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Der alte Brauch des Barbarazweigs führt zwei Frauen zu ihrem Glück Das elegante Ostseebad Heiligendamm um 1900. Wenige Wochen vor Weihnachten wird eine junge Schiffbrüchige an den Strand gespült. Ihren Namen und ihre Herkunft hat sie vergessen, nur an die Bedeutung des Barbarazweigs erinnert sie sich. Sie stellt einen Zweig in die Vase und hofft auf die Rückkehr ihrer Erinnerungen. Wenn die Knospen an Heiligabend blühen, wird ihr Wunsch in Erfüllung gehen. Auch ihre neu gewonnene Freundin Johanna, die von ihren Eltern zu einer raschen Heirat gedrängt wird, setzt auf die alte Tradition des Barbarazweigs. Doch sie ahnt, der Brauch allein wird ihr nicht helfen. Ein Winterbuch, das zum Träumen einlädt.
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Das Buch
Im Kurort Ostseebad Heiligendamm bereitet sich die Hotelierfamilie Baabe im Jahr 1900 auf den großen Winterball vor. Feierlich soll die Verlobung von Tochter Johanna bekannt gegeben werden, doch die wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich ihre große Liebe heiraten zu dürfen. Leider ist der junge Mann in den Augen ihrer Eltern keine gute Partie. Da wird eine junge Frau am Strand angespült, die einzige Überlebende eines Schiffsunglücks. Sie kann sich nicht an ihren Namen oder ihre Herkunft erinnern, verzweifelt hält sie einen kleinen Zweig umklammert, der sich in ihrem Kleid verfangen hat. Im Hotel findet sie eine neue Heimat und in Johanna eine Freundin. Die Namenlose weiht Johanna in die Adventstradition des Barbarazweigs ein: Die beiden Frauen stellen am 4. Dezember frisch geschnittene Obstzweige in eine Vase, jede mit der für sie dringendsten Frage – der knospende Zweig wird ihnen die Zukunft weisen. Beide hoffen auf Blüten zum Weihnachtsfest.
Die Autorin
Corina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und lebt mittlerweile in Berlin. Sie hat bereits erfolgreich Jugendbücher und historische Romane geschrieben, bevor ihr mit Die Schmetterlingsinsel der absolute Durchbruch gelang. Seither gehört sie zur ersten Garde der deutschen Unterhaltungsschriftstellerinnen.www.corina-bomann-online.de
Corina Bomann
Winterblüte
Roman
List
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ISBN 978-3-8437-1381-8
© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Covermotiv: GettyImages / traveler1116, FinePic®, München
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Donnerstag, 4. Dezember 1902
Grau und dicht hing der Nebel über dem Meer. Die weißen Schleier verschluckten die prachtvolle Seebrücke fast vollständig. Die Badekarren ruhten nun in ihren Schuppen. Übrig blieb ein verwaister Strand, gesäumt von Muschelschalen und Seetang.
Auf der Promenade vor den Gästehäusern ließen sich bestenfalls ein paar Dienstboten blicken, die irgendetwas zu erledigen hatten. Geduckt und in dunkle Mäntel gehüllt, huschten sie vorbei, ohne einen Blick auf das Meer zu werfen, denn der Seewind war rau und das Rauschen der Wellen klang um diese Jahreszeit bedrohlich.
Johanna seufzte schwer. Der triste Anblick legte sich ihr aufs Gemüt. Wo war nur der Sommer hin? Die Zeit, in der das Meer blau war und die Promenade nur so vor Sommerfrischlern wimmelte. Die Zeit, in der elegante Damen in weißen Kleidern und mit Sonnenschirmen neben ihren Kavalieren spazierten, Kinder auf der Promenade herumtollten und Limonadenverkäufer ihre bunten Wagen zwischen den Flaneuren hindurchschoben.
Sie dachte an den Sommer zurück. Damals war ihr Herz noch leicht gewesen. Sicher, das Thema Heirat war von ihren Eltern schon angesprochen worden, aber sie hatte sich nichts dabei gedacht. Als es noch warm war, hatte sie sich ablenken können.
Im Winter kam sie kaum aus dem Haus. Und wenn, begleitete ihre Mutter sie. Geheime Treffen mit ihrem Liebsten waren ausgeschlossen. Und zu allem Überfluss nahte das Weihnachtsfest.
Eigentlich hätte sie der Gedanke an die festlich geschmückte Tanne und den Duft von Lebkuchen fröhlich stimmen sollen. Als Kind hatte sie die Tage zwischen den Jahren geliebt und war in den Wochen zuvor furchtbar aufgeregt gewesen. Aber zum diesjährigen Weihnachtsfest erwarteten ihre Eltern eine Entscheidung von ihr, und die würde ihr gesamtes Leben verändern.
Sehnsüchtig blickte Johanna zu den Möwen, die sich über der Strandpromenade vom Wind tragen ließen. Ihr könnt fliegen, wohin ihr wollt, dachte sie und wünschte sich, auch Flügel zu besitzen, mit denen sie den Zwängen entfliehen konnte.
»Johanna?« Eine Frauenstimme vertrieb ihre Gedanken. Johanna hatte nicht mitbekommen, dass sich hinter ihr die Tür geöffnet hatte.
Im Türrahmen stand ihre Mutter.
In ihrem cremefarbenen Nachmittagskleid und mit den hochgesteckten rotblonden Haaren war Augusta Baabe trotz ihrer fünfzig Jahre immer noch eine Schönheit. In Augenblicken wie diesen wurde Johanna klar, warum sich ihr Vater Hals über Kopf in ihre Mutter verliebt hatte.
»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Kind?«, fragte Augusta, als sie Johannas düstere Miene bemerkte.
»Natürlich, Mama.«
Sie konnte nicht behaupten, dass es ihr blendend ging, doch ihre Mutter durfte den Grund für ihre Traurigkeit nicht erfahren.
»Warum kommst du nicht ein wenig nach unten?«, schlug Augusta vor. »Emma hat Kuchen gebacken. Ich bin gerade dabei, Pläne für das Weihnachtsfest zu machen. Vielleicht können wir ja auch mal über das sprechen, was wir uns fürs neue Jahr vornehmen wollen.«
Auf einmal bereute es Johanna, ihrer Mutter gesagt zu haben, dass alles in Ordnung sei. Vorgeschützter Kopfschmerz hätte sie vor einer Stunde in Mutters Salon bewahren können. Was ihr dort blühte, wusste sie. Ihre Mutter würde ihr endlos in den Ohren liegen, mit Fragen zu den Heiratskandidaten und dazu, wie die Hochzeitsfeier aussehen sollte.
Doch sie hatte keine andere Wahl.
Unten im Foyer trat gerade Johannas Bruder durch die Tür. Christian war mit dem Vater nach Doberan geritten, um mit einem Geschäftsfreund Bilanz über das vergangene Jahr zu ziehen. Den ganzen Vormittag hatten sie dort verbracht, und wie es aussah, war es ein erfolgreiches Treffen gewesen.
Johanna beneidete ihren Bruder, denn er konnte gehen, wohin er wollte. Bei ihm war von Heirat überhaupt noch keine Rede, dabei war er schon fünfundzwanzig. Alles, was ihre Eltern von ihm wollten, war, dass er irgendwann einmal ihr Gästehaus führte. Und wahrscheinlich durfte er das Mädchen heiraten, das er liebte.
»Was für ein furchtbares Wetter!«, sagte Christian, während er sich aus seinem braunen Mantel schälte, dessen Saum mit Schmutzspritzern übersät war. Seine Reitstiefel sahen nicht viel besser aus. »Der Nebel ist so dicht, dass man fast meint, man würde Wasser einatmen.«
Tropfen perlten aus seinem Haar. Seine Augen waren von der kalten Luft etwas gerötet, ebenso wie seine Wangen. Dennoch war er mit seinen blonden Locken und den strahlend blauen Augen eine attraktive Erscheinung. Kein Mädchen aus Heiligendamm oder Bad Doberan würde ihn verschmähen.
Christians Lächeln verging, als er die missmutige Miene seiner Schwester erblickte. »Was ist los mit dir, Johanna? Irgendwas nicht in Ordnung? Hat dir ein Verehrer abgesagt?«
Johanna zuckte zusammen. Ohne es zu ahnen, hatte Christian beinahe ins Schwarze getroffen. Briefe von ihren Verehrern hatte sie bekommen – aber es war keiner von Peter dabei gewesen. Ob ihre Mutter ihn abgefangen hatte? Er schrieb ihr zwar immer unter einem Frauennamen – doch was, wenn Augusta diesen Trick durchschaut hatte?
»Hör auf zu spotten«, gab ihre Mutter zurück, bevor Johanna etwas darauf erwidern konnte. »Für dich wäre es ebenfalls an der Zeit, dir eine passende Braut zu suchen.«
Christian lachte auf. »Ach, Mutter, ich bin noch viel zu jung fürs Heiraten!«
»Du bist vier Jahre älter als deine Schwester!«, entgegnete Augusta. »Dein Vater war in dem Alter schon verlobt. Es würde dir gut zu Gesicht stehen, wenn du eine Braut wählen würdest.«
»Mama!«, protestierte er. »Ich fühle mich noch nicht bereit dazu. Bei Johanna ist das anders, sie ist ein Mädchen, und wie alle Mädchen träumt sie nur davon, dass der Prinz auf einem weißen Pferd vorbeireitet.« Er grinste seine Schwester an und erntete einen finsteren Blick.
Du hast gut reden, dachte sie. Immerhin bis du der Ältere und der Stammhalter. Mir bleibt nur das Kinderkriegen. Nicht, dass sie das nicht wollte, doch mit dem richtigen Mann und keinem, den ihre Eltern ihr aussuchten.
»Zieh dich um und komm danach in den Salon«, befahl Augusta ihrem Sohn. »Und sag deinem Vater Bescheid, dass er sich auch blicken lassen soll. Jetzt, wo wir keine Gäste haben, kann er sich zwischendurch mal eine Ruhepause genehmigen.«
»Ja, Mutter«, entgegnete Christian und zwinkerte Johanna erneut zu. Diese hatte Lust, ihm irgendwas hinterherzurufen, aber angesichts ihrer Mutter hielt sie sich zurück.
Der Salon lag im westlichen Flügel des Hauses, der von den Gästezimmern durch einen Flur abgetrennt war. Hier empfingen ihre Mutter und manchmal auch ihr Vater Freunde, Bekannte und Geschäftspartner. Hohe Sprossenfenster ließen viel Licht in den Raum, der, wie es gerade Mode war, mit exotischen Pflanzen vollgestellt war. Die Sitzgruppe, bestehend aus zwei breiten Sofas und einem Sessel, war mit rotem Samtstoff bezogen. Auf dem Tischchen in der Mitte, dessen Platte von drei Elefanten getragen wurde, stand ein Teeservice aus weißem Porzellan mit Goldrand. Emma, die Köchin, hatte einen Kuchen gebacken, dessen himmlischer Duft sich mit dem rauchigen Geruch des Kamins mischte. Der Salon war mit wohliger Wärme erfüllt.
»Nun, mein Kind«, hob Augusta an, als sie die Salontür passiert hatten und auf der Sitzgruppe Platz nahmen. »Das Weihnachtsfest naht. Was hältst du davon, wenn wir an dem Tag deinen Auserwählten einladen?«
Johannas Magen krampfte sich zusammen. Genau diese Frage hatte sie befürchtet.
»Ich … ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre«, stammelte sie.
»Warum denn nicht?«, fragte Augusta.
»Nun ja, er wird sicher selbst Verpflichtungen in der Familie haben. Außerdem habe ich von keinem von ihnen einen offiziellen Antrag erhalten.«
»Das ist nur eine Frage der Zeit.«
»Aber ich weiß nicht, für welchen ich mich entscheiden soll!« Am liebsten für gar keinen, aber das konnte sie ihrer Mutter nicht sagen, ohne ein Donnerwetter zu riskieren.
»Die beiden machen dir immerhin seit drei Monaten den Hof«, sagte Augusta, während sie ihnen Tee einschenkte. »Wie lange willst du sie denn noch warten lassen?«
»Ich … ich weiß es nicht«, entgegnete Johanna. »Diese Entscheidung muss gründlich überlegt sein.« Sie dachte an den Briefstapel, den sie in ihrer Kommode versteckte – unter den Briefen der anderen Verehrer. Peter hatte darüber gescherzt, doch auch er hielt es für besser, vorsichtig zu sein.
Ihre Mutter zog ihre perfekt geformten Augenbrauen hoch. »Da stimme ich dir zu. Dennoch, du solltest dir nicht mehr viel Zeit lassen, sonst verlieren sie noch das Interesse.«
Darauf hoffte Johanna seit Wochen vergebens.
Im nächsten Moment stürmte ihr Vater in den Salon und brachte ihre Mutter davon ab, weiter nachzubohren. In seiner Hand hielt er einen Brief, der mit einem altmodisch anmutenden Siegel versehen war. »Ihr werdet es nicht glauben, was soeben bei uns eingetroffen ist!«
Ludwig Baabe war nicht besonders groß, doch er wirkte ziemlich kräftig. Sein dunkelblondes Haar war von zahlreichen silbrigen Fäden durchzogen und seine hellen Augen ähnelten Christians.
Augusta warf einen missmutigen Blick auf die Reitstiefel ihres Mannes, die den bunten Perserteppich verschmutzten.
Doch bevor sie ihn dafür rügen konnte, rief er aus: »Der Großherzog hat sich in Heiligendamm angekündigt! Und wir sind eingeladen, am herzoglichen Weihnachtsball in der Burg teilzunehmen! Ist das nicht wunderbar?«
Johanna wäre beinahe die Teetasse aus der Hand gefallen. Der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz wollte Heiligendamm besuchen? Zu jeder anderen Zeit wäre das für sie ein Grund zum Jubeln gewesen. Doch jetzt vergällte ihr die Auswahl eines Bräutigams sogar das.
»Wirklich?«, fragte Augusta verwirrt, erhob sich und ging ihrem Mann entgegen. »Der Herzog hat uns eingeladen?«
»Großherzog«, korrigierte Ludwig Baabe seine Frau und reichte ihr den Brief. Mit leuchtenden Augen und einem breiten Lächeln auf seinem Gesicht beobachtete er, wie Augusta das Schreiben überflog.
Johanna meinte zu erraten, welche Gedanken ihr in diesem Augenblick durch den Sinn gingen.
»Das ist ja wunderbar!«, tönte Augusta, nachdem sie den Brief mehrfach gelesen hatte. »Eine große Ehre! Wie kommen wir nur dazu? Immerhin haben wir nur eine kleine, bescheidene Pension!«
Wie immer untertrieb Augusta. Bescheiden war das Gästehaus Baabe keineswegs. Der dreistöckige Bau wirkte von Weitem wie ein kleines Schloss mit seinen hohen Fenstern, dem Stuckzierrat an den Wänden und dem Innenhof, der Stellplätze für mehrere Kutschen bot.
Es war eines der wenigen Häuser, die sich nicht im Besitz des Ritters von Kahlden befanden, und das zweitgrößte Haus nach dem Kurhaus. Außerdem war es wie alle Gebäude der »Perlenkette« – so nannte man landläufig die Aufreihung der Gästehäuser an der Strandpromenade – sehr beliebt wegen des direkten Seeblicks. Kaufleute fanden sich hier ebenso ein wie Anwälte, Fabrikbesitzer und Mitglieder von Adelshäusern. Sogar einige Schriftsteller hatten hier schon logiert.
»Offenbar hat unser Haus seine Durchlaucht bei sei nem letzten Besuch hier beeindruckt.« Ludwig zog vielsagend die Augenbrauen hoch, was nur bedeuten konnte, dass obendrein noch jemand ein gutes Wort für sie eingelegt hatte.
Johanna kannte das Gefüge der Familien des Seebades nur zu gut. Die Geschichte Heiligendamms hatte sie praktisch mit der Muttermilch eingesogen.
Der Urgroßvater des amtierenden Großherzogs, Friedrich Franz I., hatte im Jahr 1793 den Grundstein zum ersten Gästehaus gelegt und das Seebad selbst eingeweiht. In den darauffolgenden Jahren waren zahlreiche weitere Gästehäuser erbaut worden, es folgten einige Wohnhäuser, Läden und Wirtshäuser. »Die weiße Stadt am Meer« nannte man den Ort.
Angesehene Familien wie die von Witzlebens besaßen hier nicht nur Anteile an den Gästehäusern, sondern auch private Villen, deren Grund ihnen die von Kahldens verpachtet hatten – und hatten direkte Kontakte zum mecklenburgischen Herrscherhaus. Sicher hatten sie bei der Einladung zum Weihnachtsball ein gutes Wort für die Baabes eingelegt.
»Und weißt du, was das Schönste ist, meine Liebe?«, fragte Ludwig bedeutungsvoll.
Augustas Augen weiteten sich. »Erzähle es mir bitte!«
»Wir werden einige der hochwohlgeborenen Gäste in unserem Haus beherbergen! Ist das nicht wunderbar? Ein so gutes Geschäft haben wir im Winter noch nie gemacht!«
Augusta jubelte auf und fiel ihrem Mann um den Hals. Vergessen war der Schmutz an seinen Stiefeln, mit denen er den Teppich ruinierte.
Ludwig wurde rot bis über beide Ohren – wenn eines ihrer Kinder dabei war, pflegten sie normalerweise keine Zärtlichkeiten auszutauschen. Das schien im nächsten Augenblick auch Augusta wieder einzufallen, denn sie ließ von ihm ab.
»Das ist wirklich wunderbar«, entgegnete sie und strich sich ihr Kleid glatt. »Und zudem eine gute Gelegenheit, etwas Wichtiges bekanntzugeben.«
»Etwas Wichtiges?« Ludwig schüttelte unverständig den Kopf.
»Die Verlobung unserer Tochter!«, erinnerte ihn Augusta.
»Ach, hat sie sich endlich entschieden?«
Er blickte zu Johanna, die dasaß, als wäre sie zu einer Eissäule erstarrt. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, und innerlich verfluchte sie ihr Schicksal. Es war offenbar nicht genug, dass ihre Mutter sie wieder mit Fragen und Vorschlägen traktiert hatte. Jetzt kam auch noch diese unselige Einladung!
»Nein, bisher nicht, Papa«, entgegnete sie gequält.
»Meinst du, dass du bis dahin eine Wahl getroffen hast?«, fragte er weiter. »Das wäre doch eine wunderbare Gelegenheit! Das ganze Seebad würde uns darum beneiden.«
Natürlich war ein Weihnachtsball eine wunderbare Gelegenheit. Wahrscheinlich sahen ihre Eltern den Großherzog schon vor sich, wie er das zukünftige Brautpaar beglückwünschte.
Doch Johanna wäre jetzt am liebsten in Tränen ausgebrochen.
»Ich hoffe es«, entgegnete sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Dann soll es so sein! Ich bin sicher, dass dies der Höhepunkt des Abends wird!«
»Das wird es bestimmt«, pflichtete Augusta ihm bei und deutete auf die Stiefel ihres Mannes. »Warum ziehst du nicht deine Stiefel aus und gesellst dich zu uns?«
»Wie du wünschst, meine Liebe! Nach dem Ritt bin ich regelrecht durchgefroren. Wahrscheinlich gibt es in den nächsten Tagen Schnee!«
»Und bring unseren Sohn mit«, rief Augusta ihm hinterher. »Er wollte sich im Salon blicken lassen, aber anscheinend hat er es wieder vergessen.«
Ludwig lachte auf und verschwand.
Am Abend zog ein Sturm über Heiligendamm herauf und brachte das Meer in Aufruhr. Das Tosen der Wellen hinderte Johanna am Einschlafen. Ohnehin waren ihre Nerven wegen der Einladung des Herzogs bis aufs äußerste gespannt.
Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie dem entgehen, sich für einen Mann entscheiden zu müssen, den sie gar nicht wollte?
Mit weit aufgerissenen Augen lauschte sie dem Unwetter. Irgendwo musste ein Fensterladen lose sein, denn etwas klapperte im Rhythmus zu den Windstößen.
Eigentlich hatte sie gehofft, dass der Schlaf ihr ein wenig Vergessen bringen würde. Doch nun stürzten die Gedanken auf sie ein. Allen voran die Gesichter ihrer beiden Verehrer.
Albert Vormstein war der Sohn des Verwalters vom Haus Anker. Seine Familie war nicht unbedingt bessergestellt als ihre eigene, doch sein Vater hatte zahlreiche Kontakte zu angesehenen Familien, und man munkelte sogar, dass er das Haus Anker dem Herrn von Kahlden, der das Seebad von der herzoglichen Familie erworben hatte, abkaufen wollte. Mit einem der schönsten Gästehäuser der »Perlenkette« würde sein Einfluss und auch sein Gewinn weiter wachsen.
Der blonde Albert selbst erschien Johanna ein wenig langweilig. Vielleicht hatte er einen ausgeprägten Geschäftssinn, allerdings war er so schüchtern, dass er es nicht mal gewagt hatte, sie allein anzusprechen. Stets kam er mit seiner Mutter oder seinem Vater zu Besuch, sagte kaum etwas und schaute sie auch nur selten an.
Johanna war sicher, dass nicht er wünschte, sie zu heiraten, sondern seine Mutter, die in ihr eine gute Partie sah.
Berthold von Kahlden, ein Neffe des Mannes, dem Heiligendamm praktisch gehörte, war ihr allerdings nicht viel lieber, obwohl er das genaue Gegenteil von Albert war – eitel und selbstverliebt, glaubte er, dass sich die Welt nur um ihn drehte. Johanna war sicher, dass er ihr lediglich wegen des Gästehauses den Hof machte, denn sein Onkel hatte sich vergeblich um dieses Grundstück bemüht.
Mit keinem von ihnen konnte sie glücklich sein. Sie wollte nur Peter. Den Verfemten. Wenn ihre Eltern es erfuhren, würde es ein Donnerwetter geben.
Angst überkam sie – und nicht nur vor dem Tosen des Sturms. Um sich ein wenig abzulenken, setzte sie sich auf, entzündete die Öllampe auf ihrem Nachttisch und zog die Briefe hervor, die sie von ihrer wahren Liebe erhalten hatte.
Sie waren unter dem Namen Norma von Bredow an sie geschickt worden. Der Tarnname war nötig, denn wenn ihre Mutter die wahre Identität ihres Liebsten erfuhr, würde die Hölle los sein. »Norma« war für ihre Mutter eine Brieffreundin aus Schwerin. Johanna war nicht sicher gewesen, ob Augusta die Post durchsehen würde, besonders dann, wenn es sich um einen neuen Namen handelte. Aber ihr Plan funktionierte. Ihre Mutter las die Briefe nicht.
So genossen sie für ein paar Monate den Briefwechsel und sahen sich heimlich, wann immer es möglich war, an der Stelle, an der sie sich kennengelernt hatten. Das kleine Waldstück jenseits der Burg war ungefährlich, weil hier kaum jemand entlangkam. Peter brachte ihr stets eine Blüte oder ein kleines Sträußchen mit. Treffpunkte im Ort waren gefährlich, aber draußen im Wald war niemand, der sie beobachten konnte. Ihr gesamter Körper kribbelte, wenn sie zu einem Stelldichein ging, vor Aufregung, vor Erwartung, und dann, wenn sie ihn endlich sah, klopfte ihr Herz und ihre Lippen sehnten sich fast schon schmerzlich nach seinen Küssen.
Die Erinnerung daran brachte Johanna zum Lächeln. Liebevoll strich sie über die Umschläge, die vom vielen Lesen schon ganz abgegriffen waren. Doch dann wurde ihr Herz schwer.
Die Briefe in den Händen zu halten, verstärkte ihre Unruhe noch. Ihr letzter Brief an Peter war unbeantwortet geblieben. Da er gerade dabei war, sich in Schwerin die Anwaltskanzlei aufzubauen, von der er immer geträumt hatte, hatte er vermutlich wenig freie Zeit. Der Druck, der auf ihm lastete, war enorm, denn er war der jüngste Sohn seiner Familie und es lag an seinen beiden älteren Brüdern, das Geschäft weiterzuführen. Er dagegen musste sich auf anderem Gebiet erst einmal beweisen. Genau das gefiel Johanna. Eigentlich war er eine gute Partie, und wäre nicht sein Nachname, würde ihre Mutter sicher entzückt sein. Aber so …
Als sie das Brennen in ihrer Brust nicht mehr aushielt, verstaute Johanna die Briefe wieder in ihrer Schublade, legte sich ihr dickes Wolltuch über die Schultern und schlich aus dem Zimmer. Es gab in diesem Haus nur einen einzigen Menschen, der sie verstand und zu dem sie ehrlich sein konnte.
Auf Zehenspitzen ging sie zur Zimmertür ihres Bruders.
Johanna klopfte, zunächst leise, dann etwas lauter.
»Christian?«, fragte sie, worauf ein Rumpeln ertönte.
»Christian, kann ich reinkommen?«, fragte sie noch etwas lauter. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Ihr Bruder sah sie aus kleinen Augen an.
»Was gibt es denn?« Verschlafen rieb er sich übers Gesicht. »Fürchtest du dich vor dem Sturm?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Du bist doch kein Kind mehr!«
Das wusste Johanna selbst. Dennoch fragte sie: »Kann ich eine Weile bei dir bleiben? In meinem Zimmer ist es viel lauter als bei dir.«
»Das ist doch Unsinn«, entgegnete Christian und gähnte herzhaft. »Auf meiner Seite ist es genauso laut.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Johanna. »Dein Zimmer ist der Seeseite abgewandt. Bei mir tost es wie während der Großen Flut.«
Die Flut, die den sagenumwobenen »Heiligen Damm« aufgeschüttet hatte, kannten sie nur aus Geschichten, aber jeder hier verglich hin und wieder ein Unwetter damit.
»In Ordnung, dann komm rein.« Seufzend öffnete Christian die Tür. Er ahnte, dass seine Schwester nicht nur wegen des Sturmes bei ihm auftauchte.
»Was hast du denn auf dem Herzen?« Christian ließ sich auf dem Stuhl nieder, über dem unordentlich seine Kleider hingen. Johanna setzte sich auf die Bettkante. Die Erinnerung, wie sie als Kind manchmal ins Bett ihres Bruders gekrabbelt war, weil es dort so schön warm war, ließ ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht huschen. Doch sofort waren die Gedanken an ihre Verehrer wieder da.
Johanna seufzte tief. »Das weiß du doch. Die Sache mit der Heirat.«
Christian nickte.
»Es ist nicht so, dass ich keine Lust habe.« Wie ein kleines Mädchen zupfte Johanna an ihrem Nachthemd. »Es ist nur so … von den Männern, die unsere Eltern für mich wollen, will ich keinen.«
»Sondern?«
Johanna wurde rot. Nur wenn sie ganz allein war, gestattete sie sich Gedanken an Peter Vandenboom, aus Angst, dass ihr jemand ihre Gefühle ansehen würde.
Zu gern hätte er ihr ganz offiziell den Hof gemacht – doch da gab es ein entscheidendes Hindernis: Ihre Familien waren seit Jahrzehnten verfeindet.
»Na? Willst du mir nicht erzählen, in wen du dich verliebt hast?«, hakte Christian nach.
Johanna schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Du würdest dich bestimmt verplappern.«
»Na hör mal, du hast ja eine Meinung von deinem Bruder!« Christian verzog das Gesicht.
»Es geht nicht, es wäre zu … gefährlich«, entgegnete Johanna stockend. »Und bis zum Weihnachtsball sind es nur noch drei Wochen. Sie wollen dort meine Verlobung bekanntgeben!«
Christian griff nach ihrer Hand. Seine Schwester zitterte wie Espenlaub.
»Reg dich nicht auf, davon bekommst du nur Runzeln.«
Johanna wollte die Hand wegziehen, doch er hielt sie fest.
»Hör mal«, sagte er beschwichtigend und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich will dich zu nichts zwingen. Sag es mir meinetwegen dann, wenn ihr kurz davor seid, vor den Traualtar zu treten.«
»Das wird nie passieren.« Johanna kamen die Tränen. »Sie werden es nicht erlauben.«
»Warum nicht? Ist es vielleicht irgendein Dienstbote? Oder ein Knecht?« Christian wusste selbst zu gut, dass die Liebe manchmal vor dem Stand nicht Halt machte.
Johanna schüttelte den Kopf. »Nein, das ist er nicht. Er ist nicht arm, falls du das denkst. Aber ich bin sicher, dass er unseren Eltern nicht passen wird.«
»Und wenn ich ein gutes Wort für euch einlege?«, schlug Christian vor. »Möglicherweise lässt sich wenigstens Vater erweichen.«
Johanna wischte sich die Tränen von den Wangen. »Nein, das wird er nicht, ich weiß es. Und Mutter … die sähe es nur zu gern, wenn ein Adelstitel an meinem Namen hinge! Ich frage mich, warum ich überhaupt schon heiraten soll!«
Christian presste die Lippen zusammen. »Sie wollen nur, dass du sicher bist. Dass du jemanden hast, der auf dich achtgibt.«
»Auf mich braucht keiner achtzugeben!«, entgegnete Johanna trotzig, dann lehnte sie sich gegen ihn. »Du hast es gut. Du kannst gehen, wohin du willst. Und du wirst heiraten können, wen du willst.«
»Wahrscheinlich wird Mutter es sich nicht nehmen lassen, mich beim Weihnachtsball mit geeigneten Kandidatinnen bekannt zu machen. Du kennst sie ja. Es gibt dort sicher ein paar hochwohlgeborene Fräulein, die keine Lust haben, den Nonnenschleier zu nehmen.«
Johanna prustete los. Leichter war ihr jedoch nicht zumute.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich hierbleibe?«, fragte sie. »Ich … ich möchte nicht allein schlafen, da denke ich nur wieder darüber nach, was alles kommen wird, und dann ärgere ich mich, dass ich nichts daran ändern kann.«
»Nein, kein Problem, schlaf ruhig hier, ich nehme den Sessel«, sagte Christian und ließ sich darin nieder. »Gute Nacht, Schwesterherz.«
»Gute Nacht«, entgegnete Johanna und kuschelte sich unter die Decke.
Freitag, 5. Dezember 1902
Die frische Morgenluft roch nach Algen und Fisch, als Christian auf seinem Apfelschimmel Bruno die Promenade entlangritt und schließlich auf den Strandzugang abbog.
Der nächtliche Sturm hatte das Wasser weit über den Strand getragen und mit ihm lange Stränge von Seetang und Muschelschalen. Der Himmel hing bleiern über dem Meer, doch der Blick war frei. Sogar noch in der Ferne konnte er die Gischthauben sehen, die die Wellen krönten.
Möwen kreisten in Scharen über dem Wasser. Ihre Rufe konkurrierten mit dem Rauschen der Wellen.
Als er den Ort hinter sich gelassen hatte, stockte er plötzlich und brachte sein Pferd zum Stehen.
Auf den ersten Blick schien es ein Stück Segeltuch zu sein, das angeschwemmt worden war.
»Heja!«, trieb er sein Pferd zu der Stelle. Dann sah er, dass es sich um einen Menschen handelte. Die Person trug ein langes Hemd, und um einen Fuß war etwas gewickelt, das wie Segeltuch aussah. Er sprang aus dem Sattel, Muschelschalen knackten unter seinen Füßen.
Als er sie vorsichtig herumdrehte, blickte er in das Gesicht einer jungen Frau, die vielleicht achtzehn oder neunzehn war. Ihr langes schwarzes Haar war vom Wasser an den Sand geklebt worden, einige Algen hatten sich darin verfangen.
»Um Gottes willen!«, platzte es aus ihm heraus, als er sie vorsichtig anhob. Ihre Haut war kreidebleich, und die Lippen hatten einen bläulichen Ton. Salz und Sand waren an ihrer Wange und ihrer Stirn angetrocknet. Im ersten Moment glaubte Christian, sie sei tot.
Er schüttelte sie leicht. »Können Sie mich hören?«
Sie regte sich nicht. Christian legte sie seitlich auf den Boden, so, dass das Wasser, das sie geschluckt haben musste, aus ihr herauslaufen konnte. Vorsichtig massierte er ihren Rücken.
Da sie auch daraufhin nicht hustete oder sonst irgendwie versuchte, das Wasser wieder loszuwerden, drehte er sie herum. Christian wusste, dass es sich nicht schickte, dennoch legte er seinen Kopf auf ihre Brust und lauschte nach dem Herzschlag. Zunächst hörte er nur das Rauschen der Wellen, doch dann, ganz schwach, vernahm er ein Pochen.
Sie lebte!
Christian befreite sie aus dem Segeltuch und strich über ihr Gesicht, doch sie rührte sich nicht. Hilfesuchend blickte er sich um, doch es befand sich keine Menschenseele in der Nähe.
Da bemerkte er einen Zweig in ihrer Hand. Im ersten Moment glaubte er, dass er sich an ihr verfangen hatte. Doch dann erkannte er, dass sie die Hand fest um den Zweig geklammert hielt, so fest, dass er sich nicht daraus lösen ließ. Was hatte das zu bedeuten? War es ein Zufall? Das Stück Segeltuch deutete vielleicht auf ein Schiffsunglück hin. Möglicherweise hatte der tobende Sturm auch ein paar Zweige vom Festland ins Meer befördert, und sie hatte einen davon unbewusst gegriffen …
Christian ließ den Zweig sein und wickelte sie in seinen Mantel. Die eisige Seeluft zerrte sofort an seinem Hemd und drang bis auf seine Haut durch, doch das ignorierte er. Er trug das Mädchen zu dem Pferd, und wenig später ritt er mit ihm los.
Am Gästehaus kam ihm Friedrich, der Laufbursche, entgegen. »Herr Baabe, was ist passiert?«
»Schnell, sagen Sie meinen Eltern Bescheid, dass ich eine Schiffbrüchige gefunden habe!«
Während Friedrich losrannte, ritt Christian durch das Seitentor auf den Innenhof, brachte dort das Pferd zum Stehen und stieg ab. Vorsichtig hob er die junge Frau auf seine Arme und trug sie kurzerhand in eines der Gästezimmer. Wie nahezu alle Gästezimmer der Baabes hatte auch dieses einen Blumennamen: Veilchengrund.
Kühle Luft schlug ihm entgegen, als er sie aufs Bett legte. Feuer, dachte Christian. Ich sollte erst einmal Feuer machen.
»Christian?«, hallte Augustas Stimme durch den Gang, begleitet vom hastigen Klappern ihrer Absätze.
»Wir sind hier, Mutter!«
»Ach du meine Güte!« Augusta schnappte nach Luft, als sie das Mädchen in dem Bett liegen sah. Seine Hautfarbe unterschied sich kaum von den weißen Laken. Sein dunkles Haar breitete sich wie ein wirres Fischernetz über dem Kissen aus. Schmutzschlieren und Wasserflecken hatten sich auf den frischen Bezügen gebildet. Noch immer klammerte sich seine Hand um den kleinen Zweig.
»Wir brauchen warmes Wasser!«, erklärte Christian. »Und schick bitte Friedrich zu Dr. Winter, er muss so schnell wie möglich vorbeikommen!«
»Wer ist das?«, fragte Augusta.
»Ich habe sie am Strand gefunden, sie ist beinahe erfroren. Ich werde Feuer machen.«
Christian stapelte Holz im Kamin auf und riss dann ein Zündholz an. Schwefelgeruch verbreitete sich im Raum.
»Sie sieht mehr tot als lebendig aus.«
Augusta streckte die Hand nach ihr aus, zog sie aber gleich wieder zurück. Christian bemerkte, dass sie zitterte. Ein beinahe schon ängstlicher Ausdruck trat in ihre Augen. Dann schien sie zu erstarren.
»Mutter!«, rief Christian, worauf Augusta wieder zu sich kam.
»In Ordnung, ich kümmere mich um sie. Geh du los und sag Friedrich Bescheid.«
Christian nickte, und nachdem er noch einen Blick auf das Mädchen geworfen hatte, verließ er das Zimmer.
~
Der Anblick der jungen Frau ließ in Augusta etwas zusammenkrampfen. Eine Erinnerung kehrte zu ihr zurück, die sie die ganzen Jahre über verdrängt hatte.
Sie wird uns Unglück bringen, wisperte eine Stimme in ihrem Verstand. Dann wurde das Gesicht des Mädchens auf dem Bett von einem anderen Gesicht überlagert. Auch diese Frau war sehr jung und schön gewesen, auch diese Frau hatte vollkommen hilflos gewirkt. Das Haus, das damals Augustas Zuhause gewesen war, hatte sie aufgenommen. Und als Dank hatte sie die Hölle über ihre Familie gebracht.
War es ihr Schicksal, das alles noch einmal zu erleben? Jetzt, wo alles so wunderbar lief?
Augusta kämpfte noch eine Weile mit ihrem Unbehagen, dann läutete sie nach Elsa.
Wenig später erschien sie mit Martha, einem weiteren Dienstmädchen. Die Wangen der beiden waren vor Aufregung gerötet. Offenbar hatte Friedrich alle schon von dem Ereignis in Kenntnis gesetzt.
»Elsa, ziehen Sie ihr das Nachthemd aus«, wies Augusta sie an. »Und Martha, holen Sie frische Wäsche …«
Augusta ließ sich auf einen Stuhl am Fenster nieder. Sie fühlte sich schwach. Doch bevor sie wieder in ihre Erinnerung versinken konnte, erschien Martha mit dem Nachthemd.
»Ist das in Ordnung? Ich habe es von dem Weißzeug für die Gäste genommen.«
»Ja, das ist in Ordnung«, entgegnete Augusta abwesend.
Als sich die Mädchen daranmachten, die Fremde umzuziehen, schreckte Martha plötzlich zurück. »Frau Baabe, ich weiß nicht … sie ist so kalt, lebt sie wirklich noch?«
»Mein Sohn hätte sie nicht hergebracht, wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete Augusta. »Der Arzt wird sicher gleich hier sein, dann wissen wir mehr.«
Zögerlich fuhren die Dienstmädchen fort.
Augusta blickte aus dem Fenster.
So schnell kann sich das Blatt also wenden, schlich es durch ihren Verstand. An einem Tag erhielt man eine Einladung des Herzogs, am anderen tauchte eine Fremde auf, die vielleicht eine Gefahr war.
»Was soll ich mit dem Zweig machen?«, riss Elsa sie aus ihren Gedanken.
»Welcher Zweig?«
»Der hier!« Der Zweig war kaum länger als ein Unterarm. Von welchem Baum er stammte, war nicht genau zu erkennen.
»Wirf ihn weg«, wies sie das Dienstmädchen an.
»Nein!«, rief Christian, der wieder an der Tür aufgetaucht war. »Bitte, lass ihr den Zweig. Sie hat ihn so festgehalten, wer weiß, ob er für sie noch wichtig ist.«
Augusta sah ihren Sohn verständnislos an. »Was suchst du hier? Es schickt sich nicht, durch die Tür zu spähen!«
Christian wurde rot. »Ich bin nur gerade vorbeigekommen und habe euch davon reden hören.«
»Aber das ist doch nur ein Zweig!«, gab Augusta zurück. »Wahrscheinlich ist er in ihren Kleidern hängengeblieben.«
»Sie hatte die Hand fest darum geschlossen. Möglicherweise hat sie diesen Zweig aus einem bestimmten Grund mitgenommen. Bitte lass ihn da, bis sie wieder zu sich gekommen ist.«
Augusta schüttelte verwundert den Kopf, dann sagte sie: »In Ordnung, Elsa, stellen Sie den Zweig in einen Krug. Wie steht es mit Dr. Winter?«
»Friedrich ist zurück, er sagt, der Arzt ist auf dem Weg.«
Christian blickte besorgt auf das Mädchen. Noch immer war es so bleich wie ein Geist, doch das schmutzige Nachthemd war einem sauberen gewichen. Elsa und Martha rafften das verdreckte Bettzeug zusammen und trugen es an ihm vorbei nach draußen.
»In Ordnung, ich werde so lange hier warten«, antwortete Augusta. Als sich ihr Sohn nicht zurückzog, hob sie fragend die Augenbrauen. »Ja?«
»Ist sie wach geworden?«
»Nein«, antwortete Augusta. »Wir sollten abwarten, was Dr. Winter sagt.«
Christian nickte und verließ den Raum.
Johanna schreckte aus dem Schlaf. Ihr wurde klar, dass sie die Nacht in Christians Zimmer verbracht hatte. Er selbst war bereits fort. Warum hatte er sie nicht geweckt? Und wie spät war es?
Sie schlug die Bettdecke zur Seite und ging zum Fenster. Dort sah sie, wie Kurarzt Dr. Winter mit seiner Arzttasche die Promenade entlanggeeilt kam.
War irgendwas passiert? Vielleicht mit ihrem Vater?
Sorge überfiel sie. Sie schlang ihr Tuch um die Schultern und huschte aus dem Zimmer. Stimmen drangen von unten herauf. Ihr Vater sprach mit Christian.
»Wenn ich es dir sage, am Strand!«, sagte ihr Bruder. »Ich habe keine Ahnung, wer sie ist.«
»Möglicherweise hat sie versucht, sich umzubringen«, mutmaßte der Vater.
Wen meinte er?
»Aber ich habe sie hier noch nie gesehen.«
»Sie könnte aus Doberan sein.«
»Um ihr Bein war ein Segeltuch gewickelt«, hielt Christian dagegen. »Niemand, der sich das Leben nehmen will, hat ein Segeltuch dabei. Möglicherweise ist ein Schiff in Seenot geraten.«
»Ein Schiff ist gesunken?«, fragte Johanna, als sie die Treppenstufen hinter sich gelassen hatte. »Warum ist Dr. Winter hier?«
»Du meine Güte, Johanna, wieso trägst du nur ein Nachthemd?«, fragte Ludwig Baabe entsetzt. »Geh hoch und zieh dir etwas über, was soll denn der Herr Doktor denken?«
»Der Herr Doktor hat mich schon etliche Male im Nachthemd gesehen«, entgegnete sie. »Was ist denn los?«
»Ich habe eine Schiffbrüchige am Strand gefunden, eine junge Frau«, erklärte Christian. »Mutter und die Mädchen kümmern sich gerade um sie.«
Solange Johanna denken konnte, war hier in Heiligendamm noch nie eine Schiffbrüchige angespült worden.
Sie machte einen langen Hals in Richtung der Gästezimmer. Aus einem von ihnen fiel Licht in den Gang.
»Vielleicht sollte ich ihnen helfen.«
»Du wirst dir erst einmal etwas anziehen!« Ludwig Baabe deutete mit dem Finger die Treppe hinauf.
»Ja, natürlich, Vater!«
Mit klopfendem Herzen huschte Johanna wieder nach oben. Eine Schiffbrüchige! Wie aufregend!
In ihrem Magen kribbelte es. Sie lief in ihr Zimmer, wusch sich und trat dann vor den Kleiderschrank. Es war eigentlich kein besonderer Tag, trotzdem entschied sie sich, ihr blaues Kleid mit dem Häkelkragen anzuziehen. Anschließend steckte sie ihr Haar im Nacken zusammen und betrachtete sich vor dem Spiegel.
In diesem Kleid hatte sie sich im Herbst mit Peter getroffen. Die Erinnerung daran ließ Sehnsucht in ihr aufsteigen.
Als sie wieder unten ankam, war weder von Christian noch von ihrem Vater etwas zu sehen. Dafür vernahm sie die Stimme des Arztes in einem der Gästezimmer. Sie verstand nicht genau, was er sagte, wagte aber auch nicht, direkt einzutreten.
So leise wie möglich ging sie den Gang entlang. Auf Höhe des Veilchengrund-Zimmers wagte sie einen kurzen Blick durch den Türspalt, konnte dabei aber nur ihre Mutter erkennen, die den Arzt dabei beobachtete, wie er sich über das Bett beugte.
Als Augusta den Kopf drehte, setzte Johanna ihren Weg rasch fort.
»Vollkommen nass ist sie gewesen«, hörte sie Martha flüstern, als sie sich der Küche näherte. »Mit Seetang in den Haaren, wie eine Nixe!«
»Ich habe keine Ahnung, wie sie das überlebt hat«, pflichtete Elsa ihr bei.
»Sie hatte sicher einen Schutzengel«, meinte Trude.
»Nein, sie hatte einfach Glück«, brummte Hilda. »So was gibt’s manchmal. Ich habe auch schon von Matrosen gelesen, die irgendwo an den Strand gespült worden sind.«
»Meinst du denn, dass sie eine Schiffbrüchige ist?«, fragte Trude.
»Der junge Herr Baabe hat es doch zum alten gesagt, oder?«, gab Hilda schnippisch zurück. »Ich bin sicher, dass er sich nicht täuscht.«
»Fragt sich nur, von welchem Schiff sie gefallen ist«, sinnierte Martha.
Ein Kribbeln in der Nase brachte Johanna zum Niesen. Die Dienstmädchen stoben auseinander. Nur Martha blieb wie angewurzelt stehen und starrte Johanna an, die sie jetzt in der Tür entdeckte.
»Oh, Fräulein Johanna!«, rief Martha ertappt. »Guten Morgen, ich …«
Johanna lächelte sie an, um ihr zu zeigen, dass sie es ihr nicht übelnahm, dass sie ein wenig getratscht hatten.
»Schon gut, Martha. Ist vielleicht noch etwas vom Frühstück übrig? Ich bin heute Morgen ein wenig spät dran …«
»Das Frühstück ist noch aufgetragen«, antwortete Elsa. »Ich glaube, Ihr Vater und Ihr Bruder sind gerade im Esszimmer.«
»Gut, dann gehe ich zu ihnen.« Johanna wandte sich um und ertappte sich dabei, wie sie in sich hineinlächelte. Die Neugier flatterte in ihrem Bauch wie ein gefangener Vogel – für einen Moment sogar so stark, dass sie vergaß, darüber nachzudenken, was aus ihrer Liebe zu Peter werden sollte.
Christian und ihr Vater unterhielten sich lebhaft, als sie das Esszimmer betrat. Natürlich über die Fremde.
»Ah, sieh an, du hast auch richtige Kleider«, bemerkte der Vater, als sie sich setzte.
»Natürlich, Vater!«, entgegnete Johanna und griff nach einem Brötchen. Hunger hatte sie kaum in ihrer Aufregung, aber sie brauchte einen Grund, bei Tisch zu sitzen. Ihr Vater mochte es überhaupt nicht, wenn jemand zu einer Mahlzeit nichts aß.
»Und, was ist mit der jungen Frau? Wo hast du sie gefunden?«, fragte sie, während sie das Gefühl hatte, ihr Herz würde wie ein Ball in ihrer Brust herumhüpfen.
»In östlicher Richtung den Strand hinunter.« Christian nahm einen Schluck Kaffee.
»Und ihr Schiff? Hast du irgendwas gesehen?«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich hatte in dem Moment auch nur Augen für sie.«
»Ach, ist sie hübsch?«
»Nun löchere doch deinen Bruder nicht so schamlos!«, mahnte ihr Vater sie. »Wir werden noch früh genug erfahren, was los war. Lass deine Mutter erst einmal herkommen, dann wissen wir mehr.«
Christian lächelte Johanna zu. »Ja, sie ist wirklich hübsch. Und in deinem Alter«, antwortete er und ignorierte damit die Ansage seines Vaters.
»Ich stelle es mir schrecklich vor, von einem Schiff zu fallen«, sagte Johanna seufzend, dann setzte sie hinzu: »War sie wach? Hat sie dir einen Namen genannt?«
»Johanna!«, warnte ihr Vater.
»Was ist denn schlimm dran, dass ich frage?«, protestierte Johanna. »Dir hat Christian schon alles erzählt! Und nur, weil ich eine Frau bin, heißt es noch lange nicht, dass ich es nicht auch wissen darf!«
Ludwig Baabe schnaufte, gab sich dann aber geschlagen und verschwand hinter seiner Zeitung.
»Nein, sie hat mir keinen Namen genannt«, entgegnete Christian leise. »Sie war mehr tot als lebendig. Ich hoffe sehr, dass Dr. Winter etwas für sie tun kann. Es wäre sehr schade um sie.«
»Das hoffe ich auch.«
Als Christian seine Kaffeetasse an die Lippen hob, verlor sich Johanna einen Moment lang in Gedanken. Ihr Herz hüpfte noch immer, und die Neugier plagte sie weiter. Endlich geschah mal etwas, das nichts mit den Heiratsplänen ihrer Mutter zu tun hatte. Sie konnte es kaum abwarten, selbst mit dem Mädchen zu sprechen.
Als die dunklen Schleier zerrissen und es wieder hell wurde, glaubte sie für einen Augenblick, dass sie im Himmel sei. Sie spürte eine seltsame Leichtigkeit, als hätte sie soeben ihre sterbliche Hülle hinter sich gelassen.
Doch dann kehrten die Empfindungen zurück. Sie spürte einen Hauch Wärme auf ihrem Gesicht und ein Pochen in ihrer Brust. Ihre Füße schienen Eisklötze zu sein, und in ihrem Rumpf brannte es, als hätte sie Fieber. Die Leichtigkeit verflog und wich einer seltsam kraftlosen Schwere.
Als sie einen tiefen Atemzug nahm, roch sie brennendes Holz und Kernseife. Ihre Brust schmerzte.
Dann sah sie ein Gesicht über sich.
Der schnurrbärtige Mann trug eine kleine Brille mit runden Gläsern, und sein ergrautes Haar war mit Pomade streng an seinen Kopf geklatscht worden. Eine goldene Uhrenkette baumelte von seiner grünen Weste herab.
»Können Sie mich hören, Fräulein?«, fragte er. »Verstehen Sie mich?«
Ja, sie verstand ihn, doch es fiel ihr schwer, ein Wort herauszubekommen. Ihre Kehle fühlte sich rau an, und die Worte wollten nicht so recht hindurch.
Sie versuchte es noch einmal, und schließlich kam etwas aus ihrem Mund, doch es klang wie ein heiseres Krächzen.
Der Mann runzelte die Stirn. »Mein Name ist Ambrosius Winter, ich bin der Kurarzt von Heiligendamm. Man hat Sie heute Morgen am Strand gefunden.«
Am Strand? Wie war sie an den Strand geraten? Und Heiligendamm? Wo lag das? Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen.
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«, fragte der Arzt sanft.
»Ich …« Das Wort klang schon etwas deutlicher, aber das Kratzen im Hals war immer noch da. »Ich weiß nicht.«
»Und erinnern Sie sich daran, wo Sie wohnen oder wo Sie herkamen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich wirklich nicht. Sie konnte auch nicht sagen, warum ihr so kalt war. Und den Mann, der sie all das fragte, kannte sie erst recht nicht. Es war, als wäre sie vollkommen neu geboren worden.
Ambrosius Winters Miene verfinsterte sich. Er richtete sich auf und sagte dann zu einer anderen Person im Raum: »Das ist nicht ungewöhnlich. Auch Seeleute, die lange im Wasser waren, entwickeln oft eine Amnesie.«
»Haben Sie etwas von einem Schiffsunglück gehört?«, fragte eine Frauenstimme von irgendwoher aus dem Raum.
»Nein, bisher nicht, aber bei dem gestrigen Sturm wäre es durchaus möglich, dass so etwas geschah«, gab Winter zurück. »Angesichts des Zustandes ihrer Haut gehe ich davon aus, dass sie eine Weile im Wasser war. Da ist ein Schiffsunglück naheliegend. Außerdem weist sie keine weiteren Verletzungen auf.«
Das Mädchen hob vorsichtig den Kopf. Eine Frau mit hochgestecktem rotblonden Haar und einem dunklen, hochgeschlossenen Kleid saß etwas abseits auf einem Stuhl vor dem Fenster.
»Können Sie denn nichts gegen die Amnesie tun?«, fragte sie.
Ihr fiel nun auf, dass sie auch den Raum, in dem sie sich befand, nicht erkannte.
»Es tut mir leid«, sagte der Arzt. »Manchmal dauert der Gedächtnisverlust nur ein paar Stunden oder Tage, manchmal aber auch Wochen, Monate und gar Jahre.«
»Jahre!«, rief die Frau entsetzt. »Kann sie denn nicht anders identifiziert werden?«
»Ich schlage vor, dass Sie den Polizeipräsidenten in Bad Doberan verständigen«, entgegnete der Arzt. »Seine Leute werden schnell herausfinden können, wer unsere Schiffbrüchige ist.«
»In Ordnung, ich werde meinem Mann Bescheid geben«, entgegnete die Rothaarige.
Bad Doberan? Diese Stadt kannte sie nicht. Doch auf ihren Verstand konnte sie sich ohnehin nicht verlassen. Und was der Arzt von Vermissten redete … Wie wollte er herausfinden, woher sie gekommen war, wenn nicht einmal mehr sie selbst es wusste?
Doch etwas schoss ihr plötzlich durch den Sinn.
Der Zweig! Wo war der Zweig geblieben? Sie schaute in ihre Handfläche, doch da war nichts. Dabei war sie sich sicher, dass sie ihn festgehalten hatte.
»Haben Sie meinen Zweig gesehen?«, platzte sie heraus, bevor die fremde Frau etwas auf die Worte des Doktors antworten konnte.
Der Arzt wandte sich ihr wieder zu.
»Was meinen Sie?«
»Mein Zweig. Ich hatte einen Zweig in der Hand, und jetzt ist er fort!«
Panik wallte in ihr auf. Sie wusste nicht mehr warum, aber dieser Zweig war lebenswichtig für sie.
Die rothaarige Frau erhob sich und trat näher.
»Bitte, Sie haben ihn doch nicht weggeworfen, oder?«
»Nein, nein, er ist noch da«, sagte die Rothaarige.
»Darf ich ihn sehen? Bitte!«
Die Frau blickte zu dem Arzt. Der nickte ihr zu.
»Aber natürlich.« Sie sah sich suchend um, dann schien sie fündig zu werden und deutete auf einen kleinen Tonkrug, der auf dem Fensterbrett stand. Durch die weißen Spitzengardinen fiel helles Tageslicht. »Wir haben ihn ins Wasser gestellt.«
Sie atmete erleichtert auf und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus und Müdigkeit überkam sie.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise, dann verschwamm die Welt vor ihren Augen und wurde wieder dunkel.
~
»Sie ist eingeschlafen«, stellte Dr. Winter fest und nahm sein Stethoskop ab.
»Ist das ein gutes Zeichen?«, fragte Augusta, die ihren Blick nicht von dem Mädchen ließ. Unruhe wütete in ihrer Brust. Wäre Christian an diesem Morgen nicht ausgeritten, hätten wir dieses Problem nicht am Hals, ging es ihr durch den Sinn.
»Das weiß ich nicht. Sie ist ziemlich schwach und stark unterkühlt. Wir werden ein Auge darauf haben müssen, ob sie eine Lungenentzündung ausbildet.«
Lungenentzündung? Das war das Letzte, das sie hier brauchen konnten, so kurz vor dem Weihnachtsfest.
»Wäre es dann nicht besser, sie in ein Hospital zu verlegen?«, fragte Augusta.
»Wenn sie tatsächlich Zeichen einer Lungenentzündung zeigt, wäre das wirklich besser. Doch ich würde empfehlen, sie erst einmal ein paar Tage hierzulassen. Was auch immer passiert ist, es hat ihren Geist sehr stark mitgenommen. Es wäre ihrer seelischen Erholung nicht zuträglich, in ein Hospital mit vielen Kranken eingeliefert zu werden.«
»Wenn ihr Geist mitgenommen ist, wäre dann nicht die Psychiatrie der geeignetere Ort? In der Nähe gibt es doch sicher ein …« Irrenhaus, wollte sie noch sagen, doch der Blick des Arztes brachte sie zum Schweigen.
»Frau Baabe, ich verstehe Sie ja«, sagte er sanft. »Niemand mag sich gern mit so einem Problem belasten. Aber stellen Sie sich vor, was wäre, wenn es sich um Ihre Tochter handelte …«
Meine Tochter würde ganz sicher nicht in einem Nachthemd am Strand aufgefunden werden, wäre es beinahe aus Augusta herausgeplatzt, doch der Arzt setzte hinzu: »Würden Sie sich in so einem Fall nicht auch wünschen, dass es eine freundliche Familie gibt, die sie aufnimmt? Die ihr hilft, ihre Erinnerungen wiederzufinden?«
Augusta presste die Lippen zusammen. Fast wünschte sie sich, dass ihr Sohn nicht ausgeritten wäre. Doch es war geschehen. Und Dr. Winter war ein einflussreicher Mann. Was, wenn er herumerzählte, dass die Familie Baabe eine Schiffbrüchige aus dem Haus gewiesen hatte – obwohl sie doch die Möglichkeit hatte, sie für eine Weile bei sich aufzunehmen?
»Frau Baabe, ich versichere Ihnen, dass dieser Akt der Gastfreundschaft dem guten Ruf Ihrer Familie zuträglich sein wird. Außerdem ist bald Weihnachten. Sollte die junge Frau ernsthaft krank werden, werde ich dafür sorgen, dass sie in ein Hospital verlegt wird. Doch wenn nicht … Geben Sie ihr bitte die Zeit, sich zu erholen. Möglicherweise kehrt ihr Gedächtnis schon in ein paar Tagen zurück. Dann wird sich die Sache klären, und die Eltern des Mädchens werden Ihnen sehr dankbar für Ihre Mühe sein.«
Wenn sie denn noch Eltern hat, dachte Augusta, doch sie nickte.
»In Ordnung, Dr. Winter. Wir werden alles in unserer Macht Stehende für sie tun.«
Der Arzt wirkte erleichtert. »Das ist sehr nobel von Ihnen. Ich werde regelmäßig nach der jungen Dame sehen. Geben Sie mir Bescheid, wenn sich an ihrem Zustand etwas ändert. Und da es sich um einen besonderen Fall handelt, werde ich Ihnen auch keine Rechnung stellen.«
Der Arzt nahm seine Tasche und strebte der Tür zu.
Ein Gedanke schoss plötzlich durch Augustas Kopf und verdrängte, was sie eigentlich hatte sagen wollen.
»Dr. Winter«, begann sie, denn sie wusste nicht so recht, wie sie es formulieren sollte.
»Ja?«
»Was, wenn sie … wenn sie in anderen Umständen ist? Kann man das irgendwie feststellen?«
Die Züge des Arztes glätteten sich. »Natürlich kann man eine Schwangerschaft feststellen. Dafür gibt es jedoch keine Anzeichen. Lassen Sie sie schlafen, und wenn sie wach wird, geben Sie ihr warme Suppe.«
»Ich verstehe«, sagte Augusta, und nachdem sie noch einen Blick auf das Mädchen geworfen hatte, begleitete sie den Arzt zur Haustür.
»Da haben wir uns ja was eingebrockt«, murmelte Augusta und bemerkte dabei nicht, dass Johanna hinter ihr aufgetaucht war.
»Was ist mit ihr?«, fragte sie.
Ihre Mutter fasste sie beim Arm und zog sie mit sich in die Bibliothek, die im hinteren Teil des weitläufigen Gästehauses lag.
»Sie kann sich an nichts erinnern«, antwortete Augusta. »Der Arzt meinte, das würde vorkommen, wenn man lange im Wasser liegt. Und gottbewahre, was das noch alles für Folgen für uns haben könnte. Möglicherweise ist sie schwachsinnig oder bekommt eine Lungenentzündung.«
»Weiß sie denn nicht einmal, wie sie heißt oder was passiert ist?« Johanna fragte sich, wie das sein sollte. Erinnerungen waren doch keine Farben, die man einfach mit Wasser von einem Blatt Papier löschen konnte!
Augusta schüttelte den Kopf. »Nein. Und wenn du mich fragst: Ich habe kein gutes Gefühl bei ihr.«
»Wieso?«
»Sie könnte eine Verbrecherin sein«, brauste Augusta auf, als sie die Bibliothekstür hinter sich geschlossen hatte. Ihre Wangen glühten jetzt dunkelrot. »Vielleicht ist sie schwanger und wollte ins Wasser gehen.«
»Mutter!«, protestierte Johanna, in deren Brust die Ungeduld brannte, die Fremde endlich kennenzulernen. »So etwas Schreckliches kannst du doch nicht einfach so behaupten!«
Augusta presste die Lippen zusammen.
Johanna wusste, dass ihre Mutter nur allzu leicht das Schlechte in Menschen sah. Besonders dann, wenn sie sie nicht kannte.
Doch wie sollte ein Mensch, der sein Gedächtnis verloren hatte, sie von dem Gegenteil überzeugen?
»Hat sie denn überhaupt nichts gesagt?«, fragte Johanna, als sie den Eindruck gewonnen hatte, dass ihre Mutter etwas ruhiger geworden war. »Sie war doch wach, oder? Spricht sie unsere Sprache?«
»Ja, aber es kam nichts Brauchbares heraus«, gab Augusta zurück, und wieder schien sie sich aufzuregen. »Sie fragte nach dem Zweig, den sie bei sich hatte! Ich wollte ihn eigentlich wegwerfen, aber dein Bruder meinte, dass ich es nicht tun soll. Wer weiß, was es damit auf sich hat.«
Augusta grübelte noch einen Moment, dann sagte sie zu Johanna: »Du wirst dich von ihr fernhalten, bis wir wissen, was mit ihr los ist, hörst du?«
»Ist sie denn krank?«, fragte Johanna.
»Nein, doch das kann ja noch kommen.«
»Aber sie …«
»Keine Widerrede, mein Kind! Du solltest dich lieber um deine Aussteuer kümmern und dir Gedanken wegen des Weihnachtsballs machen. Du brauchst ein Kleid, musst dir eine Frisur überlegen, und dann ist da noch deine andere Entscheidung. Glaub nicht, dass ich vergesse, was wirklich wichtig ist in deinem Leben!«
Damit verschwand ihre Mutter aus der Bibliothek.
Johanna sah ihr einen Moment nach, dann fiel ihr Blick auf den großen alten Globus, das Schmuckstück des hohen Raumes, an dessen Wänden Bücherregale und Vitrinen standen und gemütliche Sessel Sitzgelegenheiten boten.
Wo die Fremde wohl herkam? Dass sie unsere Sprache beherrscht, heißt noch nicht, dass sie nicht aus einem fernen Land kommt, sagte Johanna sich. Möglicherweise war ihr Vater Kaufmann irgendwo in der Fremde – und möglicherweise ist er auf dem Schiff ertrunken und sie nun ganz allein auf der Welt.
Dieser Gedanke ließ ihr Herz zusammenkrampfen. Sie konnte sich nicht vorstellen, mutterseelenallein zu sein – auch wenn sie sich das angesichts ihrer bevorstehenden Hochzeit wünschte.
Seufzend richtete sie ihren Blick auf das Fenster. Warum konnte nicht ein Wunder geschehen, das alles wieder geraderückte?
~
Ludwig Baabe war in Gedanken bei der Jahresinventur, als seine Frau die Tür aufriss und mit langen Schritten in sein Büro eilte.
»Wir müssen reden!«, sagte sie.
»Aber sicher doch, Liebes«, entgegnete Ludwig und nahm seinen Kneifer ab. »Was hast du auf dem Herzen?«, fragte er, während seine Gattin vor seinem Schreibtisch auf und ab tigerte. »Und magst du dich nicht setzen?«
»Nach Sitzen ist mir nicht zumute.« Augusta bedachte ihn mit einem scharfen Blick, der ihn davon abbrachte, seinen Vorschlag zu wiederholen.
Seufzend erhob er sich, ging zur Tür, schloss sie und kehrte dann an seinen Platz zurück. Einen Moment lang wartete er ab, dass sich seine Frau beruhigte. Als sie das nicht tat, riet er einfach: »Ist es wegen unseres Gasts? Ich habe gesehen, dass Dr. Winter wieder gegangen ist.«
»Gast?«, fuhr Augusta ihn an. »Diese Person kannst du unmöglich als Gast bezeichnen.«
»Was ist sie denn sonst?«, fragte Ludwig in versöhnlichem Ton.
»Nun, was sie ist, weiß ich nicht, aber sicher ist sie nichts Gutes.«
»Was hat denn der Arzt gesagt?«
»Dass sie ihr Gedächtnis verloren hat. Und dass sie eine Lungenentzündung bekommen könnte. Möglicherweise ist sie schwanger … Ich war ja dafür, sie in ein Hospital bringen zu lassen.« Sie schwieg einen Moment lang, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Warum hat er eigentlich nicht mit dir geredet? Du bist der Hausherr!«
»Und du die Hausherrin. Augusta, glaubst du wirklich, der Arzt würde mit Frauensachen zu mir kommen? Und was unseren privaten Haushalt angeht, bist du dessen Vorsteherin, nicht ich.«
Augusta atmete tief durch. »Was sollen wir tun, Ludwig? Mir ist natürlich klar, dass wir nicht herzlos sein und sie rauswerfen dürfen. Doch ist es nicht gefährlich, sie hierzulassen? Sie könnte alles Mögliche sein: eine Wahnsinnige, eine Selbstmörderin, eine unehelich Schwangere, eine Verbrecherin …« Plötzlich hielt Augusta inne. Ein Gedanke schien sich ihr aufzudrängen. »Oder möglicherweise hat Christian etwas damit zu tun.«
»Was meinst du damit, Liebes?«
»Nun ja«, begann sie vorsichtig. »Was, wenn er in die Sache verwickelt ist? Wenn es kein Zufall war, dass gerade er das Mädchen gefunden hat?«
»Was willst du damit sagen? Er ist heute Morgen ausgeritten, das macht er manchmal. Du willst doch nicht behaupten, dass er dem Mädchen etwas angetan hat!«
»Nein, sicherlich nicht direkt. Aber was, wenn er …« Die Worte versiegten in ihrer Kehle.
»Was soll er denn angestellt haben?«
»Du hast doch sicher nicht vergessen, was damals passiert ist …«
Ludwig schnaufte. »Augusta, bitte hör auf. Unser Sohn war vielleicht einmal leichtsinnig, aber ich bin sicher, dass er sich in diesem Fall nichts hat zuschulden kommen lassen.«
Ein Mädchen zu verführen, zu schwängern und beinahe in den Tod zu treiben, traute er seinem Sohn keineswegs zu. Aber die Liaison, die ihnen großen Ärger eingebracht hatte, hatte er natürlich nicht vergessen.
»Gut, wenn du willst, rede ich mit ihm.«
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