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Ende August 1346: Die große Schlacht bei Crécy ist geschlagen. Die erschöpften Essex Dogs wollen nach Hause, doch der englische König hat anders entschieden: Noch weiter im Norden liegt die reiche Hafenstadt Calais. Während der winterlichen Belagerung werden die Söldner zu einsamen Wölfen... Im zweiten Teil seiner Essex-Dogs-Trilogie lässt Dan Jones seine Leser ganz tief eintauchen in ein dunkles Mittelalter, in dem die zarten Flammen an Menschlichkeit, Sehnsucht und Liebe nur umso heller leuchten. Mit französischem Terrain sind die englischen Söldner mittlerweile vertraut. Aber eine monatelange Belagerung einer Stadt und ihrer Bewohner – das ist auch für Männer, die schon alles gesehen haben, eine brutale Erfahrung. Wofür und gegen wen kämpfen sie hier? Im zweiten Teil seiner Essex-Dogs-Trilogie versteht es Dan Jones meisterhaft, seine Leser mit filmreifen Szenenwechseln in Atem zu halten. Die Dogs geraten in den Bann einer flämischen Söldnerin, die sich aufs Geschäft mit der Liebe versteht. Die junge Squelette ist auf Rache an den Engländern aus – und trägt das Messer, das ihr Loveday einst geschenkt hatte, immer bei sich. Romford will sich nach England absetzen, wird von Piraten in das belagerte Calais geschleust und flieht kurz vor der Kapitulation der Stadt mit einem geheimisvollen Dokument. Hinter alledem ist ein finsteres Grollen zu vernehmen. Für die Dogs bahnt sich eine Katastrophe an. Ihre Welt wird sich für immer verändern.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Dan Jones
WINTER WÖLFE
Roman
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Wolfram Ströle
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
PROLOG – Juli 1345
TEIL 1: FLAMEN – August bis September 1346
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TEIL 2: PIRATEN – Oktober bis Dezember 1346
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TEIL 3: BÜRGER
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Epilog
Anmerkung des Historikers
Weiterführende Literatur
Bücher
Artikel
Zum Buch
Vita
Impressum
Für Ivy
Die Essex-Dogs-Trilogie
Essex Dogs Winterwölfe
Unser Feldzug währt nun schon sehr lange und dauert immer noch fort. Dennoch erwarten wir nicht, das Königreich Frankreich zu verlassen, bevor wir unseren Krieg zu Ende gebracht haben …
Edward III., Calais 1346
Hier ist nichts mehr, was wir noch nicht gegessen hätten, es sei denn, wir essen Menschenfleisch.
Jean de Vienne, Calais 1347
Juli 1345
Das Tageslicht schwand bereits, als sich der Captain aus dem allmählich abebbenden Menschenstrom auf der Pont au Change löste und zwischen zwei hölzernen Ladenfronten in einen schmalen Durchgang schlüpfte, der zum Rand der Brücke führte.
Er stützte sich auf die Brüstung und blickte auf den Fluss. Paris. Zu seiner Linken badete die Île de la Cité mit dem Königspalast, der Sainte Chapelle und der Kathedrale Notre Dame im Licht der untergehenden Sonne. Zu seiner Rechten leuchtete die Stadt: eine riesige, quirlige Metropole mit Tausenden Häusern, Läden und Kirchen, eingepfercht zwischen den engen Mauern der alten Verteidigungsanlagen.
Unter ihm floss die Seine. An den Stellen, an denen das Wasser durch die engen Brückenbögen strömte, bildeten sich kleine Strudel. Zäher brauner Schaum waberte an ihrer Oberfläche. Dem Captain schlug der Gestank der öffentlichen Latrinen entgegen, deren Inhalt sich nicht weit von hier stromaufwärts in den Fluss ergoss.
An einem warmen Sommerabend wie diesem war der Gestank fast unerträglich. Er hielt sich den Ärmel vor die Nase und atmete durch den Stoff. Er zählte seine Atemzüge wie Vaterunser. In der ganzen Stadt läuteten die Abendglocken.
«Er ist also tot.»
Er kannte die Stimme so gut, dass er sich nicht die Mühe machte, sich umzudrehen. Und als er den Ärmel vom Gesicht nahm, erkannte er auch den Atem. Fleisch, das zwischen gelben Zähnen verfaulte.
«Zumindest wirkte er ziemlich tot, als ich ihn zuletzt sah», antwortete der Captain. «Ich habe jedenfalls noch nie erlebt, dass ein Mann, dem das Hirn von Tritten gegen seinen Kopf aus den Ohren kommt, noch mal zur Messe gegangen wäre.»
Er starrte immer noch flussabwärts. Vor einer Woche, in einer anderen Stadt, hatte er eines Abends zugesehen, wie eine rasende Menschenmenge Jacob van Artefelde erstochen und zu Tode getrampelt hatte: einen flämischen Aristokraten, politischen Aufrührer, Freund von Königen, Verräter und Scharlatan, bekannt als der Brauer von Gent.
«Wie seid Ihr rausgekommen?»
Endlich drehte sich der Captain zu dem Mann um, der einen guten Kopf größer war als er. Ein dichter brauner Bart, hier und da grau gesprenkelt, bedeckte sein Gesicht fast bis zu den Augen. Ein Teil einer Augenbraue fehlte, seine Nase war mehrfach gebrochen. Die Enden seines langen Schnauzbarts hingen von seinen Mundwinkeln wie die Barteln eines Karpfens.
«Rauskommen ist nie schwer», sagte der Captain. «Wenn man allein arbeitet. Und wenn man sich nicht damit aufhält, sich an den eigenen Taten zu ergötzen.»
Der Mann grinste schief. «Natürlich. Ihr arbeitet jetzt allein.» Er hielt kurz inne. «Unser König wird Euch nicht danken.»
«Das braucht er auch nicht», erwiderte der Captain. «Artevelde war der Letzte, der glaubte, König Edward könnte seinen Sohn, den Prinzen, zum Grafen von Flandern machen und ihn den Bürgern von Gent als Herrscher aufzwingen. Aber das ist jetzt vorbei. Die Italiener werden die Kontrolle übernehmen. Für eine Weile.»
«Fürwahr.»
Die beiden Männer schwiegen. Dann sprach der Captain wieder.
«Und Ihr? Seid Ihr hier, um mir zu danken?»
Der Bärtige lachte kurz auf. «Nein. Ich bin hier, um Euch zu bezahlen.»
Er reichte dem Captain eine Börse aus feinem Kalbsleder. Der Captain wog sie in der Hand. Als er sie öffnete, glänzten Goldmünzen im schwindenden Licht. Englische Nobel, erst vor Kurzem geprägt. Der Captain nahm eine Münze und betrachtete sie genauer. Auf der Vorderseite war eine Galeere auf hoher See abgebildet, auf der Rückseite das kühne neue Wappen des Königs: ein Geviert mit den englischen Löwen und den französischen Lilien. Sein Herz schlug schneller bei diesem Anblick. Er steckte die Münze in die Börse zurück und schaute ausdruckslos hoch.
«Kriegsgold», sagte er. «Nicht sonderlich beliebt hier.»
«Wollt Ihr in Paris bleiben?»
«Vielleicht.»
«Gold ist Gold. Entweder Ihr behaltet es oder Ihr kommt morgen noch mal her und tauscht es gegen etwas ein, was Euch besser gefällt.» Der große Mann wies mit der Hand auf die schmale Gasse. Die Brücke war gesäumt von den Stuben der Geldwechsler, die jetzt am Abend geschlossen waren.
«Geldwechsler interessieren sich nicht für die Streitereien von Königen, es sei denn, ihr eigener Profit ist davon betroffen. Jeder von denen wird Euch dafür Deniers oder Pennys geben. Sie geben Euch auch Goldmünzen der Sarazenen, wenn Ihr das lieber wollt. Natürlich werden sie Euch keinen guten Kurs bieten, aber …»
Der Captain schüttelte sachte die Kalbslederbörse und beendete den Satz: «… es ist, wie es ist.» Er schüttelte die Börse noch einmal und steckte sie dann in die Ledertasche an seiner Seite. «Sagt Pulteney …»
Der Bärtige unterbrach ihn: «Sir John lässt Euch grüßen. Er dankt Euch – und Gott – für diese … günstige Entwicklung.»
«Er hat noch mehr Arbeit für mich?»
«Derzeit nicht. Aber Ihr wisst, wie es geht. Wir sind im Krieg. Im Krieg gibt es immer Arbeit. Und dieser Krieg wird noch lange dauern. Macht Euch keine Sorgen. Am Ende werdet Ihr der reiche Mann sein, der Ihr immer sein wolltet.» Er machte eine Pause. «Wenn wir Euch brauchen, werden wir Euch finden.»
«So soll es sein.» Der Captain fragte nicht, wie sie ihn finden würden. Sie fanden ihn immer.
Er wandte sich zum Gehen, doch der Bärtige legte ihm schwer die Hand auf die Schulter. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Er blickte sich schnell um.
«Lasst …»
Der Captain verpasste dem Bärtigen einen kräftigen Stoß gegen die Brust. Der stolperte rückwärts, fing sich aber wieder und baute sich vor dem Durchgang auf. Er packte den Captain am Handgelenk und wirbelte ihn überraschend behände herum, drehte ihm den Arm auf den Rücken und hielt ihn dort fest. Er manövrierte ihn so, dass er wieder zum Fluss sah. «Nicht hinsehen», flüsterte er ihm ins Ohr. Dann riss er den Arm des Captains hoch und zog dessen Hand mit einem Ruck Richtung Nacken.
Ein jäher Schmerz durchzuckte seine Schulter. Seine Augen brannten. So beherrscht wie möglich zischte er durch die Zähne: «Was soll das?»
Der Bärtige kam ihm noch näher. «Jemand ist uns gefolgt. Geh Richtung Insel. Jemand wird das Tor öffnen. Verstanden?»
Der Captain nickte. «Was … wer …»
«Tu’s einfach.» Der Bärtige verdrehte ihm erneut den Arm. «Und jetzt tritt mir auf den Fuß.»
Der Captain trat mit dem rechten Fuß kräftig nach hinten.
Der Bärtige jaulte auf, ließ den Captain los und hüpfte theatralisch auf einem Bein. Gleichzeitig drehte er den Captain grob herum und schubste ihn Richtung Gasse. «Geh», flüsterte er.»Und viel Glück.»
Der Captain hielt sich nicht mit weiteren Fragen auf. Er rannte los, etwas schief wegen seiner schmerzenden Schulter, durch den Durchgang und zurück zur Hauptstraße auf der Brücke.
Dort angekommen spürte er, dass etwas nicht stimmte.
Die Pont au Change wurde mittlerweile vom fahlen Licht des aufgehenden Mondes beleuchtet und lag völlig verlassen da. In der Dämmerung hatte noch geschäftiges Treiben geherrscht. Jetzt war alles totenstill.
Der Captain hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er griff nach seiner Tasche und der Börse. Sie waren noch da. Er zog eine Handvoll Münzen heraus und steckte sie in seine Kniehose. Er fasste nach dem Dolch, den er am Gürtel trug. Er war weg.
Natürlich.
Er trat aus der schmalen Gasse und drückte sich in einen Hauseingang. Er zog seine Kapuze über den Kopf und spähte vorsichtig darunter hervor, in Richtung des Königspalasts auf der Île de la Cité. Die prächtigen Gebäude ragten riesig und grau im Mondlicht auf. An den Toren zur Insel flackerten Fackeln in einem kränklichen Orange.
Der Captain rieb sich die Schulter, die vor Schmerzen ganz taub war. Die von den Fackeln beleuchteten Tore mussten etwa hundert Schritt entfernt liegen. Er würde nicht lange dorthin brauchen. Der Bärtige hatte ihm gesagt, jemand würde ihm eines der Tore öffnen.
Er hat mir aber auch den Dolch abgenommen.
Der Captain fluchte. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Er musste sich entscheiden. Er beschloss, seinem Instinkt zu vertrauen.
Zurück in die Stadt.
Er drückte das Kinn auf die Brust, zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht und machte sich auf den Weg, schlüpfte so unauffällig wie möglich von Hauseingang zu Hauseingang.
Doch plötzlich hörte er Schritte. Mehrere Personen bewegten sich auf ihn zu. Sie hatten es eilig. Schnitten ihm den Weg ab.
Er fluchte erneut und änderte die Richtung, lief jetzt zurück Richtung Palast.
Die Schritte hinter ihm beschleunigten sich.
Der Captain drehte sich gar nicht erst nach ihnen um. Er rannte einfach so schnell er konnte. Seine Füße trommelten über die hölzernen Planken der Brücke, das Hämmern seiner Sohlen hallte von den Fronten der verlassenen Läden wider.
Seine Handflächen waren schweißnass. Seine Lungen brannten. Doch er rannte weiter. Und hielt den Blick fest auf den Palast vor sich gerichtet. Mit jedem Schritt rückten die Lichter näher. Siebzig Schritte. Fünfzig. Vierzig. Er war fast da.
Zwanzig.
Ein Wächter im Kettenhemd und in den Farben des französischen Königs trat aus dem Wachhaus neben dem Tor. Er bellte etwas zu einem anderen Wachmann hinüber. Das klang nicht wie ein Befehl, das Tor zu öffnen.
Der Wachmann zog sein Schwert.
Damit war alles klar.
Man hatte ihn in eine Falle gelockt.
Aus dem Augenwinkel erspähte er zwischen den Häusern mit ihren verschlossenen Fensterläden einen weiteren schmalen Durchgang. Er warf sich hinein, kauerte sich zusammen und atmete so leise wie möglich durch die Nase. Seine Lungen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment platzen.
Er lauschte angestrengt, ob er außer seinem pochenden Herzen noch etwas hörte. Die Schritte waren verstummt. Er schob sich tiefer in die Gasse hinein und hoffte, dass sie hinter den Läden vorbeiführen würde. Dass sie überhaupt irgendwohin führte. Er konnte seinen Weg nur ertasten. Das raue Holz der Hauswände riss ihm durch sein Hemd hindurch den Rücken auf. Im Durchgang war es so finster, dass leuchtende Farben vor seinen Augen tanzten, obwohl er wusste, dass sie gar nicht da waren. Grün und Rot. Gelbe Funken.
Erneut hörte er Schritte. Sie liefen am Durchgang vorbei. Er hörte wieder die Wache rufen. Dann einen schnellen Wortwechsel. Danach zogen sich die Schritte zurück, wurden schließlich immer leiser auf ihrem Weg zurück in die Stadt.
Der Captain atmete erleichtert aus.
Und spürte die Spitze eines Dolchs an seinem Hals.
Der beißende Gestank verriet ihm, wer ihn da bedrohte. Der Captain erstarrte.
«Tut mir leid, mein Freund», sagte der Bärtige. Dann hob er im pechschwarzen Dunkel den Fuß und rammte seine Ferse mit voller Wucht gegen das rechte Knie des Captains.
Ein gleißender Schmerz schoss durch sein Bein. Er unterdrückte einen Aufschrei und biss sich dabei auf die Zungenspitze. Blut füllte seinen Mund. In der Dunkelheit sah er den Brauer von Gent vor sich, den Kopf aufgeplatzt wie ein Kürbis. Augen, die unfassbar weit aus den Höhlen traten, wie die glänzenden Augäpfel eines Hasen, dem man das Fell abgezogen hatte.
Der Captain sackte über seinem gebrochenen Bein zur Seite. Zwei Paar Hände packten ihn grob unter den Achseln. Eine der Hände griff in seine Tasche und zog die Kalbslederbörse heraus. Blut lief ihm aus dem Mund. Grüne Sterne tanzten vor seinen Augen.
In der Schwärze hörte er eine weitere Stimme. Eine Frau.
«Dépêchez-vous!», sagte sie. «J’ai froid.»
Beeilt Euch. Mir ist kalt.
Der Captain hustete, noch mehr Blut triefte aus seinem Mund. Er spürte, wie ihn die Arme hochhievten. Bei jedem groben Ruck fuhr bohrender Schmerz durch sein Knie. Die Arme schleiften ihn fünfzehn Schritte rückwärts, bis er das Brückengeländer an seinem Rücken fühlte.
Er spürte ein Gesicht neben seinem, den Mund einer Frau. Ihr Atem roch nach gutem Wein. Ein Flüstern an seinem Ohr: «C’est vrai. Le roi ne vous remercie pas.»
Es stimmt. Der König dankt Euch nicht.
Sie küsste ihn auf die Wange. «Mais je vous remercie.»
Aber ich danke Euch.
Dann war sie verschwunden, und die gröberen Arme hievten den Captain erneut hoch und rückwärts, zerrten ihn nach oben, so dass sein Oberkörper nun über der Brüstung hing. Kurz befand er sich in der Schwebe, halb noch auf der Brücke, halb in der Luft.
Die Hände ließen ihn los.
Einen Moment lang fühlte sich der Captain vollkommen schwerelos. Als wäre er ein Engel im Flug. Als ob er sich hoch über die Brücke schwingen könnte. Über Paris hinweg. Über alles. Panisch schlug er mit den Armen, versuchte irgendwo Halt zu finden. Doch seine Finger griffen nur kalte Luft. Und plötzlich war er nicht mehr schwerelos. Ihm drehte sich der Magen um. Seine Blase entleerte sich.
Er fiel rasend schnell, stürzte auf die stinkende Seine zu.
Als er sich in der Schwärze überschlug, sah er den Schein einer einzelnen Laterne über sich, die wilde Kreise vollführte. Von den Flammen beleuchtete Gesichter wirbelten durcheinander, dehnten sich aus und zogen sich wieder zusammen. Die Fackel zwischen ihnen drehte sich hin und her und tauschte den Platz mit dem kalten, starren Glanz der ersten Sterne dieser Nacht, jeder einzelne von ihnen eine winzige polierte Münze.
Der Captain dachte erneut an den Brauer von Gent. Er dachte an das Leben, das er gewählt hatte. An die Männer, die er zurückgelassen hatte.
Als das Wasser auf ihn zuflog, hörte er jemanden schreien. Und begriff beim Aufschlagen, dass er es selbst gewesen war.
TEIL 1
August bis September 1346
Sie nahmen große Mühen auf sich, alle Toten zu durchsuchen, und waren den ganzen Tag auf dem Schlachtfeld … [Sie fanden] die Leichen von elf Fürsten, zwölfhundert Rittern und dreißigtausend gemeinen Männern.
Chronik des Jean Froissart
Los, wir hieven ihn hoch.»
«Loveday» FitzTalbot hielt sich den schmerzenden Rücken und sah zu, wie Tebbe und Thorp einen toten Ritter an Armen und Beinen packten und an ihnen zogen. Er klatschte in die Hände, um sie anzufeuern. «Kommt schon, Jungs, vielleicht ist es jemand Wichtiges.»
Auf dem bäuchlings liegenden Ritter war so heftig herumgetrampelt worden, dass er in den Matsch eingesunken war. Der große Mann mit der breiten Brust war tot, der geschundene Körper von Füßen und Hufen zertrampelt und tief in den aufgewühlten Schlamm gedrückt. Der Harnisch am Rücken war zerbeult und an einigen Stellen zerbrochen. Der Umhang mit seinem Wappen, an dem man ihn zu Lebzeiten erkannt hätte, war zerfetzt und bis zur Unkenntlichkeit mit Blut verschmiert.
Die Bogenschützen zerrten an ihm und keuchten.
«Er steckt fest», beschwerte sich Tebbe. «Mir müssen den Mistkerl ausgraben.»
Thorp ließ das Bein des Ritters los und trat verärgert nach dem Toten. «Tebbe hat recht. So kriegen wir ihn nie hier weg.» Er blies die Backen auf und stieß die Luft aus. «Wir könnten doch einfach den zerlumpten Umhang abschneiden und ihn den Männern des Königs schicken, sollen die sich doch darum kümmern und herausfinden, wer er war. Und wir könnten weitermachen.»
Loveday sagte nichts. Er verstand den Frust seiner Männer. Sie waren alle hungrig, dreckig, blutverschmiert, durstig und erschöpft, noch dazu tat ihnen jeder Knochen weh. Er reichte Thorp seine Trinkflasche. Der dunkelhaarige Bogenschütze brummte ein Danke und trank gierig. Nach mehreren Schlucken spuckte er einen Mundvoll trübe Flüssigkeit aus und verzog das Gesicht.»Wasser?»
«Aye», sagte Loveday. «Was anderes wird gerade nicht ausgeteilt. Das Bier ist alle.»
Thorp zuckte resigniert mit den Schultern. «Wir sind ja bald wieder in England, Gott sei Dank. Da gibt es genug Bier.» Er schirmte die Augen gegen die Spätsommersonne ab und blickte über das Schlachtfeld. Überall fledderten Gruppen wie sie die herumliegenden Leichen und nahmen alles Brauchbare an sich, bevor die Toten an den Füßen gepackt und weggeschleift wurden, um sie in einem langgestreckten Massengrab zu bestatten. Es waren Tausende. Opfer der Schlacht vor zwei Tagen, bei einem riesigen, dichten dunkelgrünen Wald namens Crécy. Die sechs Essex Dogs hatten mitten im Getümmel gekämpft. Jetzt durchsuchten sie die Leichen und nahmen mit, was sie gebrauchen konnten.
Thorp wandte sich wieder dem toten Ritter zu und trat erneut nach ihm, allerdings nicht mehr ganz so aufgebracht. Tebbe legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. «Komm», sagte er.»Probieren wir es noch einmal. Aufgeben bringt nichts. Vielleicht hat er was Wertvolles bei sich.»
Tebbe warf sich seinen langen grauen Zopf über die Schulter, der steif war von getrocknetem Schweiß und Blut. Er griff erneut nach dem Arm des Toten. Thorp seufzte und packte das rechte Bein. Dann versuchten die beiden Männer noch einmal, den Leichnam aus dem Matsch zu hieven. Sie bogen die Knie, stemmten die Fersen in den unebenen Boden und zogen, bis die Adern an ihrer Stirn hervortraten.
Mit einem schmatzenden Geräusch begann sich der Leichnam zu bewegen. Doch sein linker Arm stand in einem seltsamen Winkel vom Körper ab, und als die Bogenschützen den Leichnam schon fast umgedreht hatten, rutschte Tebbe aus und der Tote plumpste wieder zurück in seine alte Position.
Loveday hörte schwere Schritte hinter sich und drehte sich um. Scotsman stand neben ihm. Der grimmige Riese war einer von Lovedays ältesten Kameraden und Freunden, obwohl die beiden Männer in Größe und Temperament völlig unterschiedlich waren. Trotz der Kälte stand der Schotte bis zur Taille entblößt da, sein Oberkörper war mit blauen Flecken und Schrammen übersät. Er grinste, als er den toten Ritter am Boden und die beiden keuchenden Bogenschützen daneben sah. Dann zupfte er ein paar Dreckklumpen aus seinem fettigen roten Bart und dröhnte: «Beim stinkenden Lendenschurz Christi, ihr Scheißkerle steht euch mal wieder selbst im Weg.»
Als Scotsman durch seinen Bart strich, fiel Lovedays Blick auf die Finger des Hünen, auf denen orangefarbene Härchen sprossen, und die so dick waren wie bei den meisten Männern der Daumen. An jedem einzelnen glänzten mehrere Gold- oder Silberringe. Der Schotte hatte das Schlachtfeld nach Schmuck abgegrast.
Scotsman bemerkte Lovedays Blick. Er drehte die Hände, um seine Beute ins rechte Licht zu rücken.
«Da wird ein hübsches Sümmchen rausspringen, wenn wir die in der nächsten Stadt verkaufen», sagte Loveday. «Weiß Gott, wir brauchen wirklich was, das wir nach Hause mitnehmen können.»
«Allerdings. Ich hab hier fast zwei Dutzend. Das sollte reichen, um sich in einem Hurenhaus einen schönen Winter zu machen.» Scotsman kicherte und wandte sich dann zu Tebbe und Thorp, die sich immer noch mit dem feststeckenden Ritter abmühten. «Macht mal Platz, ihr flohzerfressenen englischen Bastarde.» Die Bogenschützen traten erschöpft beiseite. Scotsman packte den Toten mit einer Hand und zog. Wenige Augenblicke später hatte er den Leichnam angehoben und auf den Rücken gedreht. «Kinderleicht», lachte er.
Hinter ihm warf Thorp entnervt die Hände hoch. «Bei den Eiern Johannes des Täufers, Scotsman. Wir ackern hier rum, und dann kommst du vorbeigeschlendert und …»
Doch als sein Blick auf den Toten fiel, verschlug es ihm die Sprache.
Am Helm des Ritters fehlte das Visier. Das hatte ihn vermutlich das Leben gekostet, dachte Loveday. Die linke Augenhöhle musste mit großer Wucht von etwas sehr Schwerem getroffen worden sein. Der Schädel des Ritters war an dieser Stelle gesplittert und eingedrückt. Um die Wunde herum war das Fleisch schwarz und aufgeplatzt. Die Stirn darüber war grotesk geschwollen und blutverschmiert.
Die rechte Gesichtshälfte dagegen war praktisch unversehrt, die Dogs kannten sie nur zu gut. Im Tod war das Gesicht noch hässlicher als im Leben, dessen Schweinsauge und die zu einem selbstgefälligen Schmollmund verzogenen Lippen konnten nur einem gehören.
«Sir Robert le Straunge», gluckste Scotsman. «Du fettes, totes Arschloch.» Er kniete sich hin und zog am Metallhandschuh des Ritters, bis er sich löste. Dann band er den weichen Lederhandschuh darunter los. An seinem starren dritten Finger trug Sir Robert einen schmalen Goldring mit einer rautenförmigen Platte, in die der Kopf eines Fabelwesens eingraviert war.
Scotsman zog den Ring ab und streifte ihn sich über den linken kleinen Finger, wo er direkt unterhalb des Gelenks saß. Er sah die Dogs an. «Was denn? Er braucht ihn bestimmt nicht mehr. Außerdem schuldet uns der Scheißkerl den Sold für vierzig Tage.»
Loveday seufzte. Das stimmte. Jeder von ihnen hatte seine Narben in sieben harten Wochen im Feld davongetragen. Sie waren bei glühender Hitze durch Frankreich marschiert, hatten an den Angriffen des Königs auf Städte und Dörfer teilgenommen, hatten ihr Leben riskiert und Freunde verloren. All das aus demselben Grund, aus dem sie alles taten: Damit ein reicher Mann sie für ihre Dienste bezahlte und sie mit einer Tasche voller Geld in ihr normales Leben zurückkehren konnten. Und nun lag der reiche Mann, der sie für die Armee des Königs rekrutiert hatte, tot zu ihren Füßen.
Loveday kratzte sich am Kinn. «Im Grunde kein großer Verlust», sagte er schließlich und bemühte sich, fröhlicher zu klingen, als er war. «Sir Robert hat uns schikaniert, wo er nur konnte. Wie auch immer, die Verpflichtung, uns für die letzten vierzig Tage zu bezahlen, ist übergegangen auf …»
Thorp vervollständigte den Satz für ihn. «Godefroi d’Harcourt?»
Loveday nickte. «Ja, Sir Godefroi.»
Betretenes Schweigen legte sich über die Gruppe.
Millstone war zu ihnen getreten und betrachtete Sir Roberts Leichnam mit verhaltenem Interesse. Schließlich sprach er, gelassen und mit dem für Kent typischen schleppenden Akzent. «Sir Godefroi hat sich vom König abgewandt und ist auf Philippes Seite zurückgekehrt. Er hat gesehen, wie sein Bruder, der auf Seiten der Franzosen kämpfte, in der Schlacht fiel, und das hat ihm das Herz gebrochen. Ich habe die Geschichte heute schon ein paarmal gehört.»
Tebbe schnaubte. «Einmal Überläufer, immer Überläufer. Er hat erst den französischen König verraten und jetzt den englischen. Eines Tages wird er den gerechten Lohn dafür bekommen.»
«Und das wird immer noch mehr sein, als wir bekommen.» Thorp spuckte aus. «Bei den Zähnen und Klauen Jesu, wir kriegen für den gesamten Feldzug keinen einzigen Penny. Die reichen Bastarde haben sich gegenseitig als Geiseln genommen und mit dem Lösegeld ein hübsches Sümmchen verdient. Und wir sitzen hier, ohne Sold, und reißen den Toten die Kleider vom Leib.»
Er hatte recht, das war Loveday klar. Nachdem Sir Robert tot und Sir Godefroi verschwunden war, bestand wenig Hoffnung für die Dogs, ihren seit Wochen ausstehenden Sold zu bekommen. Sie würden nur noch das arg geschrumpfte Häufchen Münzen nach Hause bringen, das sie von einem Seemann namens Gombert in einer Stadt namens Caen für ihre Beute eingetauscht hatten. Und dazu dann das, was sie auf dem verlassenen Schlachtfeld fanden, bevor das Lager abgebrochen wurde und die Armee zurück zur Küste marschierte.
Loveday ließ den Blick über das mit Pfeilen, geborstenen Schilden und Leichen übersäte Schlachtfeld schweifen. Schwarze Vögel mit scharfen Schnäbeln hüpften hungrig umher. Zwanzig Schritt von den Dogs entfernt hackte eine Krähe am Augapfel eines toten Armbrustschützen herum.
Die Enttäuschung seiner Männer machte Loveday zu schaffen. Er räusperte sich, um etwas zu sagen, doch Millstone war schneller. «Was soll’s, an die Arbeit! Wir leben noch. Und sollten einsammeln, was wir in die Finger kriegen, so wertlos es auch scheinen mag, und alles auf unseren Karren laden. Die Händler und Lumpensammler tauchen sicher bald auf.»
Scotsman grunzte. «Wo ist überhaupt der verdammte Karren?»
Millstone zeigte zur Straße, wo vor der Schlacht alle möglichen Karren und Wagen zusammengezogen und auf die Seite gekippt worden waren, um einen Wall gegen den Angriff der Franzosen zu bilden. Die meisten waren inzwischen wieder aufgerichtet und von englischen Trupps mit Beschlag belegt worden. Loveday entdeckte Romford, das jüngste Mitglied der Dogs, auf einem Karren.
Der Junge wirkte blass und dünn. Seine Wangenknochen traten hervor und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er trug einen Waffenrock, den er von Prinz Edward, dem sechzehnjährigen Sohn des Königs, erhalten hatte, als er ihm für kurze Zeit als Knappe gedient hatte. Doch jetzt war der grün-weiße Stoff zerrissen und verdreckt und kaum noch wiederzuerkennen. Romford baumelte mit den Beinen und starrte auf den Boden, als suchte er etwas. Seine Oberlippe war aufgeplatzt und blutverkrustet. Doch seine blonden Locken glühten golden in der Nachmittagssonne. Als er spürte, dass die Dogs über ihn redeten, sah Romford auf und winkte schüchtern.
Loveday winkte zurück. Scotsman schüttelte den Kopf. «Mit dem stimmt was nicht», sagte er.
Loveday ignorierte ihn und drehte sich wieder zu dem toten Ritter. «Sollen wir Sir Robert begraben?»
Scotsman sah ihn an, als wäre er nicht mehr ganz richtig im Kopf. «Soll das ein verdammter Witz sein? Lass ihn für die Krähen liegen.»
Bei Sonnenuntergang hatten die Dogs ihren Karren voll beladen und die ersten Händler trudelten ein. Manche wollten einfach die günstige Gelegenheit nutzen – Bauern, die die Straße am Waldrand entlang gewandert waren, um mit den siegreichen Engländern Geschäfte zu machen. Andere waren Handwerker aus den umliegenden Städten. Die jungen Gehilfen der Waffenschmiede zahlten winzige Silbermünzen für ganze Säcke voller gebrauchter Pfeilspitzen und Hufeisen. Abdecker feilschten um tote Pferde und Esel und zogen ihnen eilig das Fell ab, bevor sie mit den nassen und blutigen Häuten über der Schulter davontrotteten, als spielten sie in einem Theaterstück mit.
Die geschäftstüchtigeren Händler bauten zu zweit oder zu dritt provisorische Stände auf, riefen ihre Angebote über das Feld und schickten ihre Gehilfen aus, um das Geschäft anzukurbeln. Die einen kauften Sättel und Zaumzeug, die anderen Streitkolben und Schwerter. An einigen Ständen bildeten sich Schlangen – besonders dort, wo die Händler kostenlos Wein verteilten.
«Was ist das für ein Akzent?», fragte Romford Loveday. «Wo kommen die her?»
Millstone, der auf der anderen Seite des hoch beladenen Karrens stand, gab die Antwort.
«Flamen.» Er zog die Nase kraus.
«Was ist mit denen?», fragte Romford.
Der Steinmetz brummte nur.
«Das sind gottlose, pockennarbige Hurensöhne, die lügen, betrügen und dich übers Ohr hauen», sagte Tebbe. «Und das sind noch die Nettesten.»
Romford gab sich mit der Antwort zufrieden. Er stand auf und streckte sich. «Flamen», wiederholte er, als ob er das Wort noch nie gehört hätte. Dann sagte er: «Ich hole Holz für unser Feuer heute Abend.» Er verschwand Richtung Wald.
Loveday sah ihm nach. Der Feldzug hatte den Jungen verändert. Er hatte Dinge gesehen, die man nicht so schnell vergaß. Der rundbäuchige Anführer der Dogs mit dem schütteren Haar verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, wie so oft, wenn er an Romford dachte. Und wie immer versuchte er, sie abzutun.
Er ist hierher gekommen, weil er es wollte. Genau wie wir alle.
Nachdem Romford gegangen war, näherte sich ein junger Flame, nicht viel älter als der Junge, dem Karren der Dogs. Mittlerweile stand die Sonne schon sehr tief. Beißender Holzrauch zog über das Schlachtfeld. Loveday spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Zum ersten Mal in diesem Sommer lag abends ein eisig kalter Hauch in der Luft.
Der Junge ging ohne Scheu auf die Dogs zu und sprach sie auf Englisch an, allerdings mit einem deutlichen Akzent. «Was habt Ihr zu verkaufen?»
Loveday blickte auf das Durcheinander im Karren. «Waffen», sagte er. «Hauptsächlich. Brustharnische, einige noch in gutem Zustand. Zwei oder drei Kettenhemden, die man leicht reparieren kann. Ein paar Armbrüste, die sich noch spannen lassen. Genuesische, glaube ich. Eine Pike. Muss ein bisschen …»
Der Junge lachte hämisch. Loveday spürte eine plötzliche Anspannung bei Scotsman und den Bogenschützen.
«Was ist daran so komisch?», fragte Scotsman. «Bei der Heiligen Mutter Gottes in ihrem verdammten Dornenwald, unsere Sachen sind so gut wie die von jedem anderen Bastard, der hier an dich verkaufen will.»
Der Junge hob entschuldigend die Hände. «Eure Sachen sind bestimmt gut. Aber wir können dafür nicht zahlen. Ihr habt das Edikt des Königs gehört.»
Immer noch lächelnd sah er sie nacheinander an, offensichtlich machte es ihm Spaß, etwas zu wissen, wovon sie keine Ahnung hatten. «Ihr habt es noch nicht gehört? Euer König hat gesagt, es sind genug Rüstungen und Waffen weggekommen. Ab jetzt ist der Verkauf verboten. Er glaubt, wir verkaufen die Sachen an die Franzosen weiter. Was wir natürlich auch tun.» Er lachte. «Die Männer eures Königs verbrennen alles und schmelzen die Waffen ein. Man kann die Feuer schon riechen.»
Tebbe schüttelte den Kopf. «Bei den Gedärmen Gottes, das glaube ich dir nicht. Meine Alte daheim erwartet, dass ich wenigstens ein paar verdammte Schillinge mitbringe. Jetzt sag uns endlich deinen Preis oder hau ab.» Doch die Dogs konnten bereits die Holzkohlenfeuer und den beißenden Gestank von geschmolzenem Metall riechen.
Der Junge wollte gerade etwas erwidern, als im rauchigen Dämmerlicht plötzlich ein hochgewachsener, breitschultriger Ritter mit langen braunen Haaren auftauchte. Er trug die Farben von William de Bohun, des Grafen von Northampton und Constable der englischen Armee. Beim Anblick des Ritters wirkte der Junge bei Weitem nicht mehr so keck. Unschlüssig blickte er sich um und schien zu überlegen, ob er weglaufen sollte.
Der Ritter nahm ihm die Entscheidung ab. Mit zwei langen Schritten war er bei den Dogs und packte den Jungen noch aus der Bewegung heraus am Kragen. Der Junge schrie auf und wand sich.
«Sir Denis», sagte Loveday und nickte zum Gruß.
Sir Denis of Moreton-on-the-Weald lächelte. Lachfältchen bündelten sich in seinen Augenwinkeln, doch sein Blick war hart und unnachgiebig. Er schüttelte die langen Haare, die immer noch seltsam sauber waren und glänzten. «Die Essex Dogs», sagte er mit einer leichten Verbeugung. «Macht euch der kleine Gauner Probleme?»
Loveday straffte die Schultern und versuchte, Sir Denis’ gerade Haltung nachzuahmen. «Nein, Sir Denis. Er … wir hatten gehofft, mit der Beute aus der Schlacht ein bisschen was zu verdienen.»
Der Junge zappelte erneut. Sir Denis schüttelte ihn wie einen Welpen. Dabei lächelte er Loveday höflich an, damit der weiterredete.
«Wir waren … wir hatten ein bisschen Pech», erklärte Loveday. Er faselte wirres Zeug, das war ihm bewusst. «Sir Robert … Sir Godefroi … Wir hoffen, vor unserer Rückkehr nach England …»
Sir Denis nickte. «Wir zerstören die Rüstungen und Waffen jetzt. Wir verkaufen sie nicht.»
«Und was, wenn wir sie trotzdem verkaufen?», knurrte Scotsman.
«Ich denke, das wisst ihr.»
Sir Denis ließ den Jungen los, der sich wütend den Nacken rieb, aber sich nicht traute wegzulaufen.
«Ihr könnt die Sachen, die ihr eingesammelt habt, morgen früh zum Schmied bringen», sagte der Ritter. «Der König wird euch einen Penny pro Stück zahlen.» Er schwieg kurz. «Aber ich würde darauf keine Zeit verschwenden. Wenn ihr richtig bezahlt werden wollt, solltet ihr euch an meinen Herrn wenden, an Lord Northampton. Ich denke, er wird sich an euch erinnern.» Er lachte. «Nicht alle von uns werden nach England zurückkehren», fügte er mit einem Zwinkern hinzu. «Aber das habt ihr nicht von mir.»
«Nicht zurück…?», protestierte Thorp, doch in dem Moment tauchte Romford, leise vor sich hin pfeifend, mit zwei großen Ästen auf, die er hinter sich herzog. «Feuerholz», sagte er, als ob es eine Erklärung brauchte.
Sir Denis musterte Romford und schien zu überlegen, wo er ihn einordnen sollte. «Ich kenne dich», sagte er nachdenklich, wandte sich dann aber wieder an Loveday. «Überlegt es euch.»
«Und du», sagte er und drehte dem flämischen Jungen mit Daumen und Zeigefinger das Ohr herum, «hau ab.» Er faltete seine Hände wie zum Gebet und deutete mit ihnen in Richtung der Dogs, dann ging er davon.
Der junge Flame schaute dem Ritter finster nach und wollte sich ebenfalls davonmachen.
Scotsman rief ihn zurück. «He, Junge! Kaufst du Ringe?» Er hob die rechte Hand und krümmte seine beringten Finger.
Der Junge wandte sich um, schob die Hand in sein weites Leinenhemd und zog eine dicke Kordel hervor, die er sich um den Hals gebunden hatte. Daran hingen mindestens vierzig Ringe, besetzt mit Onyx und Edelsteinen, Smaragden und Rubinen. Er nahm die Kordel vom Hals und wickelte sie um seinen Zeigefinger, so dass die Ringe gegeneinander klimperten.
«Wisst ihr, wie viele Edelleute hier gestorben sind?», rief er.
Er legte sich die Kordel wieder um den Hals und ließ sie dann unter seinem Hemd verschwinden. «Heute hat jeder einen Rink.»
Scotsman ließ die Schultern hängen und sagte nichts mehr. Loveday klopfte ihm so aufmunternd wie möglich auf den Rücken. Die Dogs schauten sich um, überall lagen Tote und türmten sich die eingesammelten Habseligkeiten. Dicker Rauch von den Schmelzöfen waberte in Schwaden über das Schlachtfeld. Es wurde dunkel. Der flämische Junge sprang davon und streckte ihnen im Weggehen noch die Zunge heraus. Bevor er zwanzig Schritt entfernt war, hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Wir haben große Schwierigkeiten, uns von dem zu ernähren, was das Land hergibt – zum großen Schaden unserer Männer … Mittlerweile ist die Not so groß, dass die Auffrischung unserer Vorräte in mehreren Partien erfolgen muss …
Brief eines königlichen Schreibers nach England, September 1346
Romford half Millstone, aus dem Holz, das er im Wald gesammelt hatte, ein Feuer für die Nacht zu machen. Die Dogs saßen im Kreis um die Flammen und sahen zu, wie die Dunkelheit hernieder sank. Sie verzehrten ein karges Abendessen aus grobkörnigem Brot, dem es an Hefe fehlte, dazu Scotsman üblichen faden Brei. Sie waren alle sehr müde. Scotsman und die Bogenschützen Tebbe und Thorp schimpften, weil die Männer des Königs kein Bier ausgeteilt hatten. «Eine verdammte Tortur ist das», stöhnte Scotsman. «Und das nach allem, was wir durchgestanden haben.» Loveday versuchte sie zu beschwichtigen, doch sie wollten nicht auf ihn hören.
Und so murrten die Dogs entweder vor sich hin oder unterhielten sich über Belanglosigkeiten, während das Feuer knackte und am Himmel mal Wolken, mal Sterne zu sehen waren. Sie redeten über die kühle Nacht, darüber, ob es am nächsten Tag regnen oder die Sonne scheinen würde und wann sie wohl das Lager abbauen würden. Gelegentlich sprachen sie auch über ihr Zuhause, das sie bisher noch nie erwähnt hatten, zumindest hatte Romford nichts davon mitbekommen. Tebbe und Thorp redeten von Frauen, die auf sie warteten. Scotsman von den Schenken, die er vermisste.
Keiner von ihnen sprach über seine Taten in der Schlacht. Die Euphorie des Kampfes war längst erloschen. Es fiel ihnen sogar schwer, sich an einzelne Ereignisse zu erinnern. Romford versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was er gefühlt und gesehen hatte, doch die Bilder kamen nur bruchstückhaft zurück. Er wusste, dass er eine Zeit lang zwischen Füßen und Hufen über den Boden gekrochen war. Und dass er von einem ohrenbetäubenden Geschützdonner fast taub geworden wäre und danach Qualmwolken über dem Schlachtfeld gehangen hatten, die nach faulen Eiern stanken. Er erinnerte sich, wie er einen Pfeil durch den stinkenden Rauch geschossen hatte. Er hatte wieder den Geruch von Pisse und Pferdedung in der Nase. Dreck und Staub hatten in Hals und Nase gekratzt. Seine Lippe war nach einem Stiefeltritt aufgeplatzt. Mit brennenden Augen hatte er in die Augen von Sterbenden und Toten geblickt.
Aber er brachte das alles nicht zu einer schlüssigen Geschichte zusammen. Und er brachte auch die Erregung und den Schrecken der jüngsten Zeit nicht mehr in einen Zusammenhang mit dem, was er jetzt empfand, obwohl er doch auf demselben Boden lag, auf dem das alles stattgefunden hatte. Er wusste nicht, ob das vielleicht normal war. Im Unterschied zu den anderen Dogs war Romford zuvor noch nie im Krieg gewesen. Endeten alle Feldzüge so? So traurig und elend? Damals, als sein Vater und Bruder ihn durch die Schenken Londons geschleppt hatten, hatte er alte Soldaten vom Krieg erzählen hören. In ihren Schilderungen war der Krieg ein heldenhaftes Abenteuer gewesen, das voller Ruhm oder im unheimlichen Mysterium des Todes endete. Doch sein Vater war nicht mehr da, er war gehängt worden. Sein Bruder war verschwunden und nach allem, was so geredet wurde, war er wohl ebenfalls tot. Und er, Romford, saß jetzt hier mit seinen Kameraden, bestahl die Toten und redete über das Wetter.
Um sich abzulenken, griff er in seine Pfeiltasche.
Als er im Wald nach Feuerholz gesucht hatte, hatte er in einem Haufen verrottender Eichenrinde etwas Interessantes gefunden. Etwas, das auf den ersten Blick wie Schimmel wirkte – einen Pilz mit einem flachen, blassen Schirm in der Farbe ausgedörrter Knochen auf dickem, braunem Stiel. Er kannte ihn aus den schmuddeligen Schenken seiner Jugend. Die Männer hatten ihm verschiedene Namen gegeben: Manche nannten ihn Kahlkopf oder Narrenschimmel. Die Gottlosen nannten ihn Leib Christi oder Hostie. Aber alle hatten erzählt, dass der Pilz die Grenze zwischen Traum und Wachen verschwimmen ließ. Romford hatte ihn nie probiert, doch ein zwielichtiger Freund seines Vaters, dessen spitze Nase und gesträubter Schnurrbart an eine Themseratte erinnerten, hatte gesagt, er offenbare, wo die Engel und die Heiligen unter uns Menschen wandelten.
All dies ließ Romford sich durch den Kopf gehen. Es war schon ziemlich lange her, dass er etwas von dem bewusstseinsverändernden Pulver genommen hatte, das er früher regelmäßig in Apotheken gestohlen hatte. Er wusste nicht, wann er wieder an welches herankommen würde. Und diese Pilze waren so zahlreich auf der Eichenrinde gewachsen, dass er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte.
Also hatte er seine Pfeiltasche zur Hälfte damit gefüllt. Jetzt schob er sich ein paar Stücke des weichen Fleischs in den Mund und kaute. Es schmeckte nach nicht viel.
Und leider passierte auch nicht viel. Romford war daran gewöhnt, dass das von Apothekern hergestellte Pulver innerhalb weniger Augenblicke wirkte, es betäubte den Mund und lullte das Gehirn ein. Der Pilz tat das nicht. Zwar glaubte Romford, dass die Flammen ein bisschen heller tanzten, als er sich zu den Dogs setzte, die ihren pappigen Brei löffelten. Aber das war es auch schon.
Er befürchtete kurz, dass er womöglich den falschen Pilz mitgenommen hatte. Dass er etwas gegessen hatte, wovon ihm speiübel werden würde. Doch er spürte keine Übelkeit. Also zog er sich seine dünne Wolldecke fest um Rücken und Schultern, legte sich nah ans Feuer und schlief ein.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Leise Stimmen neben der glimmenden Glut hatten ihn geweckt. Er versuchte, sich möglichst nicht zu rühren, damit niemand merkte, dass er wach war. Er lag ganz still und lauschte.
«Erzähl noch mal, was du gesehen hast.»
Loveday sprach leise, als ob er fürchtete, belauscht zu werden.
Romford hörte Scotsman schnauben. «Beim verdammten Jesus am Kreuz, Loveday, wie oft willst du das noch durchkauen? Er war unterwegs, um Hugh Hastings’ Bande zu finden, er kam bis zu diesem Scheißloch, diesem Hafen in der Nähe von Flandern, er sah …»
«Ganz so war es nicht.» Das war Millstones ruhige Stimme.
«Ach verdammt, ist doch egal, ob es nun ganz so oder anders war. Komm schon, Loveday. Du hast das doch alles schon zigmal gehört. Vielleicht hat er den Captain gesehen. Aber wahrscheinlich war es einfach jemand, der ihm ähnlich sah. Er weiß es nicht sicher. Und soweit wir wissen, ist der falsche Hund doch sowieso tot und schmort in der Hölle, wo er kriegt, was er verdient. Es gibt keinen Grund, jetzt plötzlich anders darüber zu denken.»
«Er war es», sagte Millstone bestimmt. «Ich weiß es.»
Scotsman schnaubte erneut. «Und wenn? Er hat uns alle beschissen. Warum sollte es uns überhaupt kümmern, ob er lebt oder tot ist?» Er spuckte aus. «Falls ich ihn noch einmal sehe, wird er sich jedenfalls wünschen, er wäre tot. Bei Gott, haben wir wirklich überhaupt nichts zu trinken?»
Tebbe furzte im Schlaf. Er stöhnte erleichtert, drehte sich um und begann zu schnarchen.
«Sobald wir losmarschieren, wird es auch wieder was zu trinken geben», sagte Loveday. «Morgen geht es in Richtung Küste. Dort gibt es Schiffe und Seeleute. Und wo Seeleute sind …» Er brach ab. Und ließ Scotsmans Frage unbeantwortet. «Bitte, Millstone, erzähl’s mir nur noch einmal.»
Mit einem entnervten Seufzer wandte sich Scotsman ab und legte sich schlafen. Wenige Augenblicke später schnarchte auch er.
Millstone seufzte ebenfalls. «Es war nicht ganz so. Es war nach Saint-Lô und … allem, was dort passiert ist.»
Romford schauderte unter seiner Decke. Er erinnerte sich nur zu gut an Saint-Lô. Millstone hatte ihm dort in einer Apotheke das Leben gerettet, hatte ihn vor Shaw gerettet, dem Anführer eines wüsten Trupps aus East-Anglia, der den Dogs auf dem ersten Teil des Marsches zugesetzt hatte. Millstone hatte Shaw den Schädel mit seinem Hammer eingeschlagen. Sein ekliges Hirn war über den Boden gespritzt. Romford hatte dem stillen, starken Steinmetz sein Leben zu verdanken. Aber er wusste auch, dass alle Dogs dafür hatten büßen müssen. Er selbst, indem er als Knappe in den Dienst des Prinzen befohlen wurde, der ihn zunächst freundlich, dann grausam behandelt und ihm schließlich das Herz gebrochen hatte. Millstone, indem er vor Sir Roberts Rache fliehen musste. Und Father … Father war tot. War von einem verrückten Bischof von einem Turm gestürzt worden. Romford sah den alten Priester wieder vor sich, wie er wie ein Affe auf dem Boden der Apotheke kauerte. Das Bild wirkte so lebendig, dass Romford zurückzuckte. Als ob Father wirklich wieder hier wäre. Mit diesem irren Gesichtsausdruck, Blut lief ihm zwischen bröckligen braunen Zähnen aus dem Mund. Father sah ihm in die Augen und knurrte. Romford schüttelte den Kopf und Father verschwand. Romford hörte weiter zu.
«Nach Saint-Lô …», sagte Loveday gerade.
Millstone räusperte sich. «Ich war auf dem Weg zurück zur Küste. Ich hielt mich abseits der Straßen und ging nach Norden. Wenn ich in eine Stadt kam, hielt ich mich an den Hafen, wo ganz unterschiedliche Leute unterwegs waren – Franzosen, Italiener … und viele Flamen. Meistens Händler und Kaufleute, die aus dem Krieg Profit schlagen wollten. Es wurde viel über eine weitere Armee geredet, die angeblich im Anmarsch war. Eine der unsrigen. Aus dem Norden. Und von Schiffen, die noch mehr Soldaten bringen sollten. Das Problem war nur, dass niemand wusste, in welchem Hafen die Truppen an Land gehen würden.
Ich wollte einfach nur nach Hause. Also fragte ich an den üblichen Plätzen, wer das arrangieren könnte. Aber die Leute sagten, die englischen Häfen seien alle geschlossen, außer fürs Militär. Aber einen Mann gebe es, der so was in die Wege leiten könnte. Er hatte alle möglichen Namen. Der Brandnarbige. Der Zerbrochene. Der Krüppel.
Es hieß, er wäre in einer Stadt namens Calais. Oder einem Ort namens Crotoy. Oder dass er nach Gent gegangen sei, um Rache zu nehmen an demjenigen, der ihn verstümmelt hatte. Ich hörte einiges über ihn, das nicht zusammenpasste. Ich hatte das Gefühl, dass es gefährlich war, wenn man zu viel fragte. Also hörte ich auf zu suchen. Stattdessen machte ich mich auf die Suche nach der anderen Armee.»
Loveday hörte aufmerksam zu und schwieg. Romford bewegte sich, gab sich aber Mühe, dass es so aussah, als drehte er sich nur im Schlaf um. Er öffnete vorsichtig sein rechtes Auge und konnte durch den schmalen Spalt Lovedays Gesicht sehen, gespenstisch beleuchtet von der orangefarbenen Glut des Lagerfeuers. Romford schloss das Auge wieder. Das Gesicht wellte und verzerrte sich kurz, dann verschwand es.
Millstone fuhr fort. «Ich war unterwegs auf der Straße, die von der Küste hierherführt, als ich ihn sah. Da war eine Gruppe von Kaufleuten, drei oder vier. Sie hatten angehalten und ließen ihre Pferde am Straßenrand grasen. Sie hatten Fuhrwerke mit Käfigen drauf – in die man die Verurteilten steckt, wenn sie zum Galgen gebracht werden, du weißt, was ich meine?»
«Ja.»
«Gut. Also, ich hätte gar nicht auf sie geachtet, aber in ihrer Nähe sah ich einen Krüppel. Anscheinend folgte er ihnen. Als ob er etwas von ihnen haben wollte. Oder etwas erfahren. Er bewegte sich irgendwie komisch. Du weißt schon, wie auf einem Schiff?»
Romford verstand, was Millstone meinte. Obwohl er auf dem Boden lag, hatte er das Gefühl, er wäre wieder auf der Saintmarie, der Kogge, die sie vor vielen Wochen an die französische Küste gebracht hatte. Und die hin und her geschwankt hatte, so dass die Männer an Bord ganz steifbeinig unterwegs gewesen waren. Ihm wurde schlecht, genau wie auf dem Schiff.
Millstone redete weiter. «Wie auch immer, ich hielt mich hinter der Hecke versteckt, wollte kein Risiko eingehen. Blieb auch auf der anderen Seite der Straße. Aber ich habe ihn gesehen. Da war etwas in seinem Gesicht. Dieser Ausdruck. Weißt du noch, wie wir früher immer sagten, was für ein gut aussehender Kerl er sei? Und wie stolz er darauf war?»
«O ja.»
«Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, sah mich aber direkt an. Da wusste ich es. Es waren seine Augen. Er war natürlich älter …»
«Es ist jetzt über zwei Jahre her, wenn nicht noch länger.»
«Ja, aber er wirkte viel älter. Wie jemand aus einer anderen Zeit. Ganz grau … Seine Haut dagegen war rot und voller Blasen. Und sein Bein … Ich konnte es nicht genau sehen, aber ich glaube, das war nicht sein eigenes, sondern aus einem Tierknochen gemacht oder aus Holz. Er muss harte Zeiten hinter sich haben. Aber seine Augen …»
«Hat er dich erkannt?»
«Ich glaube nicht. Aber ich weiß es nicht.»
Während Romford im Dunkeln lag, formte sich aus der Schwärze ein Bild des Mannes, den Millstone Loveday eben beschrieben hatte. Das Gesicht war noch verstörender als das von Father, obwohl er es noch nie gesehen hatte. Es machte ihm Angst. Romford keuchte und schlug die Augen auf. Das Gesicht verschmolz mit der ersterbenden Glut des Feuers.
Er setzte sich auf.
Loveday und Millstone starrten ihn an.
«Schlecht geträumt, Junge?», fragte Millstone.
Romford wusste nicht, was er antworten sollte. Er schüttelte den Kopf. Hinter den beiden Dogs standen noch die Sterne am Himmel. Jeder Stern strahlte in einem unvorstellbar hellen Glanz. Als ob es keine Sterne wären, sondern Engel mit flammenden Schwertern, die allein auf ihn gerichtet waren. Mit der Hand versuchte er sich vor ihnen zu schützen.
«Ist dir nicht gut?», fragte Loveday.
«Nein … ich meine … ich habe was Komisches gegessen», sagte Romford. Seine Stimme dehnte sich wie eine Geigensaite, die sich erst spannte und dann löste. Er hickste. Seine aufgeplatzte Lippe schmerzte.
Vom Feuer her zischte Thorp: «Bei den Gebeinen aller Heiligen, könnt ihr mal euer verdammtes Maul halten? Ihr seid schlimmer als meine Alte daheim. Ich versuche zu schlafen.»
«Schlaf weiter», sagte Millstone zu Romford. Und dann zu Loveday: «Wenn ich’s dir sage, so war’s. Ich weiß, das ist nicht viel. Aber es hat gereicht.»
«Was hat er gesagt, als er uns verlassen hat?»
Loveday holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
«Er sagte, wir sähen Kriege falsch. Eine neue Welt würde kommen, und wir würden uns ihr anpassen müssen. Dass es Zeit sei, unser Glück an neuen Orten zu suchen, zu unseren eigenen Bedingungen. Damit meinte er: Jeder für sich allein.»
«Aye», sagte Millstone. «Und was noch?»
«Er sagte, wir müssten uns ändern. Sonst würde die Welt über uns hereinbrechen und uns ändern.»
Millstone nickte. «Tja, er hat sich verändert. Und wir?»
Romford hielt sich am Boden fest, weil er das Gefühl hatte, die Erde würde sich heben und senken und ihn jeden Moment abwerfen. Millstone spürte, dass er noch wach war. «Schlaf, Junge», sagte er. «Du musst dir über all dies nicht den Kopf zerbrechen. Wir reden nur über einen alten Freund.»
«Einen alten Freund», wiederholte Romford und versuchte, genau wie Millstone zu klingen. «Wir reden über einen alten Freund.» Er sah zur Seite. Father saß neben ihm.
«Reib über mein Zahnfleisch, Junge», sagte er und öffnete den Mund. Sein Unterkiefer hing runter und brach ab. Er fiel ins Feuer, als ob ihn die hungrigen Flammen angezogen hätten, und verbrannte sofort.
Father verschwand.
Millstones Stimme klang nun härter und hallte über die Wiese, dröhnte wie das seltsame Geschütz auf dem Schlachtfeld.
«Schlaf Junge, Junge schlaf, schlaf schlaf Junge», sagte er.
Romford schreckte zusammen, schrie auf und krümmte sich unter seiner Decke, zog sie sich über den Kopf und rollte sich zusammen.
«Lass ihn», hörte er Loveday sagen. Romford kniff die Augen so fest zusammen, wie er konnte, und hielt den Atem an. Schon bald war alles schwarz und still. Traumbilder kamen. Er lag in einem warmen Zelt und drückte sich an den Rücken des Prinzen. Hoch oben unter der Zeltplane schlug ein Vogel mit den Flügeln. Er sah Father und Pismire, sie waren wieder lebendig und lachten über irgendeinen alten Witz. Er sah die Frau, der sie in einer Stadt namens Valognes begegnet waren, ihre dunklen Augen blickten hin und her, während sie ein Messer schärfte. Er hörte die rauchenden Waffen donnern.
Er sah Erhängte, denen die Augen aus den Höhlen quollen, und reiche Männer bei einem Bankett, die sich Essen in den Mund stopften und Berge von Münzen zählten. Er sah seinen sterbenden Vater am Galgen und seinen Bruder betrunken in Southwark in der Gosse. Männer traten ihm in den Bauch und auf die Finger, weil er wieder einmal seine Spielschulden nicht bezahlt hatte. Er sah eine Frau, von der er glaubte, dass sie die Mutter sein könnte, die er nie gekannt hatte.
Und er sah noch einmal das Gesicht des Mannes, den sie den Captain nannten, den Krüppel, der Loveday und Millstone so beschäftigte und sie in ihrer Erinnerung heimsuchte. Sie alle schienen auf ihn einzureden, doch aus ihren Mündern kam eine Sprache, die Romford nicht verstand. Die er noch nicht gelernt hatte.
Ihnen zuzuhören erschöpfte ihn. Als er am Morgen aufwachte, war er so müde wie vor dem Einschlafen und bis auf die Knochen durchgefroren. Der Boden war kalt. Leichter Regen fiel aus tiefhängenden grauen Wolken.
Über ihm stand der Graf von Northampton.
Der König von England wollte sich die Zuneigung der Flamen erhalten, weil sie sich auf seine Seite gestellt hatten … und sich noch als sehr wertvoll erweisen könnten …
Chronik des Jean Froissart
Jesus auf einem dreibeinigen Esel! Die Heiligen müssen euch Jammerlappen mit sechs Narren verwechselt haben, sonst hätten sie euch nicht gerettet.»
Der Graf von Northampton war guter Laune. Er klatschte in die Hände und wärmte sie am Lagerfeuer, das die Dogs gerade wieder in Gang gebracht hatten. Es hatte den ganzen Morgen genieselt, kleine Tropfen hatten sich auf den Schultern von Northamptons pelzgesäumtem Umhang gesammelt. Loveday hatte vorgehabt, im Laufe des Tages bei ihm vorzusprechen, doch der ungeduldige Graf war ihm zuvorgekommen.
«Gott hielt es für angebracht, uns einen weiteren Tag zu schenken, Mylord», sagte Loveday. Er schmeckte Holzrauch in seiner Kehle und hustete einen aschgrauen Schleimklumpen hervor.
«Ja, die verdammten Wege des Herrn sind wahrlich unergründlich.» Northampton warf einen Blick auf seine Leibwache, Sir Denis of Moreton-on-the-Weald und Sir Adrian, einen schlanken Mann mit eindringlicher Ausstrahlung, dunklem Teint und kurz geschnittenen graumelierten Haaren. Die beiden Ritter hielten sich im Hintergrund und taten so, als ob sie nicht zuhören würden. «Lernen wir das nicht aus der Bibel, Männer?»
«Gesprochen wie ein Priester, Mylord», sagte Sir Denis.
Northampton gab ein Schnaufen statt eines Lachens von sich und musterte die Dogs mit zusammengekniffenen Augen. «Ihr wart früher mehr.»
Loveday nickte betrübt. Sie hatten nicht nur Pismire und Father verloren. Zu Beginn des Feldzugs hatten auch noch zwei walisische Bogenschützen zu ihrem Trupp gehört – zwei Brüder namens Darys und Lyntyn. Doch sie hatten die Dogs schon vor vielen Wochen verlassen und waren vermutlich auf eigene Faust irgendwo in Frankreich unterwegs. Mit einem Husten sagte er zu Northampton: «Jawohl, Sir. Wenn Ihr Euch erinnert …»
«FitzTalbot, ich erinnere mich nicht einmal, wann ich das letzte Mal mit einem Dach über dem Kopf geschissen habe! Aber ich bin ja nicht blind. Ich sehe, dass euch Männer fehlen. Habt ihr sie in der Schlacht verloren oder schon davor?»
«Davor, Mylord.»
«Gut.» Northampton kratzte sich am Kinn, die dichten Bartstoppeln waren vor Kurzem gestutzt worden. Er bemerkte Romford, der auf dem Boden vor ihm lag und gerade wach wurde. Er stieß ihn mit der Spitze seines Lederstiefels an.
«Aufstehen, Junge.»
Romford rappelte sich mit einem verwirrten Blinzeln hastig auf. Er huschte aus der Reichweite des Grafen, stellte sich neben die anderen Dogs und zog gegen den Nieselregen seine zerlumpte Decke enger um die Schultern. Loveday musterte ihn besorgt. Der Junge hatte in irgendeiner seltsamen Traumsprache die ganze Nacht im Schlaf gebrabbelt.
Northampton ließ ihn in Ruhe. «Habt ihr in der Schlacht irgendwelche Gefangenen gemacht?»
Loveday sah ihn verblüfft an. «Nein, Mylord. Wir …»
«Dann wärt ihr auch gar nicht mehr hier, stimmt’s? Ihr wärt unterwegs und würdet sie an die verdammten Lösegeld-Erpresser verkaufen.» Northampton hielt inne und überlegte. «Tja, dann müssen wir euch wohl mit einem anderen Trupp zusammenwerfen», sagte er schließlich. «Zu sechst seid ihr zu nichts nutze.»
Loveday spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. «Mit einem anderen Trupp? Wir dachten, wir könnten nach Hause …»
«Nach Hause?» Northampton gab ein bellendes Lachen von sich. «Klar, das wäre schön, was, FitzTalbot? Ich würde auch gern nach Hause fahren. Meine Frau küssen, es mit meiner Geliebten treiben. Aber falls es euch noch nicht aufgefallen ist: Wir haben gerade den höchsten Sieg über die Franzosen errungen, seit der Sultan und seine Kameltreiber dem heiligen Louis den Hintern versohlt und ihn mit Ruhr und Sackläusen heim zu seiner Mutter geschickt haben.»
Loveday hatte nur eine sehr vage Vorstellung davon, was Northampton meinte. Doch der Graf merkte es nicht oder es war ihm egal. Er strich sich mit den Daumen das Regenwasser aus den Augenbrauen und schnipste es weg. «Die gute Nachricht lautet, falls es euch interessiert, dass wir zur Küste ziehen. Das ist dann ja schon fast zu Hause, würde ich sagen – vermutlich so nahe an England, dass man den Nachtwächter von Dover Castle hören kann, wenn der Wind günstig steht. Und wenn wir richtig Glück haben, bekommen wir auch endlich unseren verdammten Nachschub. Damit ihr etwas anderes als diesen Fraß bekommt, und natürlich auch was Anständiges zu trinken.»
Der Graf trat gegen eine Holzschale der Dogs mit den Überresten des letzten Abendessens. Der zähe Brei lief nicht aus, sondern blieb an den Seiten kleben.
«Und falls euch nicht die Beine abgehackt wurden oder ihr eure Eingeweide in einem Ledersäckchen mit euch herumtragt, befiehlt euch der König höflich, hier zu bleiben. Er will zu Ende bringen, was wir angefangen haben. Was bedeutet, dass wir eine befestigte Hafenstadt an der Küste einnehmen und daraus ein kleines Stück England machen werden. Es gibt also noch viel zu tun.» Northampton stützte die Hände auf die Hüften. «Noch Fragen?»
«Warum?», sagte Millstone.
Northampton runzelte die Stirn. «Warum was?»
Millstones Gesicht blieb unbewegt. «Wir haben gewonnen. Warum dann das noch?»
«Warum? Wollt ihr die wahre Antwort hören? Weil mein Herr, der König, etwa einen halben Tagesritt von hier in einem Herrenhaus hockt, belagert von Kaufleuten und Bankiers, die ihm das Ohr abkauen. Ihnen gefällt die Idee, eine sichere englische Hafenstadt auf dieser Seite des Kanals zu haben. Und offen gesagt kann er es sich nicht leisten, ihnen zu widersprechen. Wir stecken bis über beide Ohren in Schulden, jedem beschissenen Geldverleiher zwischen hier und der Tatarei schulden wir ein Vermögen.»
«Wo liegt die Tatarei?», fragte Scotsman.
«Da, wo die Tataren wohnen», schnauzte Northampton. «Noch mehr blöde Fragen?»
Die Dogs sagten nichts mehr.
«Gut. Also, ich will Folgendes von euch. Während die Armee zu besagter Hafenstadt marschiert, muss ich ein paar Orte, die unseren Feinden als Schlupflöcher dienen könnten, dem Erdboden gleichmachen. Ihr und noch ein paar andere Männer sollt tun, was dafür nötig ist. Wenn ihr mir gute Dienste leistet, werde ich für die vierzig Tage Sold aufkommen, die euch für den bisherigen Feldzug zustehen, und ich werde sogar noch ein bisschen was drauflegen, weil ich weiß, dass ihr es bitter nötig habt. Ich sehe ja, dass ihr von den letzten sechs Wochen nicht viel mehr gehabt habt als Blasen am Hintern. – Na, wie klingt das? Nein, sagt’s mir lieber nicht. Sagt einfach ‹Vielen Dank, Lord Northampton›.»
«Mylord», begann Loveday, «Ich frage mich …»