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Nach einem tragischen Sturz will Trickreiterin Nicky nur eins: zurück ins Rampenlicht. Helfen soll ihre Granny Caroline, einst selbst eine berühmte Reiterin. Nicky zieht zu ihr nach Arrowwood auf die Sleeping Lake Ranch und findet dort ein Gefühl von Heimat. Sie verliebt sich in Blake vom Tribe der Cree. Er kann mit dem Star-Rummel, den Nicky scheinbar braucht, jedoch nicht viel anfangen. Sattler Tom, Carolines frühere große Liebe, hat nur noch ein einziges Versprechen einzulösen, bevor er sein Leben beenden will. Getrieben von einem dunklen Geheimnis stürzt er sich in die Arbeit – doch ihm rennt die Zeit davon. Auf einmal hat Nicky in Arrowwood viel zu verlieren, ein Zuhause, ihr Herz und vielleicht sogar ihre Zukunft. Wird die Liebe zu Granny Caroline, Nicky und Tom retten können?
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Danksagung
Autorin
Lust auf mehr Zeit in den kanadischen Rocky Mountains?
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 Natascha Birovljev · www.natascha-birovljev.com · Caroline, Alberta, Kanada
Covergestaltung: Kristin Pang · kristinpang.com
Lektorat: Büchermacherei · Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de
Korrektorat: Dorrit Bartel · dorritbartel.eu
Layout und Satz: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de
Bildquellen: #15366296642 (Michal Balada)| shutterstock.com
Druck: booksfactory.de, ein Service der Print Group Sp. z o.o., ul. Cukrowa 22, PL–71–004 Szczecin, Polen
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Raiffeisenstraße 4, 83339 Vachendorf, Deutschland
Print: ISBN 978-3-98595-641-8
Tolino: ISBN 978-3-949489-02-0
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Neuntausend Follower auf Instagram! Nicky tanzte in der Küche. Und die Zehntausender-Marke würde sie auch schaffen – spätestens nach dem Sieg gegen Penelope im Wettstreit morgen. Sie las einen Kommentar unter ihrem letzten Post: »Wahnsinn, Trickreiten ist Voltigieren mit Energydrinks und einer extra Portion Daredevil. Liebe Grüße aus Deutschland.« Schmunzelnd legte sie das Smartphone beiseite und goss sich ein Glas Orangensaft ein.
Nächste Woche würde sie ein neues Video von ihrer Trainingsroutine drehen. Wie sollte sie die Geräte im Fitnessraum ihres Vaters am besten arrangieren, um den Fans in einem Video zu zeigen, wie sie sich fit hielt? Kevin, ihr Dad, hatte den Raum vor ein paar Jahren anbauen lassen und er war mit den neusten Trainingsgeräten ausgestattet. Sie nippte am Saft. Ein Glück, dass er als Schauspieler ebenso auf seine Fitness achtete wie sie selbst.
Sie trank das Glas aus und öffnete den Kühlschrank. Gähnende Leere. Ob Dads Assistentin für ihn eingekauft hatte und sein Kühlschrank gefüllt war? Nicky sah auf die Uhr. 15:30. In einer halben Stunde musste sie los. Sie war im Reitstall mit Tyler verabredet und wenn sie in den Calgary-Rushhour-Verkehr auf den winterlichen Straßen geriet, würde sie zu spät kommen. Sie schnappte ihren Make-up-Beutel, der sie überallhin begleitete und fegte dabei einen Stapel Papiere und Umschläge von der Ablage. Eine Postkarte ihrer Großmutter lag obenauf. Mitte Oktober hatten Thanksgiving-Grüße und ein Foto von Grannys Sleeping Lake Ranch in Herbstfarben im Briefkasten gelegen. Mist, hatte sie überhaupt geantwortet? Jetzt war November, an Weihnachten würden sie wie jedes Jahr telefonieren. Nicky bückte sich und hob die Papiere auf. Kurz hielt sie die Postkarte in der Hand. Dabei hatte sie mit Granny, die selbst einmal Trickreiterin gewesen war, vieles gemeinsam. Und ihre Großmutter hatte einen Trick erfunden, der ihren Namen trug. Das Charmane-Manöver war gefährlich, wenn der Reiter nicht alle Handgriffe beherrschte. Selbst Nicky hatte sie das Geheimnis bis jetzt nicht verraten wollen. Sie pinnte die Karte mit einem Magneten an den Kühlschrank.
Jemand klopfte drei Mal lang und dreimal kurz an ihre Wohnungstür.
»Komm rein, Dad. Es ist offen«, rief sie.
»Du hast vergessen, deine Showbluse von der Reinigung abzuholen«, sagte er, kaum dass er die Küche betreten hatte. »Oh, Mist.«
»Aber zum Glück hast du mich.« Er reichte ihr die gereinigte Bluse.
»Das ist lieb, danke.« Sie holte ihren Geldbeutel und hielt ihm einen zwanzig Dollar Schein hin.
Er wehrte ab. »Unsinn.«
Nicky steckte das Geld weg. »Okay, aber dann lade ich dich demnächst mal wieder zum Essen ein. Es reicht schon, dass du mich mietfrei wohnen lässt.«
Er grinste. »Mit der separaten Wohnung hier ist doch genug Platz für uns beide.«
Das schon, aber mit 22 noch in der Villa des Vaters zu wohnen, war nicht der Brüller. Sie nickte nur, wollte ihn nicht kränken und wechselte das Thema. »Wie läuft’s am Set?«
»Wenn ich nicht bald mal etwas anderes als die Rolle des Oberarztes spielen kann, bekomme ich einen Krankenhauskoller.«
»Deine Fans lieben dich aber als Dr. Care. Du hast Wahnsinnseinschaltquoten.«
Er seufzte lächelnd. »Ich hoffe trotzdem auf ein anderes Angebot. Wie laufen denn die Vorbereitungen für deine neue Show?«
Sie wich seinem Blick aus, spülte das Saftglas mit Wasser aus. »Ähm, alles bestens«, erwiderte sie. Ihr Dad würde ihr den Kopf abreißen, wenn er von dem Wettkampf zwischen ihr und Penelope erfahren würde. Er war zwar selbst auf Social-Media-Plattformen unterwegs und verstand, was es hieß, die Zehntausend-Follower-Marke auf Instagram zu erreichen. Aber den Konkurrenzkampf oder – wie er es nannte – »Zickenkrieg« zwischen ihr und Penelope hielt er für Zeitverschwendung. Nicky hoffte jedoch, dass zwei Sponsoren nach dem Wettbewerb der Siegerin die Zusammenarbeit anbieten würden. Ihre Unterstützung würde finanzielle Unabhängigkeit und nationale Sichtbarkeit bedeuten. Diese Chance würde sie sich nicht entgehen lassen. Kurz dachte sie an ihren Traum: eine Rolle in einer internationalen Show. Am besten mit den Produzenten von Cirque de Soleil. Sie lächelte bei der Vorstellung.
»Deine Augen funkeln, Kiddo.« Er trat zu ihr und berührte mit einem Finger den Anhänger an ihrem Hals. »Glaube mir, deine Mom wäre stolz auf dich.«
Nicky legte ihre flache Hand auf das kleine, türkisfarbene Herz, das ihre Mutter ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Am selben Tag hatte Mom den Grammy für das Album »Country Hearts« gewonnen. Wenige Monate später hatte der Krebs Maddy Charm besiegt. Nicky blinzelte und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke«, presste sie hervor und schluckte gegen die Enge in ihrer Kehle an, die die Erinnerung an ihre Mutter mit sich brachte.
»Hast du den Marketingtypen von ›Rodeo-Girl‹-Jeans zurückgerufen?«, fragte er.
»Ähm«, sie kramte in ihrem Beutel nach einem Lippenstift, »dazu bin ich noch nicht gekommen.«
Kevin hob eine Augenbraue. »Das ist eine klasse Chance. Brand Ambassador von RGJ zu werden, für die schon deine Mutter Werbegesicht war. Melde dich am besten morgen früh bei ihnen.«
Sie nahm ihr Smartphone. »Ich schreibe mir eine Erinnerung, dann vergesse ich es nicht«, erwiderte sie lächelnd und hoffte, er würde das Thema fallen lassen. Dad war ein berühmter Schauspieler. Und Mom war eine Country-Sängerin mit einer Weltkarriere gewesen. Doch wer bin ich schon im Vergleich zu meinen Eltern? Ja, sie selbst war zwar eine der besten Trickreiterinnen in Alberta, aber noch weit entfernt von einer internationalen Karriere. Sie wich dem Blick ihres Vaters aus. Er würde ihr Zögern, Markenbotschafterin zu werden, nicht verstehen. Doch sie wollte erst alles dafür tun, ein Star zu werden und dann die mit Strass besetzten RG-Jeans mit ebenso viel Starruhm tragen wie ihre Mutter.
Sie schlüpfte in ihren Daunenmantel. »Ich mach mich besser auf den Weg.«
»Okay. Ach, am Wochenende hat der Serienproduzent kurzfristig eine Party hier geplant. Ich werde die Einliegerwohnung brauchen. Aber du kommst ja bei Tyler unter, oder?«
Nicky seufzte. »Wenn es sein muss.«
Er warf ihr eine Kusshand zu. »Du weißt doch, wie es in der Filmbranche läuft …«
»… den Produzenten muss man bei Laune halten«, vollendete sie seinen Satz. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie einer Geschäftsfeier weichen musste. Aber sie profitierte von Kevins Kontakten in der Film- und Rodeoindustrie, da nahm sie solche Dinge in Kauf, auch wenn sie nur ungern eine Nacht in Tylers kleiner Wohnung verbrachte.
Die weitläufigen Gebäude des Reitstalls waren hell erleuchtet. Auf dem Parkplatz stand unübersehbar der pinkfarbene Jeep von Nickys Konkurrentin Penelope Piper. Seit zwei Jahren trainierte die Tochter zweier Staranwälte hier und hatte den Ruf einer Oberzicke errungen. Leider hatte sie es mit unermüdlichem Training und einem sehr guten Pferd auch schnell in die Liga der bekanntesten Trickreiterinnen Albertas geschafft. Sie saß Nicky im Nacken, was die Karriere betraf. Es war höchste Zeit zu klären, wer die beste Trickreiterin im Stall war.
Nicky zog ihren Lippenstift nach und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Heute war das letzte Training vor dem Aufeinandertreffen morgen. Geplant war eine Live-Übertragung auf Social Media, bei der beide einen Trick präsentierten und die Fans entscheiden sollten, wer besser war. Ein klares Zeichen an die zukünftigen Sponsoren.
Sie betrat die Stallgasse, stampfte den Schneematsch von ihren Stiefeln und atmete den Geruch von Heu, Kraftfutter und Pferden ein. Der Stall war wie ein zweites Zuhause. Das Gebäude bot Platz für 50 Pferde, die alle einen kleinen Paddock und eine Innenbox zur Verfügung hatten. Angeschlossen war eine Reithalle. Das Gelände umgaben zahlreiche Weiden und ein fünf Kilometer langer, sandiger Reitweg durch einen Birkenwald über Grashügel, durch einen Bach und entlang eines kleinen Sees. Jetzt im Winter wurde hauptsächlich in der Halle trainiert.
Eine Viertelstunde später stand Nicky mit Diamond Dee auf der Stallgasse und zog den Sattelgurt fester. Sie strich dem Wallach über den Hals. »Bist du bereit, Dee?«
»Hast du den Versuch von Penelope gesehen?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Ein Arm legte sich um ihre Taille und Tyler drückte ihr einen Kuss auf den Nacken. Sie drehte sich zu ihm und küsste ihn auf die Lippen. Er schmeckte wie meistens nach Zimtkaugummi. Sie liebte die vertraute Wärme, die sich in ihr ausbreitete, wenn sie sich nahe waren. Lächelnd löste sie sich von ihm.
»Ja, ich habe sie kurz beobachtet«, erwiderte sie. »Die viel zu langen Fransen an ihrem Hemd waren im Weg. Zu dumm, denn der einbeinige Sattelhang ist echt nicht schwer.« Nicky hörte Hufgetrappel auf der Gasse und wandte sich um. Penelope kam mit einem Barbielächeln aus der Arena, holte ihr Smartphone hervor und schoss einige Selfies, als sie an ihr vorbeiritt, ohne sie zu beachten.
»Netter Versuch«, rief Nicky ihr hinterher und erntete einen Stinkfinger. Sehr damenhaft. Sie grinste. Jetzt war sie an der Reihe, Dee und sich aufzuwärmen und ein paar Manöver zu trainieren. Sie führte den Wallach über den sandigen Boden, kontrollierte nochmal den Sattel und stieg auf. Im Spiegel, der an der langen Seite der Arena in Hüfthöhe angebracht war, schimmerten das Vorderzeug und die Trense auf dem schwarzen Fell in verschiedenen Türkistönen. Nicky drückte den Rücken durch. Sie liebte diese Farbe ebenso sehr wie ihre Mutter es getan hatte. Mit der rechten Hand umfasste sie kurz den Anhänger an ihrem Hals.
Nach ein paar Runden im Schritt und dann im Trab ließ sie Dee angaloppieren. Sie stellte sich in den Steigbügeln auf und vollführte zwei Tricks im gemächlichen Galopp. Tyler rief ihr von der Bande etwas zu und sie ließ Dee zu ihm traben.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie ihn.
»Das sieht gut aus.« Er hielt ihr beide Daumen hoch.
»Ich glaube kaum, dass du mit dem alten Dee eine Chance hast«, sagte Penelope laut. Die Blondine kam hüftschwingend heranstolziert. »Der gehört in Rente.« Demonstrativ stellte sie sich neben Tyler. Der tippte sich an den schwarzen Cowboyhut und nickte ihr zu.
»Lass das mal meine Sorge sein.« Nicky warf ihrer Konkurrentin einen abschätzigen Blick zu und trabte von den beiden Zuschauern weg. Nachdem sie weitere zwanzig Minuten einfachere Tricks vollführt hatte, wandte sie sich an Tyler: »Machst du mal die Schranke auf? Dee und ich sind fit genug für morgen.«
»Wenn du meinst.« Er schob die Absperrung auf und sie verließ mit Dee die Arena. In der Gasse hielt sie ihren Wallach an und wandte den Kopf. Tyler unterhielt sich mit Penelope. Ätzend, wie sie sich an ihn drängte.
»Ty, Babe«, rief sie, »kommst du?«
Er hob die Hand und winkte. »Bin gleich da.«
Sie wartete einen Moment, aber als er keine Anstalten machte, das Gespräch mit Penelope zu beenden, trieb sie Dee voran zu seiner Box. Dort stieg sie ab und befreite ihr Pferd von der Ausrüstung. Mit einem Striegel bürstete sie ihn und ließ den schwierigsten Trick, den sie morgen vorführen wollte, in Gedanken in ihrem Kopf ablaufen. Eine Hand am Sattelhorn, die andere am Sitz. Rechtes Bein über den Pferderücken, der linke Fuß bleibt im Steigbügel. Hier musste sie schnell sein. Linkes Knie anwinkeln und nach unten sinken, den Schweif des Pferdes im Blick behalten. Linkes Knie durchdrücken und … Moment, hatte sie die richtige Reihenfolge? Sie stoppte den Film in ihrem Kopf, nahm ihr Smartphone und suchte nach einem YouTube Video, das eine Reiterin beim Vorführen des Tricks zeigte. Einen Moment lang studierte sie es. Mist, sie hätte das Kunststück nochmal üben sollen. Aber nicht vor den neugierigen Augen ihrer Konkurrentin. Nicky hatte den Trick zweimal gemeistert, das musste reichen. Penelope hatte zum Glück lauthals verkündet, welches Manöver sie den Fans zeigen wollte. Wäre doch gelacht, wenn Dee und sie das Blondchen nicht im Staub zurücklassen würden. Aber um sicherzugehen, beschloss Nicky morgen ganz früh in den Stall zu kommen und eine Trainingseinheit einzulegen. Sie hörte das Klacken von Cowboy-Boots auf dem Zementboden und hob den Kopf. Tyler kam mit einem Eimer Müslifutter zu ihr.
»Na, hat dich Penelope aus ihren Krallen entlassen?«
»Eifersüchtig?«, fragte er grinsend.
»Immer.« Sie nahm ihm den Eimer ab und schüttete den Inhalt in Dees Trog. Kaum trat sie wieder aus der Box, zog Tyler sie an sich. Er küsste sie so innig und so lange, bis ihre eifersüchtigen Gedanken sich verflüchtigten. Seit vier Jahren waren sie ein Paar, und mit den Wintermonaten kam die ersehnte Zeit für mehr Zweisamkeit. Den Rest des Jahres waren beide viel unterwegs und sahen sich oft wochenlang nicht. Tyler kaufte und trainierte Quarter-Horses für die besten Rodeoreiter in Nordamerika und nahm selbst an Rodeos teil. Sein Ehrgeiz war ansteckend, gepaart mit Selbstbewusstsein und einem durchtrainierten Körper bescherte er Nicky weiche Knie.
Dass etliche Frauen diese Qualitäten unwiderstehlich fanden, war ihr bewusst, aber sie sorgte dafür, dass ihm keine andere so schnell den Kopf verdrehen würde. Sie löste sich aus seiner Umarmung, brachte Dee Heu und legte dem Wallach eine Decke über. Er schüttelte sich.
»Lass das, Dee«, sagte sie und schloss die Schnalle vor seiner Brust und unter dem Bauch. »Ich weiß, du magst die Decke und die Box nicht. Morgen Abend bist du wieder auf deiner geliebten Koppel, versprochen.« Nicky schlang ihre Arme um den muskulösen Hals des Pferds und drückte ihre Wange an ihn.
Dass Dee den Luxus dieser Reitanlage genießen durfte, verdankte sie ihrer Mutter. Sie hatte für den Wallach ein eigenes Bankkonto angelegt, mit dem seine Unterkunft und Futter für noch ein weiteres Jahr bezahlt werden konnte. Und danach, so hoffte sie, würde sie die Stallkosten selbst stemmen können. »Hab dich ganz doll lieb«, murmelte sie und löste sich von ihrem Wallach.
Dee wandte seinen Kopf zu ihr und stieß ein leises Grummeln aus. Sie griff in ihre Jackentasche und gab ihm einen der Haferkekse, die sie selbst backte. Schon seit er ein Fohlen war, liebte der Wallach diese Leckerei. Sie fuhr über die weichen Nüstern und kraulte ihn unterm Kinn, während er den Keks kaute und die Oberlippe kräuselte. Nicky schmunzelte. Mom hatte stets über die Eigenart gelacht und gesagt, allein für diese Mimik lohne es sich, die Haferkekse zu backen. Sie beugte sich zu Dee und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist mein ein und alles.«
»Und was bin dann ich?«, fragte Tyler, der vor der Box stand. »Wohl doch nur der Stallbursche.« Er seufzte theatralisch.
»Der beste, den ich je hatte«, scherzte Nicky, holte ihr Smartphone hervor, schüttelte die roten, schulterlangen Haare und berührte das Video-Icon. »Hey Sweeties, hier ist eure Nicky Charm. Mit Diamond Dee habe ich noch ein wenig trainiert, aber jetzt darf er sich für den großen Auftritt morgen ausruhen. Vergesst nicht, euch um 10 Uhr live zuzuschalten. Mein Tyler-Schätzchen wird die Show filmen. Bye for now, und ihr wisst ja: Bleibt fabulous.« Sie schickte ein Küsschen in die Kamera und steckte das Smartphone in die Jackentasche. »Ab ins ›Crazy Horse‹. Ich bin am Verhungern und brauche ein Bier.« Sie hakte sich bei ihrem Freund unter.
»Dein Tyler-Schätzchen«, äffte er sie nach, »fände es besser, nach Hause zu gehen. Morgen ist ein wichtiger Tag.«
Sie sah auf die Uhr. Es war halb zehn und wenn sie jetzt noch in die Bar gingen, würde sie erst spät in der Nacht ins Bett kommen. Arm in Arm spazierten sie zu seinem Truck. Ein eisiger Novemberwind jagte den Schnee über den Parkplatz. Nicky drückte sich an Tyler. »Brr, ist das kalt geworden.«
Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie eng an sich. »Ist doch perfektes Kuschelwetter«, erwiderte er.
Aus dem Augenwinkel sah Nicky den pinken Jeep. Penelope saß am Steuer, hupte, winkte aus dem geöffneten Fenster in ihre Richtung. »Bis gleich im ›Crazy Horse‹. Nur Verlierer gehen früh ins Bett«, rief sie und brauste davon.
Nicky sah zu Tyler, der ihren Blick mit einer hochgezogenen Augenbraue erwiderte. »Ich bin eine Siegerin«, sagte sie grinsend, nahm seine Hand und zog ihn mit sich.
Tom rieb sich die brennenden Augen und besah sich die Naht auf dem dunkelgegerbten Leder. Nicht perfekt, aber sie würde halten. Die Glühbirne in der Stehlampe auf der Werkbank flackerte, als wollte sie ihm mitteilen, dass es längst Zeit war, Feierabend zu machen. Das fahle Mondlicht, das durchs Fenster über der Werkbank in den Raum fiel, schien der Lampe beizupflichten. Er nahm einen kleinen Notizblock und einen Bleistiftstummel aus der Brusttasche seines Hemds und kritzelte das Wort Glühbirne darauf.
Sein Blick fiel auf die Trensen, die an einem Haken links von ihm an der Werkstattwand hingen. Für die Reparatur würde er Leder bestellen müssen. Er machte sich eine Notiz. Die Jugendgruppe, für die er die Ausrüstung reparierte, brachte fast jeden Tag weitere Ledersachen, die beim Training mit den Pferden kaputt gegangen waren. Er seufzte. Sie würden lernen müssen, besser auf die Dinge aufzupassen. Kurz schloss er die Augen und atmete den würzigen Geruch des Leders ein, der sich mit dem Aroma des Holzofens vermischte und sich für Tom anfühlte wie eine warme Decke über den Schultern.
In dem alten Transistorradio kündigte der Moderator die Nachrichten um Mitternacht an. Wie war es wieder so spät geworden? Tom streckte den steifen Rücken durch.
»Welcome to the midnight news«, brummte die Stimme aus dem Kofferradio. »Wir haben traurige Neuigkeiten über die Funde in …«
Tom griff blitzartig zum Radio und stellte es aus. Ein dunkler Schmerz riss an seinen Eingeweiden. Er atmete ein paar Mal tief aus und ein, doch diesmal blieb die beruhigende Wirkung des Leders aus. Er öffnete eine hölzerne Schublade, die unter der Werkbank angebracht war. Seine Finger fuhren über weiches Wildleder und er holte das Etui heraus. Eingeschlagen im Leder lagen fein gearbeitete Lederwerkzeuge.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem Chinook, ein Ältester des Cree-Stammes, einige Stunden südlich von hier ihm das Etui geschenkt hatte. Als Anerkennung für Toms Kunstfertigkeit mit Leder, die er bei den First Nations gelernt und bei einer Abschlussprüfung gezeigt hatte. Und als Dank. Denn Tom hatte der Familie seines Lehrmeisters Crane Beaver nach dessen tragischem Tod geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Den Sattel, den er für die Prüfung hergestellt hatte, hatte er auf einer Auktion versteigert und mit dem Geld seine Karriere als Sattler begonnen. Er seufzte gequält. Damals wäre es ihm nie eingefallen, die Werkzeuge nicht anzunehmen, heute wünschte er, seine Finger hätten sie nie berührt, geschweige denn mit ihnen gearbeitet.
Die Erinnerungen hatten ihre Wärme verloren, steckten wie Widerhaken in seinem Herz. Den Stolz über diese Anerkennung fühlte Tom heute nur noch wie einen Schatten. Viele Jahre danach hatte er eine Wahrheit erfahren und seiner bejubelten Karriere den Rücken gekehrt. Wie naiv er gewesen war, zu glauben das würde ausreichen. Er schüttelte den Kopf über seine kläglichen Versuche, mit kostenlosen Leder-Reparaturen für die First Nations im Dorf Abbitte zu leisten und gleichzeitig die Wahrheit tief in sich zu vergraben. Aber das Wissen, dass er das Geschenk nicht verdient hatte, lag wie ein Strick um seinen Hals. Den würde er bald zuziehen. Er hatte zu viele Jahre feige gezögert, diesen endgültigen Schritt zu tun. Durch die grauenvollen Nachrichten in den letzten Monaten war es, als klopfe der Teufel an seine Tür und er spürte, dass die Zeit des Verleugnens sich dem Ende näherte.
Aber vorher würde er die Werkzeuge an Chinook zurückschicken. Tom wusste, dass er damit ein Tabu brach. Ein Geschenk zurückzugeben, so glaubten die Cree, brachte Unglück über den Beschenkten. Aber für Tom spielte das keine Rolle mehr. Die Trennung von den Handwerkszeugen, die er nicht mehr benutzt hatte, seit er die Wahrheit kannte, war der letzte Schritt, den er gehen musste. Chinook würde dieses Zeichen akzeptieren und die Verbindung zwischen Tom und den Werkzeugen in einer Zeremonie lösen. Darauf vertraute Tom. Vielleicht war es nur eine Tradition, eine Legende, aber für ihn kam es nicht in Frage, die Welt zu verlassen, bevor er diese Lederwerkzeuge von sich entbunden hatte. Ja, er hätte sie nie annehmen dürfen, doch die Vergangenheit war nicht zu ändern. Aber er konnte dafür sorgen, dass die Instrumente auf traditionellem Weg freigegeben wurden, für einen Lederkünstler, der sie verdient hatte. Seine Finger schwebten über den Werkzeugen. Das Sattlermesser, drei dekorative Metallstempel zum Punzieren des Leders, zwei Sattlernadeln, ein Rundmesser und der Prägestempel, der sein Symbol trug: »Tenpenny«. Er spürte die Wärme, die das Metall ausstrahlte und legte die Fingerspitzen auf den Stempel. Sofort floss eine Sehnsucht durch ihn hindurch, ein quälender Drang, diese Lederwerkzeuge zu benutzen, mit ihnen etwas herzustellen und die Melodie des Leders zu komponieren. Es war die Magie der Werkzeuge, glaubte Tom, die es ihm ermöglicht hatte, das Material so zu bearbeiten, dass es einem Sattel und durch ihn dem Reiter Kraft, Ausdauer und Siegeswillen schenkte. Jeder Sattel war ein Unikat, hergestellt auf Bestellung und individuell angepasst nach den Wünschen des Kunden. »Tenpennys Sättel sind eine Sensation«, waren die Headlines in Magazinen gewesen. Die Melodie des Leders zu hören und zu fühlen, war wie eine Sucht für ihn gewesen. Er musste damit aufhören.
Er zwang sich, die Berührung zu lösen und die Energie in seinem Körper wich einer tiefen Erschöpfung. Rasch schlug er das Wildlederetui zu. Mit zitternder Hand legte er es zurück in die Schublade. Schluss für heute. Er erhob sich langsam und seine Kniegelenke gaben ein schabendes Geräusch von sich. Er war ein Wrack. Er schaltete die Lampe aus und ging im Schein des Mondlichts, das durch die Fenster seiner Werkstatt drang, zur Ausgangstür.
Hinter sich hörte er ein anklagendes Maunzen. Ohne sich umzuwenden, trat er zu einer grünen Plastiktonne, in der er das Katzenfutter aufbewahrte.
»Du könntest auch mal mit ins Haus kommen, Moe«, murmelte er, schüttete Futter in die Schale und strich dem mächtigen Kater über den graubraunen Rücken. Dieser rieb sich mit einem Schnurren an seinen Beinen und machte sich dann über das Trockenfutter her.
Tom seufzte, versicherte sich, dass das Fenster einen Spalt offen war und verließ die Lederwerkstatt. Mit müden Schritten überquerte er die Dorfstraße, folgte einem schmalen Pfad zwischen dem kleinen Supermarkt und dem Liquor Store und warf einen Blick zu der einzigen Bar in Arrowwood. Auch sie lag bereits im Tiefschlaf. Vorbei an einem ergrauten Lattenzaun gelangte er zu seinem alten Mobilheim. Er schob die Tür auf. Abgestandene Luft und ein Hauch von Abfallgestank krochen ihm in die Nase. Er hätte bei Moe in der Werkstatt bleiben sollen. Tom seufzte. Morgen würde er den Müllsack rausbringen. Er stieg über einige Kisten im Eingangsbereich, warf seine Jacke auf einen Stapel leerer Plastikflaschen und bahnte sich einen Weg in die Küche.
Der Kühlschrank brummte. Hoffentlich gab der nicht den Geist auf. Tom holte eine Dose Bier heraus und eine Flasche Clamato-Saft. Vom Tisch nahm er eins der Gläser, spülte es mit Wasser aus und mischte Bier und Saft. Er überlegte kurz, sich was zu essen zu machen, ließ es nach einem weiteren Blick in den Kühlschrank aber bleiben. Mit Notizblock und Bleistift setzte er sich an den Küchentisch und schob einige Sachen beiseite. In krakeliger Schrift notierte er, was er morgen bestellen musste, um die Reparaturen angehen zu können. Nach wenigen Zeilen hielt er inne, massierte die schmerzenden Fingerknöchel und fragte sich, was manche am Altern schön fanden. Er schrieb Birkenrindensalbe auf den Zettel, die ein wenig Linderung verschaffen würde. Ein Tipp von Chinook.
Seine Gedanken wanderten wieder zu dem alten Cree. Wie viele Jahre hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, geschweige denn sich gesehen? Der Schamane hatte ihm vor ein paar Monaten einen Brief geschickt, den Tom nie gelesen hatte. Wo hatte er den Umschlag hingesteckt? Egal, er wusste, warum er die Zeilen nicht angesehen hatte.
Ein Poltern ließ ihn herumfahren.
»Ich bin es nur«, kam eine Stimme aus dem Flur und wenig später erschien Blake im Kücheneingang. »Old Silence, dein Heim wird langsam zur Todesfalle.«
»Ach, rede keinen Mist, Tailwind«, erwiderte er und hob die Bierdose. »Nimm dir eine und gib mir Nachschub.«
Der hochgewachsene junge Cree grinste, holte die Getränke und räumte einen Stapel Zeitschriften von einem der Stühle. »Wieso bist du so spät noch wach?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen.« Mit einem Zischen öffnete Tom die Bierdose.
»Ich hab Licht im Wohntrailer gesehen«, erwiderte Blake. »Mit deinen siebzig Jahren gehörst du längst ins Bett.«
Tom brummte. »Jetzt hör aber auf. Erstens bin ich vierundsechzig und zweitens habe ich wegen deiner Jugendlichen rund um die Uhr zu tun.«
»Bist du gerade erst nach Hause gekommen?«
Tom nickte. »Kannst du mir Birkensalbe besorgen? Meine Fingergelenke schmerzen höllisch.«
»Klar. Nach dem Training mit den Jugendlichen morgen gehe ich im Reservat bei unserer Medizinfrau vorbei.«
»Wie läuft es denn mit dem Nachwuchs?«, fragte Tom.
»Ist alles noch ein ziemliches Durcheinander. Sie toben lieber, als sich an meine Anweisungen zu halten.«
Tom lachte und leerte sein Glas. »Das klingt, als arbeitest du mit Hundewelpen und bringst nicht Teenagern bei, wie sie die Pferderennen eures Volkes gewinnen können, ohne sich den Hals zu brechen.«
Blake strich sich eine Strähne seiner langen schwarzen Haare hinters Ohr. »Hunde gingen ja noch, es ist mehr wie Katzen hüten. Keine Ahnung, ob aus den Jungs je ein erfolgreiches Indian-Relay-Team werden wird.«
Tom nickte, sah jedoch im Gesicht seines Gegenüber den Stolz, den Blake für die Jugendlichen empfand. Er bewunderte den jungen Mann für seine Geduld und den unermüdlichen Einsatz für die Teenager. Andere 24-Jährige genossen ihr Leben, frei von Verantwortung und mit dem Gefühl, die Welt läge ihnen zu Füssen. Nicht so Blake, der all seine Zeit der Jugendgruppe widmete und, so glaubte Tom, auf eigene Wünsche oder Träume verzichtete. Der Cree nahm einen großen Schluck aus der Bierdose und hob eine Augenbraue.
»Hör auf, mich so anzustarren.«
Tom grinste schief. »Zugegeben, zu dieser nächtlichen Stunde beneide ich dich um die Energie der Jugend.«
Blake winkte ab. »Mit Mitte zwanzig bin ich nicht mehr im Welpenalter.«
»Ach, hör auf. Deine Ausstrahlung und gutes Aussehen sind …«
Blake schnaubte und seine kaffeebraunen Augen funkelten missbilligend.
Tom hob beschwichtigend die Hand. Er wusste, dass der Cree es hasste, wenn jemand ihn auf sein Äußeres ansprach, das ihm jederzeit eine Rolle in einem Film einbringen hätte können. Er versuchte vergebens, ein Gähnen zu unterdrücken. »Sorry, aber ich muss ins Bett.«
»Sage ich doch, Old Silence. Wir sehen uns. Ach, ich schaue morgen auf der Sleeping Lake Ranch vorbei. Soll ich Caroline was von dir ausrichten?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ist denn alles okay auf der Ranch?«
»Schon. Ich denke, sie sollte keine weiteren Rentnerpferde aufnehmen, aber da lässt sie sich nicht reinreden. Sie schnaubt wie eine verärgerte Stute, wenn man es auch nur versucht.« Blake zog seine Augenbrauen zusammen und prustete Luft aus zusammengekniffenen Lippen.
Tom grinste und schüttelte den Kopf. Typisch Caroline. Auf einmal schmerzte sein Herz mehr als seine arthritischen Finger und er erhob sich schwerfällig. »Bis morgen dann, Tailwind.«
»Schlaf gut, Old Silence.«
»Mach doch den Wecker endlich aus«, knurrte Nicky schläfrig und fuhr mit dem Arm über die rechte Bettseite neben sich. Leer. Sie fluchte und drehte sich zu ihrem Smartphone, das auf dem Nachttisch lag. Als sie die Uhrzeit auf dem Display sah, fuhr sie hoch. Ach, Scheiße, Viertel vor neun. Mist, Mist, Mist. Sie hatte längst im Stall sein wollen. Sie setzte sich auf.
Tyler kam mit einer Kaffeetasse in der Hand zur Schlafzimmertür rein. »Hier. Wir haben verschlafen.« Er reichte ihr den Kaffee.
»Das habe ich selbst gemerkt.« Sie nahm einen Schluck, stellte die Tasse auf den Nachtisch und stand auf. Das Pochen in ihrem Kopf ließ sie aufstöhnen. Wie viele Tequila-Shots hatte sie gestern getrunken? Auf wackeligen Beinen tapste sie ins Badezimmer, duschte und zog sich an.
»Tyler«, rief sie zehn Minuten später und schlüpfte in der kleinen Diele in ihre Cowboy-Boots, »ich fahre in den Stall. Das Live-Video soll in einer Stunde starten.«
»Ja«, erwiderte er aus der Küche, »ich komm nach.«
Eine halbe Stunde später hatte sie Diamond Dee auf Hochglanz gestriegelt und seine Showausrüstung angelegt. Der Rappe schimmerte wie flüssiges Öl.
»Auf deinem Fell spiegeln sich die Sterne«, murmelte sie und strich über den muskulösen Hals. Das hatte Mom immer gesagt. Nicky hatte Dee von ihrer Mutter zum fünften Geburtstag geschenkt bekommen. Dee war damals ein Jahr alt gewesen und seitdem der größte Schatz, den sie besaß. Zusammen mit der Erinnerung an die Momente, die sie mit ihrer Mutter und Diamond Dee gemeinsam verbringen hatte dürfen. Viel zu wenige. Sie atmete einmal tief ein und aus. Kurz berührte sie ihre Halskette, schüttelte die Arme aus und vertrieb die aufkommende Anspannung.
»Okay, Dee, jetzt zieh ich mich schnell um und dann heißt es Showtime.« Sie nahm den Bügel mit ihrer Show-Bluse, trat in die Pferdebox und zog sich um. Sie knöpfte die beiden letzten Knöpfe ihrer schwarzen mit silbernen Pailletten besetzten Bluse zu. In einem Handspiegel kontrollierte sie ihre Frisur und das Make-Up. Perfekt. Sie holte ihr Smartphone heraus und startete ein Live-Video auf Instagram. »Hallo Lovelies, jetzt ist es gleich so weit«, flötete sie in die Kamera und freute sich über die Herzen, die die Zuschauer über das Display schickten.
»Bist ja spät dran«, sagte eine Stimme von der Boxengasse her.
Nicky wandte kurz den Kopf. »Dir auch einen guten Morgen«, erwiderte sie und schenkte Penelope ein strahlendes Lächeln. »Lovelies, hier ist meine Kollegin Penny.«
Aus dem Grinsen der Blondine wurde eine Grimasse. »Mein Name ist Penelope.«
Nicky legte sich eine Hand vor den Mund und zwinkerte in die Kamera. »Oops, klar doch. Das Beste, was man vor so einem Auftritt machen kann, ist ausschlafen. Wie lange bist du denn schon hier?«
»Ich muss nach meinem Pferd sehen.« Penelope setzte ihren pinkfarbenen Cowboyhut auf, wandte sich hastig ab und stolzierte davon.
Nicky grinste. »Da ist aber jemand nervös, glaubt ihr das auch? Für mich wird es Zeit. Drückt mir die Daumen und stimmt später für mich ab.« Sie sendete Kusshände in die Kamera und beendete das Video. Sie sah auf die Uhr. Verdammt, wo blieb Tyler? Rasch zog sie ihr Smartphone hervor und wählte seine Nummer.
»Wo steckst du denn«, sagte sie, als er endlich abnahm.
»Bin in zehn Minuten da.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er das Gespräch beendet. Sie trat aus der Box und kontrollierte die Ausrüstung. Alles saß perfekt. Ihr Smartphone vibrierte. Ein Anruf von Mark, dem Marketingboss von »Rodeo-Girl«-Jeans. Sie zögerte kurz, wartete dann, bis die Voicemail ansprang, bevor sie das Smartphone einsteckte. Wenn heute alles gut gelaufen war, würde sie zurückrufen. Sie atmete einmal tief durch.
Musik begann aus der Anlage der Halle zu dröhnen. Penelope würde jeden Moment mit ihrer Vorführung loslegen. Schnell zog Nicky ihren Lippenstift nach, überprüfte ihr Aussehen und ging zur Reithalle. An der Arenaschranke sprach Penelope mit einer Frau, die ein Tablet in der Hand hielt. Nicky erkannte die Journalistin Virginia Snorty und zupfte rasch ihre Bluse zurecht.
»Bist du dir sicher, dass die Videoqualität perfekt ist?«, fragte Penelope spitz.
»Ja, die Übertragung ist bestens.« Die Frau wischte auf dem Tablet hin und her und rückte ihre grüngerahmte Brille zurecht. »Wegen mir kann es losgehen.«
Nicky blieb neben ihr stehen und nickte ihrer Konkurrentin zu.
»Ach, da bist du ja«, flötete Penelope.
Virginia streckte ihr die Hand hin. »Nicky Charm, guten Morgen. Alles fit?«
»Sicher doch. Ich freue mich schon, nach dem Wettkampf mit Ihnen an einem Artikel zu arbeiten.«
Virginia lachte, was ein wenig wie das Grunzen eines Ferkels klang. »Selbstbewusst, das gefällt mir. Ich bin gespannt, mit wem von euch beiden der Aufhänger meiner Story werden wird. Die Siegerin hat den Artikel in der Tasche, also legt los. Dafür habt ihr mich schließlich hierzu eingeladen.«
Penelope klatschte in die Hände. »Dann mal los. Sugar Daddy und ich sind in Bestform.« Sie führte ihr Pferd in die Mitte der Arena.
Nicky hörte Schritte hinter sich und wandte sich um. Tyler kam herangeeilt. Na endlich.
Außer Atem blieb er bei ihr stehen. »Habt ihr schon angefangen?«
»Nein. Penny legt aber gleich los.«
Er grinste und rückte seinen Cowboyhut zurecht. »Na, dann wollen wir doch mal sehen, was sie auf dem Kasten hat.«
Nicky zog ihn mit sich auf die Tribüne und mit wachsender Aufregung beobachte sie, wie sich ihre Konkurrentin mit einfacheren Tricks vorbereitete. Dann machte Penelope sich für ihr schwierigstes Manöver bereit, galoppierte mit rasanter Geschwindigkeit die Länge der Bande entlang und schwang ihr rechtes Bein über den Sattelknauf. Mit der rechten Hand am Knauf und der linken Hand an einer Sattelschlaufe, lehnte sie sich zurück. Doch anstatt beide Beine in Richtung der Arenadecke zu strecken, was ein erhöhter Risikofaktor gewesen wäre, zögerte sie, beließ den linken Fuß im Steigbügel und reckte nur das rechte Bein kurz in die Höhe. Sie zog sich wieder in den Sattel, bevor Sugar Daddy durch die Ecke der Arena rannte. Das hatte sie sicher nicht so geplant. Nicky sah die Verärgerung über den Fehler in Penelopes Gesicht, die aber rasch einem breiten Lächeln wich. Die Blondine riss ihren Arm mit dem Cowboyhut in der Hand in die Höhe und winkte strahlend in Richtung der Frau, die sie filmte. Einen Augenblick später fiel das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie verließ mit grimmiger Miene die Arena.
»Hals- und Beinbruch«, sagte Tyler zu Nicky und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Danke. Bist du bereit, die Live-Übertragung zu starten?«
Sie gab ihm ihr Smartphone. Er brachte es in Position und gab ihr einen Daumen hoch. Sie knipste ihr Starlächeln an, warf ihre Haare zurück und begrüßte ihre Follower über den Bildschirm. »Lovelies, Dee und ich sind an der Reihe. Vergesst nicht, am Ende der Vorführung für mich«, sie zwinkerte und grinste, »oder für meine Kollegin Penelope abzustimmen.« Sie winkte in die Kamera und führte Diamond Dee in die Mitte der Arena. Die Aufregung wogte in Wellen durch sie hindurch und ihre Showmusik setzte ein.
»Smile, Honey«, rief Tyler ihr zu. »Deine Fans schicken dir Herzchen und Emojis. Enttäusche sie nicht.«
Enttäusche niemanden. Ihr Lächeln gefror kurz. Ruhig bleiben. Sie stieg auf. Mit langen Strichen fuhr sie über Dees Hals, drückte den Cowboyhut fest auf den Kopf und trabte los.
Dees Bewegungen waren kraftvoll, aber sie selbst fühlte sich verkatert und bereute es, am frühen Morgen keine Aufwärmrunde gedreht zu haben. Nach zwei Runden in einem langsamen Galopp begann sie mit einfacheren Tricks, die problemlos klappten. Sie parierte Dee durch und er fiel in den Schritt. Rasch kontrollierte sie den Sattelgurt und eine Lederschlaufe. Mit einer Hand strich sie über Dees Hals, der feucht vor Schweiß war. »Den einen Trick noch, Junge. Das schaffen wir«, flüsterte sie ihm zu, richtete sich im Sattel auf und winkte in die Kamera. Lächelnd ließ sie Dee angaloppieren. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Es war verrückt, den Trick zu versuchen, der erst zweimal geklappt hatte. Und sie war nach der kurzen Nacht wirklich nicht in Bestform. Doch das war ihre Chance. Sie drückte ihre Fersen in Dees Flanke. Der Wallach schoss vorwärts. Nicky ergriff den Sattelknauf mit der linken Hand, legte die andere hinter sich. Doch kaum hatte sie das rechte Bein über den Sattel geschwungen und ihr linkes Knie gebeugt, strauchelte Dee. Abbrechen, schoss ihr durch den Kopf, aber sie reagierte nicht schnell genug. Der Wallach kam vollends aus der Balance, sein rechtes Vorderbein knickte ein und sie wurde nach vorne über seine Schulter katapultiert. Ihr linker Fuß steckte noch im Steigbügel, als sie hart mit dem Rücken auf dem Arenasand aufschlug.
Nicky bekam einige Sekunden lang keine Luft, ihr Knie verdrehte sich, bevor sich der Fuß aus dem Steigbügel löste. Sie japste und drehte sich mit einem Stöhnen auf den Rücken. Alles wirbelte durcheinander und sie versuchte, mit ihrem Blick eine Strebe der Arenadecke zu fixieren. Der Schwindel legte sich und sie richtete sich langsam auf. Ihr erster Gedanke galt Dee. Sie sah, dass er nicht weit entfernt mit hängendem Kopf dastand und das rechte Bein nicht belastete. Scheiße. Mühsam rappelte sie sich hoch und bemerkte kaum, wie Tyler neben ihr erschien und einen Arm um ihre Taille legte, um sie zu stützen.
»Dee«, krächzte sie und mit Tylers Hilfe humpelte sie zu dem Tier. Ihr linkes Knie schmerzte höllisch. Sie nahm die Zügel und strich über Dees Stirn, bevor sie ihn zwei Schritte nach vorne machen ließ. Er lahmte schwer. Tränen brannten in ihren Augen, die sie mit dem Ärmel wegwischte.
»Leg deinen Arm um meine Schulter«, wies Tyler sie an und gemeinsam führten sie Dee zum Ausgang des Sandplatzes.
Dort kamen Penelope und Virginia auf sie zu.
»Geht es dir gut? Der Sturz sah echt schlimm aus.« Die Journalistin steckte das Tablet in ihre Umhängetasche.
»Alles gut«, murmelte Nicky.
»Kann ich was tun? Wir können das natürlich wiederholen«, bot Penelope an. Sie deutete auf Dee. »Obwohl, so schnell wird das wohl nicht möglich sein. Die Fans werden …«
Nicky hob den Kopf und sah ihre Konkurrentin an. »Die Fans sind mir scheißegal. Und dein geheucheltes Mitgefühl kannst du dir sparen. Labere lieber Virginia zu.« Sie wartete keine Erwiderung ab, sondern humpelte mit ihrem Pferd die Stallgasse entlang zu seiner Box.
Tyler nahm ihr die Zügel ab. »Setz dich, ich sattle ihn ab.«
»Danke. Gib mir mein Smartphone, ich muss den Tierarzt anrufen.«
»Du solltest dich auch durchchecken lassen. Der Sturz war echt heftig. Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung und dein Knie … autsch, das sah schmerzhaft aus.«
Nicky machte eine wegwerfende Handbewegung. »Erst muss Dee versorgt werden.«
»Aber dann bist du dran. Keine Widerrede. Mit so einem Sturz ist nicht zu spaßen.« Tyler schnallte die Ausrüstung ab.
Nicky telefonierte mit der Tierarztpraxis, doch der Arzt war mit einer schwierigen Operation beschäftigt. Die Tierarzthelferin versprach, ihn danach zum Stall zu schicken. Sie solle Dees Bein kühlen. Tyler bot sich an, das zu übernehmen, aber nach dem sie ihm eine halbe Stunde lang Anweisungen gegeben und ihn angepflaumt hatte, drückte er ihr den Wasserschlauch in die Hand.
»Ich weiß, du bist angespannt, aber das Rumgezicke ist echt unnötig.« Er musterte sie einen Augenblick lang. »Du weißt, dass Penelope deinen Kommentar über die Fans gefilmt hat, oder?«
Sie zuckte mit den Achseln, fand keine Worte und er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Box.
Nach drei Stunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, hatte sie Schmerztabletten genommen und immer wieder kaltes Wasser mit dem Schlauch über Dees Vorderbein laufen lassen. Hätte ich doch bloß ausgeschlafen und schneller auf sein Straucheln reagiert. Erschöpft und mit pochendem Knie sank sie auf einen Heuballen, der vor der Box lag. Hämmernde Schritte auf der Stallgasse ließen sie aufblicken. »Dad, was machst du denn hier?«
»Die Reitstallmanagerin hat mich angerufen. Was hast du dir nur dabei gedacht, dich auf diesen unsinnigen Wettkampf einzulassen, anstatt an deiner Show zu arbeiten? Ich bin enttäuscht von dir. Leichtsinnig, kindisch und …«
Sie hob eine Hand. Sie hatte keine Kraft, jetzt eine Predigt ihres Vaters zu ertragen. »Wichtig ist, dass Dee wieder in Ordnung kommt.« Sie rieb sich über ihr geschwollenes, heißes Knie. Mühsam wandte sie sich um und nahm ihre Handtasche vom Haken an der Boxenwand. Aus einer Dose mit Schmerzmitteln schluckte sie zwei weitere Pillen. »Der Tierarzt ist auf dem Weg«, murmelte sie.
»Gut, und mit dir? Alles okay?«
»Ich komme klar, hab mir nur das Knie ein wenig verdreht.«
»Glück gehabt. Ich muss ein Telefonat führen und will mir die Diagnose des Tierarztes selbst anhören.« Er verschwand in Richtung Stallausgang.
Tyler warf Dee eine Fleecedecke über. »Dein Dad hat recht. Du …«
»Ich hab es vermasselt. Sag es doch so, wie es ist. Verdammt, wieso hast du mich gestern im Crazy Horse so viel trinken lassen. Du wusstest, wie wichtig …«
»He, schieb jetzt nicht die Schuld mir zu. Ich bin nicht dein Kindermädchen. Du hast dich überschätzt. Ich kann nichts dafür, dass du den Trick nicht draufhattest.«
Sie sah zu ihm hoch. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr. Sein Blick hatte diese lässige Überheblichkeit, die sie an ihm eigentlich attraktiv fand, jetzt aber nicht ertragen konnte. »Was willst du von mir hören, Ty?«
»Ein ›Danke‹, dass ich dir in den letzten Stunden geholfen habe?«
»Danke«, murmelte sie und kämpfte mit den Tränen.
Er kniete sich vor sie und griff nach ihrer Hand.
Sie zog sie weg, schüttelte den Kopf. Sein Mitleid war das letzte, was sie jetzt ertragen konnte.
Er erhob sich und sah auf die Uhr. »Du solltest dein Knie hochlegen und kühlen, bis du zum Arzt gehst. Kann ich noch was für dich tun?«
Nicky schüttelte den Kopf. Lass mich nicht allein. »Ich komme schon klar. Geh einfach.« Ihre Worte klangen schroffer als beabsichtigt.
Als er sich hinab beugte, um sie auf die Lippen zu küssen, drehte sie ihm die Wange hin. Sie wusste, sie war ungerecht.
»Viel Glück.« Seine Stimme war rau. Er blieb einen Augenblick vor ihr stehen, aber sie wich seinem Blick aus. »Wie du willst.« Er wandte sich ab und verließ den Stall.
Nach der Diagnose des Tierarztes, der am späten Nachmittag endlich erschienen war, wurden Nickys schlimmste Befürchtungen bestätigt. Ein Bruch, der nur mit einer teuren Operation Heilungschancen hatte. Sie stand mit ihrem Vater am frühen Abend vor der Pferdebox.
»Ich werde Dee in die Klinik fahren.« Sie nahm den Führstrick vom Haken und sah ihren Dad an.
Er schüttelte seinen Kopf. »Ich rufe dir ein Taxi und du fährst in die Notaufnahme und lässt dein Knie ansehen.« Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Ich fahre Dee in die Tierklinik.«
»Das brauchst du nicht. Ich …«
»Du hast einen schweren Sturz hinter dir und ich sehe, wie stark deine Schmerzen sind. Ich bringe ihn in die Klinik. Ende der Diskussion.«
Alles in Nicky wehrte sich dagegen, ihr Pferd allein zu lassen. Aber die verschlossene Miene ihres Vaters duldete keine Widerrede. Und es war wichtig, dass Dee am frühen nächsten Morgen operiert wurde und die Nacht in der Klinik verbrachte. Daher nickte sie. »Okay. Und es tut mir leid, dass ich …«
Kevin hob eine Hand und sie verstummte. Seine Enttäuschung schmerzte wie eine Ohrfeige. Sie half, Dee in den Pferdeanhänger zu verladen, und band den Strick im Hänger fest. »Du schaffst das«, flüsterte sie und schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. »Ich hab dich lieb.«
»Wir müssen los«, rief ihr Vater.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, strich über Dees Kopf, kraulte sein Kinn und drückte einen langen Kuss auf seine Wange. »Bis ganz bald, Partner. Zusammen sind wir stark.«
Erschöpft winkte sie dem Trailer hinterher und ließ sich in den Sitz des Taxis fallen, das auf den Hof gefahren war. Ihr Kopf dröhnte, das Knie war heiß und pochte schmerzhaft. Sie stieg an der Notaufnahme aus, humpelte hinein und nahm sich eine Nummer im Warteraum. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte sie sich auf einen der Plastikstühle und holte ihr Smartphone aus der Jackentasche. Nachdem es den ganzen Nachmittag unaufhörlich neue Nachrichten über ihren Instagram-Account mit einem Ping angekündigt hatte, hatte sie es ausgeschaltet. Sie hatte keinen Kopf für die neugierigen Nachfragen ihrer Follower gehabt. Doch nun wollte sie für ihren Vater erreichbar sein. Was sie erwartete, als sie das Gerät einschaltete, war einer Explosion nicht unähnlich. Es vibrierte und bimmelte in einer Tour. Sie versuchte, die Ankündigungen zu ignorieren, die sich wiederholten: »Nicky Charm – Tragödie in der Reithalle.«
»Ist ihre Karriere vorbei?«
»Wird Diamond Dee wieder gesund?«
Das Live-Video, das Virginia und viele andere auf ihren Accounts geteilt hatten, wurde tausende Male angeklickt, ihr Sturz hatte die Runde gemacht, kein Wunder.
»Nummer 657«, rief eine Stimme.
Sie hob den kleinen Zettel in ihrer Hand hoch. »Das bin ich.«
Nach einer Stunde verließ sie mit Krücken, einer Kniebandage und einem Rezept für Schmerztabletten das Krankenhaus. Verdrehung des Kniegelenks mit starker Zerrung der Bandstrukturen. Der Meniskus hatte leichte Einrisse gezeigt, aber der Arzt glaubte zum Glück, dass keine Operation notwendig war. Schonen, und zwar mehrere Wochen, danach Bewegungstherapie. Nicky humpelte auf die Krücken gestützt aus der Notaufnahme und bestellte ein Taxi. Wartend wählte sie die Nummer ihres Vaters und fragte nach Dee.
»Er wird morgen früh operiert. Der Tierarzt wird sich bei uns melden«, erwiderte Kevin. »Ich muss ans Set. Bist du auf dem Weg nach Hause? Wie geht’s deinem Knie?«
Sie sah, dass sich ein Taxi näherte, und winkte. »Ich verlasse gerade das Krankenhaus. Mit den Schmerzmitteln ist es erträglich. Bis später.«
Sie gab dem Fahrer die Adresse und wollte Tyler eine SMS schicken, um sich für ihr Verhalten im Stall zu entschuldigen. Bevor sie dazu kam, vibrierte ihr Gerät. Sie zog es aus der Tasche. Weitere Kommentare zum Video. Aber eine persönliche Nachricht von ihrer Freundin Tammy ließ sie stutzen. Scharf zog sie die Luft ein. Oh, verdammt, was war das denn? Ein Foto von Tyler und Penelope, die sich innig küssten. Darunter stand: »Hey, was ist da los? Unter dem Hashtag #TylerArlettsDirtySecret sind mehr solcher Bilder. Ruf mich an!!!!!«
Mit zitternden Händen klickte Nicky zu ihrem Instagram-Feed und entdeckte die Fotos. Darunter hatten etliche Fans kommentiert.
»Ist es aus zwischen Nicky und Tyler?«
»Arme Nicky. Erst der Sturz und dann das.«
»Lässt du dir das gefallen, Nicky?« Und ein Follower schrieb, dass Penelope und Tyler zusammen im Crazy Horse feierten.
»Moment«, rief sie dem Taxifahrer zu und ließ sich von ihm an ihrem Truck am Reitstall absetzen. Sie musste die Wahrheit wissen.
Es war noch dunkel, als Tom gegen sieben Uhr morgens über die schneebedeckten Schotterstraßen ins Nakoda Pine Reservat fuhr. Gähnend steckte er sich eine Brise Kautabak hinter die Unterlippe und fragte sich, was Elder Sage Sweetgrass Wichtiges mit ihm zu besprechen hatte. Der Anruf der Ältesten hatte ihn aus dem Schlaf gerissen und nach einer Tasse Kaffee hatte er sich sofort auf den Weg gemacht.
Eine halbe Stunde später kam er vor ihrem Haus an und wurde an der Tür von einem jungen Cree empfangen. »Guten Morgen«, begrüßte Tom ihn.
Braune, sanfte Augen musterten ihn. »Ray Bull«, erwiderte der Mann und streckte ihm die Hand hin. »Aber du kannst mich Rabbit nennen.«
»Tom Tenpenny. Geht es Sage nicht gut?« Er streifte die Boots ab und hängte die Jacke an einen Kleiderständer in der Diele.
»Ich habe ihr eine traurige Nachricht übermittelt. Aber komm, sie ist in der Küche.«
Er folgte Rabbit hinein. Die alte Cree saß zusammengesunken am Küchentisch, ihre Hände vor sich gefaltet. Als er eintrat, hob sie den Kopf, aber ihr Versuch zu einem Lächeln verrutschte zu einer traurigen Grimasse. Sie tupfte sich die feuchten Augen mit einem Taschentuch ab und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Setz dich, Tom. Danke, dass du gekommen bist.«
»Sicher doch. Was ist denn passiert?«, fragte er und nahm Platz.
»Ein gemeinsamer Bekannter ist gestorben.« Ihre Worte waren vollgesogen mit geweinten Tränen.
»Von wem sprichst du?«, fragte er leise, obwohl er die Antwort erahnte.
»Hast du gewusst, dass es ihm die letzten Monate schlecht ging? Er erschien mir immer unsterblich.« Sie schüttelte den Kopf, in ihren Augen spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und tiefem Schmerz.
»Chinook ist …?« Er schluckte hart. »Er ist tot?«
Sages Blick fing ihn auf und sie streckte die Hand über dem Tisch nach ihm aus. Er ergriff sie und für einen Moment hielten sie sich gegenseitig fest.
»Wir hatten nicht mehr viel Kontakt«, bemerkte Sage, »aber ich dachte, ihr habt euch immer mal wieder unterhalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist Jahre her.« Sein Blick ging zu Rabbit, der an der Küchenzeile lehnte und eine Tasse in der Hand hielt. »Hast du die Nachricht überbracht?«
Der junge Mann nickte. »Chinook war Schamane in dem Reservat, in dem ich lebe. Er hatte eine Botschaft für Elder Sage hinterlassen, die ich mitgebracht habe.« Er deutete auf einen geöffneten Umschlag, der neben ihr lag.
»Was kann ich für dich tun?« Tom merkte, dass seine Worte rau und fordernd klangen. Er wollte allein sein. Allein mit der Trauer und der Ungewissheit, was er nun mit den Werkzeugen tun sollte.
»Chinook möchte, dass ich dir einen Auftrag gebe. Er hatte dir eine Nachricht geschickt, aber die ist wohl nicht angekommen, und er wollte sicher gehen, dass du dies hier hörst.« Sage holte den Brief hervor und las laut vor:
»Die Wochen vor meinem Ende habe ich versucht, die Kräfte auf das Wesentliche zu bündeln, und doch schwanden sie schneller als erwartet. Daher diese Zeilen an dich und die Bitte, Tom Tenpenny zu dir zu rufen, denn das Folgende geht euch beide an. Ich wünsche mir, dass Tom die Ausrüstung für das Pferd der Calgary Stampede First Nations Rodeoprinzessin anfertigt. Mir wurde berichtet, dass sie diesmal aus eurem Reservat auserwählt werden wird, und mit den Werkzeugen, die ich Tom einst schenkte, ist er für diese Aufgabe berufen. Und …«
»Moment, was?«, fiel Tom ihr ins Wort. Sein Herz hämmerte so hart gegen seine Brust, dass er glaubte, es würde gleich eine Rippe durchbrechen.
»Du sollst den Schmuck für das Pferd der Rodeoprinzessin herstellen. Das ist …«
»Das verstehe ich schon«, unterbrach er Sage erneut. »Aber das geht nicht. Ich wollte die Werkzeuge in den nächsten Tagen zu Chinook zurückschicken.« Er räusperte sich. Seine Kehle verengte sich mit jedem Wort.
Sage musterte ihn eindringlich »Die Instrumente sind an dich gebunden.«
Er nickte. »Ich weiß. Und nach eurer Tradition ist er der Einzige, der sie zurücknehmen kann. Was mache ich denn jetzt? Shit.«
Ihr missbilligender Blick traf ihn wie eine Ohrfeige. »Sorry. Aber ich fühle mich komplett überfahren.«
Rabbit stellte eine Tasse Kaffee vor ihn und sah zu Sage. »Möchtest du noch Tee?«
»Ja, danke schön«, erwiderte sie. »Tom, ich weiß nicht, warum du ein Geschenk zurückgeben möchtest, aber ich bin mir sicher, Chinook hatte einen guten Grund für sein Anliegen.«
Tom nippte am Kaffee, der in seiner Kehle brannte. Das war dein letzter Wunsch, alter Mann, warum nur? Hattest du davon in dem Brief an mich gesprochen? Die Zeilen, die er aus Feigheit nicht gelesen hatte? In diesem Moment wurde ihm klar, dass er womöglich dadurch die Gelegenheit verpasst hatte, den Schamanen noch einmal zu sehen.
»Ich verstehe dein Zögern nicht.« Sage lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Er hob seine Hände, zeigte die geschwollenen Gelenke. »Ich glaube nicht, dass ich der Beste bin, eine solch ehrenhafte Aufgabe anzunehmen.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, nahm das Taschentuch und schnäuzte sich. Die Trauer schimmerte in ihren Augen, aber sie setzte sich aufrecht hin, ihr Blick fordernd. »Chinook hat es geglaubt und hat deiner Lederkunst mit diesem Auftrag den höchsten Respekt gezollt. Willst du seinen letzten Wunsch missachten? Ihm diese finale Ehrerweisung verwehren?«
Ihre Worte zerrten an ihm wie ein Coyote an einem Stück Fleisch. Der Gedanke, wieder mit den Werkzeugen zu arbeiten, raubte ihm die Stimme. Es hatte lange gedauert, die verführerische Melodie der Lederwerkzeuge zu verdrängen, sie nicht mehr in die Hand zu nehmen. Wie ein Drogenentzug. Und jetzt sollte er sich über Wochen einem Projekt widmen und der Magie der Werkzeuge ergeben.
Würde er danach noch die Kraft haben, sich von ihnen zu trennen? Und wer konnte die Verbindung lösen, jetzt wo Chinook … Er schluckte.
»Ich sehe an deiner zerfurchten Stirn, wie deine Gedanken dich quälen«, warf Sage ein. »Ich kann dir einen Deal anbieten. Du stellst den Pferdeschmuck her und danach löse ich deine Verbindung zu den Werkzeugen.«
Er sah sie ungläubig an. »Das würdest du für mich tun?«
»Nicht gern. Ich verstehe nicht, warum du die spirituelle Kraft des Leders loswerden möchtest. Aber wichtiger ist, dass Chinooks Wunsch erfüllt wird.«
»Ich achte eure Tradition des Lederhandwerks.« Er senkte den Blick, suchte nach den richtigen Worten. »Mir ist bewusst, dass mir als Weißer eine große Ehre zuteilwurde, als ich die Werkzeuge erhalten habe.«
»Wir Cree sehen den Menschen, sein Talent, seine respektvolle Verbundenheit mit uns. Mit einem Geschenk zeigen wir unsere Anerkennung und Dank«, erwiderte Sage eindringlich.
Tom dachte an seine Herkunft, die er verschwiegen hatte und immer noch verheimlichte. Das zeigte keinen Respekt. Sein Magen zog sich zusammen. »Ich will eure Gesetze respektieren. Tue ich das, wenn du mich aus dem Bündnis entlässt, indem du die Werkzeuge von mir löst?«
Sie nickte, trank von ihrem Tee und bat Rabbit, sich zu ihnen an den Tisch setzen. »Rabbit wird die Handwerkszeuge nach dem Trennungsritual wieder in das Sunchild Reservat mitnehmen. Außer du entscheidest dich, doch mit ihnen weiterzuarbeiten, nachdem du die Ausrüstung für die Rodeoprinzessin hergestellt hast. Das steht dir frei.«
»Das wird nicht passieren.«
»Dann haben wir einen Deal?«
Er zögerte. Nach der Arbeit mit den Werkzeugen würde es höllisch weh tun, sie von sich zu trennen. Doch der Gedanke, Chinooks letzten Wunsch nicht zu erfüllen, schmerzte tausend Mal mehr. Er nickte, langsam, aber bestimmt.
Ein lautes Klopfen an der Tür weckte Nicky und sie schlug die Augen auf. Kaum hatte sie sich im Bett aufgerichtet, hämmerte es erneut an die Tür. Wer zum Teufel klopfte an ihre Schlafzimmertür?
»Nicky. Bist du wach? Die Haustür war offen«, rief ihr Vater.
»Ja«, krächzte sie. »Was ist …« Kaum hatte sie die Worte gerufen, stürmte Kevin ins Schlafzimmer.
»He, Privatsphäre«, beschwerte sie sich und zog die Satindecke hoch zu ihrem Kinn.
»Genau das ist dein Problem, du glaubst, du hast ein Privatleben.« Kevin stand breitbeinig vor ihrem Bett und starrte sie an.
»Was meinst du damit?«, murmelte sie und kniff mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel zusammen, was die hämmernden Kopfschmerzen für den Moment eindämmte. »Ist was mit Dee?«
Er schüttelte den Kopf. »Schau auf Instagram nach, dann …«
Bevor er den Satz beenden konnte, ergriff Nicky ihr Smartphone vom Nachttisch und sah die nicht enden wollenden Nachrichten auf dem Display. Shit. Ihre Hände zitterten, wie die eines Junkies auf Entzug. Ihr glitt das Gerät aus den Fingern und fiel auf der Bettdecke.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Die Stimme ihres Vaters war leise, aber eindringlich.
Nicky blinzelte die brennenden Tränen weg, zog die Nase hoch und zuckte mit den Schultern. »Ich war enttäuscht und wütend. Bin ausgerastet und wusste nicht, dass jemand ein Scheißvideo dreht.«
Kevin verzog keine Miene. »Zieh dich an, ich will mit dir sprechen.«
Wenig später humpelte Nicky in die Küche. Ihr Knie war geschwollen und sie hatte eine der verschriebenen Schmerztabletten genommen. Mit einer Tasse Kaffee setzte sie sich an die Küchentheke und klickte sich durch die Posts und Kommentare zu ihrem Ausraster letzte Nacht.
Sie war in die Bar gestürmt, hatte Tyler und diese blonde Schnepfe gesehen. Penelope hatte eine Runde ausgegeben.
»Trinkt auf meinen Erfolg«, trällerte sie. »Wahres Talent setzt sich am Ende immer durch und es war ein Spaß, Nicky Charms Gesicht im Sand zu sehen. Vom hohen Ross fällt man hart.« Sie lachte schrill.
Nicky starrte Tyler an, der mit der Tussi anstieß, ihren Worten beipflichtete, und Nicky war ausgetickt. Wie konnte er ihr das antun? Sie waren doch ein gutes Team gewesen, und ihn mit einer anderen zu sehen, hatte etwas in ihr überkochen lassen.
Unter dem Hashtag #TylersDirtySecret entdeckte sie ein Video. Jemand hatte alles gefilmt.
Wie sie das Bier der Tussi ins Gesicht schüttete, Ty eine Ohrfeige verpasste und auf dem Parkplatz Penelopes Truck mit dem Autoschlüssel zerkratzte. Sie schaltete das Smartphone aus und legte es weg. Das Schlimmste war, dass sie sich nicht wirklich an all das erinnern konnte.
»Ich hatte einen Blackout«, murmelte sie.
»Verdammt, Nicky! Im Showbusiness können wir uns das nicht leisten.« Kevin schüttelte den Kopf und goss ihr Kaffee nach.
Sie nahm einen Schluck und verbrannte sich die Lippen. Die Enttäuschung ihres Vaters schmeckte so bitter wie das schwarze Gebräu.
Er tippte mit einem Finger auf ihr Smartphone. »Du musst das wieder geradebiegen. Ich habe mehr von dir erwartet. Du weißt doch, dass die da draußen nur darauf warten, sich auf solche News zu stürzen. Die fressen dich bei lebendigem Leib auf. Alles Aasgeier, die übrigens schon hier vor dem Tor lauern.«
Erschrocken hob Nicky den Kopf, stand auf und sah aus dem Fenster. Hinter der Hecke, die das elektrische Tor der Einfahrt säumte, konnte sie einige Menschen erkennen und einen weißen Lieferwagen mit der Aufschrift eines Fernsehsenders darauf. »Verflucht. Was mache ich denn jetzt?«
Kevin zuckte mit den Schultern, dann schob er ihr das Telefon hin. »Schadensbegrenzung. Ruf Penelope an und entschuldige dich für dein Verhalten.«
Nicky Gedanken waren zäh, kämpften sich durch die Spinnweben der letzten Nacht. »Was ist mit Diamond Dee? Hat der Tierarzt schon angerufen?«
Er schüttelte nur den Kopf und deutete nach draußen. »Ich kann den Trubel nicht gebrauchen. Gestern ergab sich endlich eine Chance für eine neue Rolle. Du weißt, wie lange ich darauf gewartet habe. Ich brauche gute Publicity und …«
Sie hob eine Hand. Jedes Wort ihres Vaters hämmerte wie ein Kirchenglockenschlag in ihrem Kopf. »Zuerst muss ich wissen, wie es Dee geht.«
Das Smartphone ihres Vaters klingelte und er nahm das Gespräch an. »Dr. Pepper, guten Morgen.«
Der Tierarzt. Sie horchte auf, versuchte ihrem Dad mit Handzeichen zu verstehen zu geben, dass er den Lautsprecher einschalten sollte. Doch er wandte sich ab. Da ist etwas schiefgelaufen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Oh, damit hätte ich nicht gerechnet.« Kevins Stimme war rau. »Ja, ich werde es ihr ausrichten. Danke, ja, ich melde mich bei Ihnen.«
»Was hat er gesagt? Wie geht es Dee? Ist die Operation gut verlauf…«
Die plötzliche Wärme in seinem Blick stach wie ein Messer in ihr Herz. »Es tut mir leid, Schatz. Dee hat es nicht geschafft.«
»Das kann nicht sein«, flüsterte sie und stand auf. »Ich muss zu ihm.«
Kevin hielt sie zurück. Tränen brachen wie eine Sturmflut aus ihr heraus. Sie wollte schreien, aber ihrer zugeschnürten Kehle entwich nur ein hoher Schmerzenslaut, roh und gequält. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, zitterte, japste nach Luft. Ihr Vater zog sie zu sich und sie ließ sich schluchzend in seine Umarmung sinken. Er hielt sie einen Moment fest und schob sie dann aber wieder auf den Stuhl. »Es ist furchtbar, ein Pferd zu verlieren. Du musst stark sein.«
Seine Worte drangen nur leise zu ihr. Dee war mehr als ein Pferd, er war ihr Gefährte, ihr Partner, sie waren ein Team. Ohne ihn war sie allein. Wimmernd hielt sie beide Arme fest um sich geschlungen. Jeder Versuch, sich zusammenzureißen wurde von einem weiteren Schluchzer beendet.
»Beruhige dich.« Kevin legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du wirst ein neues Pferd finden und eine Trickreiter-Show auf die Beine stellen. Kopf hoch, Krone richten.«
Sie starrte ihn an. Was redete er da für einen Scheiß? Wut mischte sich mit verzweifelter Traurigkeit. Ihr wurde übel und sie würgte, was in weitere Schluchzer überging.
Kevin stellte ein Wasserglas vor sie hin. »Hier, trink etwas. Es tut mir sehr leid.«
»Ich will ihn sehen«, murmelte sie und trank das Wasser in kleinen Schlucken, um die Übelkeit zu vertreiben.
»Das ist keine gute Idee. Und ich weiß auch gar nicht, ob das möglich ist.« Er strich über ihren Rücken. »Geht’s wieder?«
»Ich muss mich doch verabschieden.« Nicky ergriff den Arm ihres Vaters und sah ihn an. »Bitte, Dad, fahr mich in die Tierklinik.«
Zwei Stunden später saß Nicky mit ihrem Vater in seinem Wohnzimmer. Ihre rechte Hand umschloss ein Bündel Schweifhaare von Dee. Ein letztes Andenken, von dem sie nicht einmal wusste, was sie damit machen sollte. Sie fühlte sich leer, als hätte sie ihr Herz bei ihrem toten Pferd gelassen.
Mit dem lähmenden Gefühl kam die Erinnerung an ihren größten Schmerz, den Verlust ihrer Mutter. Dee war ihr Halt gewesen, ihm hatte sie jedes Geheimnis anvertraut, sich an ihn geklammert, wenn die Welt sie zu verschlingen drohte. Jetzt war sie allein. Alles zog sich um sie zusammen, sie atmete flach, das Gewicht unendlicher Trauer erdrückte sie. »Was passiert jetzt mit Dee?«
»Mach dir darüber keine Gedanken, ich werde alles regeln.«
»Ich will seine Asche.«
Kevin hob eine Augenbraue, nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Nimm du jetzt erstmal eine Auszeit.«
Alles in ihr wollte sich verkriechen, aber was dann? »Sie werden mich vergessen, wenn ich von der Bildfläche verschwinde.«