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Alte Liebe. Neues Glück. Und ein verrückter Sommer in Cornwall ...
Lola Lessing stehen turbulente Wochen bevor: Gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern reist die junge Frau nach Cornwall, um ihrer Großmutter Elvira einen letzten Wunsch zu erfüllen. Denn Elvira möchte ihre Lieben noch einmal um sich haben, und zwar in dem charmanten Fischerdorf St. Ives, wo sie den glücklichsten Sommer ihres Lebens verbrachte. Niemand ahnt, dass Elvira hier einst ihre große Liebe gefunden hatte — und dass die ganze Familie kurz davor steht, in Elviras geheimnisvolle Vergangenheit einzutauchen und den überraschendsten Sommer ihres Lebens zu verbringen …
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Seitenzahl: 493
Anne Sanders
Roman
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1. Auflage
Originalausgabe April 2016 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2016
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Plainpicture/Narratives/Emma Lee
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18708-8V001
www.blanvalet.de
Für Rosi, für blö
1
Die Reise
Mein Großvater hat immer gesagt, man muss im Leben dicke Bretter bohren. Was auf die Kette kriegen. Den Mattes in der Reihe haben. Und so weiter und so fort. Mein Großvater hatte immer einen Spruch auf den Lippen. In jeder Lebenslage.
Ich weiß, warum ich ausgerechnet jetzt daran denke, denn heute, auf den Tag genau vor einem Jahr, ist mein Großvater gestorben. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, wünsche ich ihn mir herbei, damit er meiner Schwester Lynda eine seiner schlauen Weisheiten um die Ohren haut, in der Hoffnung, sie möge endlich aufhören mit dem Genöle.
»Ich dürfte gar nicht hier sein«, sagt sie gerade. »Keine Ahnung, wie sie das Projekt ohne mich beenden wollen. Zu guter Letzt bin ich noch meinen Job los wegen dieser … dieser Familienzusammenführung am Ende der Welt.«
»Cornwall«, murmle ich.
»Von mir aus Honolulu«, sagt Lynda.
Das Flugzeug macht einen dieser kleinen Holperer, und ich klammere mich an den Armlehnen meines Mittelsitzes fest. Fliegen allein ist schlimm. Fliegen mit Lynda ist Horror.
Ich drehe den Kopf nach rechts, wo mein Bruder Luca sitzt und in sein Notizbuch skribbelt. Lynda schimpft nach wie vor mit niemandem im Besonderen, und ich versuche, ihre Stimme so weit wie möglich auszublenden.
»Ist dir klar«, fragt Luca, »dass jährlich mehr Menschen durch Esel sterben als durch Flugzeugabstürze?«
Ich wundere mich nicht über diesen Satz. Es ist, als hätte mein Bruder ein Lexikon verschluckt, voller morbidem, unnützem Wissen und hanebüchenem Quatsch.
Mein Blick fällt auf die Zeichnung, die er gerade bearbeitet. Das Bild ist düster, voller dicker, schwarzer Striche, und es zeigt einen Airbus, der in rasendem Tempo vom Himmel stürzt. Aus dem klaffenden Loch, das womöglich einmal die Tür gewesen ist, werden Menschen in die Tiefe gerissen, Männer, Frauen, Kinder auf Eseln – und mittendrin unsere Schwester, vom akkuraten Pagenschnitt über die faltenfreie Bluse bis hin zum Bleistiftrock perfekt getroffen. Sie hat den Mund weit aufgerissen. Sie könnte schreien oder aber einfach nur lamentieren, wie sie es seit knapp anderthalb Stunden tut, seit wir in dieses Flugzeug gestiegen sind. Ihr Gesicht ist zu einer grässlichen, flatternden Maske verzogen, und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.
Luca sieht auf, und wir grinsen uns an.
»So talentiert«, flüstere ich, und er zwinkert mir zu, bevor er sich wieder seiner Zeichnung widmet.
Ich liebe meinen Bruder. Sehr. Er ist siebzehn, hat einen Hang zu morbider Kunst und eben diesen unnötigen Unsinnigkeiten und ist ansonsten der unkomplizierteste Mensch, den ich kenne. Ich bin froh, dass er Teil meiner Familie ist. Wäre er es nicht, müsste ich die kommenden sechs Wochen allein mit Lynda, meinen Eltern und meiner Großmutter verbringen.
Sechs Wochen.
Allein.
»Lola, würdest du bitte antworten?« Lynda piekt mit ihrem manikürten Fingernagel auf meiner Schulter herum, und ich blinzle mich aus meinen Gedanken. »Der Steward hat dich etwas gefragt.«
Ich blicke von meiner Schwester zu dem Flugbegleiter, der betont geduldig auf meine Bestellung wartet. »Cola«, sage ich, während ich mich aufrechter hinsetze, »light« ergänzt meine Schwester sofort. Noch während ich den Mund öffne, um zu protestieren, überlege ich es mir anders. Heute ist der erste von insgesamt zweiundvierzig Tagen, an denen ich mit meiner Schwester streiten kann – über vermeintlich wichtigere Dinge als ein Kaltgetränk mit Zuckeraustauschstoff.
Ich öffne die Minidose und nehme einen Schluck. Lynda nippt an ihrem Wasser, während mein Vater in der Reihe vor uns die Getränke bezahlt.
Die Sache ist die: Wir sind nicht freiwillig hier. Wir sind hier, weil meine Großmutter Elvira ihren Sommer dieses Jahr in England zu verbringen gedenkt, in St. Ives, um genau zu sein, an der cornischen Küste, und zwar mit der gesamten Familie. Warum? Nun, das ist eine interessante Frage.
»Ich würde es nur gern verstehen«, sagt Lynda, als hätte sie meine Gedanken gehört.
Ich schließe die Augen.
»Wie kann man von fünf erwachsenen Menschen verlangen, dass sie sich sechs Wochen am Stück freinehmen, um in einem Fischerkaff am Meer festzusitzen, wo es vermutlich nicht einmal Internet gibt?«
»Wie kann man siebzehn Mal hintereinander die gleiche Frage stellen?«, murmelt Luca in seinen Kaffee.
Lynda beugt sich nach vorn. »Wirklich, Mutter, für Luca ist das einfach, er geht noch zur Schule, und Lola mit ihrem …, ihrem Studium …«
Ich öffne zumindest ein Auge wieder.
»… aber ich habe Verpflichtungen, Mutter! Nicht nur der Firma, auch Tobi gegenüber! Mein ganzer Jahresurlaub geht flöten. Und was soll Tobi bitte machen?«
Ich unterdrücke ein Stöhnen. Flöten gehen? Lieber Himmel, meine Schwester ist neunundzwanzig Jahre alt und klingt wie eine Sekretärin kurz vor der Verrentung. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie aus einer Zeitmaschine auf uns zugetrippelt kommt, schnurstracks aus den Sechzigerjahren. Sie trägt ein himmelblaues Kostüm, eine hellblonde Hochsteckfrisur und hat einen Typen am Arm, der aussieht wie Tobi und sich benimmt wie Don Draper in»Mad Men«.
Der Zufall hat sie in unsere Familie gebeamt.
Oder auch nicht.
Meine Mutter hebt ihre Schlafbrille an, schiebt sie sich auf die Stirn und prüft mit zwei Handgriffen, ob ihre Frisur noch sitzt. Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum, würde mein Großvater wohl sagen.
»Lynda, Schatz«, beginnt sie, »ich weiß, das war schwierig für dich, für uns alle war es überaus schwierig, und wir alle sind überglücklich, dass es am Ende doch noch geklappt hat. Nun entspann dich ein bisschen. Die Seeluft wird uns allen guttun.«
Ich sehe meinen Bruder an, und der rollt mit den Augen. Ziemlich sicher fragt er sich in diesem Moment das Gleiche wie ich: Wer benötigt a) eine Schlafbrille für einen zweistündigen Flug am Vormittag, und wie haben wir es b) geschafft, in einer Familie wie dieser aufzuwachsen und dabei normal zu bleiben? Einigermaßen zumindest?
Womöglich hat unser Vater uns vor Schlimmerem bewahrt. Das allerdings muss zu einer Zeit gewesen sein, als man noch mehr von ihm hörte. Im Augenblick spricht er nicht viel, zumindest nicht, wenn meine Mutter dabei ist, was wiederum damit zusammenhängen könnte, dass die kaum etwas lieber tut. Außer Staubwischen vielleicht.
Herrje, was für ein Klischee! Aber ich kann nichts dafür, genauso ist es. Meine Eltern sind seit dreißig Jahren verheiratet und passen so gut wie gar nicht zusammen.
Dagegen passt Lynda hervorragend zu Tobi, mit dem sie seit gefühlten zwei Jahrhunderten verlobt ist. Er ist Unternehmensberater wie sie, spielt Tennis wie sie, bügelt seine Unterwäsche wie …
Ach, ich weiß nicht. Bestimmt ist es falsch, sich über die Beziehungen anderer herzumachen. Ist ja nicht so, als hätte ich es mit meinen sechsundzwanzig Jahren schon zu irgendetwas gebracht. In irgendeiner Hinsicht.
Mit einem Pling leuchten die Anschnallzeichen über unseren Köpfen auf, und der Kapitän macht mit knisternder Stimme darauf aufmerksam, dass wir in zwanzig Minuten in London landen werden. Mein Vater klappt sein Buch zu.
»Es ist nun mal Großmutters Herzenswunsch«, sagt meine Mutter, an ihn gerichtet. »Sie hat doch niemanden mehr seit Großvaters Tod.« Als hätte er das angezweifelt. Mein Vater tätschelt die Hand meiner Mutter und sieht aus dem Fenster.
Es ist strahlend blau da draußen, ein klarer, aufgeweckter Tag. Irgendwo unter uns wartet meine Großmutter auf ihre Familie, in einem alten Haus über der Küste.
Im Gegensatz zu allen anderen habe ich nie hinterfragt, weshalb sie uns alle ausgerechnet hier, ausgerechnet jetzt um sich versammeln will, und das war vermutlich leichtsinnig von mir. Deine Großmutter hat den Pfiff raus, pflegte mein Großvater zu sagen, und ich will es einmal so formulieren: Er hatte recht.
Der Weg nach Cornwall ist weit, selbst wenn man sich bereits in England befindet. Von London aus an die 490 Kilometer, die man entweder mit dem Auto oder mit dem Zug oder mit einer kleinen Inlandmaschine zurücklegt, was wiederum einen Aufenthalt von mehreren Stunden erfordert, der – verbringt man ihn mit seiner eher disharmonischen Familie – schnell mal zur nervlichen Zerreißprobe werden kann. Weshalb ich den iPod in meiner Tasche lauter drehe und mir die Kopfhörer fester in die Ohren drücke. Zeit für ein bisschen mehr Musik und ein bisschen weniger Gebrabbel.
Ich sehe, wie sich die Münder meiner Schwester und meiner Mutter weiter bewegen, während ich es mir auf der Plastikbank ihnen gegenüber bequem mache. Ich weiß, was sie sich erzählen, dafür muss ich nicht einmal Lippen lesen können, ich habe ihnen lange genug zugehört.
Mama: Diese Schlieren auf dem Fußboden bekommen sie nie wieder weg. Nicht einmal mit dem Schmutzradierer.
Lynda: Ich weißehrlich nicht, diese Briten. Ich meine, gibt es hier irgendetwas zu essen unter 500Kalorien?
In einem zumindest hat meine Schwester recht – es ist eine Reise ans Ende der Welt. Vor vier Stunden sind wir in Heathrow gelandet, einmal um die Stadt gejagt und schließlich am Flughafen Gatwick angekommen. Noch zwei weitere Stunden, dann hebt die Maschine nach Newquay ab, von wo aus wir mit dem Taxi nach St. Ives weiterfahren werden, das circa eine Stunde entfernt liegt. Wir sind seit Mittag unterwegs und werden nicht vor 22 Uhr bei meiner Großmutter ankommen.
Ich frage mich, wie sie diese Reise allein bewältigen konnte, wobei – nein, das frage ich mich eigentlich nicht. Immerhin geht es hier um Großmutter: resolut wie ein Feldwebel und zäh wie ein Marshmallow. Vor einer Woche ist sie nach England geflogen, um Vorbereitungen zu treffen, wie sie erklärte, Vorbereitungen für … Ja, wie schon gesagt, das wüssten hier alle gern. Dass sie es immer noch nicht herausgefunden haben, sagt viel darüber aus, wie diese Familie funktioniert: nicht wirklich famos.
»Huch!« Ich zucke zusammen, als mein Bruder mir den Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr reißt und »Hast du Hunger?« hineinbrüllt.
»Jesus, Luca«, raunze ich ihn an.
»Ich bin nur höflich«, raunzt er zurück. Er hält mir eine dieser dreieckigen Plastikschachteln unter die Nase, in denen je zwei labbrige Toasthälften mit fragwürdigem Aufstrich stecken. Aaaah, ich liebe Junkfood! Und ich habe Hunger!
Mit der einen Hand nehme ich Luca das Sandwich aus der Hand, mit der anderen bringe ich meinen iPod zum Schweigen, und sofort weht die nörgelnde Stimme meiner Schwester zu uns herüber. Ich höre »leere Kohlenhydrate«, »fettige Schmiere«, »frühzeitige Hautalterung« und beiße schnell in mein Brot. Lynda öffnet ihre Handtasche und fischt eine Tupperdose heraus.
»Karotten?«, rät Luca.
Ich schüttle den Kopf. »Zu viel Zucker.«
Mein Bruder sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und ich zucke mit den Schultern.
»Was soll ich machen, sie hält mir Vorträge, wann immer ich sie treffe«, rechtfertige ich mich.
»Du solltest weniger Zeit mit ihr verbringen.«
»So wie du? Sie ist auch deine Schwester.«
»Erzählt man sich«, murmelt Luca.
Wir kauen schweigend auf unseren Broten, während Lynda Selleriestangen in einen Joghurt dippt.
Es ist nicht wahr, dass ich viel Zeit mit meiner Schwester verbringe, im Gegenteil. Wir leben alle in einer Stadt, schaffen es aber trotzdem, uns weiträumig aus dem Weg zu gehen. Luca wohnt noch in unserem Elternhaus und zieht sich meist ins Dachgeschoss zurück, zu dem er unserer Mutter schon seit vier Jahren den Zutritt verweigert. Lynda hat mit Tobi ein schmuckes Eine-Million-Dollar-Loft am Rande des Westends bezogen. Ich teile mir mit meiner besten Freundin Mia eine Wohnung in Haidhausen. München ist nicht sehr groß, doch groß genug für die, die sich meiden.
»Warum, glaubst du, macht sie das?«, fragt Luca.
»Wer? Was?«
»Großmutter Elvira. Warum will sie, dass wir alle den Sommer in England verbringen?« Luca öffnet eine Dose Cola und reicht sie mir. »Sie war sonst nie versessen darauf, Familie um sich zu scharen.«
Ich seufze. »Ich habe wirklich keine Ahnung«, sage ich und nehme einen Schluck. »Ich weiß auch nur das, was Mama uns erklärt hat: Als junges Mädchen war Großmutter zu Gast in dem Haus über der Küste, in dem wir auch wohnen werden.« Ich überlege einen Augenblick. »Vielleicht ist sie sentimental geworden, jetzt, wo Großvater nicht mehr da ist.«
»Ich weiß nicht«, sagt Luca. »Ich meine, Mama tut so, als würde bald Großmutters letztes Stündlein schlagen, weshalb wir ihr unbedingt diesen einen Wunsch erfüllen sollten – dabei ist sie zäh wie eine Schuhsohle.«
Ich nicke. As I said.
»Und sie kann Lynda nicht leiden«, fährt Luca fort.
»Sag so etwas nicht«, befehle ich.
»Du weißt genau, dass es stimmt. Großmutter mag selbst Mama nicht sonderlich, und die ist ihre eigene Tochter.«
Ich seufze wieder. »Es ist nicht so, dass hier irgendjemand irgendjemanden nicht leiden kann«, murmle ich, »sie haben eben ein etwas … außergewöhnliches Verhältnis zueinander.«
Eine Weile kaut mein Bruder stumm. »Warum«, fragt er dann, »sollte sie uns alle nach England einladen, um den Sommer mit Leuten zu verbringen, von denen sie die Hälfte nicht ausstehen kann?«
Ich schlage ihm auf den Hinterkopf. »Schluss damit«, ordne ich an. »Blut ist dicker als Wasser, klar?« Ich bin Großvaters Enkelin, nichtsdestotrotz.
»Heute vor einem Jahr ist er gestorben«, sagt Luca.
»Ich weiß«, antworte ich.
»Sie hat auf den Tag genau ein Jahr gewartet«, fährt er fort.
»Womit?«, frage ich verwirrt.
»Keine Ahnung.«
Ich verdrehe die Augen. »Wie wäre es, wenn du deine Verschwörungstheorien auf deine Comics beschränktest, mhm?«
Er zuckt mit den Schultern. »Sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, erklärt er, während er in seiner Umhängetasche kramt und sein Notizbuch hervorholt. Er schlägt es auf, zückt den Stift und richtet seinen Blick auf Lynda.
»Dich möchte ich nicht zum Feind haben«, murmle ich, während sein Bleistift über das Papier kratzt. So allmählich tut mir meine Schwester leid. Ich hoffe, sie kommt niemals auf die Idee, einen Blick auf Lucas Zeichnungen zu werfen.
»Darüber musst du dir keine Sorgen machen, big Sis.« Mein Bruder grinst mich an.
Ich stöpsle die Kopfhörer zurück in meine Ohren, lehne mich zurück und drücke auf Play.
Als wir in St. Ives aus dem Taxi steigen, regnet es in Strömen. Es schüttet geradezu, und zwar so sehr, dass es sich anfühlt, als hätte mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Ich klettere aus dem Taxi und bin auf der Stelle durchnässt. Zumindest dürften nun alle wieder wach sein.
»Ach, du lieber Himmel!«, kreischt meine Mutter neben mir, und Lynda stößt kleine, quiekende Schreie aus. Beide kramen wie besessen in ihren Handtaschen – nach Schirmen vermutlich –, während mein Vater und mein Bruder in stoischer Gelassenheit unsere Gepäckstücke aus dem Kofferraum hieven. Ich ziehe mir den Kragen meiner Jacke über den Kopf und blinzle durch den Regenschleier.
Das Taxi hat vor einem schmiedeeisernen Tor gehalten, so viel kann ich im Lichtkegel der Scheinwerfer erkennen, und dahinter schlängelt sich ein Schotterweg einen Hügel hinauf. Er ist breit genug für ein Auto, doch das Tor ist verschlossen und der Taxifahrer bereits dabei, seinen Wagen zu wenden. Ich mache einen Schritt nach vorn und drücke die Klinke des Fußgängereingangs hinunter.
Es ist erstaunlich, wie laut der Regen prasselt. Unsere Schuhsohlen auf dem Kies sind kaum zu hören, als wir unser Gepäck den Hang hinaufzerren. Ich zähle 123 Schritte, bis ein Gebäude in Sicht kommt, dann halte ich den Atem an: Das Haus ist groß, riesig, und seine altmodischen Fenster strahlen hell erleuchtet in die Nacht. Durch den glitzernden Vorhang aus Regen sehe ich meine Großmutter – sie steht im Türrahmen, aufrecht und erhaben, und malt einen schwarzen Schatten auf den halbrunden Vorplatz.
Irgendetwas an dieser Szenerie verursacht mir eine Gänsehaut, und ich frage mich, ob mein Bruder am Ende vielleicht recht behalten wird.
Wir sind nicht ohne Grund hier. Wir alle nicht. Und ganz sicher ist niemand hier aus den Gründen, aus denen er glaubt, hier zu sein.
2
Die Ankunft
Lola.« Meine Großmutter haucht mir einen Luftkuss auf die Wange, als ich eine halbe Stunde später geduscht, mit noch nassen Haaren, aber in trockenen Klamotten in das Esszimmer trete.
»Großmutter«, antworte ich und umarme sie schnell. Meine Großmutter ist keine Freundin übertriebener Körperlichkeit. Meine Großmutter ist auch keine Freundin der Anrede Oma, doch als sie uns Kindern vor einigen Jahren vorschlug, wir sollten sie Elvira nennen, regte meine Mutter sich dermaßen auf, dass wir fürchteten, sie bekäme einen Herzinfarkt.
Großmutter also. Mit gebührendem Abstand und Respekt, denn Elvira Abendroth ist niemand, auf dessen Schoß man sich kuschelt oder an dessen Schulter man sich lehnt. Dieser Teil großelterlicher Pflichten war schon immer meinem Großvater vorbehalten, und der erfüllte seine Aufgabe mit hingebungsvollem Engagement. Großmutter dagegen … Sie ist eher die Frau, die dir den Daumen in den unteren Rücken presst, um einen aufrechten Gang zu forcieren.
»Hast du den Föhn nicht gefunden?«, ist das Erste, das sie zu mir sagt.
Ich streiche mir eine nasse Haarsträhne hinters Ohr. »Ich, ähm …«
»Ich weiß nicht, ob das Wort Föhn in Lolas Wortschatz zu finden ist, Großmutter, ebenso wie das Wort Kamm. Ihre Haare sehen jedenfalls immer so aus, als hätte sie gleich nach dem Waschen darauf geschlafen.«
Ich funkle meine Schwester an, die um den ovalen Esstisch herumtänzelt und Unterteller und Tassen darauf verteilt.
»Es kann nicht jeder so fieberhaft darauf bedacht sein, herumzulaufen wie Jackie Kennedy«, sage ich. »Wobei die sicherlich auch schon eine Bürste benutzt hat.« Ich kneife die Augen zusammen und betrachte Lynda genauer. »Ist das ein einteiliger Jogginganzug?«, frage ich schließlich.
»Ein Jumpsuit.«
Meine Großmutter seufzt. »Setzt euch doch bitte«, sagt sie. »Ich bin sofort wieder da.« Sie verschwindet durch eine schmale Tür neben der Anrichte, die eventuell in die Küche führt, und zum ersten Mal sehe ich mich bewusst in dem Zimmer um: Der großzügige, glänzende Tisch dominiert den Raum, mindestens zehn Stühle sind um ihn herum platziert, ein Durchgang gibt den Blick auf das Wohnzimmer frei, das mit seinen geblümten Tischlämpchen und den weißen Korbmöbeln auf einer Fotostrecke in Schöner Wohnen abgebildet sein könnte.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Irgendetwas Cottageähnliches vermutlich. Ein kleines, hutzeliges Häuschen mit groben Steinwänden und offenen Feuerstellen und keine viktorianische Villa, in der sich Scarlett O’Hara zu Hause gefühlt hätte. Das Zimmer, das mir Großmutter zugewiesen hat, nimmt fast die Hälfte des Dachgeschosses ein, hat ein eigenes Bad und einen begehbaren Kleiderschrank, der kaum kleiner ist als das Zimmer in meiner WG.
»Hey, gibt’s was zu essen?« Luca stürmt durch die Tür und lässt sich auf einen der Stühle fallen.
»Du weißt, dass du so spät nichts mehr zu dir nehmen solltest«, erklärt meine Schwester.
»Was willst du von mir, wir haben eine Stunde gewonnen.« Er legt den Kopf schief. »Ist das ein einteiliger Jogginganzug?«
»Ein Jumpsuit«, sage ich.
»Okaaaaay«, macht Luca.
»Dir ist klar«, fährt meine Schwester fort, »dass der Strom an Insulin, der unerschütterlich in dein Blut geleitet wird, die Fettverbrennung über Nacht eindämmt?«
Mein schlaksiger Bruder starrt Lynda an, als turne sie in einem Pandabärenpelz vor ihm herum.
»Diese Masse an Kohlenhydraten«, wiederholt meine Schwester für die Dummies unter uns, »die du den ganzen Tag in dich hineinstopfst, wird dich eines Tages umbringen.«
»Wer will sich umbringen?« Meine Eltern betreten den Raum, und mein Vater blickt ratlos von einem zum anderen. Unhörbar seufze ich, das aber schwer.
Sechs. Wochen.
Ich überlege, ob es jemandem auffallen würde, wenn ich einfach Tag und Nacht Kopfhörer tragen oder mich in einem Buch vergraben würde. Wenn mich meine Mutter und meine Schwester etwas gelehrt haben, dann, wie man erfolgreich seine Umgebung ausblendet. Oder vielleicht habe ich mir das auch bei meinem Vater abgeschaut.
Ich werfe ihm einen verständnisvollen Blick zu, als ich lautes Klappern aus der Küche höre, gefolgt von einem Klirren und Stimmengemurmel.
»Ich gehe schon«, sage ich, dankbar für die Fluchtmöglichkeit, springe auf und stürme auf die Tür zu, durch die meine Großmutter verschwunden ist.
»Kann ich dir helfen?«, frage ich noch auf der Schwelle. Binnen einer Sekunde habe ich den Raum überblickt und die Bewegungen darin wahrgenommen: Meine Großmutter, die sich neben der Kochinsel nach einer Pfanne bückt, die gelben Wände mit der Gänseblümchenbordüre, die weißen, glänzenden Schränke und hinten rechts eine Tür, die sich langsam ins Schloss drückt. »Wer war das?«, frage ich.
Meine Großmutter richtet sich auf und hängt die Pfanne an ihren Haken. »Wer war wer?«, fragt sie.
Ich runzle die Stirn. »Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört?«
Sie zieht eine Augenbraue hoch, als hielte sie es für mehr als bedenklich, dass ich Stimmen höre, die offenbar nur in meinem Kopf existieren. Mein Blick huscht zu der Tür, von der ich annehme, dass sie nach draußen führt, in den Garten.
»Die Tür«, beginne ich, »irgendwie hatte ich den Eindruck …«, doch meine Großmutter unterbricht mich.
»Ah, die Katze vermutlich«, sagt sie mit einem flüchtigen Blick über die Schulter. »Hier läuft so ein Streuner herum, bestimmt hat er sich wieder hereingeschlichen.«
Wohl eher hinaus, denke ich.
»Hier.« Meine Großmutter drückt mir eine Platte mit runden, dünnen Keksen in die Hand. »Stell die bitte auf den Tisch, ich komme gleich mit dem Tee.«
Sie schiebt mich aus der Küche und schließt die Tür hinter mir. Es kommt mir ein klein wenig wie ein Rauswurf vor.
»Endlich«, ruft Luca, nimmt mir den Teller aus der Hand und stellt ihn vor sich auf den Tisch. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihm.
»Hast du das eben auch gehört?«, frage ich.
»Hm?« Er greift sich einen der Kekse.
»Die Stimmen?«
Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Stimmen? Ernsthaft, Lola?«
Ich versetze seiner Schulter einen Schubs. »Ernsthaft, ja, da war jemand in der Küche.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht, ich habe nur noch gesehen, wie die Tür nach draußen ins Schloss fiel. Wenn es von uns niemand war, muss noch …«
»Wer möchte Tee?« Meine Großmutter steht hinter mir, die Kanne in der Hand, den Blick auf mich gerichtet. »Lola, Darling, schenkst du uns ein?«
Ich tue, worum sie mich bittet, doch mein Herz schlägt auf einmal schneller. Und ich wundere mich darüber, während freundlich Nichtigkeiten ausgetauscht werden über den Flug, die Taxifahrt, den Regen, über zuhause und die Möglichkeiten in St. Ives, während das Aroma des Tees in meine Nase steigt und mir bewusst wird, dass es in England zwar erst halb zehn sein mag, meine innere Uhr aber eine Stunde später anzeigt und ich wirklich hundemüde bin.
Da war jemand in der Küche. Ich bin doch nicht verrückt.
»Lola, hast du gehört?«
»Wie?« Ich hebe den Kopf und blicke in zehn Augenpaare, die auf mich gerichtet sind.
»Wir sagten gerade, dass wir den Abend für heute besser beschließen«, erklärt meine Mutter.
»Meine Güte, kannst du einmal mit deinen Gedanken im Hier und Jetzt bleiben?«, fragt Lynda.
Mein Vater lächelt mich an, meine Großmutter starrt mir Löcher in die Stirn, ich nehme meine Tasse, und wir gehen nach oben.
»Gute Nacht, John-Boy«, sagt mein Bruder, wuschelt durch meine Haare und verschwindet in seinem Zimmer.
Ich lege mich ins Bett und höre dem Regen zu.
Dieses Haus. Und diese Aussicht.
Als ich am Morgen aus dem Fenster sehe, bleibt mir beinahe die Luft weg: Der Regen hat aufgehört und einem klaren, blauen Himmel Platz gemacht, und dort unten, am Fuße des Hügels, auf dem das Haus thront, glitzert die Meeresoberfläche in der Sonne, und Boote schaukeln in dem kleinen Hafenbecken, an das sich schnuckelige Häuser schmiegen und ein feiner, weißer Sandstrand. St. Ives offenbar. Was für ein Anblick.
Ich beuge mich zu meinem Rucksack hinunter und krame meine Kamera hervor. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein hübscheres Motiv gesehen zu haben, und irgendwo in den Tiefen meines Gedächtnisses flackert die Stimme meiner Großmutter auf, die Lola, dem Kind, von einem Ort in England erzählt, einem Ort, der so einzigartig und inspirierend ist, dass sich dort Dutzende von Künstlern niedergelassen haben, um ihn zu malen.
Der Auslöser klickt.
Das Meer schimmert türkis an den Rändern und beinahe schwarz in seinen Tiefen, der Hügel, der sich hinter dem Hafen und seinen Cottages erhebt, leuchtet in grasgrünem Kontrast. Mit meiner Nokia fange ich die frischen Farben des Morgens ein, seine Unberührtheit und Stille, doch auf einmal möchte ich nicht länger zusehen. Auf einmal bin ich so wild darauf, in diesen verheißungsvollen Tag zu starten, dass ich in Rekordzeit dusche, in Jeans und T-Shirt schlüpfe und mich auf den Weg nach unten mache. Es ist noch nicht einmal 8 Uhr und sehr ruhig im Haus, doch der Duft von Kaffee hängt in der Luft wie das Zwitschern der Vögel im Garten.
Durch das Wohnzimmer gehe ich auf die offene Terrassentür zu. Mein Vater sitzt dort draußen, an einem runden Tisch in einem runden Korbstuhl unter einem Sonnensegel aus Leinen. Als er mich bemerkt, faltet er seine Zeitung zusammen und legt sie beiseite.
»Hey«, begrüßt er mich. »Du bist früh auf. Hast du gut geschlafen?«
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. »Bestens«, sage ich, bevor ich mich neben ihn in eines dieser Luxusgartenmöbel fallen lasse. »Ich bin mir sicher, die Matratze hat mehr gekostet als mein Auto.« Von diesen Stühlen hier ganz zu schweigen, denke ich. Wirklich wahr – für ein Ferienhaus ist diese Ausstattung mehr als gehoben.
Mein Vater lehnt sich lächelnd zurück. »Das wird ein schöner Sommer«, sagt er und blinzelt in den Himmel. Auf der Stelle fällt mir wieder ein, wie gern ich ihn hab.
Mein Vater ist Teilhaber der ziemlich erfolgreichen Werbeagentur, die sein Vater gegründet hat, doch im Gegensatz zu meiner Mutter und meiner Schwester habe ich ihn nie ein Wort darüber verlieren hören, wie schwer es doch gewesen sei, sich sechs Wochen am Stück freizunehmen. Im Gegenteil: Wenn ich ihn mir jetzt ansehe, denke ich, meine Großmutter hätte ihm gar keinen größeren Gefallen tun können, als ihn darum zu bitten.
»Du hast Frühstück gemacht?« Ich beuge mich vor und greife zur Kaffeekanne, während ich mit der anderen Hand eine Scheibe Toast aus dem Ständer fische.
»Um ehrlich zu sein, stand das schon hier, als ich vor zehn Minuten runterkam. Ich tippe auf Elvira, gesehen habe ich sie allerdings nicht.«
»Hmmm«, murmle ich. Von hier unten ist die Aussicht nicht mehr ganz so spektakulär wie vom Dachgeschoss aus, das kleine Hafenbecken und der eckige Kirchturm sind hinter den Bäumen verschwunden, doch das Meer schmiegt sich an den Horizont wie ein azurblaues Band.
»Möchtest du noch etwas anderes? Ich könnte dir ein paar Eier braten.« Mein Vater sieht zu, wie ich mir Kaffee eingieße und Butter auf meinen Toast streiche, und er wirkt jetzt schon erholter, als ich ihn seit langer, langer Zeit erlebt habe.
Ich schüttle den Kopf. »Alles perfekt«, sage ich und nicke in Richtung Meer. »Denkst du, es ist warm genug, um zu schwimmen?«
Er folgt meinem Blick. »Heute vielleicht nicht«, sagt er, »der Regen hat die Luft ziemlich abgekühlt. Aber laut deiner Großmutter stehen uns sonnige Wochen bevor.«
»In jeglicher Hinsicht«, stimme ich zu. Keine Ahnung, weshalb ich das gesagt habe. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Ein Schatten legt sich über meinen Frühstücksteller, und ich sehe auf und in das Gesicht meiner Großmutter, die auf mich herablächelt. In ihren Augen blitzt es, ich könnte schwören, sie hat meine letzte Bemerkung gehört. Und sie findet sie komisch.
»Guten Morgen, Elvira.« Mein Vater steht auf, um seiner Schwiegermutter einen Stuhl zurechtzurücken, doch diese winkt ab.
»Danke, Ben, aber ich bin ein wenig in Eile.« Sie hebt ihren Arm, an dem neben ihrer blauen Strickjacke auch eine ziemlich große Segeltuchtasche hängt. Sie wirkt so jung mit der klobigen Sonnenbrille, die sie in ihre kurzen, silbernen Haare gesteckt hat, in ihrer dunklen Marlene-Hose und der schicken, cremefarbenen Bluse. Gar nicht wie fünfundsiebzig. Gar nicht wie jemand, der nicht imstande ist, ohne seine Familie zu verreisen.
»Euch auch einen guten Morgen«, sagt sie. »Lasst euch das Frühstück schmecken.«
»Willst du dich wirklich nicht zu uns setzen?«, frage ich. »Ich dachte, wir verbringen den Tag gemeinsam?«
Meine Großmutter hebt die Sonnenbrille auf ihre Nase und sieht in Richtung Meer. »Ich habe noch eine Verabredung«, sagt sie. »In der Küche liegt ein Zettel mit dem Namen des Lokals, in dem wir uns heute Abend treffen können.«
»Heute Abend?«
»Wir werden gerade noch ausreichend Zeit haben, auch die Tage miteinander zu verbringen.«
»Mit wem?«, frage ich, bevor ich mich bremsen kann. »Ich meine, mit wem hast du die Verabredung?«
Sie lächelt wieder. »Eine alte Freundschaft«, sagt sie.
»Aus St. Ives?«
»Beinahe, ja.«
»Wer ist es?«
Meine Großmutter zieht eine Augenbraue hoch.
»Habt ihr euch hier wiedergetroffen?«
»Lola«, sagt mein Vater, und es klingt verwirrt.
Ich halte den Mund, nicke und denke an streunende Katzen, die vielleicht gar keine sind und die sich spätabends aus Küchen schleichen. Womöglich sollte ich aufhören damit und derlei Verschwörungstheorien weiterhin meinem Bruder überlassen.
»Viel Spaß, Omi«, sage ich also, und meine Großmutter lacht.
»Sechs sonnige Wochen, Lola, in jeglicher Hinsicht.« Sie nickt mir zu und geht über den Rasen davon. Nicht in Richtung Auffahrt. Ich frage mich, ob es im hinteren Teil des Gartens einen weiteren Zugang zum Haus gibt.
»Papa?«
»Ja?«
»Da war jemand in der Küche gestern Abend.«
»Wie?«
Ich sehe meiner Großmutter nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden ist.
»Ach, nichts weiter«, murmle ich, seufze und starre auf das Meer, als liefe es davon, sobald ich es aus den Augen lasse.
3
Die Begegnung
Oh, wow, das ist nicht zu glauben, oder?« Luca und ich stehen auf einem Aussichtspunkt oberhalb des Bahnhofs von St. Ives und blicken auf den traumhaften Sandstrand, der sich unter unseren Füßen erstreckt. Er ist breit, knallweiß, so gut wie leer und eine himmlische Entlohnung für den Vormittag, den wir gerade hinter uns gebracht haben.
Meine Mutter: Was soll das heißen, sie hat einen Zettel hinterlassen?
Ich: Nun ja, sie hat eine Verabredung und will uns erst am Abend in diesem Lokal treffen. Der Name steht auf dem Zettel.
Meine Mutter: Schweigen.
Meine Schwester: Immerhin gibt es W-Lan.
Meine Mutter: Da unternimmt man eine Tagesreise, um ihr in diesen schweren Stunden beizustehen, und dann ist sie nicht einmal bereit, mit uns zu frühstücken?
Mein Vater: Samantha.
Meine Schwester: Wenn Großmutter nicht da ist, kann ich genauso gut ein bisschen arbeiten.
Meine Mutter: Wirklich, Ben, musst du sie immer in Schutz nehmen? Es wäre schön, wenn sich mein Mann nicht ständig auf die Seite meiner Mutter schlagen würde.
Mein Vater: Seufzen.
Meine Schwester: Tappeltappeltappel auf dem iPad.
Meine Mutter: Nun, wenn denn alle diesen Urlaub getrennt voneinander verbringen wollen, ich bin auf meinem Zimmer.
Luca: ???
Ich: Ähm. Ich gehe dann mal… Ich… Bis später.
Wir schlängeln uns ziemlich viele Stufen hinunter auf eine Straße, die rechts zum Strand und links in den Ort führt. Wir entscheiden uns für den Ort. Luca hält sein Notizbuch in der Hand, ich meine Kamera, und so lassen wir uns treiben: eine Gasse entlang, zwischen niedrigen Cottages hindurch, nach rechts zu der alten Steinmauer, die den Weg vom Wasser trennt.
Wir folgen den Touristenströmen in Richtung Hafen. Die Luft ist definitiv noch keine fünfzehn Grad warm, doch die Sonne strahlt, der Himmel ist blau, es riecht nach Fisch und Salz und Algen. Je näher wir der Promenade kommen, die das Hafenbecken einrahmt, desto lauter wird das Geschrei der Möwen: Es gibt Restaurants und Schnellimbisse mit Tischen vor ihren Fenstern und Menschen, die Pommes und Brotstücke fallen lassen. Die Fassade der buckligen, bunten, uralten Cottages schließt sich halbrund um das Hafenbecken, in dem sich das Wasser bereits zur Hälfte zurückgezogen hat. Viele der Fischerboote liegen auf Sand, Kinder und Vögel suchen nach Krabben und Muscheln in den Pfützen, die die Ebbe zurückgelassen hat. Weiter hinten kitzelt das Meer die Ränder des Strands.
»Pffffff«, macht Luca.
Ich sehe ihn an, und er zuckt mit den Schultern. »Nicht schlecht für ein Fischerkaff am Ende der Welt, oder?«
»Nein, nicht schlecht«, stimme ich zu. »Allerdings sehe ich schwarz für deine dunklen Künste. Viel zu schön.«
»Wir werden sehen. Vielleicht mache ich es mir zur Aufgabe, die hässlichen Ecken zu finden. Ich habe Zeit.« Er grinst und steuert auf eine der Bänke zu, die den Weg um das Hafenbecken säumen.
Ich lehne mich zurück, nachdem wir uns hingesetzt haben, schließe die Augen und recke mein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Ich kann förmlich spüren, wie sich jede einzelne Sommersprosse, die ich besitze, auf meine Nase malt. Wir alle haben Sommersprossen, alle drei. Und wir alle haben braune Augen und störrische, blonde Haare, die allerdings nur Lynda zu bändigen weiß. Ich vermute, dass sie ihnen morgens energisch nahelegt, sich bloß anständig zu benehmen, und den armen, verängstigten Haaren bleibt gar keine andere Wahl, als zu gehorchen.
Ich denke noch eine Weile vor mich hin. Daran, dass ich die kommenden Wochen genießen möchte. Daran, dass ich mir über nichts anderes Sorgen machen möchte als über meine wirre Frisur. Daran, dass sich vielleicht gegen Ende des Sommers, wenn alle ein Mindestmaß an Erholung erreicht haben, die Gelegenheit eröffnen wird, meinen Eltern zu erzählen, was ich getan habe. Was ihnen nicht gefallen wird. Von Großmutter ganz zu schweigen.
Ich habe mich nicht ihretwegen dazu entschlossen, Englisch und Deutsch auf Lehramt zu studieren – zumindest denke ich das. Ich habe es getan, weil mein erster Anlauf mit Literaturwissenschaften nicht gerade glorreich verlaufen ist und mir in der Not nichts Besseres einfiel.
Meine Großmutter ist Lehrerin gewesen, Musiklehrerin, und mein Großvater später sogar Direktor an einem Gymnasium in München. Die beide hatten sich zu Studienzeiten in Hamburg kennengelernt und sind nach einigen Jahren aus dem hohen Norden in den Süden Deutschlands gezogen, weil mein Großvater dort eine gute Stelle bekommen hat. Ich habe mich immer gefragt, wie ein so freundlicher, nachgiebiger Mann wie mein Großvater Schuldirektor hatte werden können, aber vielleicht hatten die Schüler einfach Glück. Und wir, wir hatten es auch.
»Was brabbelst du da?«, fragt mein Bruder.
»Ich … gar nichts«, murmle ich und presse meine Lippen fest aufeinander. Laut zu denken ist eine höchst peinliche Angewohnheit, die mich eines Tages noch richtig in Schwierigkeiten bringen wird. Ich weiß das, doch obwohl ich das weiß, kann ich nur selten etwas dagegen tun.
»Ich hole uns einen Kaffee.« Luca steht auf, und ich öffne die Augen.
Die Sonne thront jetzt hoch am Himmel. Ich blicke durch den Sucher meiner Kamera zu dem langgestreckten Pier, an dessen Ende ein kleiner Leuchtturm den Eingang des Hafens markiert. Ich drücke den Auslöser und dann noch einmal, als sich eine Möwe direkt vor mir auf dem Geländer niederlässt. Sie legt den Kopf schief und sieht mich erwartungsvoll an.
»Nun ja, wie sage ich es dir am besten?«, frage ich den Vogel. »Ich hab nichts für dich.«
Die Möwe neigt den Kopf zur anderen Seite, und ich schieße noch ein Foto.
»Danke schön, das war sehr nett von dir«, sage ich freundlich. »Hast du noch andere Posen, die du mir zeigen möchtest?«
Der Vogel blinzelt nicht einmal, und erst jetzt fällt mir auf, dass seine Augen ziemlich gruselig sind. Rund wie ein Vollmond und hellgelb, mit einem schwarzen Punkt in der Mitte und einem knallroten Rand.
»Wenn ich es mir recht überlege, bist du doch kein so hübsches Motiv«, murmle ich. »Eher ein bisschen unheimlich. Und zerrupft. Und … und … ich weiß nicht.« Ich mache eine fahrige Handbewegung in ihre Richtung, und die Möwe flattert davon.
Der ältere Mann auf der Bank neben mir wirft mir einen eigenartigen Blick zu. Vielleicht hält er mich für eine Vogelbeschwörerin. Vielleicht eher nicht.
»Wusstest du, dass Möwen Meerwasser trinken?«, fragt Luca, während er mir einen braunen Pappbecher in die Hand drückt. »Sie entsalzen es in ihrem Körper und scheiden das Salz durch ihre Augen wieder aus.«
»Ähm.« Ich nehme einen Schluck Kaffee. »Das ist eine wirklich faszinierende Geschichte, Luca.«
»Nicht wahr«, sagt er.
Ich schüttle den Kopf. »Wollen wir noch ein bisschen gehen? Ich würde gern auf den Pier.«
Luca folgt meinem Blick über das Hafenbecken. »Ich will erst ein bisschen zeichnen«, sagt er. »Hol mich auf dem Rückweg ab, okay?«
»Okay.« Ich drücke meinem Bruder einen Kuss auf die Wange, und er verzieht das Gesicht. Eigentlich mag er es, wenn ich ihn küsse, da bin ich mir sicher. In den vergangenen Monaten haben wir uns nicht oft gesehen, und obwohl er es nie zugeben würde, bin ich überzeugt davon, dass er mich vermisst hat. Dass er sich allein fühlt in unserem Elternhaus, allein mit den beiden und all dem Schweigen zwischen ihnen.
Mit dem Kaffee in der einen und der Kamera in der anderen Hand schlendere ich die Hafenpromenade entlang. Zwischen den gestrandeten Booten tollen Hunde und Kinder, davor sonnen sich Touristen und Einheimische im Sand. Ich fotografiere ein uraltes Pub, an dessen Fassade die Jahreszahl 1312 gemalt ist, und ein winziges Steinhäuschen am Anfang des Piers, an dessen Front eine Tafel besagt, es sei einmal eine Kirche für die Fischer gewesen.
Dann spaziere ich auf den Leuchtturm zu. Je näher ich ihm komme, desto mehr verstärkt sich der Geruch von Fisch und … ich weiß nicht, … muffigem Seil. Der Gestank kommt von den Netzen, die die Fischer auf den alten Steinen ausbreiten, und ehrlich, er stört mich nicht im Geringsten. Als ich am Ende des Piers ankomme, erstreckt sich links das Meer, kühl und weit, auf der anderen Seite der Bucht erkenne ich den Strand wieder, den Luca und ich vorhin von oben betrachtet haben, und nichts könnte im Moment schöner sein als Meer und Strand auf der einen und dieser wunderschöne Fischerort auf der anderen Seite.
Eine ganze Weile lang bleibe ich dort stehen, lasse die salzige Seeluft und die Friedlichkeit des Augenblicks durch meinen Körper strömen.
Auf dem Rückweg sehe ich mir die Boote an, die unter mir auf dem beinahe wasserlosen Grund des Hafenbeckens festsitzen und mit langen Seilen hier oben am Pier festgezurrt sind. Es sind Fischerboote, Motorboote, Ruderboote, Kajaks, und immer wieder bleibe ich stehen, um eine Aufnahme zu machen.
Bis ich auf einmal nicht mehr stehe.
Im Gegenteil habe ich das Gefühl, ich werde gleich fliegen, als etwas an meinen Knöcheln reißt und mir die Füße unter dem Körper wegzieht. Den Kaffeebecher immer noch in einer Hand, ist es mit meiner Balance nicht wirklich weit her, und ehe ich weiß, wie mir geschieht, lande ich mit dem Steißbein auf dem harten Steinboden, dann, etwas abgebremst, mit dem Hinterkopf. Ich fürchte, ich gebe ein grunzendes Geräusch von mir, als mir der Schmerz in den Rücken fährt und für einen Augenblick den Atem raubt. Jemand ruft: »What the hell«, und dann nichts mehr.
Ich liege ein paar Sekunden, bevor ich mich stöhnend aufrapple. Meine Finger haben sich um die Kamera in meiner Hand gekrampft, der restliche Kaffee ziert jetzt mein T-Shirt. Um meine Knöchel ist eines der Taue geschlungen. Es hat sich irgendwie so eng zugezogen, dass es mich von den Beinen gerissen hat.
»Jesus Christ!«
Ich sitze immer noch auf dem Boden und starre meine gefesselten Füße an, als ein Typ auf mich zugestürmt kommt, ziemlich groß, ziemlich gut gebaut, braune Haare, nicht zu kurz, schwarzer Neoprenanzug. Ja, auch ich sehe ab und an genauer hin.
»Alles okay mit dir?«, ruft er mir zu, auf Englisch versteht sich, mit diesem kantigen Britenakzent, den ich zugegebenermaßen ziemlich heiß finde. Ich meine, wir sprechen alle ausreichend Englisch, gemessen daran, dass mein Großvater als Sohn deutscher Einwanderer in New York aufgewachsen ist und, wie schon erwähnt, Lehrer war. Doch diese britische Aussprache …, well … Very nice indeed.
Ich reibe mir immer noch den Hinterkopf, als mir einfällt, dass ich diesem Fremden womöglich antworten sollte. »Ich denke schon«, murmle ich also, »hat sich schlimmer angefühlt, als es ist.«
Er bleibt vor mir stehen und sieht auf mich herunter, erst in mein Gesicht, dann auf mein Kaffee-besudeltes T-Shirt, dann auf meine Beine und zurück. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, und ziemlich sicher könnte er eine Rasur vertragen.
»Du bist nicht von hier, oder?« Er geht in die Hocke und lockert das Tau, damit ich meine Turnschuhe befreien kann. »Niemand aus dem Ort würde zwischen den Seilen herumtanzen, ohne darauf zu achten, ob jemand womöglich sein Boot losmachen will.«
Oho. Die Mitleidsphase hat nicht lange angehalten. Klingt, als wäre ich schuld, dass ich hier auf dem Boden liege, nach Kaffee müffle, vermutlich mit Schürfwunden am Hintern. Ich öffne den Mund, um genau das zu sagen, da ist er schon aufgestanden, greift unter meine Ellbogen und zieht mich ebenfalls nach oben.
»Mal sehen«, murmelt er, während er mit seinen Fingerspitzen meinen Hinterkopf abzutasten beginnt.
»Okay, das reicht«, sage ich energisch und schlage seine Hand weg. »Vielen Dank, dass du mich erst umgeworfen und dich dann nicht dafür entschuldigt hast, aber ich denke, ich komme nun alleine klar.« Ich werfe ihm meinen giftigsten Blick zu, bevor ich mich bücke, um den zerdrückten Kaffeebecher aufzuheben.
Mein Rücken brennt bei der Bewegung, und meinen Lippen entkommt ein leises Zischen.
»Tut der Rücken weh?«, fragt er.
Ich habe mich noch nicht ganz aufgerichtet, als ich spüre, wie er allen Ernstes mein T-Shirt anhebt, um sich besagten Rücken anzusehen. Ich wirble herum. »Ähm … hallo?« Ich bin einigermaßen sprachlos angesichts dieses … Übergriffs, also funkle ich ihn bloß wütend an. Was stimmt denn nicht mit diesem Kerl? Überlass es Lola, den erstbesten grabschenden Psychopathen im Gummianzug aufzugabeln.
»Hallo«, gibt er zurück. Ich könnte schwören, dass er nur mit Mühe ein Lachen unterdrückt, was mich nur noch mehr ärgert.
Er hebt abwehrend die Hände. »Ich wollte nur sichergehen, dass du dich nicht verletzt hast«, sagt er. »Was nicht der Fall ist, denke ich, es sieht ziemlich rot aus, aber nicht abgeschürft oder …« Den Rest des Satzes lässt er in der Luft hängen und sieht nicht einmal ansatzweise peinlich berührt aus. Im Gegenteil, er lacht jetzt wirklich. »Hör zu, es tut mir leid«, sagt er. »Dass ich dich umgeworfen habe, meine ich.«
»Dass du mich umgeworfen hast«, wiederhole ich, und nicht, dass du mich angetatscht hast, füge ich in Gedanken hinzu. Ich schüttle den Kopf, um ihn klar zu bekommen, sage: »Wie schon erwähnt, nichts passiert«, straffe meine Schultern und gehe an ihm vorbei in Richtung Ende des Piers.
Ich komme ungefähr zwei Meter weit …
»Hey!«
… und beschließe, seine Stimme zu ignorieren.
»Es tut mir wirklich leid, okay? Das ist sonst nicht meine Art, ehrlich nicht. Du hast mich auf dem falschen Fuß erwischt.«
»Ja, klar«, antworte ich, ohne mich umzudrehen. »Oder du mich.« Haha.
»Wie heißt du?«
Ich gehe einfach weiter.
»Darf ich dir wenigstens einen neuen Kaffee kaufen?«
Weiter, weiter.
»Hilft es, wenn ich sage, dass ich Arzt bin?«
Über meine Schulter hinweg werfe ich ihm einen Blick zu. »Du bist Arzt?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, leider nicht.«
Nun bleibe ich doch stehen. Ich fühle, dass mir der Mund offen steht, aber ich kann nichts dagegen tun. Der Typ grinst über das ganze Gesicht.
»Ich bin Chase«, sagt er schließlich.
»Chase«, wiederhole ich langsam. »Ich kenne nur einen Chase, und der hat in einer Fernsehserie mitgespielt. Ihm wurde ein Finger abgehackt, oder war es die Hand? Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit.« Ich winke ihm zu. »Bye, Chase! Schönen Tag, Chase!«
Er winkt zurück, wobei er jeden Finger bewegt und ziemlich viele Zähne zeigt. »Bye, Kaffeemädchen!«
Während ich mich umdrehe, hänge ich mir die Kamera um den Hals, damit sie den Kaffeefleck auf meiner Brust verdeckt. Ich kann mir nicht helfen, aber ich muss ebenfalls lachen. Und ganz sicher bin ich nicht halb so schockiert, wie ich es gerne wäre.
4
Die Bombe
Ich treffe Luca bei seiner Bank, und gemeinsam kaufen wir einige Dinge ein, bevor wir uns auf den Rückweg machen: ein paar Cornish Pastrys zum Aufbacken, einen Salat dazu im Supermarkt, in der Drogerie eine Salbe für meinen brennenden Rücken. Es ist erst kurz nach Mittag, als wir uns auf den Weg zurück zum Haus machen, und ich könnte mir vorstellen, dass keiner von den Streithähnen dort oben daran gedacht hat, etwas zu essen zu besorgen.
Luca und ich gehen schweigend nebeneinander her, und das nicht etwa, weil wir uns nichts zu sagen hätten, sondern weil die Straßen, in denen sich der Ort an die umliegenden Hügel schmiegt, zum Teil so steil sind, dass ich auch ohne Plauderei ins Japsen gerate. Das Haus liegt ziemlich weit oben. Umsonst bekommt man eine solche Aussicht nicht.
Ich bleibe stehen, um mir eine Pause zu gönnen, und drehe mich bei der Gelegenheit noch einmal um, den Anblick genießen. Die Boote sind von hier oben nur noch kleine, bunte Punkte auf einer spiegelnden Fläche. Irgendeiner davon könnte Chase sein. Wollte er überhaupt mit dem Boot rausfahren? Wieso hatte er einen Neoprenanzug an?
»Komm schon, Lola«, ruft mein Bruder von weiter oben, und ich setze mich wieder in Bewegung.
Es interessiert mich überhaupt nicht, sage ich mir. Ich bin nicht interessiert. Er sieht gut aus. Das ist schon alles. Für den Esel ist die Eselin das Schönste, hat mein Großvater immer gesagt. Ich seufze, während ich meinen zugegebenermaßen nicht übermäßig trainierten Körper die steile Straße hinaufschraube. Dieser Sommer gehört meiner Großmutter, denke ich. Und das ist ganz, ganz wunderbar.
Das alte Haus thront auf der Spitze des Hügels wie bereits gestern Abend, nur sieht es im Sonnenlicht wahrhaftig noch traumhafter aus mit dem sandfarbenen Stein, den hohen Kassettenfenstern, den mächtigen Säulen, die den Eingang flankieren. Wir gehen einmal um das Haus herum, in den Garten, wo wir die anderen vermuten. Das Grundstück muss riesig sein, denn hier ist überhaupt nichts mehr von einem Zaun zu sehen. Ich würde gerne wissen, wem dieses Haus gehört. Bei nächster Gelegenheit werde ich meine Großmutter danach fragen.