Wintersonnenwende - Pascal Engman - E-Book

Wintersonnenwende E-Book

Pascal Engman

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Beschreibung

Es geht endlich weiter: Der nervenzerreißende neue Krimi der schwedischen Bestseller-Serie Die Nacht ist klirrend kalt und eine dünne Schneeschicht bedeckt Stockholm. Da zerreißen Schüssen die bisher ruhige Silvesternacht '94. Eine junge Frau flieht nackt durch den Schnee und verschwindet. Zurück bleibt ein Toter, hingerichtet mit einem Kopfschuss. Für Kommissar Tomas Wolf, der von seinem eigenen Trauma schwer gezeichnet ist, beginnt die Jagd nach einem skrupellosen Mörder. Zeitgleich forscht Journalistin Vera Berg in einem Vermisstenfall, dessen Spuren Tomas in ein verdächtiges Licht rücken. Was verbirgt er? Als ein weiterer bestialischer Mord geschieht, müssen die beiden sich zusammenraufen, um den Täter zu stellen. Denn unter einer Decke aus Schnee und Schweigen liegt eine Wahrheit begraben, die alles verändert … Limitierter Farbschnitt nur in der Erstauflage »Düster. Fesselnd. Unvergesslich.« Johanna Mo »Nordisches Noir auf höchstem Niveau.« BTJ »Mankell hätte es nicht besser machen können.« Aachener Zeitung  »Bestechend ausgefeilte Charaktere, jenseits von klischeehaften Gut- und Böse-Kategorien.« Funke Mediengruppe 

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wintersonnenwende

Pascal Engman ist Schwedens aufstrebender Star der Kriminalliteratur. Er hat weltweit über 1 Million Bücher verkauft und wird in über 20 Sprachen übersetzt. David Lagercrantz bezeichnet ihn als »Meister der neuen Krimi-Generation«.

Johannes Selåker hat als Nachrichtenleiter und Chefredakteur bei den größten Boulevardzeitungen Aftonbladet und Expressen gearbeitet. Zusammen mit Pascal Engman veröffentlicht er die Krimiserie um Tomas Wolf und Vera Berg, die in Schweden wochenlang auf Platz Nr. 1 der Bestsellerliste stand.

»Kein Ort auf der Welt riecht so stark nach Gewalt und Alkohol wie die Winternächte in dieser verfluchten Stadt. Im kommenden Jahr werden in Schweden statistisch gesehen fast hundertzehn Menschen ermordet. Sie werden sich gegenseitig erstechen, erschießen oder totschlagen. Wie du siehst, haben sie schon damit angefangen, und wir erleben es hautnah mit, front row.«

»Ein echter Pageturner, bei dem jedes Kapitel die Spannung in halsbrecherischem Tempo vorantreibt. Von der brutalen Einleitung bis zum spannenden Schluss.« Svensk Damtidning

»Engman & Selåker fangen den Zeitgeist der 90er auf intelligente Weise ein.« Jönköpings-Posten

Pascal Engman und Johannes Selåker

Wintersonnenwende

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024© 2023 Pascal Engman & Johannes SelåkerPublished by agreement with Nordin AgencyDie schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Skammens väg bei Bokförlaget Forum, Stockholm.

Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotive: © Anton Petrus/Getty Images, FinePic®, München

Autorenfoto: © Gabriel Liljevall AB

E-Book powered by pepyrusISBN978-3-8437-3107-2

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

MS Estonia, 28. September 1994, kurz nach Mitternacht

Teil I

Samstag, 31. Dezember 1994

Montag, 2. Januar 1995

Dienstag, 3. Januar 1995

Teil II

Mittwoch, 4. Januar 1995

Donnerstag, 5. Januar 1995

Freitag, 6. Januar 1995

Samstag, 7. Januar 1995

Teil III

Sonntag, 8. Januar 1995

Montag, 9. Januar 1995

Teil IV

Freitag, 13. Januar 1995

Samstag, 14. Januar 1995

Sonntag, 15. Januar 1995

Montag, 16. Januar 1995

Teil V

Ölandbrücke

Epilog

Epilog

Anhang

Nachwort und Dank der Autoren

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

MS Estonia, 28. September 1994, kurz nach Mitternacht

In der Bar Admiral auf Deck fünf rutschten die Gläser über den Tisch. Die Fähre krängte schwer. Der dreiundvierzigjährige Dan Blomander hatte das Unwetter vorhin vom Fenster aus betrachtet. Das brodelnde Meer hatte ausgesehen, als würde es kochen, und in den ausgestorbenen Korridoren, die er auf dem Weg hoch in die Bar passiert hatte, klebte Erbrochenes auf den Teppichen. Die meisten Passagiere litten wegen des starken Wellengangs an Seekrankheit, und Dan nahm an, dass die Leute in ihren Kabinen lagen.

Ihm aber war nicht schlecht, er war bloß betrunken.

Bei ihm am Tisch saß ein Mann. Der Fremde hatte ihm zwei Wodka spendiert. Irritiert wedelte Dan die Nikotinschwaden beiseite und musterte ihn.

Er war um die fünfzig, von feingliedriger Statur, sein Haaransatz hatte sich bereits deutlich nach hinten verschoben, und er sprach fehlerfreies Schwedisch mit leichtem, osteuropäischem Akzent. Dan zählte nicht mehr, die wievielte Zigarette der Mann rauchte. Er selbst hatte das Rauchen nach der Diagnose aufgegeben.

Was seinen Mittrinker nach Schweden führte, wusste Dan nicht. Er für seinen Teil hatte auf andere Gedanken kommen wollen, nachdem er seine Ein-Mann-Kfz-Werkstatt dichtgemacht hatte. Das anhaltende Konjunkturtief sorgte seit Wochen für gähnende Leere in seinen Auftragsbüchern, und er war das untätige Herumsitzen auf Öland leid gewesen. Fiel eine Autoreparatur an, gingen die Leute zu einer dieser neuen Franchise-Werkstattketten. Kleine selbstständige Handwerker wie er wurden vom Markt verdrängt. Er konnte den Kunden keinen Vorwurf machen. Die Ketten warben mit günstigen Preisen, und die Leute hatten kein Geld. Die Arbeitslosigkeit lag bei acht Prozent.

Diese Reise war aus einer Laune heraus geboren, aber Extravaganzen hatte er sich keine gegönnt. 1987 war er einmal nach Fuerteventura geflogen. Diesmal hatte er sich für Tallinn entschieden, da war alles billiger als zu Hause. Der Alkohol, das Hotel und vor allem die Frauen. Er hatte dem Fremden von ihnen erzählt, was er mit ihren Körpern angestellt hatte, damit geprahlt, wie wenig er dafür bezahlt hatte. Doch der andere hatte kaum etwas erwidert. Irgendwann hatte Dan geschwiegen und sich aufs Trinken beschränkt.

Eine Explosion erklang. Der Knall schien aus dem Schiffskörper gekommen zu sein, aus dem Maschinenraum der Estonia.

»Was war das?«, fragte Dan erschrocken.

Sein Gegenüber antwortete nicht. Stattdessen griff er nach der Flasche und machte ihre Gläser voll.

Teil I

Samstag, 31. Dezember 1994

1

Den Blick auf das gold lackierte Kopfende des Bettes gerichtet, empfing Ellen Alm die Stöße des Mannes hinter ihr. Sie kamen in einem steten, schneller werdenden Rhythmus. Bald wäre er fertig. Sein Griff um ihren Hals wurde fester. Sie gab vor, kurz vorm Ersticken zu sein, rang nach Luft, ruckte panisch mit dem Nacken, ging auf allen vieren ins Hohlkreuz und tat so, als wollte sie sich losreißen. So kam er schneller zum Ende. Typen wie ihn geilte es auf, sie leiden zu sehen.

»Hör auf, bitte«, röchelte sie. »Du tust mir weh.«

In Wahrheit spürte sie nicht das Geringste. Doch ihr Flehen hatte den gewünschten Effekt. Mit einem langen Stöhnen erfolgte der letzte Stoß. Er schubste sie von sich weg und betrachtete sie angewidert, während sein Altmänner-Schwanz zum Erdmittelpunkt hin erschlaffte. Keuchend fuhr er sich durch das verschwitzte schlohweiße Haar. Dann lächelte er überheblich.

Ellen ertrug weder seinen Blick noch seinen dürren, faltigen Körper. Sie stand auf und ging über den Teppichboden raus in den Flur und ins Bad. Die Zugluft vom Wohnzimmerfenster verursachte ihr Gänsehaut. Das Fenster blieb immer offen, um zu lüften.

Im Spiegel begutachtete sie die Spuren der Misshandlung. Ihre Lippen waren geschwollen, an ihrem Hals leuchteten rote Druckstellen. Aber sie war so sehr daran gewöhnt, dass sie keine Schmerzen fühlte.

Ihr Körper war zierlich, mädchenhaft. Dafür bezahlten Freier wie der da draußen. Bertil, so hieß er, war ein sadistisches Schwein. Aber es gab nicht viele gute Männer, die sich am Silvesterabend davonstehlen konnten.

Ellen wusch sich nur im Waschbecken. Sie wollte keine Zeit verlieren. Die Mädchen teilten sich die Zimmer, der Belegungsplan war eng getaktet. Und solange man ein Zimmer nutzte, musste man so viele Freier wie möglich abfertigen, sonst wurde man von den Betreibern des Bordells ohne Schutz eines Zuhälters nach draußen auf die Straße geschickt. Außerdem war es kurz vor Mitternacht, und in den frühen Morgenstunden ging der Betrieb erst richtig los. Dann zogen haufenweise Jungscliquen durch die Malmskillnadsgatan, die sich die angebrochene Silvesternacht mit ein paar Frauen versüßen wollten. Die ließ man sich nicht entgehen, unsichere und zaghafte Muttersöhnchen waren leicht abzuzocken.

Im Schlafzimmer hörte sie Bertil ächzen. Er war schon über siebzig und musste sich hinterher immer erholen. Eines Tages würde er so sterben, dachte Ellen bei sich. Sein Herz würde versagen, während er irgendein bemitleidenswertes osteuropäisches Mädchen mit dem Gürtel schlug. Aber bis dahin würde sie ihm das Geld aus der Tasche ziehen. Bertil war einer der wenigen Freier, bei denen sie nicht auf sofortiger Bezahlung bestand, er machte nie Probleme.

Sie tröpfelte sich Clear Eyes in die Augen, damit sich die Blutgefäße verengten, und überschminkte die Spuren von Bertils Misshandlungen. Dieser Moment war der schlimmste. Ihre Rolle war abgelegt, aber der Ekel blieb. Für Bertil war sie Lucy. Ihren richtigen Namen kannte er nicht. Und bei der Arbeit fühlte sie sich wie Lucy. Doch jetzt, hinterher, war sie wieder Ellen Alm. Dann gab es keinen Schutzwall gegen die Gefühle, die in ihr aufstiegen; abgesehen von den Drogen, die allem den Stachel nahmen. Aber mit den Drogen hatte sie im Herbst aufgehört, nachdem Pål sie verlassen hatte und ihre Mutter gestorben war.

Ellen zog resolut ihren Lippenstift nach, als die Erinnerung ans Hospiz sie überwältigte. Sie war nur einmal dort gewesen, zwei Tage, bevor ihre Mutter gestorben war. Ihre Mutter hatte voriges Jahr mit ihr gebrochen, als Ellen erst Gras geraucht und dann stärkere Sachen ausprobiert hatte. Ihre Mutter hatte sie mit den Worten, sie wolle nichts mit dreckigen Junkies zu schaffen haben, vor die Tür gesetzt. Und auf der Straße war sie dann komplett abgestürzt.

Im Hospiz war es, als hätte das Zerwürfnis nie stattgefunden. Ellen sah ihre Mutter vor sich, hörte ihre schwache Stimme, mit der sie ihre Lebenslüge offenbart und sie um einen letzten Gefallen gebeten hatte; untermalt von den Schreien aus dem Nebenzimmer, ein verzweifeltes Flehen, nicht zu sterben. Der unverwechselbare Geruch von fortgeputztem Tod.

Bei der Gelegenheit hatte sie ihre Mutter nach ihrem Vater gefragt. Wer er war und warum sie nie über ihn gesprochen hatte. Aber Mama hatte nur geseufzt und eine kalte Hand auf ihre gelegt.

»Ein andermal, Schätzchen«, hatte sie gesagt.

Zwei Tage später war sie gestorben.

In der Wohnung fiel eine Tür ins Schloss und kurz darauf eine zweite. Ellen kehrte zurück in die Wirklichkeit. Prellte der alte Sack sie etwa um ihre Kohle? Sie griff nach ihrem Eyeliner und schnellte herum, um Bertil nachzulaufen. Wenn er irgendwelche Spielchen versuchte, würde sie ihm den Stift in den Hals rammen. Als sie eben die Badezimmertür öffnen wollte, hörte sie einen Aufschrei und erstarrte. Ein Schuss fiel, ein zweiter.

Ellen riss die Tür auf und rannte ohne einen Blick ins Schlafzimmer den Flur entlang ins Wohnzimmer. Sie musste hier weg, fliehen. Hinter ihr erklangen Schritte, die rasch näher kamen. Sie erreichte das geöffnete Fenster und kletterte hinaus.

Ihre nackten Füße trafen auf das Vorderdach. Ein paar Meter entfernt führte eine Feuerleiter in den Innenhof hinunter. Die Kälte machte ihren Körper plump und schwerfällig. Sie hatte Angst, auszurutschen und hinzufallen.

Ein neuer Knall erklang, ein zweiter. Im ersten Moment glaubte Ellen, dass es Schüsse waren. Doch dann stiegen Silvesterraketen in den Himmel. Wie üblich hatte jemand nicht bis Mitternacht warten können. Sie kletterte die Feuerleiter hinunter und rannte nackt durch den Innenhof, während über ihr ein Farbenmeer explodierte. Sie hatte alles in der Wohnung zurückgelassen. Kleidung, Geld, das Adressbuch mit den Namen ihrer Stammkunden und allen Telefonnummern. Als sie die Tür zu einer Seitenstraße der Malmskillnadsgatan erreichte, hallte eine Stimme durch den Hof. Sie blieb stehen und blickte zu dem Fenster hoch, durch das sie geflohen war. Die Silhouette eines Mannes zeichnete sich darin ab. Doch das war es nicht, was sie vor Angst erstarren ließ.

Er hatte sie bei ihrem richtigen Namen gerufen.

Dem Namen, den niemand in dieser Welt kennen sollte.

2

Noch eine Viertelstunde, bis 1994 zu 1995 wurde. Der Küchentisch in der Dreizimmerwohnung in der Hornsgatan war gedeckt, aber das Essen – Rinderfilet mit Sauce béarnaise und Bratkartoffeln – war kalt. Die Servietten, die er zu Turmspitzen gefaltet hatte, steckten in den Gläsern. Goldfarbenes Konfetti lag zwischen den Gedecken, von der Deckenlampe ringelten sich Luftschlangen auf die Teller herab. Tomas Wolf fuhr zusammen, als im Park Tantolunden ein Böller explodierte. Er stellte sich ans Fenster. Die Kinder hatten das neue Jahr eigentlich bei ihm begrüßen sollen. Aber als sie gerade mit dem Essen beginnen wollten, hatte Ebba angefangen zu weinen und nach Hause gewollt, zu Klara.

Der siebenjährige Alexander hatte sich bemüht, seine kleine Schwester zu trösten. Er hatte ihr übers Haar gestrichen, versucht, sie zum Bleiben zu überreden, und dabei unentwegt besorgt zu seinem Vater gesehen, der seine Kinder hilflos betrachtete. Zum ersten Mal erhaschte Tomas einen Blick auf den jämmerlichen, bemitleidenswerten Mann, der er in den Augen seines Sohnes war.

Er griff nach seinen Zigaretten, nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, ging ins Wohnzimmer und schaltete die Deckenlampe aus, um den fast vollständig kahlen Raum nicht sehen zu müssen. Er ließ am Fenster zum Tantolunden die Jalousien herunter, sank in den Sessel, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte einen tiefen Zug und lauschte dem leisen Knistern des Tabaks. Die aufglimmende Glut war die einzige Lichtquelle in der kompakten Dunkelheit.

1994 war ein Jahr wie kein anderes gewesen. Er dachte an den Glutsommer, in dem Schweden bei der Fußball-WM Bronze geholt hatte, während er einen zweifachen Frauenmörder gejagt hatte. Das alles lag erst fünf Monate zurück, trotzdem erschien es ihm wie ein anderes Leben.

Ende September war die Estonia gesunken und hatte über achthundert Menschen mit in den Tod gerissen. Ungefähr zur selben Zeit – Zeit war inzwischen konturlos, ein verworrenes, in sich selbst verstricktes Gebilde – war Klara mit den Kindern in ein Reihenhaus in Enskede gezogen.

Das Aus seiner Familie war bereits im Frühjahr besiegelt gewesen, nach seiner Rückkehr vom Militäreinsatz in Bosnien. Seine Wutausbrüche, Gedächtnislücken und Albträume, die darauf gefolgt waren. Angstattacken, bei denen er keine Luft bekommen hatte und fest davon überzeugt gewesen war, sterben zu müssen. Ihm war klar, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, dass irgendwo unter seiner Haut eine blutende Wut saß. Er spürte den Schmerz, ohne dessen Ursprung lokalisieren zu können; und nur die Tabletten, die er regelmäßig bei einem Dealer mit Goldring im Ohr in der Zinken Bar kaufte, brachten Linderung.

Um seine Arbeit als Kriminalkommissar bei der Stockholmer Mordkommission bewältigen zu können, hatte er inzwischen ständig ein Notizbuch bei sich, in dem er sich die banalsten Dinge notierte: wo er abends das Auto abstellte, in welcher Bankfiliale er Kunde war oder den Namen der Straße, in der Klara jetzt wohnte. Anfangs hatten sie ausgemacht, dass die Kinder jede zweite Woche bei ihm sein sollten. Doch es klappte nicht. Er vergaß, sie aus der Kita abzuholen, fuhr zur Arbeit, ohne sie zu wecken, oder er verschlief. Er war der Vater geworden, der er nie hatte sein wollen. Alexander und Ebba hatten Angst, schlichen auf Zehenspitzen um ihn herum. Heute Abend war ihm klar geworden, dass sie Mitleid mit ihm hatten. Sein eigener Sohn empfand Mitleid mit ihm.

»Es tut mir leid, Alexander«, flüsterte er in die Dunkelheit. »Es tut mir leid, Ebba. Aber ich schaffe es nicht.«

Vor dem Fenster erklangen die Explosionen der Feuerwerksraketen jetzt in dichter Folge.

Tomas trank einen Schluck Bier, griff nach seiner Dienstpistole, die auf der Lehne des Sessels lag, entsicherte sie und nahm einen letzten tiefen Zug von der Zigarette.

Dann stand er auf, tastete sich durch das dunkle Wohnzimmer und öffnete ein Fenster, um die Kälte hereinzulassen. Er wollte nicht, dass es stank oder sein Körper beim Auffinden aufgequollen wäre.

Tomas kehrte zum Sessel zurück, sog die frische Luft tief in die Lungen ein und setzte sich wieder hin.

Das kalte Metall stieß gegen seine Vorderzähne, als er den Lauf in den Mund schob.

Er bewegte die Mündung im Mund hin und her, um den richtigen Winkel zu finden, biss die Kiefer aufeinander und atmete tief durch, die Spitze seines Zeigefingers berührte den Abzug.

Das Feuerwerk auf den verschneiten Straßen schwoll zu einem Crescendo an.

Der Jahreswechsel stand kurz bevor.

Das war das Ende. Um Punkt Mitternacht würde Tomas Wolf, einunddreißig Jahre alt, nicht mehr existieren. Seine Kinder würden ihn vermissen, aber er musste den Tag nicht miterleben, an dem Alexanders und Ebbas Mitleid in Verachtung umschlagen würde. Er hatte den Krieg in Bosnien überlebt, doch schlussendlich hatte er ihn trotzdem das Leben gekostet.

Im Flur läutete das Telefon. Tomas versuchte, das Klingeln zu ignorieren, sich darauf zu konzentrieren, sein Leben zu beenden, wiegte den Oberkörper vor und zurück. Ein winselnder, tierischer Laut stieg seine Kehle empor, als er einen Kampf mit seinem Zeigefinger ausfocht.

3

Die Außentemperaturanzeige des Saab zeigte minus dreizehn Grad. Auf dem Hötorget waren Hunderte Menschen zusammengekommen, um das Ereignis zu feiern, das nur noch wenige Sekunden entfernt war: den Jahreswechsel. Ein weiteres Jahr würde der Vergangenheit angehören.

Vera Berg schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und drückte auf den Zigarettenanzünder. Ihre Kollegin Carina Hult warf ihr vom Fahrersitz einen irritierten Seitenblick zu.

»Es ist Silvester«, lächelte Vera. »Eine Zigarette darf ich doch wohl im Auto rauchen?«

Carina klappte demonstrativ langsam den Aschenbecher auf. Der Anzünder sprang heraus, und Vera hielt das aufgeheizte Ende an ihre Zigarette. Sie waren auf der Jagd nach einer Story, Zeitungsjournalistin und Fotografin, fuhren durch die Stadt auf der Suche nach dem großen Ereignis der Silvesternacht. Einer Meldung, um die morgige Zeitung zu füllen. Gerade parkten sie in der Hoffnung auf eine Schlägerei und dramatische Bilder in der Kungsgatan.

»Zehn, neun, acht …«

Auf dem Hötorget setzte der Countdown ein, und kurz darauf explodierte der Himmel. Es zischte und knallte in der ganzen Stadt. 1994 war Vergangenheit. Mattias Flinks Amoklauf in Falun, die Estonia-Katastrophe und die Stureplan-Morde, Stig Hoffstens Frauenmorde, Schwedens WM-Bronzemedaille und ein glühend heißer Sommer, der ewig weit weg schien; all das würde bald nur noch verschwommene Erinnerung sein.

Vera drehte den Polizeifunk lauter. Bisher war ihnen noch kein Auflagenbringer untergekommen. 1995 nahm seinen Lauf, und ein prall gefülltes Nachrichtenjahr war mit einem ereignislosen Abend zu Ende gegangen. Es kam ihr armselig und gleichzeitig wie ein schlechtes Omen vor. Als Journalistin war sie auf Mord und andere reißerische Meldungen angewiesen, die ihr den Stoff für ihre Artikel lieferten.

»Wie viel verdienst du eigentlich?«, erkundigte sich Carina.

»Fünfundfünfzig im Jahr«, antwortete Vera.

Sie schämte sich, wie immer, wenn die Sprache auf ihr Gehalt kam.

»Warum schlägst du dir dann mit mir die Silvesternacht um die Ohren? Ich glaube nicht, dass Muryn dich von der Kvällsposten abgeworben hat, damit du als Nachtreporterin losziehst.«

Das stimmte. Vera gehörte zu einer Gruppe Kriminalreporter, die direkt dem Redaktionsleiter des Aftonbladet, Rikard Muryn, unterstellt war. Er hatte sie im Herbst geheadhuntet, und bis ihre Kündigungsfrist bei der Kvällsposten verstrichen war, hatte sie unter beruflicher Quarantäne gestanden. Als sie ihre Stelle beim Aftonbladet in der zweiten Dezemberwoche endlich antreten konnte, hatte sie sowohl den Untergang der Estonia als auch die Stureplan-Morde verpasst. Der Starstatus, den ihr ihre Rolle bei der Jagd nach Stig Hoffsten verliehen hatte, war wie weggeblasen. Man erwartete von ihr, für die Zeitung neue Sensationsmeldungen an Land zu ziehen. Doch drei Wochen später glänzte der große Scoop noch immer durch Abwesenheit. Darum hatte sie sich freiwillig für eine Zusatzschicht in der Silvesternacht gemeldet. Sie hatte so oder so keine anderen Pläne.

»Ich will mir beim nächsten Feierabendbier nicht wieder anhören müssen, dass ich bloß als Quotenfrau angeworben wurde«, erwiderte Vera. »Ich brauche eine Topstory, sonst kann ich nach meiner Probezeit die Koffer packen.«

Carina deutete auf den Zeitungs- und Tabakwarenladen auf der anderen Straßenseite.

»Soweit ich weiß, hängt diese Schlagzeile an Zehntausenden Kiosken im ganzen Land«, sagte sie.

Von dem Kiosk verkündete die Titelseite des Aftonbladet, dass die heutige Ausgabe ein Exklusivinterview der Starjournalistin Vera Berg mit dem Spion Stig Bergling enthielt. Sogar ein gemeinsames Foto von ihnen war abgedruckt.

»Du weißt genauso gut wie ich, dass ich das Interview nur machen durfte, um als Wichsvorlage herzuhalten. Bergling redet nur mit jungen Frauen.«

Vera schnippte die Asche von der Zigarette und schaute in den Himmel. Die Knallerei hielt noch immer an. Sie dachte an Sigge, den kleinen Jungen, um den sie sich gekümmert hatte, nachdem sich dessen Ganovenvater, ihr Ex-Freund Jonny, aus dem Staub gemacht hatte. Sie hatte Sigge nicht mehr gesehen, seit Jonny im September bei ihr zu Hause aufgekreuzt war, den Jungen unter Androhung von Gewalt mitgenommen und ihre Adoptionspläne zunichtegemacht hatte. Sah Sigge jetzt auch in den Himmel und guckte sich das Feuerwerk an? Oder schlief er schon?

»Hast du das mit dem Internet gehört?«, fragte Carina.

»Nein, was?«

»Wir kriegen eine Webdomain. Sie geht heute Nacht an den Start. www.aftonbladet.se. Alles wird digitalisiert. Und die Nutzung ist kostenlos.«

»Cool«, sagte Vera.

Sie hatte von dem Online-Projekt gehört, das aber in erster Linie für die Rohrkrepierer der Zeitung gedacht war.

»Cool?«, erwiderte Carina. »Du weißt, was ›kostenlos‹ bedeutet, oder? Die Leute müssen sich keine Printausgabe mehr kaufen, was heißt, dass meine Bildhonorare noch weiter sinken.«

»Möglich. Aber es hat doch kaum jemand Internet.«

Im Polizeifunk kam eine Meldung:

»Siebzig an alle verfügbaren Streifen in der Innenstadt. Schusswechsel in der Malmskillnadsgatan 46. Der Anrufer sagt, eine Person sei tot.«

»Liegt da nicht dieser Pokerclub?«, fragte Carina und fuhr mit schlingernden Reifen los.

»Ja, irgendein illegaler Nachtclub«, bestätigte Vera.

Drei Minuten später stiegen sie in der Malmskillnadsgatan aus dem Auto. Zwei uniformierte Polizeibeamte errichteten schon eine Absperrung. Sie waren zu spät gekommen, um den Tatort noch aus nächster Nähe in Augenschein nehmen zu können.

»Da drüben ist es.« Vera deutete auf den Treppenaufgang mit der Nummer 46. »Wir können nicht mehr hin.«

»Sie haben das volle Besteck mobilisiert. Wie damals nach den Schüssen am Stureplan.«

Vera bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. Auf Höhe des Pokerclubs stand eine Gruppe Männer in schlecht sitzenden Anzügen und rauchte, vor dem Eingang mit der Nummer 46 froren ein paar junge, viel zu dünn gekleidete Frauen. Eine von ihnen weinte. Vera nahm an, dass es Prostituierte waren.

Sie zückte Block und Stift. Jetzt galt es, schnellstmöglich Zeugen aufzutreiben und irgendein exklusives Detail in Erfahrung zu bringen, das ihren Artikel auf die Titelseite katapultierte.

»Kennst du diesen Polizisten nicht?«, fragte Carina, als Vera eben zu der weinenden jungen Frau hinübergehen wollte, und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Vielleicht kann er uns hinter die Absperrung schleusen?«

Vera drehte sich um und entdeckte Tomas Wolf, der gerade aus seinem Auto stieg. Ohne ein Wort ging er an ihr vorbei, duckte sich unter dem Absperrband hindurch und verschwand im Haus. Sie war sich sicher, dass er sie gesehen hatte.

Vor einem halben Jahr hatte er ihr das Leben gerettet. Jetzt behandelte er sie wie Luft.

»Nicht mehr«, sagte sie.

4

Tomas ging auf den Eingang mit der Nummer 46 zu. Die Tür stand offen, Stimmen und eilige Schritte hallten durchs Haus. Vor dem im selben Gebäudekomplex liegenden illegalen Pokerclub »Der Ochse« hatten sich ein paar Dutzend Schaulustige versammelt. Tomas betrachtete die verfrorenen, stark geschminkten Prostituierten, die dort standen, weil die Polizeiabsperrung ihre Erwerbsmeile beeinträchtigte, und die Pokerspieler, die ihren Club hatten räumen müssen, weil sich eine der Wohnungen im Haus in einen Tatort verwandelt hatte. Einige von ihnen hielten ihre Getränke in der Hand. Uniformierte Polizisten nahmen erste Zeugenaussagen auf.

In einem traumartig umnebelten Zustand stieg Tomas die Treppe hoch. Im vierten Stock stand eine Wohnungstür offen. Er streifte Schuhüberzieher und Handschuhe über und ging hinein.

Teures Fischgrätparkett. Stuck und ein Kristallkronleuchter an der Decke. Lila gestrichene Wände. Er lief den Flur entlang, von dem mehrere Zimmer abgingen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn.

Hätte er vor einer Stunde den Abzug seiner Dienstwaffe durchgedrückt, hätte dies seine Wohnung sein können. Er sollte tot sein, befand sich aber unter den Lebenden.

Er hörte die Stimmen der Kriminaltechniker, die miteinander sprachen, das Klicken der Kameras im Schlafzimmer, wo das Opfer lag.

Noch brachte er es nicht fertig, die Leiche zu begutachten.

Tomas betrat ein leeres Schlafzimmer. Ein breites, bezogenes Bett mit gold lackiertem Kopfteil, ein Nachttisch auf einer Seite. Ein antiker Stuhl mit grünem Samtbezug. Er trat ans Fenster und blickte auf die Malmskillnadsgatan hinaus. Es schneite. Durch einen Riss drang kalte Zugluft herein.

Die Wohnung hatte etwas Unpersönliches. Es gab Betten, Möbel, Lampen und Bilder, all die Dinge, mit denen Menschen ihr Zuhause einrichteten. Doch dies war kein Zuhause. Tomas konnte nicht genau sagen, was ihm dieses Gefühl gab.

»Da bist du ja«, erklang eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und entdeckte seinen Kollegen Zingo mit einem beigefarbenen Mantel über dem Arm. Zingo hieß mit richtigem Namen Lars Johansson, doch seit er in den Siebzigern in Västerås einen Einbrecher mit einer Flasche der Marke Zingo k. o. geschlagen hatte, nannten ihn alle Zingo. Er war zweiundfünfzig Jahre alt und trug wie immer eines seiner kurzärmeligen Hawaii-Hemden. Sein halblanges Haar war ungewaschen und von ersten grauen Strähnen durchsetzt.

»Haben sie dich auch gerufen?«, fragte Tomas.

»Wie es aussieht. Ich dachte, die Kinder sind heute bei dir?«

»Daraus wurde nichts.«

»Es trifft immer uns arme geschiedene Kerle, wenn die Leute sich an einem Feiertag gegenseitig den Garaus machen. Außerdem sind wir unterbesetzt. Wir haben einen Mord im Hammarby-Hafen, ein toter Junge in einem Streugutlagersilo. Jemand hat ihm die Hand abgehackt. Er soll früher am Tag im Höder Dart gewesen sein.«

Das Höder Dart war ein Treffpunkt für Skinheads und White-Supremacy-Anhänger im Stockholmer Jugendzentrum Fryshuset. Tomas war früher selbst oft dort gewesen, war zusammen mit seinem älteren Halbbruder Kristian mit dem Zug von Hallstahammar in die Hauptstadt gefahren.

»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte er mit einer Geste auf das Bett.

Zingo ignorierte seine Frage und rief stattdessen nach einer UV-Leuchte. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und stellte sich neben Tomas ans Fenster. Die Traube der Schaulustigen draußen vor der Absperrung war angewachsen.

»Riechst du das?« Zingo schnupperte in die Luft.

Tomas antwortete nicht.

»Kein Ort auf der Welt riecht so stark nach Gewalt und Alkohol wie die Winternächte in dieser verfluchten Stadt. Im kommenden Jahr werden in Schweden statistisch gesehen fast hundertzehn Menschen ermordet. Sie werden sich gegenseitig erstechen, erschießen oder totschlagen. Wie du siehst, haben sie schon damit angefangen, und wir erleben es hautnah mit, front row.«

Ein Kriminaltechniker erschien mit der UV-Leuchte.

»Schalt bitte das Licht aus und mach die Tür hinter dir zu«, bat Zingo.

Der Kollege kam Zingos Aufforderung nach und ging wieder hinaus. Nur der gelbe Schein der Straßenlaternen fiel ins Zimmer. Zingo richtete die UV-Lampe auf Bett und Kopfteil. Bläulich weiße Flecken schimmerten auf wie Meeresleuchten. Zingo ließ das UV-Licht über Wände und Fußboden wandern.

»Eine Galaxie aus Spermaflecken«, sagte er.

»Ein Bordell?«

»Ja.«

Zingo tastete sich zum Lichtschalter vor, schaltete die Deckenlampe an, ging in den Flur hinaus und bedeutete Tomas mitzukommen. Sie stellten sich in die Tür des angrenzenden Schlafzimmers.

Auf dem Teppichboden lag ein nackter weißhaariger Mann mit einer Kopfschusswunde.

»Bertil Runström. Jahrgang 1922«, sagte Zingo.

Zweiundsiebzig Jahre alt, rechnete Tomas im Kopf. Im Wohnzimmer fotografierte ein Kriminaltechniker den Fußboden. Tomas trat neben ihn und betrachtete die feuchten Fußabdrücke, die der Kollege ablichtete.

»Der Schütze hat ungefähr hier gestanden«, sagte Zingo aus dem Flur, »und Runström zwischen die Augen geschossen, aus … sechs Metern Entfernung. Eine nicht ganz leichte Übung, das muss ich sagen.«

Ein kalter Luftzug im Rücken ließ Tomas erschaudern. Er ging zu dem offen stehenden Fenster am anderen Ende des Wohnzimmers. Darunter lag ein verschneites Vordach. Eine deutliche Fußspur führte zu einer Feuerleiter, über die man in den Innenhof hinuntergelangte.

»Und hinterher ist er über das Dach geflohen?«, rief er.

»Oder sie«, meinte Zingo, der zu ihm aufgeschlossen hatte.

Tomas drehte sich um.

»Sie?«

Zingo zupfte seinen Hemdkragen zurecht. Die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.

»Die Fenster des Pokerclubs gehen auf den Innenhof.« Er deutete nach unten. »Einer der Spieler sagt, er habe kurz nach dem Schuss eine nackte Frau über den Hof laufen sehen.«

Im Flur erklangen Schritte und Stimmen. Zwei hochgewachsene Männer in schwarzen Trenchcoats betraten das Wohnzimmer. Sie sahen sich um und zogen ihre Lederhandschuhe aus.

»Da hol mich doch der Teufel«, platzte Zingo heraus.

»Wer ist das?«, wollte Tomas wissen.

»Wenn mich nicht alles täuscht, sind das zwei Repräsentanten aus der geheimen Talentschmiede Seiner Majestät.«

Die schwarz gekleideten Männer hatten sie am Fenster entdeckt und kamen zu ihnen herüber. Als sie ihre Dienstausweise zückten, stellte sich heraus, dass sie von der Säpo, der schwedischen Geheimpolizei, waren. Zingo nahm Haltung an und hob in einem ironischen Salut die Hand.

»Ihr könnt zusammenpacken und nach Hause fahren. Ab hier übernehmen wir«, sagte der Größere der beiden Säpo-Leute.

5

Das weinende Mädchen hatte ihr keine Informationen geben können. Sie war verängstigt und aufgewühlt und schien kein Wort Schwedisch zu sprechen. Einem Streifenpolizisten hatte Vera immerhin entlocken können, dass es um einen Mordfall ging. In einer der Wohnungen lag ein Toter. Mehr wusste sie nicht. Ihr Frust wuchs. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, sie musste der Zeitung einen Artikel liefern. In einer Stunde war Redaktionsschluss. Tomas Wolf war am Tatort, weigerte sich aber, mit ihr zu reden. Mit einem wütenden Tritt beförderte Vera eine Bierdose den vereisten Bürgersteig hinunter.

Sie ging zu dem im selben Gebäudekomplex untergebrachten Pokerclub hinüber und wandte sich an die rauchenden Männer.

»Hat einer von Ihnen etwas gesehen?«, erkundigte sie sich. »Ich komme vom Aftonbladet.«

Ein untersetzter, dicklicher Mann mit Hornbrille kam zu ihr herüber. Er wirkte gestresst. Trotz der Minusgrade standen ihm Schweißperlen auf der Stirn.

»Ich will nicht namentlich genannt werden«, sagte er.

»In Ordnung.«

Vera gab Carina Hult ein Zeichen, keine Bilder zu machen.

»Da drüben liegt ein Puff«, flüsterte der Mann und deutete zum Hauseingang mit der Nummer 46.

»Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß. Aber ich hab die Schüsse gehört und dann aus dem Fenster gesehen. Ein junges Mädchen lief draußen vorbei. Splitternackt. Man hat alles gesehen.«

»Hier, auf der Straße?«, hakte Vera nach.

»Auf dem Innenhof. Die Fenster des Clubs gehen zum Innenhof. Normalerweise rauchen wir da. Aber die Polizei hat den Bereich abgeriegelt. Das Mädchen ist jedenfalls im Haus gegenüber verschwunden.«

»Wenn Sie wissen, dass dort ein Puff liegt«, sagte Vera, »dann wissen Sie vielleicht auch, wer das Mädchen war?«

»Leider nein.«

»Wie alt war sie ungefähr?«

»Achtzehn, vielleicht neunzehn. Ein richtig heißer Feger.«

»Hatte sie eine Waffe?«

»Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Ich … Ich hab vor allem auf ihre Brüste geguckt.«

Vera bedankte sich. Was bedeutete die Aussage des Mannes? War die nackte Frau die Täterin? Sie musste mehr über sie herausfinden.

Ein kalter Wind kam auf, und sie zog ihren Mantel fester um sich. Vor der Absperrung entdeckte sie einen Mann mit dem Logo des Bikerclubs Odin MC auf dem Rücken. Sein Gesicht war von einer Narbe verunstaltet, und Vera meinte in ihm einen der Typen wiederzuerkennen, die sie im Sommer belästigt hatten, als sie nach Jonny gesucht hatte.

Sie ging zu ihm hin und tippte ihm auf die Schulter.

»Wir kennen uns«, sagte sie.

Es war tatsächlich der Grapscher.

»Sieh einer an, die Reportertussi.«

Er grinste so breit, dass ihm der pralle Snus-Beutel unter seiner Oberlippe fast aus dem Mund fiel.

»Ich nehme an, ihr seid hier für die Sicherheit zuständig?«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Ich weiß, dass eine Frau gesehen wurde. Wer ist sie?«

»Keinen Schimmer, wovon du redest.«

Vera trat einen Schritt auf den Biker zu.

»Wenn du nicht kooperierst, erzähle ich der Polizei, dass du mir an den Busen gegrapscht hast. Vielleicht erstatte ich sogar Anzeige.«

»Okay, okay. Keine Ahnung, wer sie ist. Wir kümmern uns nur um die Sicherheit, genau wie in ein paar anderen Clubs in der Stadt. Für die Frauen sind andere Leute verantwortlich.«

Vera glaubte ihm. Soweit sie wusste, war der Odin MC nicht in Menschenhandel involviert. Aber vielleicht konnte Pål, der Präsident des Clubs, ihr trotzdem Informationen über das Mädchen beschaffen. Er hatte ihr letztes Jahr geholfen, Jonny ans Messer zu liefern, damit das Jugendamt ihr das Sorgerecht für Sigge übertrug. Pål mochte kriminell sein, aber man konnte sich auf ihn verlassen.

»Ist Pål hier irgendwo?«, fragte sie.

Der Narbentyp machte ein verlegenes Gesicht.

»Ich darf nicht darüber reden.«

»Ich kann immer noch zu den Bullen gehen und dich anzeigen.«

»Hab ihn schon lange nicht mehr gesehen. Er macht sich rar. War in letzter Zeit viel weg.«

»Okay.«

Vera zog ihren Fäustling aus und sah auf die Uhr. Schon nach zwei. Wenn sie den Artikel noch in der morgigen Ausgabe unterbringen wollte, musste sie sich beeilen. Ihre Finger schmerzten in der Kälte.

Suchend blickte sie sich nach Carina um und entdeckte sie schließlich ein Stück entfernt, damit beschäftigt, Großaufnahmen von der Malmskillnadsgatan zu machen. Vera signalisierte ihr, dass sie die Story telefonisch durchgeben würde.

Auf der Malmskillnadsbron war es ein wenig ruhiger. Sie stellte sich in die Mitte der Bogenbrücke und sah auf die Kungsgatan. Es war kein schöner Anblick. Ein Mann kotzte mit heruntergelassener Hose an die Fassade neben dem Kino Rigoletto, als hätte ihn die Übelkeit beim Pinkeln überrascht. Auf der anderen Straßenseite prügelten sich zwei Männer, und vom Stureplan her näherte sich ein Streifenwagen mit angeschaltetem Blaulicht.

Eine verspätete Feuerwerksrakete explodierte über Östermalm, und sie musste wieder an Sigge denken. Vermisste er sie? War sein Leben mit Jonny noch genauso chaotisch wie früher?

Sie hatte den ganzen Herbst über versucht, das Sorgerecht zurückzubekommen. Hatte Hilfe bei ihrer Bekannten beim Jugendamt gesucht und einen Anwalt eingeschaltet, dem sie ein Heidengeld gezahlt hatte. Aber Jonny hatte einen Anstellungsvertrag als Bäcker aus der Tasche gezaubert sowie eine Handvoll Leumundszeugen, die bestätigten, dass er sich exemplarisch führte und seine krummen Touren Vergangenheit waren. Vera wusste ganz genau, dass der Inhaber der Bäckerei spielsüchtig war und Jonny regelmäßig um Geld anpumpte. Aber das spielte keine Rolle. Jonny war Sigges leiblicher Vater.

Sie wählte die Nummer des Aftonbladet, und der Leiter der Nachtredaktion, Anders Gärdén, den alle nur Gäddan, Hecht, nannten, nahm ab.

»Vera Berg hier.«

»Und? Was für eine Top-Story hat unsere Starjournalistin diesmal ausgegraben? Werden wir deinen glanzvollen Namen endlich in der Autorenzeile lesen, oder streichst du bloß dein Gehalt ein, ohne etwas zu liefern?«

»Willst du eine Titelseite oder nicht?«

»Okay, okay.«

»Wir haben einen Silvestermord«, sagte Vera. »Schüsse mitten in der City. Hier kommt der Aufmacher:

NACKTE FRAUFLÜCHTET IM SCHNEE– landesweite Fahndung nachMORD IN DER SILVESTERNACHT.

Vera lächelte, als sie die Schlagzeile formulierte. In Kürze würde sie an jeder Tankstelle und an jedem Kiosk im Land zu lesen sein.

Montag, 2. Januar 1995

6

Im Anschluss an ihre Teambesprechung am Montagmorgen bat die Leiterin der Mordkommission, Ylva Zethraeus, Tomas und Zingo in ihr Büro. Tomas schob sein schwarzes Notizbuch in die Hosentasche und folgte Zingo. Ylva blieb vor ihrem Schreibtisch stehen und deutete auf die beiden Besucherstühle.

Es war kurz vor neun, und die Wintersonne kletterte langsam hinter den Häuserfassaden empor.

Tomas war zuletzt im Sommer in Ylvas Büro gewesen, in der intensivsten Phase ihrer Ermittlung im Fall der beiden ermordeten Migrantinnen, als der Rest des Landes vor den Fernsehern die Fußball-WM verfolgt hatte. Ylva hatte die Leitung der Mordkommission damals nach der Prostata-Erkrankung ihres vorherigen Chefs kommissarisch übernommen.

Er fühlte sich in Ylvas Gegenwart immer ein bisschen befangen, irgendetwas an ihrem Auftreten verunsicherte ihn. Nichtsdestotrotz hielt er sie für die Richtige für den Job, auch wenn einige ältere Kollegen hin und wieder darüber murrten, Anweisungen von einer Frau entgegennehmen zu müssen.

»Erzählt«, forderte Ylva sie auf, während sie die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch sortierte.

Tomas und Zingo tauschten einen verständnislosen Blick.

»Was sollen wir erzählen, Chefin?«, fragte Zingo. »Wie es sich anfühlt, Teil der Europäischen Union zu sein? Ich merke keinen Unterschied. Du etwa? Der große Schrecken ist ausgeblieben, es sind nicht, wie befürchtet, scharenweise deutsche Schwule bei uns eingefallen.«

Seit der Silvesternacht gehörte Schweden zur EU, der Beschluss zum Beitritt war bei einer Volksabstimmung im November 1994 gefallen.

Ylva hielt inne und musterte sie einen Moment, ehe sie sich wieder ihren Aktenbergen zuwandte.

»Von eurer Begegnung mit den bösen Jungs von der Säpo, die in der Silvesternacht ihre Erbsenschniedel vor euch geschwenkt haben.«

Zingo hob die Augenbrauen.

»Hätten wir … äh … dagegenhalten sollen?«

Ylva lächelte flüchtig.

»Natürlich nicht. Spiel nicht den Dummen. Was wissen wir über den Ermordeten?«

»Bertil Runström, zweiundsiebzig Jahre alt«, fuhr Zingo fort. »Wurde mit einem Kopfschuss im vierten Stock der Malmskillnadsgatan 46 aufgefunden. Viel mehr wissen wir nicht, weil unsere Kollegen von der Geheimpolizei hereingetrampelt sind und uns mit ihrer schieren Gegenwart geblendet haben. Aber ich habe gehört, dass Runström regelmäßig Gast auf der Rennbahn in Solvalla gewesen sein soll.«

Dieses letzte Detail war Tomas neu. Aber das unerwartete Auftauchen der Säpo hatte wahrscheinlich Zingos Neugierde geweckt. Er verbrachte fast seine gesamte Freizeit auf der Pferderennbahn und hatte sich in seinem weitläufigen Netzwerk aus kriminellen Kontakten, die sein Hobby teilten, umgehört.

»Wissen wir, warum Runström dort war?«, fragte Ylva.

»Er hat ein Rohr verlegt«, sagte Zingo.

Ylva blickte auf und sah ihn fragend an. Tomas beugte sich vor.

»Die Wohnung ist ein Bordell«, erklärte er. »Wir glauben, dass er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hat.«

Ylva sank auf ihren Stuhl, anscheinend zufrieden mit der neuen Ordnung auf ihrem Schreibtisch. Sie schwieg eine Weile.

»Ich möchte, dass ihr die Stureplan-Ermittlung vorerst ruhen lasst«, sagte sie dann.

Vor fast genau einem Monat, am vierten Dezember, waren im Nachtclub Sturecompagniet bei einer Schießerei vier Menschen getötet und Dutzende Besucher verletzt worden. Zweiundsiebzig Stunden später hatten die Täter Guillermo Marquez Jara und Tommy Zethraeus, der trotz Namensgleichheit nicht mit Ylva verwandt war, gefasst werden können. Doch die Auswertung von Hinweisen und Zeugenaussagen dauerte noch an. Die Arbeit war mühsam, aber unumgänglich, damit die Mörder nach Anklageerhebung hinter Schloss und Riegel wanderten.

»Was sollen wir stattdessen machen?«, wollte Zingo wissen.

»Uns Zeit ersparen, indem ihr Vorarbeit für eine Ermittlung im Mordfall Bertil Runström leistet.«

Tomas öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Ylva hob die Hand.

»Momentan liegt der Fall bei der Säpo«, sagte sie. »Aber es wird dieselbe Leier sein wie immer, wenn sich die Geheimpolizei an Ermittlungsarbeit versucht. Sie fahnden nach Kurden. Früher oder später werden sie irgendeinen armen Teufel ausgraben, den sie aber wieder laufen lassen müssen, weil er unschuldig ist. Und dann verlagern sie die Zuständigkeit wieder zu uns, damit sie andere Kurden in irgendeinem Zusammenhang strafrechtlich verfolgen können, der die nationale Sicherheit gefährdet. Und wir hinken mit unseren Ermittlungen hoffnungslos hinterher und müssen uns den Vorwurf der Inkompetenz gefallen lassen.«

Weder Tomas noch Zingo konnten Ylvas Argumentation etwas entgegenhalten.

»Darum möchte ich, dass ihr mehr über Runström in Erfahrung bringt«, fuhr sie fort. »Findet heraus, warum die Säpo auf der Bildfläche erschienen ist.«

Zingo stand auf.

»Vielleicht ist er Kurde?«, meinte er.

Sie verließen Ylvas Büro.

»Hol deine Jacke«, sagte Zingo. »Wir treffen uns vor den Fahrstühlen.«

Tomas ging in sein Büro, griff nach seiner braunen Lederjacke, die er trug, seit er sie als Teenager gestohlen hatte, und vermied es, einen Blick auf das Foto von Alexander und Ebba auf seinem Schreibtisch zu werfen. Im Nebenzimmer schrillte das Telefon. Er zog die Tür hinter sich zu und ging zu den Aufzügen.

»Wohin fahren wir?«, fragte er.

Zingo drückte einen Knopf.

»Wir unterhalten uns mit Burek-Goran.«

Tomas hatte den Namen noch nie gehört.

»Burek-Goran?«

Er nahm seine Zigaretten aus seiner Hemdtasche und hielt Zingo die Schachtel hin. Der schüttelte den Kopf.

»Ein großer Mann. Und ein Freund von mir.«

Auf dem Weg zur Tiefgarage zündete Tomas sich eine Zigarette an.

»Ein großer Mann?«, fragte er.

»Wir können von Glück reden, dass nicht seine Leiche gefunden wurde, die hätten wir mit dem Gabelstapler abtransportieren müssen.«

7

Das Restaurant Medusa lag in der Grevgatan auf Östermalm. Es war elf Uhr vormittags und der Gastraum so gut wie leer. An einem Tisch in der Mitte des Lokals saß ein kräftig gebauter Mann in einem Rollstuhl und ließ sich einen Teller Spaghetti schmecken. Als Tomas und Zingo hereinkamen, hob er den Kopf, wischte sich mit einer Serviette den Mund ab, erhob sich aus seinem Rollstuhl, zupfte sein schwarzes Hemd zurecht und breitete seine kurzen, dicken Arme aus.

»Lars, lieber Freund!«, rief er in gebrochenem Schwedisch und küsste ihn auf beide Wangen.

Danach streckte er Tomas eine beringte Hand hin, und Tomas schüttelte sie.

»Kommt, setzt euch«, forderte Goran sie auf und deutete auf seinen Tisch.

Sie zogen sich Stühle heran, Goran sank zurück in seinen Rollstuhl.

Er aß Pasta mit Meeresfrüchten. Das Gericht duftete nach Knoblauch und Olivenöl.

»Wollt ihr etwas bestellen?« Goran gestikulierte mit seinem Besteck.

Tomas und Zingo schüttelten beide den Kopf.

»Ich muss mit dir reden«, begann Zingo.

Goran fuhr sich mit dem Handrücken über sein fleischiges Kinn, stopfte eine Serviette in den Hemdkragen und wickelte Spaghetti auf seine Gabel. Zingo wartete. Goran kaute und schluckte. Dann lehnte er sich zurück und deutete auf Tomas.

»Tomas.« Zingo nickte in Richtung Ausgang. »Gibst du uns eine Minute?«