielt inne, bevor ich nach dem Shampoo griff.

Das ist ja interessant, dachte ich.

Meine Mutter und ich hatten eigentlich noch nie etwas nur zu zweit unternommen. Aber angesichts ihrer Alzheimer-Erkrankung schien es eine ganz gute Idee zu sein.

Vielleicht braucht sie etwas, dachte ich. Vielleicht soll ich ihr bei irgendetwas helfen.

Der Gedanke, dass womöglich ich etwas brauchen könnte, kam mir nie in den Sinn. Genauso wenig wie der Gedanke, dass vielleicht sie mir helfen könnte.

Ich duschte fertig, und 40 Minuten später rief ich meine Eltern per Videochat an.

Nach ein paar Minuten Smalltalk rückte ich mit meinem Vorschlag heraus.

»Du, Mom«, sagte ich. »Eigentlich rufe ich an, weil ich dich fragen wollte, ob du vielleicht mit mir verreisen möchtest.«

Sie starrte mich ausdruckslos an und sah dann zu meinem Vater.

Ich redete unbeirrt weiter.

»Ich dachte an einen Roadtrip. Ein Auto mieten, durch ein paar Nationalparks fahren, vielleicht auch zelten.«

»Was?«, fragte sie.

Meine Mutter war verwirrt. Es war schwer zu sagen, ob das an ihrer Erkrankung oder an mir lag. Die Bilanz unserer gemeinsamen Unternehmungen war eher mager, dagegen mangelte es nicht an Beispielen dafür, dass meine Entscheidungen bei meiner Mutter auf Verwunderung stießen.

»Ein Roadtrip«, wiederholte ich. »Mit dem Auto … und Camping. Nur du und ich.«

»Du und ich?«, fragte sie. »Und wo sollen wir übernachten?«

»Wir würden in einem Zelt schlafen«, erwiderte ich.

Wieder sah sie meinen Dad an. Suchte sie bei ihm Klarheit oder seine Erlaubnis oder auch nur einen sicheren Ort, an dem sie sich verkriechen konnte?

Auch ich wartete auf die Reaktion meines Vaters. Er erwiderte Moms Blick, aber seine Augen leuchteten. Er wusste, dass mein Vorschlag Seltenheitswert hatte und ohne Moms Alzheimererkrankung nie aufgekommen wäre.

»Ihr würdet draußen schlafen«, erklärte er meiner Mutter und sah dann wieder in die Kamera. »Das würde ihr gefallen.«

»Wirklich?«, fragte sie, zuckte jedoch gleich darauf mit den Schultern und fügte hinzu: »Gut, in Ordnung. Es klingt zwar verrückt, aber warum nicht.«

Das war ein Zeichen dafür, dass meine Mutter Vertrauen hatte: die Fähigkeit, loszulassen und die Zügel anderen zu übergeben. Für jemanden wie mich, die normalerweise nach Kontrolle strebt, ist dieser Charakterzug nur schwer verständlich.

Ab da übernahm Dad die Gesprächsführung.

»Wann wolltest du fahren?«

»Im Mai«, antwortete ich. »Aber … hast du nicht im Juni diesen Golf-Trip nach Schottland? Wie wär’s, wenn wir das zeitlich abstimmen würden?«

Jetzt strahlten die Augen meines Vaters noch mehr. Es war das perfekte Timing – er konnte seinen Golf-Trip unternehmen, ohne sich die ganze Zeit um Mom zu sorgen, und sie würde mit mir eine Reise machen, die ihr bestimmt gefallen würde.

Die Antwort meines Vaters kam prompt.

»Du kannst buchen«, sagte er lächelnd.

Und genau das tat ich auch. Nachdem ich unsere Unterkünfte gebucht hatte, fuhr ich geradewegs zum Outdoor-Laden.

Im Laden blieb ich vor dem verschlossenen Schaukasten voller Klappmesser und Bärenabwehrspray stehen. Ich merkte, wie mir der Schweiß ausbrach – erst unter den Achseln und dann an den Handflächen.

Brauche ich diese Sachen?, überlegte ich. Soll ich all das hier kaufen?

Ich kannte die Antwort auf diese Fragen nicht, denn – Achtung, jetzt kommt’s – ich hatte noch nie einen richtigen Campingurlaub gemacht. Die Anzahl der Nächte, die ich in einem Zelt verbracht hatte, konnte ich an zehn Fingern abzählen, und bei wenigstens dreien davon handelte es sich um Übernachtungspartys in der Kerrisdale-Wildnis (sprich dem gepflegten Garten meiner Eltern).

Die meisten anderen Anlässe waren Open-Air-Konzerte gewesen, als ich Anfang 20 und höchstwahrscheinlich betrunken war. Und obwohl die wenigen letzten Male als echte Campingausflüge gelten konnten, fanden sie mit Freunden statt, die sich um das ganze Drumherum kümmerten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, auch nur ein einziges Mal in meinem Leben selbst Feuer gemacht oder einen Campingkocher bedient oder ein Zelt aufgebaut zu haben.

»Ich kann das«, flüsterte ich mir zu, während ich die Hände an den Jeans abwischte. »Wir können das.«

Zwar war ich mir nicht sicher, was »das« genau war, trotzdem fühlte ich mich berufen. Als stünde »das« bereits in den Sternen geschrieben, wäre im Voraus festgelegt von einer größeren Sternenkonstellation.

Einige Wochen später brachen meine Mutter und ich nach Montana auf – eine Gegend, die für die ungeheure Weite ihres Himmels bekannt ist.

2Der Ebbe-Mythos

… nichts beeinflusst Kinder mehr als solche nie ausgesprochenen Hintergründe.

C. G. JUNG

Ich habe einmal ein Buch über Mütter und Töchter gelesen. Im Mittelpunkt stand der Mythos von Demeter und Persephone – es ging um die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, den natürlichen Kreislauf, dass die Tochter fortgeht und wiederkommt, sich von der Mutter löst und wieder zu ihr zurückkehrt.

Ich liebte das Buch, und gleichzeitig fiel es mir schwer, mich mit der dort beschriebenen Dynamik zu identifizieren. Bei meiner Mutter und mir, so mein Gefühl, hatte es diesen Kreislauf nicht gegeben. Wollte man ein Bild für unsere Beziehung finden, dann wäre es eine simple Geschichte über eine Gezeitenströmung, die sich in nur eine Richtung bewegte, und eine junge Frau, die einen Teil von sich abspaltete, um sich mittragen zu lassen – ein Teil von ihr trieb mit der Strömung hinaus aufs Meer, während der andere Teil innerlich leer am Strand zurückblieb. In diesem Mythos gäbe es keine Rückkehr. Er würde von einer Frau handeln, dieser Tochter, die sich abgelöst von sich selbst 35 Jahre lang immer weiter ins Meer hinaus bewegte und dabei Markierungslinien in den Sand zeichnete.

Die erste Linie zeichnete ich, als ich vier Jahre alt war. Und es war ausgerechnet meine Mutter, die es mir beibrachte.

Es geschah im Treppenhaus des Marineview-Kindergartens in Vancouver, British Columbia. Die Einzelheiten sind eine Art Patchwork in meinem Kopf, eine erste Sammlung von Bildern, die sich zusammenfügen und meine früheste Erinnerung formen. Meine Mutter und ich standen im Eingangsbereich des Kindergartens. Eine Treppe führte nach oben, eine nach unten. Das war unsere.

»Runter geht’s«, flüsterte Mom und wartete, bis ich ihre ausgestreckte Hand ergriff.

Mit der anderen Hand, der rechten, hielt ich mich seitlich am Geländer fest, und ganz wie ein großes Mädchen stieg ich neben meiner Mutter langsam die Treppe hinunter.

Auf halber Treppe hörte ich, wie mich die Stimme meiner Mutter sanft aufforderte: »Sag hallo.«

Ich hielt inne und hob den Blick von meinen Füßen. Am Fuß der Treppe standen zwei lächelnde Frauen. Als ich zu meiner Mutter sah, nickte sie und lächelte ebenfalls. Ich ließ das Geländer los und winkte scheu.

Eine der Frauen winkte zurück, bevor sie die Treppe heraufkam, um uns zu begrüßen.

»Hallo, du«, sagte sie und ging vor mir in die Hocke. Ihre Stimme war melodiös und freundlich. Sie roch wie Knetmasse mit Zucker und Gewürzen und anderen netten Sachen.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

Meine Mutter ließ meine Hand los und legte sie sanft auf meinen Rücken.

»Das ist Stephanie«, sagte meine Mutter. »Sie ist ein bisschen schüchtern.«

»Hallo, Stephanie«, sagte die Frau vor mir. »Ich bin auch manchmal schüchtern.«

Wieder sah ich zu meiner Mutter.

»Sie ist hier gut aufgehoben.«

Das war die Stimme der anderen Frau, derjenigen, die immer noch am Fuß der Treppe stand.

»Es ist nur …«, begann meine Mutter. »Sie …«

»Sie ist hier gut aufgehoben«, sagte auch die Frau vor mir. »Wir haben das schon Tausend Mal gemacht.«

In diesem Moment spürte ich, wie eine Welle der Sorge in meiner Mutter aufbrandete. Eine Weile badete ich darin. Ich kannte dieses Gefühl. Es tröstete mich. Die Sorge meiner Mutter war ein Zeichen ihrer Liebe. Sie war ein stetes Summen, ein Hintergrundrauschen, etwas, wozu ich beruhigt einschlafen konnte. Ich griff nach oben, suchte die Hand meiner Mutter, doch anstatt wie üblich mit mir zusammen auf dieser Welle der Sorge zu reiten, beugte sie sich herunter, umfasste mein Gesicht und gab mir einen dicken Kuss auf die Wange.

»Es wird dir gefallen«, flüsterte sie, aber es klang nicht zuversichtlich, sondern als wollte sie mich überreden. Ihre Worte waren voller Sorge. Was sie sagte, passte nicht zu dem, was sie fühlte. Es war das erste Mal, dass ich bewusst wahrnahm, wie meine Mutter sich in zwei Richtungen gleichzeitig bewegte.

Und dann drehte sie sich um, ging die Treppe wieder hinauf und verschwand durch die Tür. Ich blieb allein zurück, überflutet von der Sorge meiner Mutter, die im Nu zu meiner eigenen geworden war.

Noch während die Tür hinter ihr zufiel, ließ ich mich auf die Treppe fallen und fing an zu weinen. Protestierend klatschte ich mit den Händen auf den Antirutschbelag der Stufen. Ich schrie. Die Frau, die vor mir gehockt hatte, setzte sich neben mich und streckte die Arme aus, um mich zu trösten. Ich schlug sie heftig weg, wischte mir unbeholfen übers Gesicht – die Augen, die Nase, den weit geöffneten, wehklagenden Mund – und schrie weiter. Meine Hände überzogen sich mit Schmutz und Staub, weil ich mir immer wieder ins nasse, rotzverschmierte Gesicht fasste, während ich auf die Treppe einschlug. Bis zum heutigen Tag ist mir Schmutz an den Handflächen zuwider.

Als wir am nächsten Tag zurückkehrten, hatte ich, wie meine Mutter es nannte, eine »tapfere Miene« aufgesetzt. Nur dass ich mich überhaupt nicht tapfer fühlte. Es war eher so, als würde ich einen Tropfen meiner Essenz auf meinen Finger nehmen und fortschnippen. Als würde ich mich wie meine Mutter in zwei Richtungen gleichzeitig bewegen.

Auf diese ersten Tage im Kindergarten folgten noch viele ähnliche Beispiele. Im Lauf der Zeit und durch viele stumme Lektionen lernte ich, dass meine Mutter, obwohl sie etwas fühlte, diese Gefühle selten in Worte fasste. Stattdessen wählte sie das Handeln, agierte.

Ihre Liebe war demonstrativ und körperbetont. Man spürte sie an der Art, wie sie einen umarmte und ins Bett steckte. Man schmeckte sie in den Gurkensandwiches und Geburtstagskuchen. Man roch sie an der Wäsche. Man wusste, dass sie einen liebte, einfach, weil sie da war.

Ich habe viele Erinnerungen daran, auf körperliche Weise mit meiner Mutter verbunden zu sein. Wie ich morgens meine Arme um ihre Taille schlang. Wie ich mein Gesicht an ihren grünen Veloursbademantel drückte, während sie unsere Pausenbrottüten für die Schule füllte. Wie ihre Finger im Sommer sanft über mein nasses Haar strichen, wenn ich mit angezogenen Beinen neben ihr auf dem Steg saß – ich beobachtete immer, wie die Schweißtropfen über ihren Bauch liefen und sich in ihrem Nabel sammelten.

Meine Mutter gab mir ihren physischen Körper, doch ihr emotionaler Körper schien mir nicht ganz komplett zu sein. Während ich beschreiben kann, wie sich Freude und Zufriedenheit in der Miene meiner Mutter ausdrückten, gelingt mir das bei anderen Emotionen – Sorge und Trauer genauso wie tiefer Schmerz – nicht. Ich könnte nicht sagen, wie seelischer Schmerz auf dem Gesicht der Frau aussah, die mich großzog.

Ich spürte diese Dinge wie eine flüchtige, unterschwellige Strömung, äußerlich jedoch war meiner Mutter nichts anzumerken. Auch fehlten ihr die Worte dafür. Es gab keine Stimme für ihren Ärger, keine Äußerung ihrer Wut. Meine Mutter hat mir vieles gegeben, aber ehrliche, offene Gespräche gehörten nicht dazu. Vor allem nicht, wenn Gefühle im Spiel waren.

Ich begriff allmählich, dass meine Mutter unangenehme Gefühle einfach ausblendete. Sie schluckte sie hinunter und lenkte sich mit Beschäftigung ab. Das war nicht schwierig, denn in einer sechsköpfigen Familie gab es schließlich immer eine Menge zu tun.

Durch sorgfältige Beobachtung lernte ich, dass man Gefühle mit sich selbst ausmachte. Dies, so wurde mir stillschweigend vermittelt, waren die Regeln, wenn man ein »großes Mädchen« sein wollte. Es bedeutete, stark zu sein. Inzwischen habe ich erkannt, dass es ein gewisses Maß an Mut erfordert, das eigene Unbehagen zu spüren und zum Ausdruck zu bringen. Aber als ich aufwuchs und meine engsten Bezugspersonen beobachtete, sah ich eine andere Art von Mut, den Mut, Dinge zurückzuhalten, sie nicht zu benennen oder darüber zu sprechen, sie irgendwo im Inneren zu verstauen und sich davon abzuwenden. Diese Stärke besaß meine Mutter im Überfluss. Und wie es aussah, auch der Rest meiner Familie. Wir plauderten gern drauflos, wenn wir einander von den Ereignissen des Tages berichteten, doch wir nahmen Zuflucht zu Selbstironie, Sarkasmus und Witz oder einfach Schweigen, wenn es um heikle Themen wie Einsamkeit, Trauer, Wut oder Verzweiflung ging.

Ich tat mein Bestes, um die in unserer Familie zur Schau getragene Tapferkeit nachzuahmen, fand es aber ermüdend. Dieses immerwährende Fühlen und trotzdem Nichts-Sagen-Dürfen war eine Bürde für ein empfindsames Kind, das von Natur aus gesprächig war, besessen von Worten und Büchern und Geschichten. Vielleicht wurde meine Liebe zu Worten aus Verzweiflung geboren, aus einer tiefen Sehnsucht nach Sprache, mit der man eine komplexere Bandbreite von Gefühlen ausdrücken konnte.

Ungefähr einmal im Monat führte das zu einer Implosion. An Tagen, an denen ich von Gefühlen überwältigt wurde, die ich nicht in Worte fassen konnte, ging ich nach der Schule sofort leise auf mein Zimmer – das Zimmer, in dem die Marienkäfer auf der Fensterbank lebten. Ich machte die Tür fest hinter mir zu und ließ mich dann mit einem langen Wehklagen aufs Bett fallen. Wieder und wieder rief ich weinend nach meiner Mutter – ein Teil von mir sehnte sich danach, dass sie mit einem Sack voller Worte herbeieilen würde, um mich zu trösten, um mir meine Gefühle zu erklären und zu entwirren.

Aber ein anderer Teil meines Selbst, der größere Teil, war schon mit der Ebbe hinaus aufs Meer getragen worden. Es war der Teil, der über Wochen, Monate und Jahre hinweg meine Essenz tropfenweise versprüht hatte. Das weiß ich, weil ich, obwohl ich nach meiner Mutter schrie, mein Weinen mit einem Kissen dämpfte.

Einfach gesagt: Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich hörte. Tief im Innern wusste ich, dass es schmerzvoller gewesen wäre, wenn sie neben mir gesessen hätte, während ich nach tröstenden Worten verlangte – und ich gespürt hätte, wie sie sich einerseits auf mich zubewegte und andererseits von mir distanzierte. Um all das zu vermeiden, bewegte ich lieber mich selbst, und zwar in unzählige Richtungen gleichzeitig, suchte verzweifelt nach einer Küste, an der ich landen, nach einer Ankerboje, an der ich festmachen und Halt finden konnte.

Wenn die Tränen versiegt waren, schlief ich erschöpft ein, bis ich zum Abendessen aufgeweckt wurde. Im Alter zwischen fünf und zehn passierte das regelmäßig. Nachdem ich zehn Jahre alt geworden war, übersprang ich das Weinen und ging sofort zum Schlafen über. Es gab kein Weinen, kein ersticktes Schreien. Nur das Nickerchen. Nur die Sehnsucht, eine tintenschwarze Woge möge heranrollen und mich für eine gewisse Zeit mitnehmen.

Wenn man ein Kind jeden Tag sieht, ist es fast unmöglich, Veränderungen wahrzunehmen. Man muss seine Körpergröße jedes Jahr am Türstock markieren oder sich die Fotos von jedem Schuljahr anschauen, um sich davon zu überzeugen, dass es gewachsen ist, um eindeutig festzustellen, dass es eine erhebliche Veränderung gegeben hat.

Genauso unmöglich ist es, das Meer zu beobachten und zu erkennen, wann es zurückweicht. Man muss sich die Mondphasen einprägen oder sorgfältig den Sand betrachten, um mit Sicherheit sagen zu können, ob die Flut kommt oder geht und was bei Ebbe mit hinaus aufs Meer genommen wird.

Es war schwer, den Kipppunkt zu bestimmen. Ab welchem Zeitpunkt, welchem Tag oder Monat oder Jahr hatte ich zu viel von meiner Essenz verschwendet? Wann hatte ich nachweislich mehr von meiner Essenz abgegeben, als noch in meinem Innern übrig war?

Es gab nichts, womit ich diese Veränderung hätte messen können. Es gab keinen Türstock, keinen Mondkalender, keine Markierungslinien im Sand. Nur ein Bündel verschwommener Momente. Für die Menschen in meinem Umfeld war es schier unmöglich, sie alle zu einem Ganzen zusammenzufügen, die einzelnen Punkte zu verbinden. Und da mir das Vokabular für dieses Leck in meinem Innern fehlte, hatte ich keine Chance, ihm Ausdruck zu verleihen, es zu benennen.

Als ich ein Teenager wurde, ging die Abspaltung reibungslos vonstatten – mein Emotionalkörper ließ sich mit der zurückweichenden Gezeitenströmung davontragen, und mein Mentalkörper blieb am Strand sitzen. Die Leichtigkeit, mit der ich einen Teil von mir ablösen konnte, war erstaunlich. Aus meinen Nickerchen wurden lange Schlafphasen, manchmal dreizehn, vierzehn Stunden am Stück. Gefühlen gegenüber entwickelte ich ein tiefes Misstrauen. Ich stellte Menschen infrage, die offen darüber sprachen. Ich verurteilte Menschen, die sie zeigten.

Warum können sie sich nicht zusammenreißen?, dachte ich bei mir, ohne zu merken, dass ich diejenige war, die sich zerriss.

Meine Familie und mein Umfeld lobten mich für diese Darbietung – auch wenn es nicht per se als Darbietung bezeichnet wurde, man nannte es lieber Persönlichkeit. Die meiste Zeit war ich ruhig und besonnen. Ich war ein vernünftiges, selbstbewusstes junges Mädchen. Mein Leben wurde nicht vom Gefühlskarussell der Pubertät beherrscht, vor allem nicht von den typisch »weiblichen« Gefühlen.

Man schätzte meinen Mut und meinen Scharfsinn, und ich schätzte diese Dinge ebenfalls. Auch wenn ich manchmal rebellierte, galt ich meistens als braves Mädchen. Ich bekam es so oft zu hören, dass ich mich irgendwann damit abfand, von allen so betrachtet zu werden. Das zeichnete ein braves Mädchen aus – es schauspielerte, ohne zu merken, dass ein Stück aufgeführt wurde oder es ein Skript in der Hand hielt, ohne zu sehen, wie sich der Vorhang öffnete und schloss.

Von Sue Monk Kidd stammt der Satz: »Wenn wir erst einmal in dem Muster gefangen sind, uns aufgrund kultureller Blaupausen zu erschaffen, wird dies der vorrangige Weg, um Bestätigung zu erfahren.«

Es war so leicht, die Menschen in meiner Umgebung davon zu überzeugen, dass ich direkt vor ihnen stand, während der größte Teil meines Selbst weit draußen auf dem Meer trieb und inmitten der wogenden Wellen Wasser trat. Und wer war wohl am leichtesten zu überzeugen? Wer fiel sofort darauf herein? Na, ich natürlich.

3Wie oben, so unten

Ich sah zu, wie mein Vater auf dem Internationalen Flughafen von Vancouver rechts ranfuhr. Er spähte suchend durch die Windschutzscheibe, bis er mich entdeckte. Lächelnd winkte er mir zu. Meine Mutter auf dem Beifahrersitz scannte ebenfalls die Umgebung, doch bei ihr wirkte es … na ja, als wüsste sie nicht, wonach sie suchen sollte.

Die Alzheimer-Krankheit meiner Mutter war bereits so weit fortgeschritten, dass ein Treffen in Montana nicht infrage kam. Unser Plan sah also vor, dass ich nach Vancouver fliegen, dort bei meinen Eltern übernachten und anschließend mit meiner Mutter nach Bozeman fliegen würde. Unsere erste Station war der Yellowstone-Nationalpark.

Ich bedeutete meinem Vater, die Heckklappe zu öffnen, und während ich mein Gepäck in den Kofferraum lud, hörte ich, wie er für meine Mutter kommentierte.

»Das ist Steph«, sagte er. »Sie ist gerade angekommen.«

»Wo?«, fragte sie.

»Hier«, antwortete er. »In Vancouver.«

»Aber wo ist Steph denn?«, fragte sie leicht frustriert.

Mein Vater zeigte zum geöffneten Heck des Autos.

»Da hinten. Da ist sie.«

Ich winkte, aber meine Mutter sah nicht her. Etwas aus dem Gespräch hatte sich in den Synapsen in ihrem Gehirn verhakt.

»Wir sind in Vancouver?« Sie klang verwirrt.

Wie soll sie mir denn größer als ich vorkommen, wenn sie gerade dabei ist zu verschwinden?, dachte ich bei mir.

Ich schloss die Heckklappe und holte tief Luft. In den Wochen seit der letzten Sitzung bei meiner Therapeutin hatte ich immer wieder an mein Versprechen gedacht, die Mauer zwischen mir und meiner Mutter einzureißen, meine Mutter als ganze Person wahrzunehmen. Doch in diesem Moment konnte ich nur sehen, was fehlte. Es war erst elf Monate her, dass man die Krankheit bei ihr diagnostiziert hatte, und schon war so viel von ihr verschwunden.

»Hallo, Mom«, sagte ich, als ich mich auf die Rückbank setzte.

Man konnte förmlich hören, wie es in ihrem Gehirn klick machte.

»Oh, ich war mir nicht sicher, ob du es bist!« Sie griff nach hinten, um mir die Hand zu drücken. »Du siehst anders aus. Deine Haare sind viel länger. Und dunkler! Seit wann sind deine Haare so dunkel?«

Ich sah nicht anders aus. Meine Haare waren nicht sehr viel länger. Und auch nicht dunkler, sondern so schokobraun wie immer. Die Erinnerung spielte meiner Mutter einen Streich. Ich beschloss, mitzuspielen.

»Wirklich?«, fragte ich und zog eine Strähne nach vorn, um sie zu begutachten. »Vielleicht sind sie über den Winter ein wenig dunkler geworden.«

»Ich glaube schon«, meinte sie. »Sie sind viel dunkler. Gefällt mir.«

Noch einmal drückte sie meine Hand.

»Bleibst du nur über Nacht?«, fragte sie dann.

»Nein, Mom«, entgegnete ich. »Wir gehen zusammen auf eine Reise. Ich bin gekommen, um dich abzuholen.«

»Auf eine Reise?«, fragte sie. »Mit dir?«

»Sie … du und Steph, ihr wollt campen gehen. Weißt du nicht mehr?«, schaltete sich mein Vater ein. »Wir haben doch darüber gesprochen. Und angefangen zu packen.«

Ich fing Dads Blick im Rückspiegel auf.

»Wir haben schon mal ein paar Sachen herausgelegt«, sagte er. »Aber ich dachte, du kannst uns dabei helfen.«

»Na klar«, sagte ich, meine Bestürzung überspielend, wie sehr ihr Kurzzeitgedächtnis bereits nachgelassen hatte. Ich hatte gewusst, dass sie inzwischen Dinge vergaß, die vor einem Monat oder auch einer Woche geschehen waren, aber jetzt war es schlimmer. Sie erinnerte sich nicht einmal mehr an eine Reise, über die sie und Dad gerade noch gesprochen hatten – und für die sie gestern oder heute Morgen zu packen angefangen hatten.

Der Umgang mit meiner Mutter war zu einer Art Ratespiel geworden – wie weit war ihre Krankheit fortgeschritten, wer und wo war sie zu einem bestimmten Zeitpunkt, wie viel war ihr abhandengekommen, und welche Teile von ihr waren noch übrig?

Doch auch wenn mein Vater das Gegenteil behauptet hatte, bezweifelte ich, dass sie Hilfe beim Packen brauchte. Es handelte sich immerhin um die Frau, die im Laufe ihres Lebens zu einer Meisterin im Kofferpacken geworden war – wenn wir in Urlaub fuhren, wusste sie genau, was sechs Personen und ein sabbernder Hund für zwei Wochen brauchen würden, und sie schaffte es, die ganzen Sachen plus Proviant, Wasserski und Rettungswesten im Gepäckraum eines VW-Busses zu verstauen, und zwar noch vor dem Aufkommen von Dachgepäckträgern.