Shakespeare - Dramatiker der Welt • Einleitung
Vorwort
Das Phantom
Vielleicht ist das schon ein Teil seiner gigantischen, weltumspannenden Erfolgsgeschichte: dass wir fast nichts über ihn wissen. Dass das Leben des erfolgreichsten, wirkungsmächtigsten Dramatikers der Welt ein Geheimnis ist. William Shakespeare ist ein Phantom und seine Stücke, die jeder kennt, sind ein Kulturerbe der Welt. Von niemand geschaffen, niemand zugehörig, keinen Erben, keinem Land, keiner einzelnen Kultur. Er gehört uns allen, dieser William Shakespeare und seine Kunst ist Weltkunst, zeitlos, überzeitig, universal.
Wir können alles in ihn hineindenken. Er, der sich in die unterschiedlichsten Menschen, in Könige, Bettler, Intriganten, reine Seelen, Frauen, Männer so unnachahmlich hineinfühlte, er ist für uns, die 400 Jahre nach seinem Tod heute leben, ein immer wieder neues Buch. Und jeder neuen Zeit steht er und stehen seine Stücke neu gegenüber. Wie eindrucksvoll lässt sich das in diesem Buch, das mehr als fünfzig Jahre Shakespeare-Rezeption, Shakespeare-Spurensuche und -Deutung umfasst, erkennen.
Er ist ein Chamäleon auf der Bühne der Zeit. Es scheint, als habe er auf magische Weise alles schon vorausgewusst. Und warum? Weil er die Menschen so gut kannte. Ihre Abgründe, ihren Hass, ihre Selbstsucht, ihre Verführbarkeit, ihre Liebe. Er kannte die Essenz des Lebens. Er kannte uns.
Volker Weidermann
Porträts
SPIEGEL 17/2016
Das Weltphantom
Vor 400 Jahren starb William Shakespeare. Dafür ist er immer noch erstaunlich lebendig. Eine Reise um den Globus auf den Spuren des wirkmächtigsten Dramatikers aller Zeiten. Von Volker Weidermann
Sie haben alle eine kleine Schriftrolle in den Flügeln, die bärtigen, kahlköpfigen gelben Gummientchen, die in der Grabbelkiste in einem Andenkenshop in Stratford-upon-Avon zusammengepfercht sind und unverkennbar Shakespeares Züge tragen. Auf der Rolle steht „To quack or not to quack“. Das ist genau die Frage.
Kurz vor dem 400. Todestag des größten Dramatikers aller Zeiten ist in seiner Heimatstadt in Mittelengland die Hölle los. „Och, die ist hier eigentlich immer los“, sagen die, die hier leben. Nur im Januar sei es ein bisschen ruhiger. Jetzt aber, in den ersten Frühlingstagen, ist die kleine Fachwerkstadt im Rausch. Shakespeare-Leser aus aller Welt, Verehrer des Dichters, leidende Schulklassen streifen durch diesen Geburtsort der britischen Weltpopkultur, der heute so eine Art Disneyland auf Europäisch und auf Uralt ist, und suchen Spuren, die nicht zu finden sind.
Natürlich gibt es da das Elternhaus in der Henley Street, es gibt den Garten von New Place, dem prächtigen Anwesen, das er sich von seinem Reichtum als Autor, Schauspieler, Anteilseigner eines Theaters erworben hatte. Es gibt die Farm seiner Mutter, das Elternhaus seiner Frau, Taufurkunde und Taufbecken, Testament und Grabstein. Aber dazwischen, aus der Zeit zwischen Taufbecken und Grabstein, gibt es fast nichts, außer seinen Stücken und Sonetten. Shakespeare ist ein Phantom, das wirkmächtigste aller Zeiten.
Auf dem Grabstein in Stratford stehen seine letzten Verse. Ein Flehen und ein Fluch: „O guter Freund, um Jesu willn lass ab / Stör nicht den Staub, der hier liegt in dem Grab / Gesegnet sei, wer schonet diesen Stein / Und Fluch dem Mann, der rührt an mein Gebein“. Sein letztes Bitten um Ruhe und um Einsamkeit für immer.
400 Jahre ist das nun her. Die Welt hat sich verändert seitdem. Wir fahren Autos, wir waren auf dem Mond, wir wählen alle paar Jahre eine neue Regierung, wir haben dieses seltsame Internet, in dem man mit nur wenig Mühe viel Wahres entdecken kann über den Meister aus Stratford und auch einiges, was überhaupt nicht stimmt. Seit 400 Jahren liegt er im Grab, aber sein Werk ist lebendiger als je zuvor.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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