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Machen Sie Urlaub im romantischsten Hotel der Welt!
Es ist Sommer in Cornwall, doch von entspannten Stunden am Strand sind Gretchen Wilde und ihre Tochter Nettie weit entfernt! Für sie fängt nun die turbulenteste Zeit des Jahres an, denn es ist Hochsaison im »Wild at Heart«, dem kleinen Hotel auf den Klippen über dem Meer, das die beiden gemeinsam führen. Viele Paare reisen hierher, vor allem, weil sich nahe dem »Wild at Heart« ein berühmter Wallfahrtsort für alle Liebenden befindet – ein herzförmiger Felsen. Doch ausgerechnet Gretchen hat sie noch nicht wiedergefunden, die Liebe. Nettie spielt die Kupplerin – doch damit stiftet sie erst mal ein ordentliches Chaos …
Dieser Roman ist unter dem Titel »Wild at Heart – Willkommen im Hotel der Herzen« als Paperback erschienen.
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Seitenzahl: 474
Buch:
Es ist Sommer in Cornwall, doch von entspannten Stunden am Strand sind Gretchen Wilde und ihre Tochter Nettie weit entfernt. Für sie fängt nun die turbulenteste Zeit des Jahres an, denn es ist Hochsaison im »Wild at Heart«, dem kleinen Hotel auf den Klippen über dem Meer, das die beiden gemeinsam führen. Viele Paare reisen hierher, vor allem, weil sich nahe dem »Wild at Heart« ein berühmter Wallfahrtsort für alle Liebenden befindet – ein herzförmiger Felsen. Doch ausgerechnet Gretchen hat sie noch nicht wiedergefunden, die Liebe. Nettie spielt die Kupplerin – doch damit stiftet sie erst mal ein ordentliches Chaos …
Autorin:
Anne Sanders lebt in München und arbeitete als Journalistin, bevor sie sich für die Schriftstellerei entschied. Zu schreiben begann sie bei der »Süddeutschen Zeitung«, als Autorin veröffentlichte sie unter anderem Namen bereits erfolgreich Romane für jugendliche Leser. Die Küste Cornwalls begeisterte Anne Sanders auf einer Reise so sehr, dass sie spontan beschloss, ihren nächsten Roman dort spielen zu lassen. »Sommer in St. Ives« eroberte die Herzen der Leserinnen und war wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Auch »Mein Herz ist eine Insel« und »Sommerhaus zum Glück« waren große Erfolge.
Von Anne Sanders bereits erschienen:
Sommer in St. Ives · Mein Herz ist ein Insel · Sommerhaus zum Glück · Willkommen im Hotel der Herzen · Wild at Heart – Winterglück im Hotel der Herzen
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Anne Sanders
Willkommen im Hotel der Herzen
Roman
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Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung und –motiv: www.buersued.de
JF · Herstellung: wag
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-23679-3V001
www.blanvalet.de
Für blö, meinen höchstpersönlichen Herzfelsen
Die Kapelle war so alt wie das Meer, hieß es. Niemand wusste, wann sie erbaut worden war. Auch wer sie errichtet hatte, war nicht bekannt, und nicht, welchem Zweck sie gedient hatte. Da saß sie, auf dem Gipfel des Felsens, geduckt gegen den Wind, die braunen Steine gebleicht von Sonne und Seeluft. Sicher habe da nie einer drin gepredigt, erzählte Opa Theo jedem, der es hören wollte (und allen anderen auch). Ein guter Piraten-Ausguck sei sie gewesen, um Schiffe am Horizont auszumachen. Oder Schmuggler, Räuber der Keltischen See. Tatsächlich führte ein Geheimgang von der kleinen Kirche durch den Fels hinunter zum Strand. Er war zugeschüttet, und niemand ahnte, wo genau er eigentlich entlanglief, und doch ließen sich durch ihn Theos haarsträubende Theorien untermauern. Im buchstäblichen Sinn. Und dann gab es da noch diese Spukgeschichten. Doch die stehen auf einem anderen Blatt.
Wie dem auch sei – das Kirchlein St. Magdalen hatte es immer schon gegeben und bald danach auch das Hotel. Nun, nicht gleich danach. Mehr so … ein paar Hundert Jahre später. Nachdem sich aus den vereinzelten Hütten am Hafen ein Dorf aus bescheidenen Steinhäuschen geformt hatte, das sich zu beiden Seiten einer steilen Straße den Hügel hinaufwand. Port Magdalen. Ein Bild von einem Ort. Auf einer Gezeiteninsel gelegen, was allein eine Extravaganz darstellte, und in der Tat dermaßen schön, dass es zu den hübschesten Dörfchen Cornwalls zählte (was bei einem solch charmanten Flecken Erde wahrlich als Auszeichnung gelten durfte). Die bescheidenen Cottages wurden mit den Jahren weiß getüncht, sie erhielten Giebelfenster, verspielte Vordächer und bunte Geländer, Blumenkästen vor den Simsen und im Wind schwankende Metall- oder Holzschilder, auf denen Dinge standen wie Cornish Ice Cream, Graham’s Inn oder Donkey Rides. Und, ja: Esel spielten eine wesentliche Rolle in Port Magdalen wie auch in dieser Geschichte, und darüber hinaus besagtes Hotel. Das, welches auf der Rückseite des Hügels über den Klippen thronte wie das letzte Stück Land vor einem riesigen Ozean. In dem Opa Theo schon als Junge mitgeholfen hatte, wenn stadtmüde Städter auf das beschauliche Eiland vor der kornischen Küste flohen, um sich die salzige Brise um die Nase wehen zu lassen und die Aussicht auf den endlosen Horizont zu genießen. Und die auf den Felsen natürlich. Den herzförmigen Felsen vor den Steilklippen von Port Magdalen. Groß wie ein Haus war er und gab dem Wild at Heart seinen Namen.
Dies war nicht immer das romantischste Hotel Englands gewesen. Auch reisten nicht von Beginn an liebestolle Paare an, um sich einander vor dem steinernen Herzen ewige Liebe zu schwören. Es gab Jahre, da war das Haus nur selten mit Lachen erfüllt. Und Zeiten, da waren Staubmilben die einzigen Gäste. Doch all das ist lange vorbei, denn heute – heute hat dieser magische Ort zu seiner Berufung zurückgefunden. Selbst wenn seine Bewohner ein ums andere Mal straucheln. Weil es mit dem Leben eben oft nur halb so einfach ist, wie es scheint.
Und dennoch.
Oder gerade deshalb.
Willkommen im Wild-at-Heart-Hotel. Was kann die Liebe für Sie tun?
Warum der erste Tag der Sommersaison mit einem Knall begann und beinahe mit einem Kuss endete
Belegungsplan
Raum 1, Doppelzimmer, Blick über den Vorplatz hin zum Wald: Shawna und Larry Everson, Lehrer-Ehepaar aus Aberdeen, zum dritten Mal im Wild-at-Heart-Hotel, die beiden feiern ihren zwanzigsten Hochzeitstag.
Raum 2, Doppelzimmer, Meerblick: Dana Leister und Jim Cellar, Kosmetikerin und IT-Spezialist aus London, zum ersten Mal im Wild-at-Heart-Hotel. Anlass: Jahrestag.
Raum 3, Zwei-Bett-Zimmer, Blick über den Vorplatz hin zum Wald: Valerie Fournier, Fotografin aus Lille, fotografiert die Gegend um Port Magdalen für einen Bildband.
Raum 4, Doppelzimmer, Meerblick: Dean und Doreen Wanderer, Rucksacktouristen aus Neuseeland.
Suite, Meerblick: Heather Mompeller und Ivan Trust, Theaterschauspieler aus London, er gilt als ewiger Junggeselle, was einen Teil seines Erfolgs ausmacht. Beziehung zu Mompeller geheim.
1.
Atme ein. Atme aus. Sauge den Sauerstoff in dich hinein, bis er dich erfüllt, vom Ansatz deines Haars bis in die Spitzen deiner Zehen. Lass die Kraft der Ruhe den Geist durchströmen und die Energie des Tages deinen Körper durchfluten. Mit dem ersten Tropfen goldenen Sonnenlichts, der in dein Inneres fließt, sollen deine Sinne geweckt und deine Kräfte mobilisiert werden.«
»Amen«, murmelte Nettie.
»Kaffee«, grummelte ihre Mutter.
»Atmen«, wiederholte Theo streng, während er von der Position des ersten Kriegers in die des zweiten wechselte und seinen beiden Mitstreiterinnen dabei einen mahnenden Blick zuwarf. Die Uhr, die das Trio gerade nicht zu betrachten in der Lage war, zeigte 5:32 Uhr an. In sieben Minuten würde die Sonne aufgehen, und schon jetzt warf sich der Himmel in seine pastellfarbene Schale, spannte sich schmeichelnd über den Ozean, der vor ihnen lag, über die Klippen, auf denen sie standen, über das Hotel hinter ihnen, das sich zu diesem Zeitpunkt noch in tiefem Schlaf befand. Etwas, das Gretchen von sich selbst auch gern behauptet hätte. Das Aufstehen war das Schlimmste für sie. Nach all den Jahren, die sie nun schon das Wild at Heart führte, hatte sie sich an die frühen Zeiten nie wirklich gewöhnen können. Und heute war es besonders hart gewesen. Nach dieser ruhelosen Nacht hätte sie den Wecker am liebsten aufgegessen, nur, damit er Ruhe gab.
Gretchen streckte die Muskeln. Sie wollte jetzt nicht daran denken, was ihr den Schlaf geraubt hatte, nicht für die nächsten paar Minuten zumindest.
Ihre Tochter gähnte neben ihr, ungeniert und anhaltend.
»Wenigstens du hättest liegen bleiben können«, raunte Gretchen ihr zu. »Immerhin ist heute dein erster Ferientag. Da musst du doch nicht gleich Vollgas geben.«
»Witzig, dass du ein paar Yogaübungen schon für Vollgas hältst«, gab Nettie zurück und warf ihr einen gespielt mitleidigen Blick zu.
Gretchen verdrehte die Augen.
Theo sprach mit seiner besten gebieterischen Stimme: »Und nun heißen wir den Morgen willkommen mit einem Gruß an die Sonne. Langsam aufrichten. Hände über den Kopf strecken, als wollten wir die Wolken am Bauch kitzeln. Ganz allmääählich nach vorn beugen …«
»Uffz.« Gretchen stöhnte. Nettie kicherte. Die zwei sahen sich an, und schließlich mussten beide lachen.
»Wir strecken ein Bein nach hinten und bereiten uns vor auf den herabschauenden Hund«, sagte Theo.
Und so wurde es denn auch gemacht.
»Die Eversons checken heute aus«, verlas er fünfzehn Minuten später, als sie in der gemütlichen Wohnküche Platz genommen hatten, die zu Gretchens und Netties Privaträumen gehörte. Der Wasserkocher fauchte im Hintergrund, während Gretchen schwarzes Pulver in ihre Espressokanne rieseln ließ, Nettie Müsli und Milch auf den runden Holztisch stellte sowie den Toastständer und die Orangenmarmelade und Theo über seinem dicken, in Leder gebundenen Terminbuch saß. »Und Dana Leister wird nicht müde zu betonen, wie sehr ihr das Date-Night-Dinner gefallen hat. Es sei ein bisschen zugig gewesen im Stall, nichtsdestotrotz ein unvergleichliches Erlebnis. Was ich bestätigen kann«, fügte er hinzu. »Die beiden spielten bis weit nach Mitternacht immer dieselbe alte Platte, Etta James, und es knirschte und knarzte, als hätten sie die ganze Nacht durchgetanzt.«
»Aaaah«, machte Nettie, goss heißes Wasser in eine Teekanne und setzte sich damit zu ihrem Großvater an den Tisch. »Das klingt schrecklich romantisch. Toast? Oder hättest du lieber Eier zum Frühstück?«
»Toast oder Eier.« Gretchen lachte. »Mit deinem Sinn für Romantik ist es ehrlich nicht weit her.«
»Ich arbeite daran«, gab Nettie empört zurück.
»Ganz recht«, stimmte Theo ihr zu. »Du solltest dir ein Beispiel an deiner Tochter nehmen.«
»Siehst du!«
»Aber ja doch.«
»Großvater weiß, wovon er spricht.«
»Natürlich weiß er das. Er macht das ja schon lange genug. Seit der Steinzeit, würde ich schätzen. Vermutlich hat er höchstpersönlich da unten das Herz aus dem Fels geschlagen.«
Theo brummte lediglich, während er nach wie vor in seinem Buch blätterte, und Gretchen zwinkerte ihrer Tochter zu, bevor sie die Espressokanne auf den Herd setzte. Für einige Sekunden herrschte Stille in der Küche, nur das Ticken der Uhr war zu hören, die über der Tür zur Speisekammer hing.
Nach Christophers Tod hatte Gretchen dieses Geräusch beinahe wahnsinnig gemacht. Die Erinnerung an jenen letzten Tag, an das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Und dann dieses Ticken in der Stille, das die Tatsache, dass er weg war und nie wiederkommen würde, noch unerträglicher machte. Sie war kurz davor gewesen, das Ding von der Wand zu reißen und wegzuwerfen, doch nicht einmal das hatte sie fertiggebracht. Und auch jetzt noch, wenn das Geplapper von Theo und Nettie bei ihren morgendlichen Besprechungen für einen Moment verebbte, hämmerte das Fortlaufen der Uhr wie ein nervtötendes Memento an ihr Bewusstsein.
»Die Neuzugänge von heute sind Dean und Doreen Wanderer aus Neuseeland sowie Oane und Rafaela Botello aus Santiago de Compostela«, sagte Theo jetzt. »Letztere wollen sich verloben, weshalb für heute Abend ein Candlelight-Dinner gebucht ist. Oh, und Oane Botello ist Vegetarier«, erklärte er noch, was Gretchen mit einem leisen Stöhnen quittierte, das ihr Schwiegervater geflissentlich überhörte. »Und was unser heimliches, theatralisches Liebespaar angeht«, fügte er hinzu, »nach dem Frühstück auf dem Zimmer wollen die beiden den Tag auf dem Segelboot verbringen. Es ist gebucht, jemand muss nur noch den Skipper anrufen, wenn sie so weit sind.«
»Die zwei haben aber auch ein Pech«, warf Nettie ein. Es war nicht das erste Mal, dass prominente Gäste sich im Wild-at-Heart-Hotel für ein paar Tage unbeobachteter Seligkeit einmieteten, aber es kam eher selten vor, dass sich ausgerechnet zur selben Zeit eine Fotografin im Haus aufhielt. Madame Fournier war zwar wegen eines Buchprojekts im Hotel abgestiegen, sollte sie allerdings Wind davon bekommen, dass sich zwei bekannte britische Schauspieler, die eigentlich nicht zusammen sein dürften, hier ein Zimmer teilten …
»Ich denke nicht, dass Madame Fournier die beiden überhaupt kennt«, sagte Gretchen. »Immerhin ist sie Französin und Mr. Trust hauptsächlich in der britischen Theaterszene bekannt.«
»Sind wir dennoch vorsichtig«, erwiderte Theo. »Wir wollen nicht das Hotel der gebrochenen Herzen werden, wollen wir das?«
»Oder das der gebrochenen Nasen«, stimmte sie zu, denn Ivan Trust ging nicht gerade zimperlich dabei vor, seine Privatsphäre zu schützen, so viel war bekannt.
»Macht Hazel ein Picknick für die beiden fertig?«
Theo zog eine Grimasse. »Ich hoffe es. Aber die Stimmung in der Küche ist gerade mehr als fragwürdig, nachdem Dottie die arme Tiffy vergrault hat.«
Gretchen seufzte. Auch das war nichts Neues für sie. Immerhin kam es nicht zum ersten Mal vor, dass die Küchenchefin eines der Mädchen so sehr einschüchterte, dass es das Weite suchte.
»Ich bin dran«, sagte sie. »Bei Dotties Mitarbeiterverschleiß könnte ich die Anzeige eigentlich gleich im Abonnement schalten.«
»Ich helfe später in der Küche«, bot Nettie an. »Oder möchtest du das tun?« Sie grinste ihren Großvater an. »Sicher freut sich die liebe Dottie über deine Gesellschaft.«
»Entweder von selbst – oder ich zwinge sie dazu.« Theo kicherte, Nettie hielt ihm die Handfläche hin, und ihr Großvater klatschte sie ab.
Lächelnd schüttelte Gretchen den Kopf, während sie sich umdrehte, um sich ihrem mittlerweile fertigen Espresso zu widmen. Tick, tick, tick, machte die Uhr. Und ehe sie sich versahen, war ein neuer Tag angebrochen im Wild-at-Heart-Hotel.
2.
Ein Doppelzimmer, sagen Sie? Für welchen Zeitraum bitte? Ah, ich verstehe. Es tut mir leid, aber da sind wir ausgebucht. Lassen Sie mal sehen … nächste Woche wäre es eventuell möglich … Nein? Ab September … Ja, gut. Natürlich, melden Sie sich dann. Auf Wiedersehen im Wild at Heart.«
Theo legte den Hörer des altmodischen Telefons zurück auf die Gabel und schob das in Leder gebundene Terminbuch ein Stück von sich weg. Er streckte sich. Inzwischen war es beinahe halb neun, und das Telefon mochte an diesem Morgen nicht stillstehen. Theo fragte sich, ob es wieder einmal einen Artikel über Port Magdalen gegeben hatte, von dem sie nichts wussten. Einen Bericht, in dem die Insel als »schwimmendes Schmuckstück vor der Küste Cornwalls« beschrieben wurde oder ihr Haus als »beliebtes Ziel für Romantikliebhaber«. Als hätte Port Magdalen noch mehr Publicity nötig. Das kleine Eiland, keine hundertfünfzig Meter hoch und nur 0,36 Quadratkilometer groß, wurde von Touristen überschwemmt, sobald es die Gezeiten erlaubten. Mit der Flut schwappten sie über die Hafenmauer, ließen sich den steilen Weg zur Kapelle hinauf- und wieder hinunterspülen, krallten sich unterwegs an Lori’s Tearoom fest oder an Graham’s Pub, griffen wahllos nach ein paar Postkarten, bevor sie zurück aufs Festland geschwemmt wurden. Tagsüber wuselte es auf Port Magdalen wie in einem Ameisenberg, doch die wenigsten blieben über Nacht, was vor allem der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass es nicht genügend Betten gab. Die beiden Bed & Breakfasts im Dorf verfügten über je zwei Zimmer, das Wild at Heart hatte gerade mal vier sowie eine Suite und durfte sich vermutlich nur deshalb Hotel nennen, weil es einfach immer schon so geheißen hatte. Gleichwohl änderte es nichts daran, dass die Wildes ein ganz wundervolles Haus hatten. Etwas größer und breiter und doch im typischen Cottage-Stil, mit weißer Fassade, Kassettenfenstern und grauem Schindeldach. Das Restaurant bot Platz in einem hübschen Wintergarten mit Meerblick, falls es zu zugig war für die Sonnenterrasse (was in typisch britischer Manier bedauernswerterweise öfter der Fall war). Es gab einen Windfang mit einem überdachten Schlafplatz für den Kater und eine zischende Schiebetür, die in die heimelige, von Kaminwärme erfüllte Lobby einlud.
Theo ließ den Blick über die dicken roten Teppiche schweifen, die braunen Chesterfield-Sofas, die bunten Kissen darauf. Fast immer knisterte ein Feuer in den beiden Kaminen, und wenn es Abend wurde, flackerten Kerzen auf Wandregalen und Tischen. Die vielen Bücher, die den Rest des Platzes füllten, waren seinem Sohn und seiner Enkelin zu verdanken. Christopher war ein begeisterter Leser gewesen, und Nettie hatte er ebenfalls infiziert.
Apropos Nettie. Eigentlich müsste sie bald hier auftauchen, um ihren alten Großvater am Rezeptionstresen abzulösen. Wie der seine Enkelin kannte, hatte sie bei ihrem Rundgang zu den Tieren die Zeit vergessen, sich mit Paolo, dem Esel, verquatscht oder jedes Huhn einzeln begrüßt.
Das Telefon klingelte erneut. Und Theo dachte, dass es sicher nicht an der Nachfrage lag, wenn es finanziell manchmal eng wurde bei ihnen, es hing vielmehr damit zusammen, dass sie nicht über die räumlichen Kapazitäten verfügten, um ihr gerecht zu werden.
Er räusperte sich. »Willkommen im Wild-at-Heart-Hotel. Was kann die Liebe für Sie tun?«
»Musst du das wirklich immer dazusagen, Theo? Die Gäste, die unser Haus noch nicht kennen, werden denken, hier hausen Verrückte.«
»Man kann nicht früh genug damit anfangen, die Menschen mit der Wahrheit zu konfrontieren«, gab Theo leichthin zurück. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden diese Diskussion führten. Gretchen nahm es mit dem Romantik-Marketing nicht halb so ernst wie ihr Schwiegervater. »Wo steckst du, Kind? Es klingt, als würdest du dich von einem Hubschrauber abseilen.«
»Ich musste das Quad nehmen, irgendwas stimmt mit dem Jeep nicht.« Über den Motorenlärm hinweg hörte Theo Gretchen seufzen. Er konnte freilich nicht ahnen, dass dieses Seufzen weit mehr umfasste als nur die Sache mit dem Auto. »Kannst du bitte die Werkstatt anrufen?«, fragte sie. »Ich brauche den Wagen, oder soll ich die neuen Gäste mit diesem Ding am Hafen aufsammeln?«
»Betrachte es als erledigt. Und grüß den alten Fortunato von mir.«
»Das werde ich ganz sicher nicht tun.«
Theo grinste. Er legte den Hörer auf und zog sein abgenutztes Adressbuch aus der Schublade. Viele Dinge hatten sich geändert, seit er das Hotel vor mehr als fünfzehn Jahren seinem Sohn übergeben hatte, allerdings nicht die Art und Weise, wie Theo die Dinge regelte. Er weigerte sich, den Computer zu benutzen oder auch nur ein schnurloses Telefon, er notierte Reservierungen in einem dicken Terminkalender und Telefonnummern in ebendiesem Adressbuch. Mit Christopher hatte es deswegen oft Streit gegeben, doch seit er nicht mehr bei ihnen war, spielten andere Dinge eine Rolle als die Kleinigkeiten, wer wie welche Geschäfte führte. Gretchen und Theo hatten auf einmal allein dagestanden, sich um das Hotel und um das kümmern müssen, was Christopher angefangen und nie beendet hatte. Und natürlich um Nettie, die noch keine zwölf gewesen war, als sie ihren Vater verloren hatte. Die Familie war gestrauchelt und wieder auf die Füße gekommen, und jetzt tat eben jeder, was und so gut er es konnte.
Theo rief den Mechaniker an, der leider einige Meilen von Port Magdalen entfernt wohnte. Entsprechend wollte er von einem Notfall nichts wissen, gab aber nach, als ihm klar wurde, dass ansonsten Gretchen in der Klemme stecken würde. Theos wunderschöne, viel zu früh zur Witwe gewordene Schwiegertochter war ein hochgeschätztes und heiß geliebtes Mitglied der kleinen Inselgemeinde, und das, obwohl sie nicht einmal Engländerin war.
So manches Mal fragte Theo sich, ob Gretchen je daran gedacht hatte, wieder nach Norwegen zu gehen; diese Insel, die im Grunde die Heimat ihres Mannes war, hinter sich zu lassen und zurückzukehren in ihre eigene. Sie hatte nie davon gesprochen, und er hoffte es nicht. Gretchen und Nettie waren die einzige Familie, die ihm geblieben war, in einem Haus, das zu ihm gehörte wie die Gischt zu den Klippen, an denen sie sich kräuselte.
Apropos. Familie, Haus und so weiter und so fort. Theo zog seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. 8:27 Uhr. Die meisten der Gäste saßen bereits beim Frühstück, das Mädchen würde bald mit den Zimmern beginnen, Gretchen von ihrer Runde zurückkehren und Nettie ihren wilden Haarschopf ins Foyer tragen.
Über den Empfangstresen beugte sich Theo nach vorn, um durch die verglaste Schwingtür einen Blick ins Restaurant zu werfen. Tatsächlich waren die meisten der kleinen, mit weißen Tüchern bedeckten Tische besetzt, und wenn er sich anstrengte, konnte er über die Musik im Foyer hinweg Stimmengewirr wahrnehmen und das Klappern von Besteck. Dies war einer der liebsten Klänge des alten Mannes, weil es besagte, dass das Hotel mit Leben gefüllt war – und nichts war schwerer zu ertragen als ein leeres Haus, das Platz für viele bot. Und dies war einer seiner liebsten Anblicke, dachte er, die Augen auf Dottie gerichtet, die mit gewohnt energischen Schritten auf die Schwingtür zumarschierte, um sich noch energetischer dagegenzustemmen.
»Wann wird eine neue Hilfskraft fürs Restaurant eingestellt?«, blaffte sie. »Wir haben in der Küche wahrhaftig genug zu tun, um zwischen Eiern, Speck und Tee und weiß der Kuckuck was noch die Gäste zu bedienen.«
»Dir auch einen wunderbaren guten Morgen, Dottie. Hast du gut geschlafen?«
Die Küchenchefin schnaubte. Die Kochschürze spannte über ihrem straffen, voluminösen Körper, und die braunen Locken wippten voller Elan. Dorothy Penhallow war niemand, der gern Zeit verschwendete. Und erst recht war sie niemand, der sich von einem alten Charmeur wie Theodor Wilde um den Finger wickeln ließ.
»Wann, Theo?«, knurrte sie.
»Wann was, Dottie? Wann wirst du endlich ein bisschen freundlicher zu den Angestellten sein, damit sie nicht schon nach ein paar Tagen davonlaufen und wir jemand neuen einstellen müssen? Oder wann wirst du endlich meinen Heiratsantrag annehmen, damit ich eine ehrbare, gut gelaunte, entspannte Frau aus dir machen kann?«
Die Köchin verdrehte die Augen. Sie murmelte etwas, das verdächtig nach alter Esel klang, bellte ihm ein letztes »Dieses Mädchen muss ersetzt werden« entgegen und machte sich entschieden auf den Weg zurück in die Küche.
Theo sah ihr nach. Dorothy Penhallow, dachte er, war eine Klasse für sich. Fabelhafte Frau. Jünger als er, um fünfzehn Jahre mindestens, und resolut wie ein Feldwebel. Ebenso unnachgiebig. Furchteinflößend. Sie war schon ewig im Hotel, und beinahe genauso lange bombardierte er sie mit seinen Anträgen. Was wohl geschehen würde, wenn sie jemals einen annahm? Die Hölle würde zufrieren, das würde vermutlich geschehen.
»Na, hat die gute Dottie heute etwa Ja gesagt?« Nettie tauchte neben ihrem Großvater auf. Sie roch nach Stroh und frischer, kornischer Sommerluft.
»Der Tag wird kommen, keine Sorge«, erwiderte Theo.
Nettie kicherte. Sie schob sich an ihrem Großvater vorbei, um den Computer hochzufahren, den er selbst wie üblich mit stoischer Ignoranz bedacht hatte.
»Schon irgendwelche Buchungen heute Morgen?«, fragte sie.
»Mitnichten.« Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Theo da, auf den Fußballen wippend. Sie beide wussten, dass Nettie die Aufzeichnungen trotzdem vergleichen würde. Die Entscheidung, das wunderschöne, aber unpraktische Gästebuch zu behalten, ging zwangsläufig mit doppelter Arbeit einher, da der Computer – so behaupteten jedenfalls Nettie und Gretchen – für die Buchhaltung unerlässlich war.
»Und? Womit soll ich anfangen?« Nettie war keine zwei Minuten in der Lobby, schon hatte sie den Rechner gestartet, das schnurlose Telefon in die Tasche ihrer Jacke geschoben und ihre wilde Mähne mit einem Bleistift-Dutt gebändigt. Sie sah ihren Großvater erwartungsvoll an. Die Augen wach, die Hoteluniform aus schwarzem Sakko und Hose plus kirschroter Bluse einwandfrei in Form. Sie war ein gutes Kind, befand ihr Großvater. Ein sehr gutes Kind.
»Deine Mutter hat recht – du musst an deinem ersten Ferientag nicht gleich Vollgas geben. Geh ein bisschen raus, runter an den Strand, vergrab deine Zehen im Sand und such ein paar Muscheln.«
»Die Ferien sind noch lang. Und wie heißt es so schön: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«
»Woher du diese Weisheiten hast«, sagte Theo. »Von mir ganz bestimmt nicht.« Wohlwollend sah er seiner Enkelin zu. Sie war ein wirklich gutes Kind. Und eine Wilde durch und durch. Theo sah in ihr den gleichen Enthusiasmus, der ihn erfüllt hatte, als er noch ein Junge gewesen und die Arbeit im Hotel, hinter der Rezeption und in den Zimmern, mit den Gästen und in der Küche, das Aufregendste war, was er sich hatte vorstellen können. Nettie ging auf dem Festland zur Schule, und nachmittags half sie, wo immer sie gerade gebraucht wurde. Seit dem Tod ihres Vaters schien es, als wollte sie da weitermachen, wo Christopher aufgehört hatte, das fortführen, was ihm verwehrt worden war. Netties Herz schlug wild für das Wild at Heart. Und Theos Herz wurde weich vor Liebe für sie.
Und jetzt klingelte das Telefon. Schon wieder.
»Willkommen im Wild-at-Heart-Hotel«, sagte Nettie. »Was kann die Liebe für Sie tun?«
Sie zwinkerte ihrem Großvater zu, und Theos Brust schwoll an vor Stolz, mehr noch, als sie ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass sie übernehmen würde und er frei war zu gehen. Also grinste Theo noch ein bisschen mehr, während er sich auf den Weg nach draußen machte, in den sonnigen Morgen.
3.
Nettie sah ihrem Großvater nach, wie er einen letzten Blick ins Restaurant und vermutlich auf Dottie warf, dann durchs Foyer schritt, hier ein Kissen aufschüttelte und da eine Kerze zurechtrückte, bevor er summend am alten Plattenspieler haltmachte, um das Album zu wechseln. Sinatra, höchstwahrscheinlich. Oder einer der anderen des Rat Packs. Oder Ella Fitzgerald, natürlich. Hauptsache, Bar Jazz, schummrige, angestaubte Töne, die dem Foyer ihres Hotels eine Stimmung von Bogart und Boheme verliehen, und das schon vor 9 Uhr morgens. Am Ende tänzelte Theo durch den Windfang nach draußen, im Takt der Musik und ganz sicher zu jeder Schandtat bereit.
Nettie wusste, wenn es nach ihrem Großvater ginge, würde er sich den Rest des Tages in seine Scheune verkriechen, um an irgendeiner Erfindung zu basteln, die keinem Menschen je nützen würde, aber sei’s drum. Die Arbeit in der Werkstatt war Theos liebstes Hobby – abgesehen davon, die Küchenchefin möglichst an den Rand des Wahnsinns zu treiben –, und mit Mitte siebzig stand es ihm wahrlich zu, sich seinen Vorlieben zu widmen. Die nicht jedem so gut gefielen wie ihm selbst, dachte Nettie grinsend. Vor zwei Tagen zum Beispiel hatte Theo seinen von ihm selbst entworfenen Eierköpfer testen wollen und dabei ein solches Schlachtfeld im Restaurant angerichtet, dass Mrs. Everson auf einen Stuhl gesprungen war vor Schreck. Theo machte keinerlei Anstalten, jemals vernünftig zu werden. Nettie hoffte sehr, dass sie in seinem Alter genauso sein würde.
»Ja, Mr. Tellson, alles in Ordnung mit Ihrer Reservierung, vielen Dank für die Bestätigung.« Sie legte den Hörer auf und nahm Theos schweres Terminbuch zur Hand, um seine Eintragungen mit denen im Computer zu vergleichen.
Wenn man wollte, konnte man Nettie durchaus als Paradoxon bezeichnen, und das in vielerlei Hinsicht. Zum einen war sie ohne Zweifel Gretchens Tochter, sah aber kein bisschen aus wie sie. Im Gegensatz zu deren norwegisch-blass-blond-und-blauäugiger Erscheinung war Netties widerspenstige Haarpracht ebenso braun wie ihre Augen, und die Nase war leicht gekrümmt wie die ihres Vaters. Auch war sie kleiner als ihre Mutter, was ebenfalls Christophers Linie zuzuschreiben war, und ihr Wesen … Nun, sagen wir einfach, wenn ihre Mutter sie pragmatisch nannte, gab es dafür einige ziemlich gute Gründe. Wie war es zum Beispiel möglich, dass jemand, den die Romantik tagtäglich quasi in den Hintern biss, derart nüchtern sein konnte? Das Wild-at-Heart-Hotel machte seinem Namen alle Ehre – es quoll über vor Hygge-gerechten Accessoires, um es seinen Bewohnern so behaglich wie möglich zu machen. Die verrücktesten Gäste hatten hier bereits eingecheckt, um malerische Tage zu verbringen, in einem der kuscheligen Zimmer mit Blick auf den herzförmigen Felsen, der bereits Zeuge so mancher mehr oder weniger skurriler Heiratsanträge geworden war. Und doch: Nettie ließ sich von alldem nicht anstecken. Sie spürte keinen einzigen Funken Romantik in sich, nicht den kleinsten, nicht mal im Ansatz. Aber was nicht war, konnte noch werden, und Nettie hoffte in der Tat am meisten darauf. Für das nämlich, was sie in diesem Sommer geplant hatte, würde sie jeden Anflug von Romantik gebrauchen können.
Sie scrollte durch die Anmeldungen. Bei Damiens Namen leuchteten ihre Augen auf. Nur noch ein paar Tage, dann würde ihr bester Freund anreisen, um den Sommer wie in jedem Jahr auf der Insel zu verbringen.
Nettie und Damien kannten sich schon ewig. Seit ihrem fünften Lebensjahr etwa, seit er das erste Mal mit seinen beiden Vätern nach Port Magdalen gekommen war. Damien, sechzehn Jahre alt und genau zwei Tage jünger als Nettie, war damals scheu gewesen und in sich gekehrt, doch irgendwie war es der quirligen Tochter der Hoteleigentümer gelungen, den Jungen aus seinem Schneckenhaus zu locken. Was womöglich einer der Gründe war, warum Clive und Logan Angove seither regelmäßig mit ihrem Sohn nach Port Magdalen fuhren, um dort einen guten Teil ihrer Sommerferien zu verbringen. Das und (Gerüchten zufolge) die Panorama-Badewanne mit Meerblick.
Wie dem auch sei: Damien war wie ein Bruder für Nettie. Und obwohl die beiden sich regelmäßig schrieben, konnte sie es nicht erwarten, bis sie sich endlich persönlich mit ihm über ihre Pläne für den Sommer austauschen konnte. Die ihre Mutter einschlossen. Sowie einen gewissen Harvey Hamilton, der am selben Tag wie Damien ins Wild at Heart einchecken würde, dem Nettie noch nie begegnet war und von dem sie doch hoffte, dass er in Zukunft eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Leben spielen würde.
»Harvey Hamilton«, murmelte sie, während sie sich auf dem Weg zum Aquarium zwischen den alten Chesterfield-Sesseln und -Sofas hindurchschlängelte, um ihre Fische zu füttern. »Wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht ködern könnten.«
Ein Glück, dass Netties Mutter Gretchen von diesem Selbstgespräch nichts mitbekam, denn sie hätte sich sehr darüber gewundert. Nicht nur hatte sie keine Ahnung davon, dass Nettie sich offenbar über diesen neuen Gast eingehend erkundigt hatte, noch, dass sie in den Plänen ihrer Tochter als zentrale Figur fungierte. Gretchen hatte andere Probleme. Ganz andere. Hätte ihrer Tochter von dem gewusst, was ihre Mutter gerade beschäftigte, ihr wäre vor Staunen die Dose Fischfutter ins Aquarium gefallen.
4.
Die Insel war so klein, selbst ein dreibeiniger Hund hätte sie in weniger als einer halben Stunde umrunden können – das war zumindest das, was die Einheimischen behaupteten, insbesondere dann, wenn sie es eilig hatten.
»Wo bleibst du denn, Gretchen?«, fragte Bruno Fortunato an diesem Morgen ungeduldig, als Gretchen auf einem knatternden Quad bei ihm vorfuhr. »Diese Insel ist so klein, sogar ein …«
» … dreibeiniger Hund könnte sie in weniger als einer halben Stunde umrunden, jaja«, unterbrach Gretchen ihn. Sie wusste selbst, dass sie spät dran war, wegen des Zinnobers mit dem kaputten Auto. »Was macht der Rücken? Immer noch widerspenstiger als ein alter Esel?«
»Das willst du nicht wissen, junges Ding.«
»Und wenn doch, Bruno?«
»Dann müsst ihr euch bald jemand anderen für eure Wäsche suchen.«
Gretchen lachte, während sie die Säcke voll schmutziger Handtücher und Bettwäsche in die Waschkammer des kleinen Cottages trug, in dem Mr. Fortunato wohnte, und dafür die Pakete frisch gebügelter ägyptischer Baumwolle in den Anhänger des Quads lud. Es war in mehrerlei Hinsicht ein Glücksfall, dass Bruno nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren beschlossen hatte, ihre Arbeit für das Hotel fortzuführen, und einer davon war, dass sein Cottage im Hafen lag und sich so bequem mit einem der Hotel-Fahrzeuge erreichen ließ. Es gab nur eine befahrbare Straße auf der Insel, und die schlängelte sich vom Wild at Heart auf einer Seite des Hügels hinunter zum Hafen und dem Fahrdamm, über den man das Festland erreichen konnte – bei Ebbe allerdings, während man bei Flut nur mit dem Schiff von Port Magdalen wegkam. Die Insel war, abhängig vom Wetter und den Gezeiten, schwierig genug zu erreichen; sich auf ihr fortzubewegen war eine Herausforderung der ganz anderen Art. Die kopfsteingepflasterte Fishstreet beispielsweise, die steil und quer durchs Dorf hinauf zur Kapelle führte, war mit dem Auto nicht befahrbar. Alles, was zu einem der Läden dort transportiert werden sollte, musste auf einem der speziellen Holzschlitten hinter sich hergezogen werden, was definitiv kein Vergnügen war. Früher hatten Esel die Schlepperei für die Menschen übernommen. Heute dienten die Tiere nur noch als liebenswerte Touristenattraktion und dazu, das eine oder andere Kind über die Insel zu schaukeln.
»Was ist mit deinem Jeep?«, fragte Bruno, während Gretchen den letzten Stapel Wäsche in den Anhänger lud. »Und was ist das für ein Ding hier? Ein Motorrad für Schlaganfallpatienten?«
»Das ist ein Quad, und es gehört Nettie. Sie hat es bei einem Preisausschreiben gewonnen.« Gretchen verdrehte die Augen. »Der Jeep ist nicht angesprungen. Der Mechaniker ist hoffentlich schon unterwegs, um sich darum zu kümmern.«
»Immer ist was mit dem Karren«, grummelte Bruno.
»Du sagst es.«
Immer war irgendetwas, in jeglicher Hinsicht. Wenn nicht gerade der Wagen kaputtging, stimmte etwas mit den Geräten in der Küche oder in einem der Gästezimmer nicht. Von dem Blitz, der in den Baum eingeschlagen hatte, der wiederum die Hälfte des Scheunendaches demolierte, gar nicht zu reden. Seit Gretchen das Hotel mit Theo allein führte, war nicht ein Jahr vergangen, in dem die beiden sich nicht um irgendetwas hätten sorgen müssen. Und Gretchen hätte ziemlich hoch darauf gewettet, dass es auch in Zukunft nicht anders sein würde. Mehr als vier Jahre war Christopher jetzt tot. Hätte sie zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise gewusst, dass sie am Ende allein weiterziehen würde, hätte sie sich auf all das eingelassen? Den Umzug nach Cornwall, die Übernahme des Hotels, ein völlig neues Leben? Gretchen wusste es nicht. Doch dann, als hielte sie sich selbst für die größte Närrin von allen, schüttelte sie über sich selbst den Kopf: Wäre sie nicht mit Christopher gegangen, hätte sie ihre Tochter Nettie nicht bekommen. Dieser Gedanke allein ließ alle anderen zu Rauch vergehen. Alle bis auf den einen, der sie schon den ganzen Morgen beschäftigt hatte und der schuld daran war, dass sie so gut wie gar nicht geschlafen hatte.
»Warte, ich hab was vergessen.« Bruno hob einen Finger, drehte sich um und eilte, auf seinen Stock gestützt, ins Haus zurück. Es ging das Gerücht, dass er ihn gar nicht brauchte. Dass der Stock einfach Teil seines eleganten Outfits war und darüber hinaus keinen Zweck erfüllte. Bruno Fortunato war vierundsiebzig Jahre alt, aber alles andere als klapprig. Er konnte mit Theo einen Kleinkrieg darüber ausfechten, wer der Rüstigere von beiden war – was sie dann und wann taten, allerdings ging es nur selten darum, wer sich besser in Form hielt. In neun von zehn Fällen drehten sich die Streitigkeiten um Küchenchefin Dottie.
»Da.« Bruno kam aus dem Haus zurück, eine Plastiktüte schwenkend. »Sag deinem hohlköpfigen Schwiegervater, dass ich nicht seine Mutter bin, die seine Unterhosen wäscht.«
»Er hat seine Unterwäsche zwischen die Handtücher geschmuggelt?« Mit spitzen Fingern griff Gretchen nach der Tragetasche.
»Boxershorts. Mit einer Rolling-Stones-Zunge über dem Eingriff. Wenn das eine Botschaft sein sollte, dann, oh, santo cielo! Stronzo!«
»Ihr zwei könntet ehrlich mal erwachsen werden«, schlug Gretchen vor, und Bruno machte eine Geste, die so viel verhieß wie: Ich bin nicht der alberne Kerl von uns beiden.
»Kann ich das Quad kurz hier stehen lassen? Ich muss noch zu Lori, ein paar Bestellungen aufgeben.«
»Va bene.«
»Bis morgen, Bruno!«
»A domani,mia cara!«
Port Magdalens Hauptverkehrsstraße, wenn man so wollte, war etwa dreihundert Meter lang, maß an einigen Stellen eine Steigung von Kniescheiben gefährdenden siebzehn Prozent und bot so ziemlich alles, was in dem Örtchen sehenswert war. Schnuckelige Geschäfte, Cafés, einen Pub, das ein oder andere Bed & Breakfast, diverse Souvenirshops, eine richtige Einkaufsmeile war das hier, für dörfliche Verhältnisse, versteht sich. Die Tatsache, dass nur einundsiebzig Menschen auf der Insel lebten, zeigte sich auch darin, dass um die trubelige Fishstreet herum nicht viel geboten war. Wald säumte die Ränder des winzigen Ortes und füllte die Lücke zwischen Dorfrand und Kapelle. Dahinter fiel der Hügel ab, sanft, zuerst zum Wild-at-Heart-Hotel und schließlich auf eine malerische Felsküste zu, mit atemberaubendem Meerblick. Hatte man diesen höchsten Punkt erst überquert, dachte Gretchen oft, wartete auf der anderen Seite ein völlig anderes Cornwall. Einsam. Spektakulär. Erfrischend und beruhigend zugleich.
Um kurz nach neun erwachte die Fishstreet allmählich zum Leben. Mrs. Bailey sperrte ihren Souvenirshop auf, während Gretchen winkend an ihr vorbeilief, aus der geöffneten Tür von Kelly’s Galerie drangen die sanften Töne klassischer Musik, aus dem Pub war Stühlerücken zu vernehmen, während Zachary, der Sohn des Wirts, den Boden von den klebrigen Resten des Vorabends befreite. Gretchen hatte die Hälfte des Hügels erreicht, als jemand ihren Namen rief.
»Guten Morgen, Gretchen! Willst du den hier schon mal mitnehmen? Ich könnte mir vorstellen, dass Nettie darauf wartet.«
»Guten Morgen, Toni.« Sie lief die zwei Schritte hinüber ins Postamt, das eigentlich nicht viel mehr war als ein Kiosk, und nahm Toni den Brief aus der Hand.
»Von Damien«, erklärte er mit verschwörerischer Stimme.
»Verstehe«, erwiderte Gretchen in gleichem Tonfall. Sie steckte den Brief in ihre Handtasche, dankte dem Postboten und legte anschließend die kurze Strecke zu Lori’s Tearoom zurück, dem Ziel ihres Anstiegs. Sie zögerte, bevor sie die Tür öffnete, einen flüchtigen Moment nur. Dann drückte sie die Klinke hinunter, kurz bevor die Glocke über dem Eingang ihre Anwesenheit verkündete.
Es war noch nicht viel los in dem Café, das bei den Touristen vor allem wegen seiner Terrasse mit Blick auf den Hafen beliebt war. Über zwei Tischen steckten Einheimische die Köpfe zusammen, und Gretchen winkte zu ihnen hinüber. Sie traute sich nicht recht, in Richtung Tresen zu sehen, wo sie Nicholas vermutete, weshalb sie erst aufsah, als sie schon beinahe mit dem Fuß gegen die Theke stieß, um dann erleichtert festzustellen, dass lediglich Lori dahinterstand und sie anlächelte.
»Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als könntest du dich nicht recht entschließen, reinzukommen oder doch wieder zu gehen.«
»Definitiv reinkommen.« Gretchen nickte. Sosehr es sie erleichterte, nicht Nicholas gegenüberzustehen, so sehr wurmte sie es jetzt, nicht zu wissen, wo er steckte. Aus der Küche drang das Geräusch des Mixers zu ihnen nach draußen. Gretchen hielt die Luft an. Dann atmete sie aus und erklärte schnell: »Einer der Gäste, die heute eintreffen, ist Vegetarier.«
»Du sagst das, als wäre es etwas Verwerfliches.« Lori lachte. »Aber ich verstehe schon. Ich gebe dir unsere Wochenkarte mit, warte einen Moment.«
Das ist lächerlich, murmelte Gretchen vor sich hin. Sie erinnerte sich daran, dass dies hier nur Nicholas war und sie beide erwachsen waren, dass sie sich auf einer sehr kleinen Insel befanden und …
»Guten Morgen.« Da stand er vor ihr.
»Hi.« Gretchen schluckte. Ihr Blick flog von Nicks lächelnden Augen über sein unrasiertes Kinn und die breite, T-Shirt-bedeckte Brust hin zu den zwei grünen Smoothies in seinen Händen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.
Sie hatte überhaupt nicht geschlafen. Und Schuld daran trugen unter anderem die Bilder von gestern Abend, die auch jetzt wieder durch ihre Gedanken flirrten, Bilder von Nicholas’ Brust und wie sich der Stoff seines T-Shirts unter ihren Fingern angefühlt hatte, ganz zu schweigen von seinen Lippen auf ihrer Stirn, ihrer Wange, ihrem Mund. Gretchen hob den Blick und sah in seine Augen, die nach wie vor lächelten. Sie war neununddreißig Jahre alt. Seit mehr als vier Jahren verwitwet. Seit mehr als vier Jahren ungeküsst, wenn man so wollte. Und sie hatte Nicholas weggeschickt, bevor sich daran ernsthaft etwas hätte ändern können. Und dass er sie jetzt ansah, als wäre nie etwas zwischen ihnen beiden geschehen, ließ das Gefühlschaos in ihrem Inneren nur noch lächerlicher erscheinen.
Gretchen räusperte sich, doch gerade, als sie Nicholas antworten wollte, mischte sich Lori wieder ins Gespräch. »Lass die Dinger nicht warm werden«, sagte sie, »sonst schmecken sie noch unerträglicher.« Womit sie ihren Bruder in Richtung der wartenden Gäste schob und Gretchen gleichzeitig einen Bogen Papier entgegenstreckte. »Ruf einfach im Laufe des Vormittags an, was es sein soll, wir bringen das Essen dann hoch.«
»Oder wir holen es ab«, sagte Gretchen schnell, unsicher, ob sie Nicholas heute wirklich noch einmal begegnen wollte. Die Tatsache, dass er so regelmäßig im Hotel vorbeikam, um Essen zu liefern oder abzuholen, einen Drink im Foyer zu nehmen, ihren Abfluss zu reparieren oder sonst einen Vorwand zu finden, hatte schließlich erst zu der pikanten Situation am gestrigen Abend geführt, und sie wusste ehrlich nicht, wie sie heute damit umgehen sollte.
»Ich melde mich.« Damit riss sie der verwunderten Lori das Blatt aus der Hand, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte durch die Tür zurück auf die Straße, während die Cafébesitzerin ihr stirnrunzelnd hinterherblickte.
Den gesamten Weg zurück zum Hafen machte Gretchen sich Vorwürfe, Vorwürfe der unterschiedlichsten Art. Da war zum einen die Tatsache, dass die vegetarischen Bestellungen bei Lori’s Tearoom ihr Zusatzkosten verursachten, die sie sich unmöglich leisten konnte. Es blieb ihr aber kaum etwas anderes übrig, weil sich ihre engstirnige Köchin seit Jahren weigerte, mit der Zeit zu gehen und regelmäßig auch fleischlose Gerichte auf ihre Karte zu setzen.
War Gretchen die Chefin im Haus? Oh ja, das war sie.
Führte Dottie dennoch das Regiment? Es könnte einem so vorkommen. (Vegetarisch? Was bin ich? Eine Kuh? Vegan? Und was ist mit den Karöttchen, hm? Hört ihr sie schreien, wenn ich die kleinen Scheißer aus dem Beet rupfe?)
Es war an der Zeit, in dieser Sache etwas zu unternehmen, das war Gretchen durchaus klar. Je früher, desto besser, denn dann wäre sie zudem nicht mehr gezwungen, Nicholas zu sehen, was ihr Leben um einiges erleichtern würde. Um einiges! Davon war Gretchen zumindest überzeugt.
Gerade als sie stehen blieb, um diesen fürchterlichen Gedanken genauer zu betrachten, läutete ihr Handy, und Nicholas’ Nummer erschien auf dem Display. Fühlte es sich so an, den Verstand zu verlieren? Nicholas und sie kannten sich nun schon einige Jahre, er war ein zuvorkommender, sympathischer, absolut gut aussehender Kerl, und die Insel war winzig – wie sollte man da überhaupt jemanden nicht mehr treffen können? Und was hatte die Tatsache, dass Nicholasgut aussah, mit alldem zu tun? Gretchen starrte auf das Display, dann nahm sie kurzerhand das Gespräch an, denn ignoriert zu werden war das Letzte, das der Mann verdient hatte.
»Es tut mir leid, irgendwie geht heute Morgen alles drunter und drüber. Erst habe ich den Wecker nicht gehört, dann Theo mit seinem Morgenyoga, dann ist der Jeep nicht angesprungen, dann … hallo? Hallo?«
Doch die Leitung war tot.
Mit einem letzten Blick auf den Hafen und die gegenüberliegende Küste machte sich Gretchen zurück auf den Weg, um ihr Gefährt zu holen.
»Du hast das Quad genommen? Mum!«
Eine vorwurfsvoll dreinblickende Nettie kam neben Gretchen zum Stehen, noch bevor diese den Motor abgestellt hatte.
»Ich habe das Quad genommen«, erklärte sie ihrer Tochter, während sie herunterkletterte, »weil ich den Jeep nicht nehmen konnte. Er ist nicht angesprungen. Statt dir über die Jungfernfahrt dieses Monstrums Sorgen zu machen, solltest du lieber beten, dass Fred diesmal nicht seine kleinen Zähnchen im Spiel hatte.«
Nettie stemmte die Hände in die Hüften. Ihr Gesichtsausdruck wirkte unschuldig und gleichgültig, als sie sagte: »Frettchen sind keine Marder, das weißt du genau. Sie fressen keine Kabel an.« Normalerweise, fügte sie in Gedanken hinzu. Und normale Frettchen. Aber Fred war eben ein bisschen anders, insofern konnte sie nicht sicher sein.
»Ich kenne dich, Nettie Wilde. Wenn der Kleine unschuldig wäre, müsstest du nicht so ein betont harmloses Gesicht machen.«
»Du willst nur das Thema wechseln. Ich wollte die erste Fahrt mit dem Quad machen. Oder zumindest mit Damien.«
»Du wirst dieses Ding erst dann fahren, wenn du siebzehn bist, und das dauert immerhin noch ein ganzes Jahr.«
»Zehn Monate.«
»Wie ich schon sagte.« Gretchen drückte Nettie zwei der Wäschebündel in die Arme, bevor sie nach zwei weiteren griff und sich damit auf den Weg zum Hintereingang machte. »Was Damien betrifft …«, rief sie über ihre Schulter.
»Was Damien betrifft?« Mit zwei Schritten hatte Nettie sie eingeholt.
»Was Damien betrifft, habe ich vielleicht oder vielleicht auch nicht einen Brief in …« Der Rest des Satzes ging in Lachen über, denn Nettie hatte zu kreischen begonnen.
»Wo? In deiner Tasche?« Sie stapelte die beiden Handtuchpakete auf den Arm ihrer Mutter, bevor sie sich umdrehte, zurück zum Quad lief, zielsicher den Umschlag aus der Tasche zog und damit in Richtung Wald verschwand.
»Nettie! Wer ist an der Rezeption?«, rief Gretchen ihr hinterher, was Nettie lediglich dazu bewegte, zu ihr zurückzulaufen, das schnurlose Telefon aus ihrer Tasche zu ziehen und es oben auf den Handtuchstapel zu werfen, bevor sie verschwand.
Gretchen seufzte. Heute war ein Tag, an dem sie dies oft tun würde, so viel ließ sich jetzt schon sagen.
Das Wild-at-Heart-Hotel war ein Schmuckstück, und das war womöglich sein größtes Problem. Es verfügte über vier Zimmer und eine Suite, ein exquisites (wenngleich fleischlastiges) Restaurant, in dem exklusiv für die Gäste gekocht wurde, und so viele Stammkunden, dass es den Wildes eigentlich nicht schlecht gehen dürfte, wäre da nicht die jährlich größer werdende Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben, die sie irgendwie nicht in den Griff bekamen. Christopher hatte dieser Entwicklung entgegenwirken wollen. Jahrelang hatte er Pläne geschmiedet, um das Dachgeschoss des Hotels auszubauen und die Lodge auf halbem Weg zur Steilküste zu einem luxuriösen Ferienhaus umzugestalten, das Wild at Heart größer und profitabler zu machen, doch er war gestorben, bevor noch die Gästezimmer fertig renoviert waren. Und dann hatte Gretchen sich nicht getraut, dieses umfassende Konzept umzusetzen, das finanzielle Risiko allein zu tragen. Weshalb sie auch jetzt noch, Jahre später, gerade so über die Runden kamen, ohne Aussicht auf Besserung.
Sie hatten die Preise erhöht, nachdem die Zimmer neu gestaltet worden waren, doch auch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn nach wie vor waren sie dabei, dieses erste Darlehen abzustottern, und die Einnahmen konnten die Ausgaben gerade so decken. Und Gretchen wollte nicht noch mehr von den Gästen verlangen. Ganz abgesehen davon, dass sie sich ohnehin schwertat mit Verhandlungen aller Art – eine Eigenschaft, die sie mit Theo teilte, der genauso wenig Geschäftssinn hatte wie sie. Allein, dass sich die Familie das Restaurant leistete, war hoffnungslos – sie beschäftigten drei Leute für ihre Halbpension, plus eine Servicekraft, und dennoch mussten Gretchen, Nettie und Theo bei allem mithelfen, bestellen, bedienen und später an der kleinen Bar in der Lobby Getränke ausschenken.
Gretchen seufzte, während sie die Treppen vom Hintereingang nach oben stieg, um die frischen Hand- und Betttücher im Wäscheschrank zu verstauen, Christophers Stimme im Ohr: Auf einer Insel wie dieser sollte es doch möglich sein, ein profitables Hotel zu führen. Gretchen – das Wild at Heart ist eine Goldgrube, wir müssen es nur richtig anstellen.
Wenn es so einfach wäre, dachte Gretchen. Denn die Pläne, die er für sie, ihre Familie, für das Haus gemacht hatte, waren allesamt zu nichts verpufft, als er an jenem Tag im Januar vor viereinhalb Jahren in den Wagen gestiegen und nicht mehr zu ihnen zurückgekehrt war.
»Guten Morgen, Mrs. Wilde.«
»Guten Morgen, Florence.« Gretchen nickte dem Zimmermädchen zu, während sie sich auf den Weg zurück zum Quad machte, um die restlichen Wäschepakete zu holen. Sie waren ein eingespieltes Team, das immerhin war eine Tatsache, die allen das Leben um vieles erleichterte. Florence kümmerte sich um die Zimmer, in der Küche standen Hazel und Oscar Dottie zur Seite, und die Tiffys dieser Welt halfen im Service. Sara pflegte den Garten, der ohnehin zum Großteil dem National Trust unterstand, welcher sich um den Erhalt kümmerte. Mit der Unterstützung von Theo und Nettie hielten sie den Betrieb am Laufen, doch wenn eine Person fehlte – wie nun die arme, vergraulte Tiffy –, dann begann ihr gesamtes ausgeklügeltes System zu wanken.
Gretchen wuchtete die letzten beiden Handtuchbündel in eines der Regale, dann schloss sie die Tür der Wäschekammer hinter sich. Manchmal, oder eigentlich die meiste Zeit in ihrem Leben, waren die Tage zu kurz, die Aufgaben zu viele und die Gedanken zu umfassend, um den Anfang zu sehen oder das Ende oder auch nur einen Meter weiter als bis hier.
Port Magdalen, viereinhalb Jahre zuvor
Der Tag, an dem Christopher Wilde starb, war einer der schönsten in diesem Januar, pragmatisch betrachtet. Der Winter war bisher hauptsächlich neblig, feucht und windig gewesen, wohingegen es an diesem herrlichen Freitagmorgen zum ersten Mal aufklaren würde. Was Christopher in dem Moment, in dem er die Augen aufschlug, noch nicht ahnen konnte, denn die Sonne war noch gar nicht aufgegangen. Umso erstaunlicher, dass sich manch einer dennoch bemüßigt fühlte, bereits jetzt einen höllischen Lärm zu veranstalten.
»Aaah, Dad«, stöhnte Christopher kaum hörbar. Er drehte sich um, um auf seinen Wecker zu blicken – 6:03 Uhr –, und dann zurück zu Gretchen, die noch schlief, sich unter seiner Berührung nun aber regte.
»Mmmh«, machte sie.
»Schlaf weiter«, murmelte Christopher. Er schob einen Arm unter Gretchens Kopf und legte den anderen über ihre Körpermitte, bevor er sein Gesicht nah an ihrem Hals vergrub, da, wo er mit der Nasenspitze die Kuhle zwischen Kopf und Nacken streifen konnte und mit den Lippen Gretchens Ohrläppchen. Sie erschauerte unter seinem Atemhauch. Dann drehte sie sich in seinen Armen um und schmiegte sich an seine Brust.
»Was treibt dein Vater da draußen?«, brummte sie. »Hätten wir Gäste, würde er mit diesem Krach das ganze Haus aufwecken.« Wie auf ein Stichwort heulte das quälende Geräusch einer Schleifmaschine auf, und Gretchen presste die Stirn noch ein bisschen tiefer in Christophers Schlaf-T-Shirt. »Mmmh«, brummte sie noch einmal, und Christopher drückte ihr einen Kuss ins Haar. Wenn er es recht bedachte, fand er es gar nicht so übel, auf diese Weise schon sehr früh geweckt worden zu sein. Im Alltag blieb oft wenig Zeit für … das hier, dachte er, während er seine Frau enger an sich drückte und mit den Händen über ihren Rücken fuhr, hinunter zu ihrem Hintern, unter ihr T-Shirt, an den Seiten hinauf und unter die Arme, so hoch, dass Gretchen mit der Bewegung mitging und er es ihr ausziehen konnte, was sie bereitwillig zuließ. Er beugte sich vor und küsste die schlaftrunkene Frau in seinen Armen, die die süßeste Wärme ausstrahlte und die bezauberndsten Geräusche von sich gab, erst die Lippen, dann ihren Hals hinunter, zwischen ihren nackten Brüsten weiter nach unten …
»Mum? Dad?«
Noch so ein schlaftrunkenes Stimmchen, ein bisschen nörgelnder allerdings und doch nicht wach genug, um die Turbulenzen im Elternbett mitzubekommen, die Hektik, in der Christopher Gretchen die Bettdecke über den Kopf warf, und das Gewimmel, in dem Gretchen versuchte, sich ihr T-Shirt wieder anzuziehen, vergeblich. Letztlich streckte sie nur den Kopf heraus und warf einen Blick auf ihre Tochter, die in der halb geöffneten Tür stand und sich die Augen rieb.
»Was macht Grandpa denn da draußen?«, schniefte sie.
»Wir schauen gleich mal nach, in Ordnung? Gib mir nur … äh … Zieh dich schon mal an, ich komme sofort nach.« Christopher wedelte mit einer Hand in die generelle Richtung der restlichen Wohnung, und als Nettie sich nicht sofort einsichtig zeigte, begann Gretchen erst zu kichern, dann räusperte sie sich.
»Stellst du schon mal die Dusche an?« Im Winter brauchte das Wasser manchmal ewig, bis es heiß wurde. »Wir kommen sofort nach.«
Als ihre Tochter sich endlich umgedreht hatte und aus dem Zimmer getrottet war, ließ Christopher sich zurück auf sein Kissen fallen und legte einen Arm über die Augen. Er stöhnte.
»Erzähl mir was von …« Nebenan begann Wasser zu laufen. »Von Silberfischen«, sagte er. »Oder von den Umbauarbeiten. Was gerade wieder schiefläuft. Irgendwas, das mich ablenkt von …« Er deutete in Richtung seiner Körpermitte.
Gretchen lachte. »So alt und noch so übereifrig«, sagte sie, während sie sich ihr T-Shirt anzog und sich dann vorbeugte, um ihren übereifrigen Gatten zu küssen. Heiß. Und feucht. Und innig. Mit einer Hand griff sie in seine Haare, mit der anderen dorthin, wo sie besser nicht weiter intervenieren sollte.
»Was tust du denn da?«, beschwerte sich Christopher. »Silberfische. Großmütter.«
»Großmütter?«
»Daddy! Das Wasser ist heiß«, rief Nettie aus dem Bad.
Gretchen zog ihre Hand weg und küsste Christopher ein letztes Mal auf die Nasenspitze, und der stöhnte abermals auf.
»Bis später, Daddy«, hauchte sie in sein Ohr. »Das scheint ein herrlicher Tag zu werden.«
Auch daran würde sie sich später erinnern. Wie selten ein Gefühl sie so sehr getrogen hatte wie in diesem Augenblick.
5.
Statt den Pfad hinab zu den Felsen zu nehmen, wandte sich Nettie in die entgegengesetzte Richtung und schlug den unebenen Weg ein, der vom Hotel hinauf nach St. Magdalen führte. Der Wald duftete herrlich um diese Jahreszeit, nach Moos und Erde und Kräutern, und Nettie freute sich daran, während sie zielstrebig unter dem leuchtend grünen Blättermeer dahineilte. Die kleine Kapelle mit den sandfarbenen Steinen, den glaslosen Fenstern und dem kniehohen Wall, der sie umgab, bot die beste Aussicht der Insel, über Wald, Hotel und ein winziges Stück Herzfelsen hin zum offenen Meer.
Nettie setzte sich auf die niedrige Mauer, atmete ein und öffnete Damiens Brief.
Der überaus kurz war.
Ahoi, Nettie,
ich hoffe, du sitzt, oder du kannst dich an irgendetwas festhalten, denn bitte, das hier ist einfach zu großartig. Ich schätze, das war eines seiner Anfangswerke, jedenfalls ist das Buch nirgendwo mehr lieferbar, ich hab es auf dem Flohmarkt gefunden. Ich bring es mit, wenn wir kommen, aber diese kleine Kostprobe musste ich dir vorweg schicken.
Sieht so aus, als wäre unser Mr. Hamilton schon einmal hier gewesen, was meinst du? Ich sehe zu, was ich noch herausfinden kann.
Wäre es dir übrigens möglich, einen Videorekorder aufzutreiben? Ich hab einen Film entdeckt, den müssen wir uns unbedingt ansehen.
Bis später,
D.
Nettie faltete den Brief, steckte ihn zurück in den Umschlag und zog dann die Buchseite hervor, die Damien dazugelegt hatte. Sie war vergilbt und roch muffig, und Nettie rümpfte die Nase, während sie das Blatt mit spitzen Fingern ein Stück von sich weghielt. Der Text begann mitten im Satz.
trug er sie über den von der glühenden Sonne erwärmten Strand zu ihrem Zelt. Sabrina zitterte in seinen starken Armen, der Schock haftete an ihren Gliedern wie der Sand an ihrer feuchten Haut. Was wäre geschehen, wenn er sie nicht rechtzeitig gefunden hätte? Wenn die Männer nicht nur ihre Tasche geraubt hätten, sondern auch … Sie erschauerte. Was, wenn diese Männer hätten vollenden können, womit sie beginnen wollten, genau in dem Augenblick, in dem Timothy aufgetaucht war?
Ein Schluchzen entrang sich Sabrinas Kehle, und sie griff mit der Hand, die nicht um Timothys Nacken geschlungen war, nach dem zerfetzten Stoff ihres Kleides, um ihre Brust zu bedecken. Auf einmal fühlte sie sich nackt. Sie fühlte sich benutzt und geschändet, obwohl ihr noch gar nichts geschehen war, und sie schämte sich, oh, sie schämte sich so sehr. Für diesen dummen Streit, den sie angezettelt hatte, aus purer Kleinlichkeit, aus nichtiger Eifersucht, aus reinem Egoismus.
»Sabrina«, hauchte Timothy dicht an ihrem Ohr, »weine doch nicht. Ich werde es wiedergutmachen, ich verspreche es, am Ende dieser Nacht wirst du ihren Anfang vergessen haben und alles, was bis hierhin geschah.«
Seinetwegen biss Sabrina die Zähne zusammen und hielt ihre Tränen zurück. Sie drehte sich um, blickte zu dem Strand, der ihr gerade noch wie ein Tatort vorgekommen war und nun menschenleer dalag, zu dem herzförmigen Felsen, der dunkel über ihnen aufragte. So vielversprechend hatte sie ihn wahrgenommen, als sie den ersten Blick auf ihn geworfen hatte, und nun war er so düster, so tiefdunkel wie ihr
Nettie drehte die Seite um.
Das war alles. Offenbar das Ende des Kapitels. Noch einmal drehte Nettie die Seite hin und her, dann ließ sie sie in dem Umschlag mit Damiens Brief verschwinden. IhreigenesHerz pochte wie verrückt, nachdem sie die Zeilen gelesen hatte, und das war gewiss nicht auf den schnulzigen Inhalt zurückzuführen. Harvey Hamilton wusste von dem Herzfelsen, er hatte darüber geschrieben, er war schon einmal hier gewesen, hier, auf Port Magdalen. Und wenn er nicht hier gewesen war, dachte Nettie, dann hatte er womöglich darüber gelesen, es recherchiert oder was immer Liebesromanautoren eben so taten, um auf Ideen für ihre Geschichten zu kommen. Jedenfalls nahm sie an, dass das der Grund dafür war, warum er sich drei Wochen lang in ihrem Hotel eingemietet hatte – er wollte zu dem Herzfelsen, den er entweder schon einmal besucht hatte oder nur aus seinen eigenen Geschichten kannte.
Nettie zog ihr Handy aus der Hosentasche und schrieb:
Ich fasse es nicht. Er schreibt über unseren Felsen. Das ist völlig verrückt. Wie hast du das gefunden? Der Mann hat über 30 Romane geschrieben!
Sie starrte auf das Display, dann ließ sie den Blick zu besagtem Felsen schweifen, von dem aus diesem steilen Winkel kaum mehr als die Spitze zu sehen war. Wenn man überhaupt von einer Spitze sprechen konnte. Die Bögen des Herzens waren nicht völlig eben und gleichmäßig, doch einigermaßen rund waren sie zumindest. Was die Natur fertigzubringen in der Lage war, würde die Bewohner von Port Magdalen ihr Leben lang verwundern. Auch Nettie … wenn ihr gerade der Sinn danach stand.
»Der wird sich wundern«, murmelte sie. Von wegen Zelt am Strand – wer da unten zeltete, würde über kurz oder lang von der Flut weggetragen werden, die früher oder später den gesamten Strand überspülte. Grinsend schüttelte Nettie den Kopf. Nein, Harvey Hamilton war vermutlich noch nie auf Port Magdalen gewesen, doch das würde sich jetzt ändern. Und er würde sich hier wohlfühlen, dafür würden sie und Damien schon sorgen.
Das Handy vibrierte in ihrer Hand.
Mehr als 30 Romane, und in seiner Anfangszeit offensichtlich ein paar dieser Nackenbeißer. Dass ich das gefunden habe, war absoluter Zufall. Krass, oder? Ich hab noch mehr von diesen Dingern. Bring ich mit, okay?
Ugh, diese Teile stinken sicher.
Was ist ein Nackenbeißer?
Du musst sie nicht mit ins Bett nehmen. Und wenn du willst, les ich dir vor;-)
Nackenbeißer … Kann ich nicht erklären. Wirst du verstehen, wenn du das Cover siehst.
Ich muss jetzt los. Clive will irgendwas. Wir sehen uns in ein paar Tagen.
Und ob! Dann stellen wir die Szene aus dem Buch nach.
Als würde ich dich rumtragen.
Du kannst schön selber laufen.