Winterglück im Hotel der Herzen - Anne Sanders - E-Book
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Winterglück im Hotel der Herzen E-Book

Anne Sanders

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Beschreibung

Winterwunderland in Cornwall – so schön kann die kälteste Zeit des Jahres sein!

Es ist Winter in Cornwall, und das »Wild-at-Heart«-Hotel steht Kopf! Ein Filmteam hat sich angekündigt, um auf der kleinen Gezeiteninsel eine Serie zu drehen, und plötzlich sieht sich die Familie Wilde im Mittelpunkt von Schauspielern, Crew, Fans und jeder Menge Komplikationen. Doch die kleine Finanzspritze kann die Familie nach dem turbulenten Sommer gut gebrauchen. Und Mutter Gretchen ist ohnehin so verliebt, dass der Stress ihr nichts anhaben kann. Ihre Tochter Nettie dagegen sucht noch nach einem Weg, mit den Herausforderungen der ersten Liebe umzugehen und entscheidet sich dabei ausgerechnet für das Unromantischste, das das Romantikhotel je gesehen hat, und das kurz vor Weihnachten! Doch das Glück liegt in Cornwall bekanntlich nie weit entfernt ...

SPIEGEL-Bestsellerautorin Anne Sanders bei Blanvalet:
Sommer in St. Ives
Mein Herz ist eine Insel
Sommerhaus zum Glück
Willkommen im Hotel der Herzen
Winterglück im Hotel der Herzen

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Buch:

Es ist Winter in Cornwall, und das »Wild-at-Heart«-Hotel steht Kopf! Ein Filmteam hat sich angekündigt, um auf der kleinen Gezeiteninsel eine Serie zu drehen, und plötzlich sieht sich die Familie Wilde im Mittelpunkt von Schauspielern, Crew, Fans und jeder Menge Komplikationen. Doch die kleine Finanzspritze kann die Familie nach dem turbulenten Sommer gut gebrauchen. Und Mutter Gretchen ist ohnehin so verliebt, dass der Stress ihr nichts anhaben kann. Ihre Tochter Nettie dagegen sucht noch nach einem Weg, mit den Herausforderungen der ersten Liebe umzugehen und entscheidet sich dabei ausgerechnet für das Unromantischste, das das Romantikhotel je gesehen hat, und das kurz vor Weihnachten! Doch das Glück liegt in Cornwall bekanntlich nie weit entfernt …

Autorin:

Anne Sanders lebt in München und arbeitete als Journalistin, bevor sie sich für die Schriftstellerei entschied. Zu schreiben begann sie bei der »Süddeutschen Zeitung«, als Autorin veröffentlichte sie unter anderem Namen bereits erfolgreich Romane für jugendliche Leser. Die Küste Cornwalls begeisterte Anne Sanders auf einer Reise so sehr, dass sie spontan beschloss, ihren nächsten Roman dort spielen zu lassen. »Sommer in St. Ives« eroberte die Herzen der Leserinnen und war wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Auch »Mein Herz ist eine Insel« und »Sommerhaus zum Glück« waren große Erfolge.

Von Anne Sanders bereits erschienen

Sommer in St. Ives · Mein Herz ist eine Insel · Sommerhaus zum Glück · Willkommen im Hotel der Herzen

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Anne Sanders

Winterglückim Hotel der Herzen

Ein Cornwall-Roman

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Der Roman erschien 2019 unter dem Titel »Wild at Heart – Winterglück im Hotel der Herzen«

Copyright © 2019 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHCopyright dieser Ausgabe © 2020 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DN · Herstellung: wag

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26559-5V001

www.blanvalet.de

Für Alois Zitterbart, weltbester Großvater (insbesondere für Schwiegertöchter), von dem so viel in Theo steckt.

You are very much missed.

Das Feuer war bis weit ins Landesinnere zu sehen. Es strahlte über die Bucht hinüber nach Penzance und weiter nach Newlyn, tanzte über die Wellen, spuckte seine glühend heißen Funken in den Nachthimmel über Cornwall.

Noch Wochen später war es das Gesprächsthema in Port Magdalen – und nicht nur dort, sondern in einem beeindruckenden Umkreis. Man kennt das. Geschichten werden größer und bunter, je öfter sie erzählt werden. Das Feuer, das um ein Haar das Wild-at-Heart-Hotel verschlungen hätte, hieß es. Das seinen Besitzer, Theo Wilde, annähernd umgebracht und seine Schwiegertochter, das arme Gretchen, um ein Haar in die Flucht geschlagen hatte. Die Wahrheit entpuppte sich als ein kleines bisschen weniger drastisch, allerdings gar nicht so viel.

Ins Krankenhaus war Theo Wilde schon eingeliefert worden, allerdings nur für eine Nacht, wegen einer Beule am Kopf, die er sich beim Sprung aus der brennenden Scheune zugezogen hatte. Und Gretchen, richtig. Für fünf Minuten war der so ziemlich alles über den Kopf gewachsen, was einem über den Kopf wachsen konnte, doch noch bevor sie die Insel überhaupt verlassen hatte, besann sie sich eines Besseren. Port Magdalen war ihr Zuhause. Was sie auch Nicholas erzählte, zu dem sie sich nun endlich öffentlich bekannte, was nicht zuletzt ihre Tochter Nettie furchtbar freute (war sie es doch gewesen, die sich nichts mehr gewünscht hatte, als dass ihre Mutter eine neue Liebe fand – so sehr, dass sie sie unbedingt mit diesem amerikanischen Liebesromanautor hatte verkuppeln wollen, was sich als reichlich hanebüchen erwiesen hatte. Doch dies ist eine andere Geschichte).

Wie dem auch sei: Gretchen war endlich wieder glücklich. Theo ebenfalls, denn das Hotel stand schließlich noch, und der Kopf war auch noch dran. Von den dreien war Nettie somit diejenige, die am meisten Grund zur Klage hatte: Die Versöhnung mit ihrem besten Freund Damien stand nach wie vor aus, denn nach dem mittlerweile sagenumwobenen, so leidenschaftlichen wie überraschenden Kuss und den daraus folgenden unschönen Eifersüchteleien herrschte zwischen den beiden Teenagern erst einmal Funkstille.

Nun. Immerhin hatte Nettie noch ihren Kater, Sir James, und ihre Hühner. Auch Paolo, der Esel, und Fred, das Frettchen, waren der Feuersbrunst unbeschadet entkommen, und im Gegensatz zu Theo hatten sie sogar schon wieder ein Dach über dem Kopf – ein nigelnagelneues Dach über einem nigelnagelneuen Stall, den der alte Herb Wallister in einer beherzten Hauruck-Aktion hochgezogen hatte.

Mitte Oktober war das gewesen. Dann hatte sich Herb beim Herabsteigen der Leiter das Kreuzband in seinem linken Knie gerissen, und damit waren einmal mehr die Pläne der Familie Wilde über den Haufen geworfen. Mit, sagen wir, interessanten Folgen. Interessanten, turbulenten, bahnbrechenden Folgen.

Aber Sie werden ja sehen.

Denn wie heißt es so schön?

Willkommen im Wild-at-Heart-Hotel. Was kann die Liebe für Sie tun?

Mitte November

Eine einfallende Meute, einsame Herzen und Baustellen all überall

1.

Wenn sich etwas sagen ließ über Gretchen Wilde, dann, dass sie die besten Skoleboller backte, die Cornwall je gesehen hatte. Was kaum jemanden verwundern sollte, denn zumindest auf Port Magdalen gab es außer ihr niemanden, der aus Norwegen stammte und eine solche Spezialität zu zaubern in der Lage war. Niemanden, außer Gretchen eben. Was die Bewunderer dieser norwegischen Backkunst aus Eiern, Milch, Zucker und einer herrlichen Vanillecreme allerdings nicht ahnen konnten, war die Tatsache, dass die junge Frau immer nur dann nachts in die Hotelküche schlich, wenn sie wirklich miese Laune hatte. Wenn ihr etwas die Nachtruhe verhagelte. Wenn Gäste sie verärgert hatten. Wenn Opa Theo wieder einmal eine seiner zutiefst denkwürdigen Erfindungen an ihr oder einem anderen unschuldigen Menschen erprobt hatte. Wenn die Tage anstrengender waren als sonst und Gretchen aufgewühlter, wenn an Schlaf nicht zu denken war, dann schlich die Inhaberin des Wild at Heart, Port Magdalen, Cornwall, in die Küche ihres Hotels und malträtierte Teig, bis ihr die Arme schwer wurden.

Und Hefeteig, den musste man walken. Kneten musste man den und durchmassieren, und Gretchen überließ diese Aufgabe niemals der Küchenmaschine, sondern krempelte stattdessen selbst die Ärmel hoch. Die Ärmel ihres dunkelgrünen Pyjamas wohlgemerkt. Den mit den weinroten Beeren darauf. Einen denkwürdigen Anblick gab Gretchen da ab, in ihren Plüschpantoffeln, dem wirren blonden Dutt und ebendiesem vorweihnachtlichen Schlafanzug.

»Mum?«

Gretchen war so tief darin versunken, ihren Teig zu bezwingen, dass sie beim Klang von Netties Stimme zusammenzuckte und beinahe das Blech von der Arbeitsfläche gefegt hätte. »Himmel, Nettie«, schalt sie ihre Tochter. »Musst du dich so anschleichen?«

»Du hättest mich gehört, wärst du nicht so sehr darin vertieft, diesen armen Teig umzubringen.« Nettie gähnte. Dann hievte sie ihr Gesäß auf die Arbeitsfläche, unmittelbar neben Gretchens Backschüssel. »Es ist drei Uhr morgens«, stellte sie fest. »Und erst Mitte November. Ist es für Weihnachtsplätzchen nicht noch etwas früh?«

»Das sind Skoleboller, keine Weihnachtsplätzchen.« Ihre Mutter zog das Gefäß ein Stück von Nettie weg, bevor sie sich wieder dem Kneten widmete. »Und wenn es so früh ist, warum liegst du dann nicht im Bett? Zumal morgen Schule ist?«

Als ihre Tochter nicht gleich antwortete, warf Gretchen ihr einen abschätzenden Blick zu. Das tat sie in jüngster Zeit oft. Also, ihre Tochter abschätzen. Sie wusste, die vergangenen Monate waren für Nettie hart gewesen. Seit Damien und seine Väter nach dem großen Brand im August abgereist waren, hatte sie nichts mehr von ihrem einst besten Freund gehört – zumindest nicht, soweit Gretchen informiert war. Damien war fort, und Nettie hatte keinen Versuch unternommen, sich mit ihm auszusöhnen. Stattdessen war sie dünner geworden. Und nachdenklicher. Verschwiegen. Ein bisschen roboterhaft, was sie selbstverständlich niemals zugeben würde. Fragte man Nettie, wie es ihr gerade ging, lautete die Antwort »Bestens« oder »Fabelhaft« oder »Wahrhaft grandios«, und der grüblerische Ausdruck wich einem so unnatürlichen Grinsen, dass Gretchen jedes Mal eine Gänsehaut bekam. Sie hatte Nettie nie für eine Zynikerin gehalten. Doch die vergangenen Wochen hatten gezeigt, dass sie längst nicht mehr alles über ihre Tochter wusste.

»Was?«, fragte Nettie jetzt.

Gretchen schüttelte den Kopf, sie hatte sie schon viel zu lange angestarrt. »Gar nichts«, erwiderte sie. »Ich war in Gedanken.«

»Ja, das sehe ich.« Nettie warf einen bedeutungsvollen Blick in Richtung Teigschüssel. »Also, was ist los? Das letzte Mal, als du mitten in der Nacht gebacken hast, ist kurz zuvor die Scheune abgebrannt. Das Mal davor hatte der Blitz eingeschlagen. Was ist es diesmal?«

Gretchen murmelte etwas Unverständliches, und statt einer Antwort fragte sie: »Willst du die Vanillecreme anrühren?«

»Klar.« Nettie sprang von der Anrichte und machte sich daran, die Zutaten für die Füllung zusammenzusuchen.

»Du wirst morgen im Unterricht einschlafen«, warnte Gretchen.

»Und du, wenn halb Hollywood hier aufläuft«, gab Nettie zurück.

Ihre Mutter stöhnte auf, bevor sie dem Teig einen letzten, entschlossenen Hieb versetzte.

»Wusste ich es doch«, erklärte Nettie triumphierend.

»Halb Hollywood«, grummelte Gretchen. Sie formte eine Kugel aus der Skoleboller-Masse, bevor sie sie in die Schüssel zurückgleiten ließ und mit einem Geschirrtuch abdeckte. Schließlich drehte sie sich zu ihrer Tochter um. »Denkst du, wir haben einen Fehler gemacht?«, fragte sie.

»Das wirst du sehr bald wissen«, erwiderte Nettie, woraufhin ihre Mutter einen reichlich verzweifelten Laut von sich gab und nach einer weiteren Schüssel griff, um noch mehr Teig für noch mehr Skoleboller anzusetzen.

Wer die alle essen sollte, war einmal dahingestellt, schließlich beherbergte das Wild-at-Heart-Hotel derzeit keine Gäste; allerdings wurde stattdessen – wie Nettie es so trefflich formuliert hatte – halb Hollywood erwartet, woran niemand anders Schuld trug als der gute alte Herb Wallister.

Herb war zweiundfünfzig Jahre alt, übergewichtig und Bauunternehmer aus Plymouth. Er hatte Marazion vor mehr als zwanzig Jahren verlassen, um sich selbstständig zu machen, doch seine enge Verbindung zu diesem Teil Cornwalls und natürlich zu Port Magdalen blieb bestehen, weil er nun mal einer von ihnen war. Sein Vater, George Wallister, war mit Theo Wilde zur Schule gegangen, womit Herb automatisch die Position des einzigen Bauunternehmers besetzte, dem Theo über den Weg traute. Das galt für ihn und so einige andere aus der Umgebung, infolgedessen Herb eigentlich immer ausgebucht war.

So auch in dem Sommer, in dem die Wildes ihn baten, sich der Erneuerung von Stall und Scheune anzunehmen. Vor Anfang Oktober ginge gar nichts, hatte Herb im August erklärt, dann wurde Mitte Oktober daraus. Schließlich begannen sie mit dem Stall, weil Nettie ihren Esel vermisste, der bei Nachbarn unten im Dorf ein vorübergehendes Zuhause gefunden hatte, was beiden – Tier und Besitzerin – auf Dauer gar nicht gefiel. Dann verletzte sich Herb. Dann gab es plötzlich einen Notfall auf dem eigenen Firmengelände, woraufhin er auch den Rest seiner Arbeiter vom Wild at Heart abzog.

In all dem Chaos hatte Gretchen versucht, den Überblick zu behalten und das Ruder in der Hand: Zu welcher Zeit war es unproblematisch, Zimmer an Gäste zu vermieten (im September, nach den Aufräum- und vor den Bauarbeiten), wann sollte das Hotel wegen Lärmbelästigung und sonstiger Einschränkungen vorsichtshalber leer stehen (ab Anfang Oktober bis mindestens Ende November; und besser, sie gab die Zimmer im Dezember noch nicht frei, falls sich noch einmal etwas verschob)? Das war es, was Gretchen am meisten Kummer bereitete: Normalerweise platzte das Wild at Heart im Dezember aus allen Nähten, die Adventszeit und Weihnachten selbst galten als Highlight eines jeden Jahres, doch diesmal … Diesmal war es den Wildes unmöglich vorauszuplanen, was wiederum einer gewissen Filmproduktionsfirma in die Karten spielte, die ohnehin schon ihr Interesse an dem Hotel bekundet hatte.

Im Sommer hatten sie die erste E-Mail-Anfrage aus dem Postfach gefischt, doch damals schien es lächerlich zu glauben, man könnte das Wild at Heart an eine Filmproduktion vermieten, immerhin war das Hotel gewöhnlich Monate im Voraus ausgebucht. Normalerweise. Es sei denn, es brannte ein gesamter Gebäudekomplex, und im Zuge der Aufbauarbeiten standen die Räume eben doch auf einmal leer. Ganz abgesehen davon, dass der Platz, auf dem zuvor die Scheune gestanden hatte, nun einen hervorragenden Parkplatz abgab – für Filmfahrzeuge aller Art, von Regie über Technik hin zur Maske.

Parkplatz. Das hatten sie nun von der ganzen Verzögerung.

Und erst war Theo auch entsprechend eingeschnappt gewesen, doch dann hielt man ihnen Angebote unter die Nase, die sie einfach nicht ablehnen konnten, weil sie wie die sprichwörtliche Rettung in der Not klangen: Stellplatzmiete. Von der Crew ausgebuchte Zimmer. Die Möglichkeit, das Catering zu stemmen. Alles, jede Kleinigkeit durfte in Rechnung gestellt werden, und zumindest ein Teil der finanziellen Sorgen, die die Unwägbarkeit dieser Monate mit sich gebracht hatte, löste sich in Luft auf.

Weshalb Gretchen das Gegengeläut wohlweislich überhört hatte, nämlich: Schauspieler! Stress! Zu viele Leute! Zu hohe Ansprüche! Bis zur heutigen Nacht, als es in ihren Ohren klingelte wie … ein Kuchenblech, das auf Steinfliesen kracht.

»Theo!«

»Grandpa!«

»Kinder! Macht doch nicht so einen Lärm, es ist mitten in der Nacht!« Theo Wilde stand in der Tür, die weißen Haare in alle Richtungen abstehend und einen Cricketschläger in der Hand.

»Gott, du hast uns zu Tode erschreckt. Und was hattest du mit diesem alten Schläger vor? Am Ende nimmt dir den jemand ab. Und was dann?« Gretchen ging auf ihren Schwiegervater zu und griff nach dem Sportgerät, das Theo ihr ohne Widerspruch überließ. Der Mann brachte es nicht fertig, mit einer Klatsche auf eine Fliege zu zielen, wie sollte er da auf einen potenziellen Einbrecher losgehen?

»Ich hab Licht gesehen. Und das Hotel steht leer. Man weiß ja nie, was … Oh, werden das etwa Skoleboller? Was ist los, Gretchen? Angst vor der eigenen Courage?«

Nettie lachte, und Gretchen verdrehte die Augen. Wenn sie so leicht zu durchschauen war, sollte sie womöglich aufpassen, was sie dachte, nicht dass noch einer der beiden in ihren Gedanken las. Was fatal wäre, denn trotz all des Tohuwabohus um sie herum kreisten sie nach wie vor größtenteils um Nicholas. Nicholas Mineor, Mitinhaber von Lori’s Tearoom, unverschämt gut aussehend und seit wenigen Monaten offiziell der Mann an ihrer Seite. Und in ihrem Bett. Also gerade jetzt, in diesem Moment. Sie war hauptsächlich deshalb aufgestanden, um Nick nicht mit ihrem andauernden Hin- und Hergewälze aufzuwecken.

»Kümmert sich schon jemand um die Glasur? Sonst übernehme ich das«, sagte Theo, stellte sich einen kleinen Topf bereit und machte sich auf die Suche nach dem Puderzucker.

Gretchen blinzelte. Dann griff sie beherzt nach dem Mehl und versetzte ihren kreisenden Gedanken einen ebenso schwungvollen, finalen Stoß, um sie flirrend und sirrend von sich zu wirbeln.

Gemeinsam backten sie eine weitere Stunde lang. Süßer, klebriger Teilchenduft erfüllte die Luft, und süße, betörende Schwere die Glieder der drei Wildes. Und als Theo um kurz nach vier die Arme um seine zwei Liebsten legte und fragte, ob nun alles wieder in Ordnung sei, konnte Gretchen sich im ersten Augenblick nicht einmal mehr erklären, wie die Frage gemeint war.

2.

Atme ein. Atme aus. Sauge den Sauerstoff in dich hinein, bis er dich erfüllt, vom Ansatz deines Haars bis in die Spitzen deiner …« Ach was, dachte Theo, während er die Arme zum Sonnengruß in die Luft reckte. Heute hörte ihm ja doch niemand zu. Nach der nächtlichen Backaktion waren sowohl Gretchen als auch Nettie wieder in ihre Betten gekrochen, und nachdem Letztere heute sogar in der Schule erwartet wurde, hatte er es nicht übers Herz gebracht, die beiden zum Yoga zu wecken, zumal sie sich dieser Tage ohnehin meist sträubten. Um diese Jahreszeit, so kurz vor Winteranfang, war es bis weit nach sieben Uhr stockfinster und je nach Temperatur und Windstärke hier oben auf der Insel reichlich zugig. Obwohl es in Cornwall so gut wie nie wirklich eisig wurde, war es in den vergangenen Tagen doch ziemlich kalt gewesen. Also hatte Theo sich dick eingepackt und turnte nun statt auf den Klippen über dem Herzfelsen vor seinem neuen Zuhause, einem alten ausgebauten Schäferwagen, den er exakt dort geparkt hatte, wo früher sein Schlafzimmer gelegen hatte.

Während Theo die linke Schulter dehnte, warf er über die rechte einen Blick darauf. Der Wagen, das musste er ehrlich zugeben, war ein absoluter Glücksgriff gewesen. Er hatte ihn einem Anlageberater aus Truro abgekauft, der das ausrangierte Gefährt seines Großvaters in einer Garage hatte verkommen lassen – Theo hatte ihn für einen Schnäppchenpreis bekommen und dafür lediglich einiges an Holz und Arbeit investieren müssen. Jetzt allerdings, nach ausgebesserten Fenstern, einer neuen Tür, einigen ausgetauschten Planken, einem seegrünen Anstrich und einem restaurierten Interieur hatte sich der Wagen als echtes Juwel entpuppt, auf das ihn eigentlich jeder Gast ansprach, der den Weg ins Wild-at-Heart-Hotel fand.

Theo hatte den Wagen Hank getauft. Er war der Meinung, dass ein solch grandioses Gefährt eines entsprechend coolen Namens bedurfte. Wobei Hank nicht wirklich ein Gefährt war: Zwar stand er auf Rädern, doch die waren aus Eisen und reichlich verrostet. Nein, Hank, der alte Schäferwagen, war schlicht das gemütlichste Zuhause, das sich Theo nach dem Ausbrennen seiner geliebten Scheune hatte vorstellen können.

Uuuund ausatmen.

Theo war gerade dabei, Arme und Beine auszuschütteln, als er unvermittelt aufhorchte. Für einige Sekunden wusste er nicht recht, wo er das Geräusch einsortieren sollte, es war so ungewohnt für Port Magdalen, erst recht für diese frühe Uhrzeit, doch dann ging ihm auf, dass es sich wohl um Motorenlärm handeln musste. Mehrere Autos, oder sogar etwas Größeres, rumpelten über die Straße, die vom Hafen am Dorf vorbei erst hinauf zur Spitze der Insel und dann auf der anderen Seite hinunter zum Hotel führte. Automatisch blickte Theo zum Haus, bis ihm aufging, dass zurzeit niemand darin schlief, der durch den Lärm geweckt werden konnte – niemand außer seiner Schwiegertochter, Nicholas und seiner Enkelin; und alle drei mussten ohnehin demnächst aufstehen.

Ein Wagen schälte sich aus der Dunkelheit. Ein ziemlich wuchtiger, und dahinter noch einer. Gegen das Scheinwerferlicht konnte Theo nicht erkennen, um was für Fahrzeuge es sich genau handelte. Erst, als das erste direkt an ihm vorbeifuhr, sah er, dass es ein Kleinbus war, an dessen Steuer eine Frau saß. Dem Van folgten drei, nein, vier Autos mit Wohnwagen, und als der Bus das vordere Ende des neuerdings als Parkplatz bezeichneten Areals erreicht hatte, blieb die kleine Karawane stehen.

Die Frau stieg aus. »Guten Morgen«, brüllte sie.

Theos Brauen hoben sich. Falls seine Familie über den Motorenlärm weitergeschlafen hatte, durften spätestens jetzt alle wach sein.

»Guten Morgen«, gab er zurück, während die beiden aufeinander zugingen. »Willkommen im Wild-at-Heart-Hotel.«

»Aah, wie das klingt.« Die Frau, eine ziemlich kleine, burschikose Person, streckte ihm ihre Hand entgegen. »Minerva Barnes. Aufnahmeleitung. Nennen Sie mich Minnie.«

»Theo«, erwiderte Theo. »Wilde. Mir und meiner Schwiegertochter gehört das Hotel.«

»Ein wunderschönes Haus.« Minnie grinste breit. Theo schätzte sie auf Mitte dreißig, tendenziell gut gelaunt und – obwohl sie kaum zehn Worte von sich gegeben hatte – als äußerst dominant ein. Er hatte ein Gespür dafür. Sie erinnerte ihn an Dottie, Küchenchefin des Hotels und Empfängerin Theos ganzer Bewunderung. Im Gegensatz zu Dottie, deren braune Locken meistens im Takt ihrer gebrüllten Befehle wippten, trug Minnie ihre dunklen Haare kurz, sogar sehr, sehr kurz. Was ihre Nase, ohnehin einen Tick zu groß, noch betonte, doch dies ging Theo eigentlich überhaupt nichts an, richtig?

Er räusperte sich. »Sie sind sehr früh dran«, sagte er.

»Wir mussten mit den Wagen sicher über Ihren abenteuerlichen Fahrdamm kommen«, erwiderte Minnie. »Das ließ uns keine große Wahl. Entschuldigung, dass wir hier einfach so reinplatzen. Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

»Nun.« Theo zuckte mit den Achseln. »Sicher. Ich werde meine Schwiegertochter wecken, einen Augenblick.«

»Das ist nicht nötig, Theo, ich kann helfen.« Nicholas stand auf einmal hinter ihnen, die Haare noch zerzaust vom Schlaf, der Blick jedoch hellwach. Er legte dem alten Theo eine Hand auf die Schulter. »Sollen wir die Wagen einweisen oder erst einmal Kaffee machen?«, fragte er, und Theo drückte die Hand auf seiner Schulter mit der eigenen. Es war zu schön, dass Gretchen nun wieder jemanden hatte, der sie unterstützte. Zu schön, dass wieder ein junger Mann im Haus war, der ihnen allen unter die Arme griff, wenn es notwendig war.

Theo warf einen Blick auf Minnie Barnes, dann auf die Wohnwagen dahinter und rieb sich die Hände. Das schien ein aufregender Winter zu werden und – nach dem Sommer, der erst so dramatisch und später voller ungeduldigen Wartens gewesen war – genau das Richtige für ihn.

3.

Wie es Nettie möglich sein konnte, den kleinen Trailerpark, der mit Nicholas’ Hilfe in wenigen Minuten vor dem Wild-at-Heart-Hotel entstanden war, zu übersehen, ist wahrlich rätselhaft zu nennen, doch genau so geschah es. Nettie, zum einen unausgeschlafen, zum anderen ohnehin seit Wochen mit ihren Gedanken woanders, gelang es, völlig unbeeindruckt an den Wagen vorbei zu ihrem neuen, bescheidenen Stall zu laufen, um die Tiere zu füttern, Paolo und Fred. Gut, es war noch nicht sonderlich hell um kurz nach sieben.

Und dennoch.

In diesem frühmorgendlichen Halbdunkel also öffnete Nettie die neue Holztür zum Stall (einmal mehr überrascht, wie leicht sie sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger öffnen ließ), und dann atmete sie ein. Der Geruch von Heu kitzelte ihre Nase, der von Hafer und Tier, und von einer zur anderen Sekunde ging es Nettie besser, wenn auch nur ein klitzekleines bisschen. Sie bereitete Paolo sein Frühstück und tätschelte dem grauen Kerl liebevoll die Mähne, während er genüsslich schnaubende Geräusche von sich gab. Anschließend verließ sie den Stall und ging in Paolos Außenbereich, wo Fred ein ziemlich bemerkenswertes, neues Gehege bezogen hatte. Es war noch ein gutes Stück größer als das alte und wimmelte geradezu von winzigen Häuschen und Höhlen und Leitern und Ästen, unter denen sich das Frettchen verstecken konnte. Erwartungsgemäß sah sie den kleinen Räuber auch nicht, als sie den Riegel zur Seite schob und in den Käfig trat, um Fred sein Frühstück zu bringen (das aus Trockenfutter bestand und einer Reihe schmaler Fleischwürfel). Sie wollte eben wieder umdrehen, als Fred sich schließlich doch blicken ließ: Er schoss unter einem der kleinen Holzdächer hervor und an ihr vorbei nach draußen.

Nettie verdrehte die Augen. Fred war im Stall verschwunden, vermutlich um Paolo zu besuchen. Sie würde ihm den Spaß gönnen, beschloss sie. Im Augenblick, wenn das Hotel keine Gäste beherbergte und sich somit auch niemand von dem frechen Racker gestört fühlen konnte, war es sicher mehr als harmlos, Fred einfach mal ein bisschen Fred sein zu lassen.

So wie Nettie gern einfach wieder Nettie wäre, dachte sie, während sie den Weg ins Dorf und hinunter zum Hafen einschlug, um hinüber zum nächsten Ort Marazion zu gelangen und dort in den Schulbus zu steigen. Drei Monate und sieben Tage hatte sie Damien jetzt nicht mehr gesprochen, und seither, das musste sie sich wohl eingestehen, war Nettie nicht mehr sie selbst gewesen. Eigentlich schon länger nicht mehr. Schon seit diesem Kuss, mit dem Damien sie überrascht hatte, und der ihr – ganz gegen ihren Willen – besser gefallen hatte, als sie zugeben wollte. In all den Wochen, die seither vergangen waren, hatte Damien sich nicht ein Mal gemeldet. Kein einziges Mal. Keine Nachricht auf dem Handy, keine E-Mail. Keine der altmodischen Briefe, die er ihr dann und wann schrieb. Als hätte er sie aus ihrem Leben gestrichen, war er einfach abgereist, ohne noch ein einziges Mal zurückzublicken. Die Tatsache, dass sich sogar Damiens Väter gemeldet hatten, um sich nach Gretchens Befinden zu erkundigen (in Wahrheit hatten sie nach dem Brand sogar finanzielle Hilfe angeboten, was für ihre Mutter selbstverständlich niemals infrage kam), machte die Sache kein bisschen besser.

Schule war gut, dachte Nettie entschlossen, während sie in die Fishstreet einbog, die durch das kleine Dorf Port Magdalen zu dem Fahrdamm führte, der die Gezeiteninsel mit der gegenüberliegenden Küste verband. Gerade war Ebbe, und Nettie konnte zu Fuß nach Marazion hinüberlaufen. An der Hälfte der Morgen war der kopfsteingepflasterte Weg überflutet, und sie war auf Jet angewiesen, den Bootsmann, der Passagiere von Port Magdalen an die Küste schipperte und wieder zurück.

Nettie zog die Riemen ihres Rucksacks noch ein bisschen enger und setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen. Das Pflaster war grob und vom stets präsenten Meerwasser immer ein wenig rutschig, doch Nettie war diesen Weg ihr ganzes Leben lang gelaufen, sie konnte ihn im Halbschlaf zurücklegen, selbst jetzt, wo der Novemberwind ein weniger stürmischer blies. Über den Rand des Wegs sah sie auf die von Algen umrankten Steine und schließlich auf den sandigen Grund, auf dem das Wasser bei seinem Rückzug wellenartige Streifen hinterlassen hatte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass Damien fand, sandiger Meeresboden gleiche einer Schallplatte, und die Rillen, die das Wasser darauf malte, erzählten Geschichten, von denen sie noch nie gehört hatten. Sie sollte sich vorstellen, dass sie wie ein Raunen klangen, wie das Wispern der Wellen, gedämpft und gebändigt durch den ewigen, immer feuchten Sand, auf dem sie spielten.

Nettie atmete tief ein. Damien sagte manchmal seltsame Dinge. Ganz zu schweigen von dem, was er tat, wie sie küssen beispielsweise, einfach so, aus heiterem Himmel.

Und nun hatte sie wieder daran gedacht. Obwohl sie sich doch fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Weshalb es Zeit war, dass sie in die Schule kam. Oh ja. Schule lenkte sie ab. Und Ablenkung, das war genau das, was Nettie jetzt brauchte in diesen dunklen Stunden ihrer jungen, aber schwermütigen Existenz.

Auf ihre naive, leichtfüßig die Grenzen anderer sprengende Art schien Charlotte instinktiv zu wissen, was ihre Freundin Nettie brauchte. Kaum hatte Letztere den Schulbus in Marazion bestiegen, saß Charlotte bereits neben ihr, das Handy gezückt und ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Ich habe Neuigkeiten«, sang sie, bevor sie die Stimme zu einem Flüstern senkte und verschwörerisch dicht an Nettie heranrückte. »Über die geheimen Dreharbeiten auf eurer Insel«, wisperte sie. »Willst du sie hören?«

»So geheim scheinen die nicht zu sein, wenn du und die halbe Schule davon wissen.« Nettie und ihre Familie waren angehalten worden, offiziell keine Auskunft darüber zu geben, wer in den kommenden Wochen im Hotel absteigen würde (nicht, dass sie das so genau wussten – bis heute hatte man ihnen noch keine Namen genannt). Doch Port Magdalen war eine kleine Insel, Marazion gegenüber quasi ein Dorf, und wenn ein Filmteam für mehrere Wochen anrücken wollte, um hier in der Gegend zu drehen, sprach sich das schneller herum, als sich Läuse im Kindergarten verbreiten.

Charlotte zuckte mit den Schultern. Sie war eine derjenigen, die immer alles wussten, sie war einfach viel besser vernetzt als Nettie. »Ich sollte dir eigentlich böse sein, dass du so gar nichts rauslässt«, erklärte sie jetzt, »aber ich will mal nicht so sein wie du und teile mein Wissen mit dir.«

»Ist ja fantastisch«, kommentierte Nettie trocken, doch Charlotte, die äußerst ungern etwas für sich behielt, ignorierte den Einwand einfach.

»Also«, begann sie verschwörerisch, »soweit ich weiß, handelt es sich um ein Kostümdrama, bei dem Aliens eine Rolle spielen, eventuell Vampire.«

»Vampire?« Nettie runzelte die Stirn. »Und Aliens? In Kostümen?«

Charlotte verdrehte die Augen. »Nagle mich nicht darauf fest, meine Informationsquellen sind verschwommen.«

»Wie kann eine Quelle verschwommen sein?«

»Nettie!« Nicht gerade zurückhaltend rammte Charlotte ihrer Freundin den Ellbogen in die Seite. »Konzentrier dich!«

»Au! Spinnst du?«

»Fokus, hörst du?« Sie starrte in Netties Augen. »Rate, wer die Hauptrolle übernehmen soll?«

»Bei dem Vampir- oder dem Alien-Kostümdrama? Aua!« Nettie rieb sich die Seite, schließlich seufzte sie. »Also gut. Ich habe keine Ahnung. Bitte, bitte, allwissende Charlotte, erleuchte mich.«

»Kein Geringerer als … Trommelwirbel … der großartige Noah Perry.«

Nettie runzelte die Stirn. »Wer?«

»Ach, komm schon, Nettie. Nicht mal du kannst Noah Perry nicht kennen.« Womit sie ihr Handy anhob und wild darauf herumzutippen begann, während sie unermüdlich von einer gewissen, absolut angesagten amerikanischen Fernsehserie erzählte, in der Noah die absolut umwerfendste Rolle von allen verkörperte. »Er ist quasi Sex on a stick«, schloss sie, »Englands heißester Hollywood-Export und Durchstarter Nummer eins.«

»Ehrlich?« Selbst in ihren Ohren klang Nettie gelangweilt, doch Charlotte nickte eifrig.

»Da.« Sie hielt ihr das Mobiltelefon unter die Nase, so dicht, dass Nettie gar nichts erkannte. Erst, als sie Charlottes Hand von sich schob, zeichnete sich das Gesicht ab, das ihre Freundin herangezoomt hatte. Noah Perry war zugegebenermaßen ein gut aussehender Mann, den Nettie auf Anfang, Mitte dreißig schätzte, mit dunklen Locken, dunklen Augen und einem melancholischen Zug um den Mund.

»Gehört dieser traurige Blick zur Rolle, oder guckt er immer so?«, fragte sie, und Charlotte zog das Handy weg.

»Keine Ahnung, was sexy ist«, murmelte sie, und wie ein Blitz schoss Nettie auf einmal die Erinnerung an Damien ins Gedächtnis, wie er auf den Stufen des Jubilee Pool in Penzance saß, wie ihm dunkle Haare wirr in die Stirn fielen und sich die Grübchen auf seinen Wangen abzeichneten, während er lachte. Charlotte schmiegte sich dicht an seine Seite und warf ihm bewundernde Blicke zu.

Tja.

Nettie richtete sich ein Stück in ihrem Sitz auf und brachte so viel Abstand zwischen sich und ihre Freundin, wie es in dem engen Bus möglich war. Vielleicht hatte Charlotte auch Damien als Sex on a stick empfunden, selbst wenn sie nur noch selten von ihm sprach. Was ziemlich schlau von Charlotte war, dachte Nettie. Hätte sie nach diesem Nachmittag am Pool und nach Damiens Abreise darauf bestanden, von ihm zu schwärmen oder, schlimmer noch, mit ihm Kontakt zu halten, Nettie wäre nun nicht nur ihren besten Freund los, sondern auch noch ihre beste Freundin. Ein Glück, dass deren Schwärmereien nie länger hielten, als ein gekochtes Ei heiß blieb. Jede zweite Woche hatte sie einen anderen in ihr Herz geschlossen – rein theoretisch, versteht sich, denn in der Praxis war Charlotte auf dem gleichen Kenntnisstand wie Nettie selbst. Wobei: Sie war immerhin geküsst worden, richtig? Soweit sie wusste, hatte ihre Freundin noch keinen Jungen geküsst – zumindest nicht so.

»… ist eine Schande, oder? Ich meine, so nah und doch so fern.« Charlotte seufzte.

»Wie bitte?«, fragte Nettie verwirrt.

»Och, komm schon, Nettie, was ist denn heute mit dir los? Hörst du mir überhaupt zu? Ich sagte gerade, dass es eine Schande ist, dass Noah vergeben ist – wo wir ihm doch sicher ziemlich nah kommen können, gemessen daran, dass er in eurem Hotel absteigt. Denkst du nicht?« Sie klimperte mit ihren Wimpern, als hätte ihr zweifelhafter Charme irgendeine Auswirkung auf Nettie.

»Wer auch immer da mitspielt und im Wild at Heart untergebracht werden wird«, begann sie diplomatisch, »wird ganz sicher die Loyalität und Diskretion unseres Etablissements zu schätzen wissen.«

»Du meine Scheiße«, grummelte Charlotte. »Du solltest wirklich weniger Zeit auf dieser Insel und mehr mit deinen Freundinnen verbringen. Also«, sie packte ihr Smartphone weg, denn es dauerte nur noch wenige Minuten, bis sie aussteigen mussten. »Ist es eine Schande oder nicht, dass er jahrelang als Single galt, und ausgerechnet jetzt, wenn er nach Cornwall kommt, mit dieser Heather Mompeller zusammen sein soll?«

»Was?« Nettie blinzelte. »Mit wem?«

»Du kennst auch wirklich niemanden«, beschwerte sich Charlotte. »Heather Mompeller. Diese Theaterfrau aus London. Selbst ich kenne die, und ich war noch nie im Theater.«

»Ich, äh … doch …« Heather Mompeller, dachte Nettie. Sie hatte im Sommer mit Ivan Trust zusammen einige Tage im Wild-at-Heart-Hotel verbracht, und diese beiden waren ein Liebespaar gewesen – wenn auch nur heimlich. So etwas konnte sie natürlich Charlotte nicht mitteilen, denn dass die Familie Wilde Stillschweigen über ihre Gäste bewahrte, entsprach ganz und gar der Wahrheit. Gerade in einem so romantischen Haus musste man sich doch auf die Diskretion des Personals verlassen können, oder etwa nicht?

Tja, dachte Nettie. So schnell konnte es offenbar gehen. Im Sommer war Heather noch mit dem einen Mann zusammen gewesen, und nun …

»Nettie! Wo zum Henker bist du mit deinen Gedanken.«

»Entschuldige, ich …« Doch genau in diesem Moment hielt ihr Bus an der Haltstelle vor der Schule, und Charlotte griff wortlos nach ihrem Rucksack, bevor sie den Mittelgang hinunter verschwand.

Nettie seufzte. Zwar hatte Charlotte gar nichts in diese Richtung gesagt, doch sie hatte trotzdem recht: Es musste sich etwas ändern. Sie musste aufhören, Trübsal zu blasen, vor sich hin zu starren, nur an das eine (beziehungsweise den einen) zu denken. Etwas musste sich ändern.

Sie war dabei, sich ihre Jacke überzuziehen, als ihr jemand zu Hilfe kam, ganz so, wie es Ehemänner bei ihren Frauen manchmal tun. Überrascht sah Nettie auf und in das Gesicht von Kevin, der sie anlächelte. Kevin, der beste Freund von Charlottes Bruder und … süß, irgendwie, mit seinen blonden, zerzausten Haaren und dieser schüchternen, höflichen Art.

Ganz anders als Damien.

Genau das, was Nettie jetzt brauchte.

Sie atmete tief ein, dann erwiderte sie Kevins Lächeln. Auf dem Weg von der Bushaltestelle in die Schule sprach sie mehr Worte mit dem Jungen, als in den vergangenen vier Jahren zusammen.

4.

Während Nettie die wenigen Stunden Schlaf kaum anzusehen gewesen waren, bereute Gretchen Wilde ihre nächtliche Backaktion wie üblich schon sehr, sehr bald, in diesem Fall ein paar Stunden nach dem Morgengrauen. Hätte sie ausreichend geschlafen, dachte sie, während der Redeschwall der Aufnahmeleiterin auf sie niederprasselte wie ein heftiger Regenguss, könnte sie der kleinen Frau mit der lauten Stimme bestimmt um einiges besser folgen.

Oder auch nicht.

»Was haben wir hier? Ah, ja. Sehr schön, dass Sie sich auch ums Catering kümmern, Mrs. Wilde, es ist noch nicht ganz klar, wie viele Leute durchschnittlich am Set sein werden, aber rechnen Sie mal mit etwa dreißig bis vierzig Personen.«

»Vierzig?«

»Nun, Maske, Kostüm, Technik, Licht, Kamera … ungefähr dreißig bis vierzig, ja. Dafür müssen die Mahlzeiten nicht aufwendig sein – ein bisschen Ei oder Porridge zum Frühstück, mittags etwas Leichtes wie Salat, Quinoa, gebratenes Hühnchen, et cetera, Kaffee allerdings bräuchten wir rund um die Uhr. Filmleute!« Sie zog eine Grimasse. »Wo ist nur die gute alte Teatime geblieben? Jedenfalls, weil wir noch nicht absehen können, wie wir vorankommen und wie entsprechend lang oder kurz die Drehtage sein werden, ist die Planung einer Abendmahlzeit gerade schwierig, aber dazu kommen wir noch. Am besten wäre, es ist jederzeit irgendetwas verfügbar, sodass keine Versorgungslücken entstehen. Und …«

Tatsächlich überraschte Gretchen die Pause in Minerva Barnes’ Redefluss dermaßen, dass sie erwartungsvoll die Augenbrauen hob. »Und?«

»Äh«, sagte Minerva. »Die Details in Sachen Versorgung gehen wir noch durch. Erst mal müssen wir sehen, ob wir mit den Trailern und der Stromversorgung klarkommen. In dieser Hütte da unten gibt es doch Strom, oder? Fantastisch. Später können wir nachjustieren. Was die Zimmer in Ihrem Hotel angeht«, fuhr sie fort. »Es sind vier und eine Suite, stimmt das so? Nun, falls es zwischen den vier Zimmern noch unterschiedliche Kategorien gibt, bekommt unser Hauptdarsteller bitte das größte und schönste, die Suite geht an die Hauptdarstellerin. Ein Zimmer reservieren Sie für den Regisseur, die anderen beiden halten wir auf Abruf bereit, sie werden je nach Bedarf vergeben. Haben Sie einen Aufenthaltsraum?«

»Nun, wir haben ein kleines Restaurant mit Terrasse und die Lobby, die sehr gemütlich ist. Ich dachte, das haben Sie im Vorfeld alles überprüft?«

»Richtig.« Minerva nickte. »Allerdings nicht ich, sondern meine Vorgängerin. Ich bin erst seit ein paar Tagen an diesem Projekt beteiligt. Die Kollegin davor … Nun, es geht schnell in dieser Branche.«

Ist klar, dachte Gretchen. Für einen Augenblick wünschte sie sich in die nächtliche Küche zurück, umwölkt von köstlichen Backgerüchen und der Ruhe der Nacht. Sie hatte geahnt, dass diese Sache turbulent werden würde, oder etwa nicht? Dennoch hatten sie beschlossen, sich darauf einzulassen, denn was sie in diesen Wochen verdienen würden, speziell durch das Catering, war einfach zu verlockend, um darauf zu verzichten.

»Kann ich das Restaurant mal sehen?«, fragte Minerva jetzt. »Und dann die Zimmer. Pippa!« Sie hatte so laut geschrien, dass Gretchen zusammenzuckte. Auf den Ruf jedoch folgten die eiligen Schritte eines schlaksigen Mädchens mit langen, mausblonden Haaren, das – mit einem Clipboard und zu Gretchens Entsetzen auch mit einem Megafon bewaffnet – auf die zu rannte.

»Pippa, meine Assistentin«, stellte Minnie sie vor. Also führte Gretchen die resolute Aufnahmeleiterin und deren Assistentin zum Haus, während sie misstrauisch das Megafon beäugte, und Theo nach wie vor mit den Technikern zugange war, um die Stromversorgung in den Wohnwagen zu klären. Wie es aussah, wurde er dabei von Nicholas unterstützt, der Gretchen zuzwinkerte, als sie an den beiden vorbeikam. Schon wurde ihr erheblich leichter ums Herz. Sie liebte es, wie sich Nick in den vergangenen Wochen in ihre Familie integriert hatte. Sie waren nach wie vor nicht jede Nacht zusammen, und Nick arbeitete natürlich immer noch in Lori’s Tearoom, doch darüber hinaus war er neuerdings auch Bestandteil des Hotellebens, hatte sich eingefügt, unproblematisch und reibungslos.

»Auf der Terrasse bauen wir ein Zelt auf«, erklärte Minerva Barnes jetzt. »Dann ist ausreichend Platz für alle. Vielleicht können wir eine Art Imbisswagen dazustellen? Oder eine Theke, an der sich alle selbst bedienen. Oh, und Heizstrahler natürlich, reichlich frisch hier oben. Pippa, kümmere dich um die Details. Das Foyer ist wunderbar, um sich im Urlaub mit einem Buch zurückzuziehen, es eignet sich jedoch kaum für Mitarbeiterbesprechungen. Dafür werden wir das Restaurant beanspruchen, ja? Nachdem wir den Großteil des Büfetts nach draußen verlagert haben?«

Gretchen, die umsichtig genug gewesen war, sich einen Schreibblock vom Tresen zu greifen, machte sich Notizen, so gut sie hinterherkam. Bis sie oben mit den Zimmern durch waren, klingelten ihr von Minnies Kommandos und Anweisungen allmählich die Ohren. Sie fragte sich, wie die arme Pippa das aushielt, mit der sie dann und wann einen mitleidigen Blick tauschte.

»Ah, die Räumlichkeiten sind herrlich«, lobte Minnie gerade anerkennend. »Luxuriös, aber nicht aufdringlich, mit genau dem richtigen Maß an Extras, um sich wohl, aber nicht dekadent zu fühlen. Und diese Tapeten! Sie müssen mir unbedingt den Namen Ihres Ausstatters geben.«

»Ja, das …«, begann Gretchen, doch da war Mrs. Barnes schon an ihr vorbeigehuscht und ins nächste Zimmer gestürmt.

»Die Suite.« Die Aufnahmeleiterin blieb in der Tür stehen. »Perfekt. Kein Wunder, dass Heather so begeistert war. Hier kann sie sich in aller Ruhe auf ihre Rolle vorbereiten und nach dem Dreh erholen. Miss Mompeller ist nicht ganz so leicht zufriedenzustellen, erst recht nicht, wenn sie nervös ist.«

»Mompeller?«, wiederholte Gretchen. »Heather Mompeller?«

»Exakt. Das bleibt aber unter uns, ja? Über den Dreh ist bis heute weitestgehend Stillschweigen bewahrt worden, und bis zur offiziellen Pressekonferenz soll das auch so bleiben. Allerdings war Heather ja schon mal hier, und durch sie sind wir erst auf die Idee gekommen, das Hotel für unsere Zwecke zu nutzen.«

»Oh.« Gretchen lächelte überrascht. »Wie schön, das wusste ich gar nicht. Miss Mompeller war …« Sie stockte. Nun hätte sie sich beinahe verplappert und verraten, dass die Schauspielerin im Sommer mit ihrem Kollegen und ihrer heimlichen Liebschaft Ivan Trust im Wild at Heart abgestiegen war. »Sie war hier«, beendete sie schließlich den Satz. »Wie schön, dass es ihr so gut gefallen hat.«

»Mmmh.« Ihre Gesprächspartnerin war mit den Gedanken bereits woanders. »Noah bringen wir im Zimmer neben ihrem unter, ja? Dann haben die beiden es nicht so weit bis zum jeweils anderen.«

»Miss Mompeller und … und wer?«

»Unser Hauptdarsteller. Noah Perry.« Es klang eine mächtige Portion Stolz in der Stimme der jungen Frau mit. »Wir sind unglaublich froh, dass wir ihn gewinnen konnten – nach seinem Erfolg mit Out of Answers war das ja wirklich nicht abzusehen.«

»Klar«, stimmte Gretchen zu. Sie hatte weder je von einem Film namens Out of Answers noch von dem Schauspieler gehört. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um eine Nachfrage zu stellen, da drehte sich Minerva Barnes zu ihr um und sagte in eindringlichem Ton:

»Dass die beiden zusammen sind, weiß noch niemand. Ab-so-lut niemand. Gut, kann sein, dass ein kleiner Hinweis hier und da durchgesickert ist. Aber offiziell soll das bis zur Pressekonferenz ein Geheimnis bleiben. Das heißt auch: Bitte informieren Sie Ihr Personal, dass keinerlei Informationen nach außen dringen dürfen, falls die beiden hier auf dem Hotelgelände zusammen gesehen werden. Haben Sie das verstanden? Alles eine Frage der Dramaturgie, selbst in der Öffentlichkeitsarbeit. Also Stillschweigen. Ist das in Ordnung für Sie? Können wir es so halten?«

5.

Lieber Damien,

für den unwahrscheinlichen Fall, dass Dich mein Leben auch nur noch das kleinste bisschen interessiert:

Vor zwei Tagen sind die ersten Filmleute angereist, um das Gelände, wo einmal unsere Scheune stand, in einen Trailerpark zu verwandeln. Es sind sechs Wohnwagen insgesamt (du weißt schon, Maske, Regie, Technik, Kostüme und so weiter), dazu noch der Kleinbus, der einen Teil der Crew hin und her transportiert, und ich fürchte, hätte es sich Grandpa mit seinem alten Schäferwagen nicht auch dort gemütlich gemacht, wären es noch mehr geworden.

Mit den Dreharbeiten wurde bis jetzt noch nicht begonnen. Denke ich. Es ist nicht wirklich leicht, einen Blick auf das Set zu werfen, das die Leute da unten rund um unsere Lodge aufgebaut haben. Obwohl ich noch nicht einen Schauspieler gesehen habe, läuft massenweise Security herum, die sogar uns davon abhält, dort hinunterzugehen. Was gedreht wird? Keinen blassen Schimmer. Als wäre das ein Staatsgeheimnis. Ich meine, es gibt Gerüchte, über Aliens und Vampire zum Beispiel, aber Genaueres weiß man nicht.

Es wimmelt hier von Leuten, wirklich. Dagegen kommt einem der normale Hotelbetrieb wie das Leben in einem Sanatorium vor. Dauernd ruft jemand etwas oder brüllt Befehle. Dieses Megafon treibt schon jetzt alle in den Wahnsinn. Das ist schlimmer als zehn Dotties zusammen (die hat es übrigens auch nicht leicht). Das Catering für so viele Personen zu stemmen hat sich einfacher angehört, als es ist, schätze ich. Vor allem, wenn Hinz und Kunz immer einen Sonderwunsch äußern und …

Die Spitze von Netties Stift schwebte über dem letzten Buchstaben. Sie las den ersten Teil ihres Briefes noch einmal durch, dann riss sie die Seite aus ihrem Notizblock, zerknüllte sie und warf sie zu den anderen in den Papierkorb unter ihrem Schreibtisch. Dies war bereits ihr neunter Brief an Damien. Und selbst wenn er keinen einzigen davon jemals zu Gesicht bekam (Nettie hatte nicht einen ihrer bisherigen acht abgeschickt), wollte sie ihn nicht mit nichtssagendem Geschwafel langweilen.

Also begann sie von vorn.

...