Wir brauchen nur uns - Estella Marie Schimpf - E-Book

Wir brauchen nur uns E-Book

Estella Marie Schimpf

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Vaters kehrt die junge Lia in ihre Heimatstadt zurück. Als alleinerziehende Mutter zieht sie in ihre erste eigene Wohnung und wird mit einem großen Familiengeheimnis konfrontiert. Während Lia vormittags die Schule besucht und sich nachmittags um ihren Sohn Ben kümmert, versucht sie herauszufinden, ob der Kindsvater noch immer Gefühle für sie hat. Hat die Liebe zwischen den beiden noch eine Chance? Und kann Lia in all dem Chaos ihrem Sohn gerecht werden? Doch schon bald muss sie erfahren, dass nicht nur ihr eigenes Geheimnis zwischen ihr und ihrer großen Liebe steht ...

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Buchbeschreibung:

Nach dem Tod ihres Vaters kehrt die junge Lia in ihre Heimatstadt zurück. Als alleinerziehende Mutter zieht sie in ihre erste eigene Wohnung und wird mit einem großen Familiengeheimnis konfrontiert.

Während Lia vormittags die Schule besucht und sich nachmittags um ihren Sohn Ben kümmert, versucht sie herauszufinden, ob der Kindsvater noch immer Gefühle für sie hat. Hat die Liebe zwischen den beiden noch eine Chance? Und kann Lia in all dem Chaos ihrem Sohn gerecht werden?

Doch schon bald muss sie erfahren, dass nicht nur ihr eigenes Geheimnis zwischen ihr und ihrer großen Liebe steht ...

Über den Autor:

Estella Marie Schimpf ist eine junge Schriftstellerin, die in Sachsen-Anhalt mit ihrem Hund zu Hause ist. Ihre Bücher sollen die Leser in eine andere Welt entführen. Das Schreiben entdeckte sie bereits mit zehn Jahren und es hat sich zu einem großen Hobby entwickelt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Epilog

Prolog

Lia

„Ich weiß nicht, warum du mich all die Jahre belogen hast, Papa. Ich kann nicht glauben, dass ich von dir überhaupt nichts weiß, dabei dachte ich, wir wären ein Team. Ich vermisse unsere Gespräche übers Erwachsenwerden und ich brauche dich hier! Warum hast du nie ein Wort darüber verloren? Ich habe mich noch nie in meinem ganzen Leben so mies gefühlt wie jetzt!“

„Komm, Liebling. Das bringt doch nichts mehr, lass uns nach Hause gehen. Alina könnte jeden Augenblick Ben und Pia zurückbringen.“

Stimmt. Meine beste Freundin, die all die Jahre die Einzige gewesen war, die mich nicht einmal im Stich gelassen hatte. Familiengeheimnisse waren schmerzhaft. Das hatte ich in all den Jahren gelernt. Ich verstand nicht, warum meine Familie so lange gelogen hatte. Aaron war geduldig und wartete, bis ich mich verabschiedet hatte. Dann liefen wir zurück nach Hause. Der Weg dorthin ließ mich nachdenken, was in den letzten Jahren geschehen war. Ich hätte niemals gedacht, dass ein einziger Satz mein Leben für immer verändern würde.

Der Tag war anstrengend gewesen und ich ging zeitig zu Bett. Ich dachte darüber nach, wie alles angefangen hatte und wie ich die letzten achtundzwanzig Jahre trotz all der Umstände überstanden hatte.

Kapitel 1

Zehn Jahre zuvor

Lia

Der Regen prasselte gegen die Scheibe des Zuges. Mein Sohn Ben schlief seelenruhig in seinem Kinderwagen. Ich schaute aus dem Fenster und dachte an meinen Vater. Eine Woche war vergangen, seitdem er verstorben war. Ich hatte ihn fast zwei Jahre nicht gesehen. Um meine Eltern nicht zu belasten, hatte ich bei meiner Großmutter gelebt. Dass mein Vater seinen Enkel Ben nie kennengelernt hatte, war schmerzhaft. In zwei Jahren war so viel passiert. Als ich im Augenwinkel sah, wie sich mein Sohn bewegte, drehte ich mich zu ihm. Er schlief friedlich weiter und ich schaute wieder aus dem Fenster. Etwa zwei Minuten später kündigte der Schaffner per Durchsage unseren Zielort an. Ich zog meine Jacke an, packte die kleine Wickeltasche zusammen und löste die Bremse des Kinderwagens. Dann hängte ich mir die Tasche um, schaute noch mal zu den Sitzen und prüfte, ob ich wirklich alles eingepackt hatte. Dann lief ich zur Tür. Als der Zug hielt und ich ausstieg, wurde Ben wach.

Er war wie immer quengelig und ich beruhigte ihn, indem ich ihm seine Trinkflasche gab.

Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Als ich mich umdrehte und in ihre blauen Augen sah, fing ich an zu weinen. Sie umarmte mich, ohne ein Wort zu sagen, und ihr Vanilleparfum erinnerte mich an unsere gemeinsame Zeit.

„Na, meine Liebe? Wie war die Zugfahrt?“, fragte mich meine beste Freundin Alina, die ich nur liebevoll Lina nannte.

„Ruhig. Also Ben war ruhig.“ Meine Freundin schaute in den Kinderwagen und ich wusste sofort, dass ihr Herz geschmolzen war. Sie liebte Kinder, seit ich denken konnte, und hatte schon immer angeboten, auf Ben aufzupassen. Deshalb wollte Alina unbedingt den Kinderwagen schieben, damit sie meinen Sohn regelrecht anstarren konnte. Ich trug unser Gepäck und versank in Gedanken. Ich war glücklich, dass ich in all der Zeit immer auf Alina hatte zählen können. Der Regen peitschte mir ins Gesicht und so war ich froh, als wir in meinem neuen Zuhause ankamen. Ich stellte das Gepäck in ein leeres Schlafzimmer und kochte für uns zuerst einen Kaffee. Die Küche war der einzige Raum, der bereits eingerichtet war. In den anderen Zimmern standen die Möbel, vom Streichen noch eingepackt, zusammengeschoben in der Mitte. Die Kartons stapelten sich im Flur und in der Küche.

Während sich Alina umschaute, brachte ich Ben ins Bett, da es Zeit für den Mittagsschlaf war. Als ich zurück in die Küche kam, saß meine Freundin am Tisch und trank ihren Kaffee. Ich nahm mir meine Tasse und setzte mich dazu. Nach einer Weile brach Lina das Schweigen.

„Ich denke, das, was ich dir gleich erzählen werde, wird dich interessieren.“

„Mach es bitte nicht so spannend.“ Ich nahm den ersten Schluck Kaffee aus der Tasse, während Lina weitersprach.

„Aaron ist seit einem Jahr nicht in der Schule gewesen.“ Ich verbrannte und verschluckte mich gleichzeitig. Ich stellte die Tasse beiseite und hoffte darauf, dass der Schmerz nachließ.

„Du hättest dich nicht gleich verbrennen müssen.“

„Vielen Dank für die Vorwarnung!“

Alina ergriff meine Hand.

„Tut mir leid. Ich hätte es dir nicht erzählen sollen.“

„Ach Quatsch! Alles gut. Ist doch nicht mein Problem, wenn er die Schule schwänzt.“

Gerade als Alina empört antworten wollte, klingelte es an der Tür. Ich schaute Lina verwundert an, denn ich erwartete niemanden, und stand auf. Wenige Minuten später begrüßte ich meine Mutter, Hannes, meinen sieben Jahre alten Bruder, und meine vier Jahre alte Schwester Mia.

Ich war verwundert, denn ich hatte meine Familie nicht eingeladen, dennoch freute ich mich, diese wiederzusehen. Zwei Jahre waren eben eine lange Zeit. Ich bot Mama einen Kaffee an und meinen Geschwistern einen Becher Milch. Hannes schien allerdings abwesend zu sein. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, aber sein Verhalten bereitete mir Sorgen. Ben ließ mich gar nicht erst hinsetzen, denn er begann sofort zu schreien, als er unsere Stimmen hörte. Als ich mit Ben zurück in die Küche kam, freute sich Mia riesig. Ben hörte auf zu weinen und meine Mutter schaute Hannes ernst an.

„Was ist denn los?“, fragte ich in die Runde, während mir meine Mutter ihren Enkel abnahm.

„Hannes redet nicht mehr mit mir. Er ist bockig und das Schlimmste ist, dass ich erfahren habe, dass dein Bruder nur noch schlechte Noten bekommt. Er hat Glück, dass ich ihn heute mit zu dir genommen habe!“

„Hätte ja auch alleine zuhause bleiben können!“, antwortete Hannes.

„Mia, komm mal mit! Ich zeige dir die neue Wohnung deiner Schwester“, sagte Alina.

„Oh ja!“, antwortete Mia und stand auf, um mit Lina durch die Räume zu laufen. Ich nickte Alina dankbar zu und wandte mich dann meinem Bruder zu.

„Hannes, willst du reden?“, fragte ich ihn und bat meine Mutter mit einer Geste, mich mit ihm allein zu lassen. Als meine Mama mit Ben den Raum verlassen hatte, begann Hannes zu schluchzen. Ich stand auf und lief zu meinen Bruder. Ich nahm ihn in die Arme und er fing laut an zu weinen. Als Mama wieder in der Tür auftauchte, konnte ich ihr ansehen, dass es ihr ebenfalls wehtat, ihren Sohn so leiden zu sehen.

„Ich will zu Papa!“, sagte er immer wieder zu mir. Mir fiel es schwer, Hannes so zu sehen, und unterdrückte meine eigenen Tränen. Nach einigen Minuten konnte ich Hannes beruhigen und ihm erklären, dass er sich bald von unserem Vater würde verabschieden können. Mia kam fröhlich mit Lina zurück in die Küche. Mia beschwerte sich darüber, dass es nichts zu sehen gebe außer einer Menge Kartons, doch ich versicherte ihr, dass ich ihr die Wohnung noch einmal zeigen würde, wenn sie fertig eingerichtet war.

„Aber das dauert noch so lange“, sagte sie. Alina griff zu ihrer Kaffeetasse und verzog ihr Gesicht. Ihr Kaffee war kalt. Ich bot ihr an, einen Neuen zu kochen, doch das lehnte sie ab.

Der Trubel war mir zu viel und ohne zu überlegen, schlug ich vor, Hannes bei mir schlafen zu lassen. Meine Mutter stimmte dem Ganzen zu.

Etwa eine Stunde später bereiteten meine Geschwister und ich das Abendbrot zu. Mia war begeistert, Hannes war hingegen eher abgelenkt. Noch immer war er nachdenklich, aber er freute sich trotzdem, die Nacht bei mir zu verbringen. Mia wollte ebenfalls bei mir bleiben, doch das ging nicht. Drei Kinder waren mir einfach zu viel. Als wir alle am Tisch saßen, konnte ich meine Frage nicht länger zurückhalten.

„Mama, ich wollte dich das schon die ganze Zeit über fragen: Wann ist die Beerdigung von Papa?“

„Nächsten Freitag.“

„Okay.“ Mir fiel es immer schwerer, vor meiner Familie über unseren verstorbenen Vater zu sprechen. Aber ich musste das Datum der Beerdigung wissen, damit ich Abschied nehmen konnte.

„Nächste Woche geht die Schule wieder los und du solltest dich mit Ben erst einmal einleben.“

Hatte ich meine Mutter gerade richtig verstanden?

„Willst du mir sagen, dass der Termin von mir abhängig gewesen ist?“, fragte ich erschüttert nach. Als sie still blieb, wurde ich wütend.

„Du denkst also, mir wäre die Schule wichtiger als die Beerdigung meines Vaters?“, fragte ich etwas lauter. Alina starrte mich warnend an.

„Lia, es ist doch nicht böse ... Mann, ich wollte dich doch nicht verletzen. Ich wollte nicht, dass du sauer wirst!

Ich dachte nur, das wäre die beste Entscheidung! Deswegen habe ich extra diesen Freitag ausgewählt.“

Meine Mutter klang verzweifelt und ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Ich ließ die Aussage im Raum stehen und biss in das Vollkornbrot, das ich vor dem Gespräch auf meinen Teller gelegt hatte. Mir war in diesem Moment egal, dass es nicht belegt war.

Nach dem Abendbrot machten sich Alina, meine Mutter und Mia auf den Heimweg und ich brachte Ben ins Bett. Anschließend legten auch Hannes und ich uns schlafen. Es war ungewohnt und doch war ich froh, dass mein Bruder bei mir übernachtete. Die letzten zwei Jahre hatte ich bei unserer Großmutter gelebt und nun war ich wieder auf mich allein gestellt. Ich fand in dieser Nacht keinen Schlaf, während Ben seelenruhig in seinem Gitterbettchen schlummerte und Hannes neben mir in meinem großen Bett lag. Er kuschelte sich immer wieder an mich und ich hatte Angst, ihn aufzuwecken. Ich dachte an unseren Vater. Er war weg und dabei hätte ich ihn so sehr gebraucht. Doch ich hatte ihn in den letzten Monaten vor seinem Tod nicht belasten wollen, denn er hatte viel in der Firma gearbeitet.

Am Ende waren es zwei Jahre geworden, in denen ich bei meiner Oma geblieben war und meine Familie aufgrund der Entfernung nicht gesehen hatte.

Drei Stunden Autofahrt wohnten wir auseinander und die Besuche waren selten. Ich rief regelmäßig zu Hause an, denn es war mir wichtig, die Stimmen meiner Familie nicht zu vergessen. Als Mama anrief und meinte, dass mein Papa einen Unfall hatte, brach ich zusammen und fuhr mit dem nächsten Zug nach Hause. Ben blieb bei meiner Oma, die sich aus der Ferne um ihren Sohn sorgte.

Ein anderes Auto sei auf die Gegenfahrbahn gekommen, hieß es im Krankenhaus.

Meine Gedanken kreisten um seinen Zustand, als ich im Zug war. Als ich dann am Bahnhof ankam, erfuhr ich von meiner Mutter, dass er ins Koma versetzt wurde. Am nächsten Tag besuchten wir ihn und der Arzt war sich sicher, dass mein Vater nicht überleben würde. Dann brach ich zusammen und erinnerte mich an nichts mehr. Mit den Gedanken an diesen schrecklichen Moment schlief ich spät ein.

Kapitel 2

Aaron

Leise und zügig lief ich die Treppe hinunter. Ich griff währenddessen in die Hosentasche und kontrollierte, ob ich meinen Haustürschlüssel und das Handy eingesteckt hatte. Plötzlich stand Jens vor mir. Ich verdrehte die Augen und wollte an ihm vorbeigehen, doch er versperrte mir den Weg.

„Wo willst du hin, Aaron?“

„Das geht dich gar nichts an!“, sagte ich schnippisch, denn ich hatte genug von meinem Onkel. Ständig mischte er sich in mein Leben ein, als wäre er mein Vater. Dabei kannte ich diesen überhaupt nicht.

„Du solltest mal einen anderen Ton anschlagen! Wie redest du denn mit mir?“

„Wie redest du denn mit mir? Ich bin nicht dein Sohn. Lass mich jetzt durch!“ Ich versuchte erneut, an meinem Onkel vorbeizukommen, doch er schubste mich zurück.

„Sag mal, spinnst du? Fass mich nicht an!“, schrie ich. Ich hasste es, wenn mich jemand anfasste. Vor allem, wenn es der Mörder meiner Familie war.

„Es reicht, Aaron! Ich füttere dich durch und du benimmst dich wie ein asozialer Mensch. So kenne ich dich gar nicht!“

„Wie hast du mich gerade genannt?“ Ich wurde immer wütender. Ich konnte nicht glauben, wie Jens mit mir sprach. Ich war nicht nur wütend, sondern auch enttäuscht. Mein Onkel war immer ein Ersatzvater für mich gewesen, bis er diesen schrecklichen Unfall, vor fast zwei Wochen verursacht hatte. Wütend drehte ich mich um und ging nach oben zurück in mein Zimmer. Es war kaum eingerichtet. Ich wollte unbedingt ausziehen, aber dafür hatte ich kein Geld. Also setzte ich mich auf das Bett und nahm den Laptop. Ich öffnete Facebook und durchsuchte das Profil meiner Mutter. Ich hatte ihre Zugangsdaten und erhoffte mir, dadurch meinen leiblichen Vater zu finden. Seitdem ich bei Jens lebte, hoffte ich darauf. Plötzlich vibrierte mein Handy. Als ich Alinas Namen las, drückte ich sie weg. Ich wollte nicht mit ihr sprechen. Nicht nach dem, was passiert war.

Panisch rannte ich die Treppe hoch und schubste jeden, der mir im Weg stand, weg. Als ich in der dritten Etage ankam, folgte ich den Schildern, bis mir eine verschlossene Tür ein Weiterkommen unmöglich machte. Ich fluchte laut und drehte mich um, als ich plötzlich eine vertraute Stimme vernahm. Ich erkannte die Mutter meiner Ex-Freundin sofort und glaubte meinen Augen nicht.

Nur leise konnte ich das Gespräch zwischen ihr und dem Arzt hören.

„Es tut mir leid, Frau Andersen, aber wir haben alles versucht. Wir konnten nichts mehr für Ihren Mann tun.“ Vor meinen Augen, nur ein paar Schritte entfernt, brach Elisabeth zusammen und sank zu Boden. Sie schrie unglaublich laut.

„Mama!“

Lia stand daneben und versuchte, ihr aufzuhelfen. Der Arzt holte zwei Schwestern, die Elisabeth auf eine Trage halfen, und Lia stellte eine Frage, mit der ich absolut nicht gerechnet hatte.

„Wie geht es dem anderen Insassen?“

„In dem anderen Auto befanden sich drei Personen. Eine von ihnen ist vom Unfallort geflüchtet und eine Frau liegt im Koma.“

„Oh mein Gott! “

„Das Kind der Frau liegt ebenfalls im Koma und beide sind in einem kritischen Zustand.“

Zitternd entfernte ich mich aus dem Flur. Ich schaute an mir hinunter und sah das ganze Blut. Dann lief ich geistesabwesend die Treppe hinunter, bis ich schließlich bewusstlos zusammenbrach.

„Aaron, alles ist gut. Ganz ruhig! Aaron?“ Panisch schaute ich meinem Onkel ins Gesicht und realisierte, dass ich gerade eine Panikattacke hatte.

Doch ehe ich darüber nachdachte, sprang ich an Jens vorbei, lief eilig durch den Flur und dann direkt durch die Haustür, die wenige Sekunden später hinter mir wieder ins Schloss fiel. Ich hatte nur ein Ziel: den Friedhof.

Kapitel 3

Lia

Das schrille Klingeln meines Weckers riss mich aus einem unruhigen Schlaf. Es war inzwischen Montag und als ich Bens Stimme hörte, brummte mir sofort der Kopf. Er schrie und schien sich nicht beruhigen zu wollen. Müde und genervt stand ich auf und ignorierte mein Kind. Ich lief zum Kleiderschrank. Fluchend suchte ich dunkle Kleidung für die Schule heraus. Nachdem ich etwas Passendes für mich gefunden hatte, wählte ich etwas für Ben aus: Einen Langarmbody, eine Hose und einen dünnen Pullover. Als ich mich angezogen hatte und Ben aus dem Kinderbett im Schlafzimmer nahm, beruhigte er sich ein wenig. Nachdem ich auch ihn wenige Minuten später angezogen hatte, ging ich mit Ben in die Küche, setzte ihn in den Hochstuhl und kochte mir meinen ersten Kaffee des Tages. Ich wusste, dass ein Kind Arbeit bedeutete, aber nach drei Tagen allein mit Ben wusste ich, was damit tatsächlich gemeint war. Plötzlich fiel mir ein, dass ich gar nicht bedacht hatte, wer Ben betreuen würde, wenn ich in die Schule ging. Sofort dachte ich an meine Mutter und ich nahm das Handy, um ihre Nummer zu wählen. Natürlich ging sie nicht ran.

Als wenn der Zufall es so wollte, dass der Montag nach hinten losging. Ich fluchte, nahm einen großen Schluck von meinem Kaffee und spuckte ihn kurz darauf in das Spülbecken. Er war kalt. Ben hörte auf zu schreien und ich atmete erleichtert aus. Doch leider war die Ruhe nicht von langer Dauer. Kurz darauf begann er erneut, wie eine Sirene zu heulen. Ich hatte genug, kippte den Kaffee weg und hob Ben aus dem Hochstuhl. Ich ging ins Kinderzimmer und machte den Kinderwagen fertig. Ich gab Ben seine Trinkflasche, was ihn sofort beruhigte. Warum hatte ich nicht eher erkannt, dass Ben nur etwas zu trinken wollte? Ich fühlte mich wie eine Rabenmutter. Doch der Gedanke verflog, als ich auf die Uhr blickte, die an der Wand hing. Als ich die Schuhe anzog, klingelte mein Handy. Auf dem Display erschien das Bild meiner Mutter.

„Mama? Kannst du Ben nehmen?“, fragte ich hektisch. Ich lief nebenbei in die Küche.

„Dir auch einen guten Morgen. Ich dachte, du hättest für Ben ein Kindermädchen organisiert?“

„Ja, Mann! Aber erst für heute Nachmittag!“

„Lia, beruhige dich bitte.“

„Ich kann ... Ach, Mist! Du musst mich abholen! Der Schulbus ist gerade weggefahren.“ Ich stand mit dem Handy in der Hand in der Küche und starrte auf die Rücklichter des Busses. „Du hast Glück, dass ich freihabe. Mach dich und Ben fertig!

Ich mache mich sofort auf den Weg, wenn ich Hannes zur Bushaltestelle gebracht habe.“

„Okay, bis später.“

Ich zog mir noch eine Jacke über und legte Ben in die Babyschale, damit meine Mutter ihn in ihrem Auto mitnehmen konnte. Dann klappte ich den Kinderwagen zusammen und packte die Wickeltasche. Kurz darauf klingelte es an der Tür. Ich ging davon aus, dass es meine Mutter war, und öffnete sofort die Tür. Tatsächlich ging meine Mutter die Treppe herauf und begrüßte mich. Sie lächelte und half mir sofort, als sie die Hektik erkannte. Sie nahm mir Ben ab und ich trug die Wickeltasche und den Kinderwagen. Ich schloss die Tür und folgte meiner Mutter bis zum Auto.

„Hast du dein Schulzeug?“

„Ne, natürlich nicht.“ Mama schaute mich aus dem Auto heraus an und ich lief zurück in meine Wohnung. Wieso war alles so kompliziert? Warum vergaß ich so viele Sachen? Der Montag schien nichts Gutes für mich bereitzuhalten.

Als meine Mutter mich vor der Schule absetzte, kam ich zum Glück rechtzeitig. Ich lief zum Klassenraum und hatte Bammel, meine alten Klassenkameraden wiederzusehen. Als ich den Raum betrat, war der Platz neben Alina bereits besetzt.

Ich sah mich im Klassenzimmer um und war entsetzt. Auf einer der hinteren Bänke lag ein Junge quer über dem Tisch. Neben ihm war der einzige freie Platz und als ich näher trat, erkannte ich ihn sofort: Aaron hatte sich kein bisschen verändert. Noch immer lag er quer auf der Schulbank, zog seine Jacke nicht aus und hatte seine Kapuze über den Kopf gezogen. Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon klingelte es zum Unterricht. Ich setzte mich neben Aaron und sah die gesamte Schulklasse zum ersten Mal nach einem Jahr wieder. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich in diesem Moment nicht sagen.

Kapitel 4

Aaron

Als ich erwachte und der Platz neben mir besetzt war, erschrak ich. Ihre braunen Augen hatte ich nicht vergessen und ihre Haare hatte sie zusammengebunden, so wie sie es schon immer getan hatte.

„Guten Morgen und willkommen im letzten Schuljahr“, begrüßte uns Frau Reiter, unsere Klassenlehrerin. Genervt stand ich auf und flüchtete aus dem Klassenraum. Die verwirrten Blicke und die Rufe nach mir ignorierte ich. Ich hatte ohnehin keine Lust auf Schule. Nur Lias Blick, den sie mir zuwarf, als ich den Raum verließ, blieb mir im Gedächtnis. Sie sah verwirrt und traurig aus. Lag es an mir? Ich schob den Gedanken von mir fort. Plötzlich hörte ich das Klingeln von Lias Handy. Dann öffnete und schloss sich die Tür des Klassenzimmers noch einmal. Ihren Klingelton hatte sie nicht geändert. Dabei wusste ich, dass sie ihn hasste. Ich drehte mich um und sah sie an. Sie schaute auf ihr Handy, das noch immer klingelte, dann nahm sie den Anruf entgegen. Ihre Stimme klang ängstlich und nervös, doch ich wusste nicht, wieso.

Genau in diesem Moment, in dem sich unsere Blicke erneut trafen, rannte sie an mir vorbei, ohne sich umzublicken.

Warum hat sie kurz nach mir den Raum verlassen?, dachte ich und ging aus dem Schulgebäude. Ob sie mich noch leiden konnte? Und warum hatte sie so ängstlich ausgesehen? Was mich jedoch am meisten ärgerte, war, dass sie scheinbar das Privileg hatte, im Unterricht telefonieren zu dürfen. Wütend lief ich davon. In diesem Moment war es mir egal, dass ich den Unterricht wieder einmal versäumte. Als ich zwanzig Minuten später am Friedhof ankam, fing es an zu regnen. Mir war das egal. Ich wollte das Grab meiner Mutter und das meines Bruders besuchen. Ich lief zu den beiden nebeneinanderliegenden Gedenkstätten und kniete mich nieder. Ich las ihre Namen: Felix und Carolin Reinhold. Ich wurde wütend.

Als ich aufwachte, sah ich nur weiße Wände. Ich wurde panisch und mein Kopf tat höllisch weh. Als ich ihn anfasste, stellte ich fest, dass ich einen Verband trug. Ich betätigte den roten Knopf und wartete ungeduldig auf die Schwester.

„Guten Morgen. Schön, dass Sie wach sind! Wie geht es Ihnen?“

„Wie soll es mir gehen? Wo ist meine Mutter und vor allem: Wo ist mein kleiner Bruder?“

Ich versuchte aufzustehen, doch die Schwester lies es nicht zu.

„Ich frage nicht noch einmal.“ Bald darauf klopfte es an der Tür und Jens, mein Onkel, kam herein. Sofort schrillten in mir alle Alarmglocken auf.

„Du Schwein! Was hast du mit meiner Familie gemacht?“ Ich schrie und Jens wurde von der Krankenschwester hinausgeschickt. Sie merkte, dass es mir ernst war, meine Familie zu sehen, und verschwand. Sie brachte mich wenige Minuten später in einem Rollstuhl zu meiner Mutter auf die Intensivstation. Als ich zu ihr ins Zimmer kam, sah ich sofort, dass mein Bruder nicht dort war.

„Wo ist mein Bruder? Wo ist Felix?“, fragte ich. Als die Schwester nicht antwortete, fing ich an zu weinen. Meine Mutter lag vor meinen Augen und zahlreiche Schläuche und Kabel führten von ihrem Körper zu irgendeinem Gerät, dessen Sinn ich nicht verstand. Die Krankenschwester, die Anna hieß, erklärte mir, dass meine Mutter künstlich beatmet werde. Mein Bruder Felix sei im Krankenhaus, kurz nach dem Unfall, verstorben.

Wütend stand ich auf und fuhr mir mit den Händen durch mein Haar. Wieso hatte ich diesen Unfall überlebt?

Warum musste ich allein durch die Hölle? Ich konnte es nicht glauben. Wütend wischte ich meine Tränen aus dem Gesicht und lief im Regen durch die Stadt. Die Bilder meiner Mutter gingen mir durch den Kopf und ich blieb immer wieder stehen, in der Hoffnung, sie würden verschwinden. Doch es half nichts. Und jedes Mal wenn ich an einem Spielzeugladen vorbei kam, dachte ich an meinen kleinen Bruder. Der Verlust fraß mich immer mehr auf und ich wusste nicht, wie lange ich den Schmerz noch aushalten könnte. Meine Familie war durch einen dummen Fehler verstorben und ich hatte keine Chance gehabt, mich von Felix oder meiner Mutter zu verabschieden. Niemand konnte sich vorstellen, wie das für einen Zwanzigjährigen ist, der nun allein auf sich achten musste.

Kapitel 5

Lia

Als ich am Montagnachmittag nach Hause kam, erwarteten mich unzählige Umzugskartons. Natürlich hatte ich keine Lust, sie auszupacken, aber notwendig war es trotzdem. Zum Glück hatte ich die Küchenutensilien bereits eingeräumt und unter anderem auch ein paar Spielsachen für Ben und die nötigste Kleidung in den Schrank gelegt. Trotzdem waren es noch genug Kartons, die auf mich warteten. Ich schob den Kinderwagen in Bens Zimmer, da er noch immer schlief. Ich hatte ihn bei meiner Mutter abgeholt und hinterher lernten wir Jenni kennen. Ben freute sich auf seine neue Tagesmutter. Meine Mutter war kurz angebunden gewesen, da sie Mia aus der Kindertagesstätte hatte abholen müssen. Während Ben schlief, nutzte ich die freie Zeit, um meine Badkisten auszupacken. Als ich nach einer halben Stunde damit fertig war, fing Ben an zu weinen. Ich lief in sein Zimmer und nahm ihn aus seinem Kinderwagen. Langsam beruhigte er sich, als ich ihn auf dem Arm hin- und herschunkelte.

„Hey, mein Kleiner! Mami muss heute ein paar Kisten ausräumen oder am besten alle. Bist du heute lieb?“, fragte ich ihn und rechnete natürlich nicht mit einer Antwort. Wie auch?

Schließlich war mein Sohn gerade erst ein Jahr alt geworden und konnte noch nicht so gut sprechen. „Mamama“, sagte er stattdessen und freute sich, als ich ihm nachplapperte. Ich ging mit ihm zum Wickeltisch und wechselte seine Windel. Dann zog ich ihm frische Kleidung an und setzte ihn auf den Boden. Ich kippte seine Spielsteine auf den Teppich und wollte mich den Kartons zuwenden, als plötzlich mein Handy klingelte. Ich nahm es aus meiner Hosentasche und ging sofort ran, als ich sah, dass meine Mutter anrief.

„Hey, Mama! Was gibts?“

„Hey, Mäuschen! Ich wollte nachfragen, wie die Eingewöhnung bei Bens Tagesmutter lief?“

„Ganz gut. Ben ist gerade wach geworden. Er ist nämlich nach dem Treffen direkt eingeschlafen.“

„Na ja, die ganzen neuen Eindrücke ...“

Ich musste lächeln.

„Sag mal, wer passt dann morgen eigentlich auf Ben auf?“, fragte meine Mutter verwundert.

„Na Jenni. Wieso fragst du denn?“

„Dauert die Eingewöhnung nicht länger?“ „Also Jenni meinte, ich könne ihn morgen direkt zu ihr bringen. War das falsch?“ Ich war verunsichert und hoffte, dass meine Mutter mir Rat geben könnte.

„Alles gut. Jenni meldet sich sicher, wenn etwas ist. Außerdem habe ich gehört, du könntest Gesellschaft gebrauchen?“

„Äh ... okay ... eigentlich packe ich gerade Kartons aus.“ Im Hintergrund hörte ich meine jüngeren Geschwister streiten und ich musste lächeln. Früher hatte es mich genervt, aber nun merkte ich, wie sehr ich sie vermisst hatte. Allerdings verging mir das Lächeln, als ich hörte, wie Hannes unserer Schwester Mia wehtat. Mia weinte und das Getrampel im Hintergrund ließ mich vermuten, dass Hannes die Treppe hochrannte. Ich kannte ihn so gar nicht. Meine Mutter lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu unserem Gespräch.

„Lia? Bist du noch dran?“

„Ja, sorry, ich hatte gerade ein Auge auf Ben“, sagte ich und log dabei.

„Ist es okay, wenn ich dir helfe? Die Kids werden schon miteinander klarkommen“, antwortete meine Mutter und ich stimmte ihr zu. Ich legte auf und war den Tränen nah. Hannes hatte sich so stark verändert, seitdem unser Vater verstorben war. Ich verstand meinen Bruder nicht mehr. Er war in sich gekehrt und das hatte ich bereits vor ein paar Tagen bemerkt, als ich von meiner Oma zurück in meine Heimatstadt gezogen war. Warum veränderten sich alle in letzter Zeit so stark? Mich eingeschlossen.

Mein Vater fehlte mir und ich fühlte den gleichen Schmerz, den auch mein Bruder verspürte. Noch vor zwei Jahren, als ich weggezogen war, hatte sich Hannes gemeldet. Wir hatten Kontakt, weil er mich vermisste. Jedes Mal konnte ich ihn beruhigen und meine Mutter dankte mir immer wieder dafür, doch nachdem unser Vater die Erde verlassen hatte, spielte Hannes verrückt. Er rastete aus, redete nicht mehr und rief mich auch nicht mehr an. Als wäre ich für den Tod unseres Vaters verantwortlich. Auch wenn es erst eine Woche her war – fast zwei – wunderte mich sein Verhalten sehr, da Hannes früher mindestens alle zwei Tage mit mir telefoniert hatte. Meine Mama hatte mir immer wieder verzweifelte Nachrichten hinterlassen. Selbst gesehen hatte ich es erst am Tag ihres Besuches. Wütend wischte ich mir die Tränen aus meinem Gesicht. Wie sollte denn bitte schön ein siebenjähriges Kind auf den Tod seines Vaters reagieren? Gott sei Dank klingelte es an der Tür und ich konnte meine schrecklichen Gedanken beiseiteschieben. Ich wollte nicht mehr an meinen Vater denken. Ich ließ meine Familie rein und Mia kam sofort angestürmt, um mich zu umarmen. Hannes hingegen gab mir seine Hand und lief weiter, ohne einen Ton zu sagen.

Meine Mama gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange und umarmte mich anschließend. Dann schloss ich die Tür und lief zurück zu Ben, der etwas quengelte, da er mich nicht sehen konnte und nur die vielen Geräusche vernahm. Wenige Sekunden später kam Mia in den Raum gerannt und setzte sich vor Ben auf den Teppich. Ben ersckreckte sich so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte. Dann brüllte er los und Mia fing an zu weinen.

„Ich wollte das nicht. Das tut mir so leid. Ich wollte ihn nicht erschrecken. Hat er sich wehgetan?“, fragte Mia ganz aufgeregt. Plötzlich stand Hannes neben uns und ging wütend auf Mia los.

„Natürlich hast du ihn erschreckt, du Idiot! Ben ist doch noch ein Baby, da muss man lieb sein. Aber Mia ist den ganzen Tag schon böse!“

Ich war mal wieder überfordert und war froh, als meine Mutter reinkam und meinen Bruder mit ins Wohnzimmer nahm. Ich war völlig überrascht davon, wie Hannes mit Mia umging. Das war ich nicht gewohnt. Ich setzte mich mit Ben auf den Boden, behielt ihn aber auf dem Arm und zeigte Mia mit einer Handbewegung, dass sie zu mir kommen sollte. Noch immer weinte sie und entschuldigte sich ununterbrochen.

„Mia? Alles ist gut. Ben weint nur, weil er sich erschrocken hat.

Der Grund warst aber nicht du, sondern weil er sein Gleichgewicht nicht halten konnte und umgekippt ist. Du bist nicht daran schuld.“

„Aber Hannes ...!“

„Nicht Hannes. Hannes ist momentan sehr, sehr traurig, weil Papa gestorben ist. Und weil er darüber nicht spricht, wird er wütend. Das lässt er leider oft an dir aus, aber da musst du stark sein. Du bist doch schon groß.“

„Ja, ich bin schon vier!“ Mia hielt ihre Hand hoch und streckte vier Finger in die Luft.

Nachdem sich die Lage beruhigt hatte, spielten Mia und Ben mit Bauklötzen. Hannes kam später wieder zu uns und setzte sich auf das Fensterbrett. Meine Mutter und ich räumten nach und nach alle Kartons aus. Mit ihrer Hilfe kam ich schnell voran. Am späten Nachmittag aßen wir Kuchen und ich war froh, dass meine Mutter angerufen hatte. Der Nachmittag lief besser als gedacht und wir hatten sogar noch Zeit, um auf den Spielplatz zu gehen. Die Kinder erfreuten sich und wir konnten tiefgründige Mutter-Tochter-Gespräche führen. Ich stellte ihr Erziehungsfragen, sie erklärte mir, wie ich mit Ben besser umgehen konnte, und wir redeten über alte Geschichten. Meine Familie blieb bis zum Abendbrot und ich war glücklich darüber, wieder in meiner Heimatstadt zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass ich angekommen war.

Trotz der schwierigen Zeit genoss ich es, bei meiner Familie zu sein. Mein Papa fehlte mir, doch ich zeigte es nicht. Mia und Hannes sollten nichts davon mitbekommen. Meine Mutter äußerte sich nicht zu meinem Vater, aber ich sah ihr an, dass er ihr fehlte. Meine Mutter verbarg es vor uns Kindern. Hatte sie schon mal getrauert? Schon mal geweint? All die Fragen würden wohl für immer unbeantwortet bleiben. Wie sich meine Oma fühlte, wollte ich gar nicht erst wissen. Meinen eigenen Sohn zu verlieren, wollte ich nicht erleben. Auch wenn Ben schwierig war, liebte ich ihn über alles. Mit einem Blick auf sein Kinderbett legte ich mich hin und schlief nach ein paar Minuten schnell ein.

Kapitel 6

Aaron

Als ich erwachte und auf den Wecker schaute, wurde ich wütend. Es war längst Zeit aufzustehen und die erste Schulstunde war fast vorbei. Mein Onkel hatte mich nicht einmal geweckt. Ich stand auf und wie immer wählte ich einen schwarzen Hoodie und eine schwarze Jeans aus dem Kleiderschrank. Ich wollte nicht auffallen und wollte niemanden etwas beweisen. Mein Leben war kompliziert geworden. Das konnte ich nicht leugnen. Als ich nach unten in die Küche kam, und erkannte, dass mein Onkel bereits das Haus verlassen hatte, flippte ich aus. Hätte er mich nicht wecken können? Wütend lief ich zügig zur Schule, doch mein Ziel war nicht der Klassenraum, sondern den Raum, in dem mein Onkel Unterricht gab. Wieso war er so egoistisch? Jens meinte, ich solle zugänglicher sein und die Schule besuchen. Und dann weckte er mich nicht einmal, wenn ich verschlafen hatte? Ich wollte ihn mir zur Brust nehmen. Der hatte doch nicht alle Tassen im Schrank! Wütend lief ich im Schulgebäude umher. Mein Blick war starr nach unten gerichtet und ich war mir sicher, dass mein Onkel das mit purer Absicht gemacht hatte, was das Schlimmste an der ganzen Situation war.

Doch während ich lief, entschied ich mich gegen eine Konfrontation mit meinem Onkel. Ich platzte zur zweiten Stunde in den Chemieunterricht von Frau Kreide herein. Mir war das egal, denn die Lehrer konnten froh sein, dass ich die Schule überhaupt besuchte.

„Guten Morgen, Herr Reinhold! Anklopfen scheinen Sie bereits verlernt zu haben?“, fragte Frau Kreide streng. Ich winkte ab und schlurfte zu meinem Platz. Natürlich saß Lia bereits scheinheilig da. Ich ignorierte sie und sah aus dem Augenwinkel, dass es ihr nicht gefiel, dass ich da war. Doch auch das war mir egal und als wäre das alles nicht schon genug gewesen, fing Frau Kreide an, mit mir zu diskutieren.

„Herr Reinhold, ich habe Sie etwas gefragt!“

„Und ich habe Ihnen nichts zu sagen“, erwiderte ich genervt. Ich brauchte jetzt keine Lehrerin, die herummeckerte, weil ich ein Mal zu spät gekommen war. Schließlich hatte ich ein ganzes Jahr gefehlt. Sollte sie doch froh sein, dass ich überhaupt gekommen bin.

„Herr Reinhold, wollen Sie jetzt meinen Unterricht weiter stören?“

„Boah, können Sie jetzt einfach weiterlabem? Ihnen hört eh keiner zu!“, sagte ich, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenz das haben würde.

„Ihr anderen, lesen Sie sich Seite zwanzig schon einmal durch, sodass Sie den Text hinterher zusammenfassen können. Herr Reinhold, Sie können aufstehen und mir folgen.“

„Und wohin soll die Reise gehen?“, fragte ich immer noch genervt von der Situation.

„Sie können sich Ihre vorlauten Sprüche für Frau Schneider aufheben“, sagte meine Chemielehrerin wütend. Erst da wurde mir bewusst, dass ich eine Grenze überschritten hatte. Auf dem Weg zur Direktorin dachte ich darüber nach, wie ich mich aus der Situation herausreden könnte. Doch es kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Als Frau Kreide an die Tür des Direktorats klopfte, wurde ich etwas nervös. Ich war noch nie bei der Direktorin gewesen und das war anscheinend auch Frau Schneiders erster Gedanke.

„Hallo, Carmen! Oh, warum hast du Aaron mitgebracht?“

„Weil sein Zuspätkommen meinen Unterricht gestört hat.“

„Aber das ist doch kein Grund, gleich zu mir zu kommen!“

„Aber seine Dreistheit ist unglaublich. Er kam zu spät, hat diskutiert und nicht aufgehört!“

„Ist okay, Carmen. Wir sehen uns. Aaron, setz dich!“ Frau Kreide verließ den Raum und ich beruhigte mich ein wenig, dennoch war ich sauer angesichts dieses grausamen Tages.

„Aaron, das letzte Mal habe ich dich gesehen, als du mir gesagt hast, dass du ein Jahr nicht am Unterricht teilnehmen könntest. Was ist passiert? Was hat dich verärgert?“, fragte Frau Schneider einfühlsam.

„Ich habe verschlafen und Frau Kreide macht daraus ein riesiges Drama. Zugegeben: Ich habe nicht angeklopft, aber das hätte man mir doch verzeihen können, oder?“ Wieder kochte die Wut in mir hoch.

„Hast du dich entschuldigt?“, fragte die Schulleiterin.

„Nein“, gab ich kleinlaut zu.

„Aaron, so habe ich dich nicht in Erinnerung.“

„Ist das denn zu fassen? Ich komme zum ersten Mal in all den Jahren zu spät und Lia hat die ersten beiden Tage nichts anderes zu tun, als auszuschlafen! Wollt ihr mich denn alle verarschen?“ Ich dachte daran, wie Lia fast zu spät gekommen war und den Unterricht unterbrochen hatte, um zu telefonieren. Ich stand auf und wollte den Raum verlassen, doch die Stimme der Schulleiterin ließ mich zurück auf den Stuhl gleiten.

„Setz dich wieder hin! Solche Worte, über die Mutter deines Kindes zu verlieren, ist nicht fair. Lia hat keine Sonderrechte, aber sie hat auch eine große Verantwortung zu tragen und ich habe ihr das Gleiche gesagt wie dir.“ Nach diesen Worten, die mich nur noch wütender machten, klopfte es an der Tür und mein Onkel schaute herein.

Natürlich war er der Tropfen auf den heißen Stein.

„Was bist du denn für ein hinterlistiger Egoist?“, fragte ich ihn wütend. Jens schloss die Tür, damit niemand außer Frau Schneider unser Gespräch mitanhören konnte. Die sah uns beide nur verdutzt an.

„Aaron? Du hier?“ Hatte mein Onkel das gerade wirklich gesagt? Ich war rasend vor Wut und verbarg das kein Stück.

„Willst du mich bloßstellen? Meinst du wirklich, ich würde noch im Bett liegen?“

„Mensch, Aaron! Das meine ich doch gar nicht. Ich frage mich, was du im Büro der Schulleiterin suchst?“ Er war sichtlich verwundert, dass ich in Frau Schneiders Büro saß.

„Hallo, Jens! Aaron kam zu spät, deswegen ist er bei mir. Was gibt es denn?“

„Ich ... äh ... ich wollte nicht stören, ich war nur erschrocken.“

„In Ordnung, Jens, wir sprechen uns später.“ Nachdem mein Onkel den Raum wieder verlassen hatte, sprach Frau Schneider weiter.

„Ich weiß, dass es auch für dich nicht so einfach ist.“

„Einfach?“ Es reichte mir. Ich hatte keine Lust mehr, mit der Direktorin zu sprechen und ignorierte ihre Rufe, als ich den Raum verließ.

Ich lief auf den Schulhof und wartete darauf, dass es zur Pause klingelte.

Etwa eine halbe Stunde später ertönte die Schulglocke und ich spannte mich an. In mir kochte es und ich wollte Lia zur Rede stellen. Natürlich musste ich es wie immer übertreiben. Ich redete, ohne darüber nachzudenken, einfach drauflos.

„Was ist eigentlich dein fucking Problem? Warum bist du so? Willst du unbedingt Aufmerksamkeit?“ Lia begann zu schlucken und ich konnte an ihrem Gesicht sehen, dass sie den Tränen nahe war. In dem Moment war ich so wütend, dass ich darauf keine Rücksicht nahm.

„Du kommst fast zu spät und bekommst keinen Ärger, nur weil du ein Balg geboren hast, mit dem du sowieso nicht klarzukommen scheinst!“

„Es reicht, Aaron, geh mir aus den Augen! Du hast hier nichts mehr zu suchen und lass dich ja nicht bei Lia blicken, denn ich schwör dir, dann werde ich zum Monster!“ Alina ging wütend dazwischen. Und wer würde mir helfen? Wer interessierte sich für mich? Als ich mich gerade abwenden wollte, vernahm ich die Stimme meines Onkels.

„Aaron, was ist hier los?“

„Nichts“, sagte ich wütend und stand mit den Händen in den Hosentaschen ein paar Meter von Alina und Lia entfernt. Auf seine Hilfe konnte ich verzichten.

Alina funkelte mich aus wütenden Augen an und für einen kleinen Augenblick machte sie mir Angst. Doch ich ließ es mir natürlich nicht anmerken.

„Nichts? Willst du mich verarschen, Aaron? Lia, deine Ex-Freundin und die Mutter deines Balgs, wie du deinen Sohn vorhin so schön genannt hast, steht hier und heult, weil du sie mal wieder verletzt hast!“ Alina schrie mich an und ich konnte es ihr nicht verübeln.

„Stimmt das, Aaron?“, fragte mich mein Onkel. Er brachte das Fass zum Überlaufen.

„Ihr wollt mich doch alle veräppeln. Immer bin ich derjenige, der Ärger bekommt? Ganz ehrlich: Fickt euch alle!“, sagte ich und rannte davon. Wieso ist es immer kompliziert? Und warum muss ich alles ausbaden? Wieso hat sich Lia überhaupt schwängern lassen? Von mir? Ich bin so ein Idiot. Meine Gedanken kreisten immer und immer wieder um meine Ex-Freundin, die ich gerade dermaßen verletzt hatte. Aber wen interessierte schon, dass ich meine eigenen Probleme hatte? Richtig: keinen.

Kapitel 7

Lia

Es war ein verregneter Morgen und ich wunderte mich, dass ich überhaupt klar denken konnte. Aaron hatte mich am gestrigen Tag zutiefst verletzt. Mal wieder. Je mehr ich darüber nachdachte, desto trauriger und unkonzentrierter wurde ich. Gott sei Dank war Ben friedlich und lächelte mich sogar ein paarmal an. Ich war wieder abgelenkt. Meine negativen Gedanken waren für einen Augenblick verschwunden. Ich dachte daran, wie Ben am Dienstag, dass erste Mal bei Jenni verbracht hatte, und war froh, als sie nur positives berichtete.

Ich bemerkte erst später, dass ich die Zeit total vergessen hatte. Also verzichtete ich auf meinen morgendlichen Kaffee und machte Ben für den Kindergarten fertig. Ich deckte den Kinderwagen mit einer Regenplane ab und zog mir selbst wasserfeste Schuhe an. Dann nahm ich mir meinen Rucksack und lief zuerst zu Jenni, um Ben in ihre Obhut zu geben. Ich rannte durch den Regen und meine Jacke triefte vor Nässe, als ich an ihrem Haus ankam.

Ich klingelte und hoffte, dass sie mich nicht im Regen stehen lassen würde. Mein Gebet wurde erhört und die Tür öffnete sich.

„Guten Morgen, ihr beiden! Wie geht es euch denn? Ach, kommt erst einmal rein!“

Zehn Minuten später verabschiedete ich mich von meinem Sohn und lief weiter zur Schule. Ich dachte daran, wie leicht es wäre, mit dem Bus zu fahren, und nahm mir vor, heute noch eine Jahresfahrkarte zu besorgen. Doch zunächst verlangte mein Körper nach Kaffee. Ich nahm die Abzweigung zu meinem Lieblingscafé und wurde wenige Sekunden später fast umgerannt. Mir stockte der Atem, als ich erkannte, wer mich da beinahe umgerissen hatte. Aaron rannte in seinen dunklen Klamotten davon. Der Regen brachte mich dazu, schnell ins Café zu gehen, um nicht noch nasser zu werden. Als ich die Kassiererin hinter dem Tresen betrachtete, fiel mir sofort ihr Blick auf. Sie schien durcheinander und verwirrt und wurde immer blasser. Schnell ging ich zu ihr und stützte sie.

„Hey, wollen Sie sich hinsetzen, Olivia?“ Auf dem Namensschild an ihrer rechten Brust stand ihr Name und ich erinnerte mich an sie.

„Lia?“ Und sie sich scheinbar an mich.

„Du kannst dich an mich erinnern?“

„Ja, ich ... Sorry, ich bin gerade ein bisschen durcheinander“, sagte sie.

„Was ist denn passiert?“

„Ich weiß nicht, ob du es wirklich wissen willst.“

„Wieso?“, fragte ich nach.

„Weil er dein Freund ist und ich ...“ Sie stockte. Meinte sie etwa Aaron? Womit hatte er Olivia nur so durcheinandergebracht?

„Meinst du Aaron? Er ist nicht ... Sag mir, was passiert ist!“

„Aaron hat eine Flasche Wasser geklaut. Er ist jeden Tag hier gewesen und hat mir sogar immer Trinkgeld dagelassen und nun ... Ich verstehe das nicht.“ Olivia stand auf und ich half ihr dabei. Nachdem ich noch zehn Minuten mit ihr über Ben, Aaron und die letzten zwei Jahre gesprochen hatte, bestellte ich mir belegte Brötchen und einen Kaffee. Bevor sie etwas sagen konnte, ließ ich genug Geld da, um sowohl das gestohlene Wasser als auch meinen Kaffee und das Brötchen zu bezahlen. Warum hatte Aaron das Wasser gestohlen? Ich verstand die Welt nicht mehr. Nachdenklich lief ich zur Schule. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass Aaron etwas gestohlen hatte, was man auch kostenlos in der Schule hätte bekommen können. Als ich wenige Minuten nach meiner Ankunft in der Schule im Klassenraum eintraf, war Aaron nicht zu sehen. Sein Platz war leer und ich wusste nicht mehr weiter. Wie konnte einem ein Mensch, den man einmal so geliebt hatte, plötzlich so fremd sein?

Alina saß auf ihrem Platz und bemerkte, wie angespannt und nachdenklich ich war. Es klingelte und ich packte abwesend meine Schulsachen aus, als unsere Klassenlehrerin hereinkam.

„Guten Morgen. Ich prüfe kurz eure Anwesenheit. Ist Aaron der Einzige, der fehlt?“ In Gedanken versunken, versuchte ich, der Stimme meiner Klassenlehrerin zu folgen, doch ich driftete immer weiter ab. Wo steckte Aaron und was zur Hölle war bloß los mit ihm? Plötzlich landete ein Papierschnipsel auf meinem Tisch. Ich schaute kurz nach Frau Reiter und öffnete es dann unbemerkt hinter meiner Federmappe.

Was ist los? Lina, stand darin geschrieben und ich drehte meinen Kopf unauffällig zu ihr. Sie machte sich Sorgen um mich, das sah ich ihr an. Also zückte ich meinen Füller, riss einen Zettel aus dem Block und schrieb nur einen einzigen Namen auf das Zettelchen: Aaron.

Nachdem ich das Wort ausgeschrieben hatte, stand plötzlich Frau Reiter vor mir und fand die Nachricht meiner besten Freundin.

„Interessant, interessant. Aaron scheint wichtiger als mein Unterricht zu sein. Alina Park und Lia Andersen, ich werde euch heute beim Nachsitzen begrüßen.“

„Das geht nicht, Frau Reiter. Wer soll denn auf meinen Sohn aufpassen?“ Plötzlich fing die Klasse an zu tuscheln. Kein Wunder, denn seitdem ich schwanger und Mutter geworden war, wurde ständig getuschelt. Dann erinnerte ich mich daran, dass das nicht einmal eine Ausrede war, um nicht zum Nachsitzen zu müssen. Jenni hatte mir von einem Termin erzählt und ich musste Ben deswegen heute pünktlich abholen. Das Getuschel in der Klasse hörte nicht auf. Ich konnte es nachvollziehen, denn mit siebzehn schwanger und mit achtzehn Mutter zu werden, war, zumindest an unserer Schule, ein Einzelfall. Ich war der Einzelfall.

„Frau Reiter, ich kann wirklich nicht. Die Nanny muss heute pünktlich abgelöst werden. Bitte, lassen sie mich morgen nachsitzen, damit ich jemanden organisieren kann.“ Ich hörte die Mädels in unserer Klasse, wie sie mich nachäfften und lachten. Als ob sie wichtig wären.

„Lia, nur weil du jetzt Mutter bist, wirst du dich nicht davor drücken. Du kannst jetzt kurz rausgehen und jemanden organisieren.“

„Und wenn keiner kann?“

„Dann werde ich persönlich deinen Sohn abholen, Lia! Es wird nicht diskutiert!“ Frau Reiter sah wütend aus. Ich verstand sie ein wenig, aber übertreiben musste sie es nicht. Vor allem würde ich einer wütenden Lehrerin nicht meinen Sohn anvertrauen.

Mit diesen Gedanken verließ ich den Klassenraum und konnte noch hören, wie Frau Reiter die Klasse aufforderte, die Gespräche einzustellen und sich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren. Alina hatte ich noch ein „Sony“ zugeflüstert, doch ihr Blick verriet mir, dass da noch etwas auf mich zukommen würde.

Draußen telefonierte ich mit meiner Mutter, die zustimmte, Ben von Jenni abzuholen. Ich dankte ihr und begab mich nach dem Telefonat wieder in den Klassenraum. Frau Reiter war so wütend auf mich, dass sie sarkastisch wurde.

„Und, Lia, hast du jemanden erreicht, der sich um deinen Sohn kümmert, während du die Schulbank drückst?“ Ich nickte nur, um nichts Falsches zu sagen. Das Getuschel begann erneut, doch Frau Reiter gab ziemlich schnell zu verstehen, dass sie das nicht duldete. Danach ging ich an meinen Platz, nur um wenige Minuten später wieder aufzustehen, da es zur Pause klingelte. Ich wunderte mich, dass die Stunde so schnell vergangen war, und hoffte darauf, in der zweiten Stunde Aaron wieder zu sehen. Ich betete, dass das alles nur ein blöder Streich gewesen war und er längst alles vergessen hatte. Doch er kam nicht zur zweiten Stunde und auch nicht zu den restlichen Stunden des Tages. Wo steckte Aaron nur?

Das Nachsitzen machte mich wütend und doch dachte ich pausenlos an Aaron, um den ich mich sorgte. Ich konnte mir sein Verhalten nicht erklären. Es blieb ein Rätsel. Als mich Alina auch noch beschuldigte, an unserem Nachsitzen schuld zu sein, platzte mir innerlich der Kragen. Alina sah es mir an, aber ich hielt mich zurück. Ein Wunder – denn mehr als meine Wut beschäftigte mich Aarons Verschwinden. Im Gegensatz zu Aaron konnte ich mich aber zumindest vor den Lehrern beherrschen. Nachdem das Nachsitzen ein Ende hatte, sprachen Alina und ich uns aus, ohne Vorwürfe und ohne Wut.

„Tut mir leid wegen vorhin. Bin ziemlich durcheinander.“

„Ich merk schon. Was hättest du mir denn geantwortet auf dem Zettel?“, fragte mich meine beste Freundin neugierig.

„Aaron“, erwiderte ich kleinlaut und plötzlich wurde sie wütend.

„Du rennst dem Spinner nicht hinterher, oder?“ Um das Gespräch nicht weiterführen zu müssen, nutzte ich Ben als Vorwand.

„Alina, ich kann jetzt nicht weiterreden, da ich Ben abholen muss.“ Als ich sie zum Abschied umarmen wollte, blockte sie ab und machte Anstalten mitzukommen. Ich schluckte, denn das Gespräch würde definitiv bitter ausgehen. „Beantworte mir meine Frage!“, sagte sie streng. „Ich habe dich heute noch nicht lachen gesehen!“ Ich schenkte ihr ein falsches Lächeln.

„Lia, es reicht! Wieso rennst du ihm hinterher? Er hat dich gestern verletzt. Schon wieder, wohlgemerkt, und du rennst ihm immer noch hinterher wie ein Schoßhund? Geht es dir nicht langsam auf die Nerven?“

„Geht es dir nicht langsam auf die Nerven, immer wieder dieselbe Leier abzuspielen?“, fragte ich genervt. Ihr Blick ließ mich schaudern.

„Sorry“, antwortete ich kleinlaut und traute mich nicht mehr, irgendetwas zu sagen, was meine Freundin verärgern könnte.