Wir sind uns nahe Fremde - Arno Reis - E-Book

Wir sind uns nahe Fremde E-Book

Arno Reis

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Beschreibung

Eigentlicher Anlaß dieses Bandes war die Aktualisierung von "Wir sind Fremde - fast überall". Doch dann schlagen Corona, die Pandemie und Quarantäne, voll zu. Und es kommt die Erinnerung an Boccaccio il decamerone. In Anlehnung an Boccaccio eine komplette Neukonzeption: 10 Themen mit je 10 Texten. Jedem Thema wird eine Fotografie oder Bild oder Grafik vorangestellt - damit konzeptioneller Anschluß an die Foto-Lyrik des Bandes "Wir sind Fremde - fast überall". Hier liegt jetzt die zweite, erweiterte Auflage vor.

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Seitenzahl: 47

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Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.

Rosa-Luxemburg

(Die Russische Revolution)

Inhaltsverzeichnis

In Zeiten der Quarantäne

Am 13. Juli 1977

coronata

Auf einen Calvados

was bleibt

Markgrafenheide coronata

heilige corona

Tagebuch 30.04

echokammer

Verschwörung

… und ich sauge Lyrik

Liebestraum

In diesen Dunkelnächten

Lippen

Linea nocturna

die liebe die nicht sterben will

Mein Stern

kleines gedicht zum traumbaum

Himmelstango

Über die Zeiten

Einheit in Zweiheit

Wolf

auf bruch

Blühende Landschaften

Wandelbaum

Es hätte anders kommen können

Auferstanden aus Ruinen

vor dem überseehafen

Grenzverlust

unter der brücke vereinigt /sich/

Zeittüre

mi triste amor cubano

La Habana: Mi amor

Kubanische Flamingos

Una Cuba libre?

No es fácil

Lacrimas y sueňos

Nebukadnezar

schüttele

Ich sterbe und La Habana bleibt

Ibrahim y quizas

Verunsicherter Stern, buntlos auf Rot

Flucht und Fremde

verborgen

Kein Erzählzauber

Angst in der Luft

frauentrauben

Europa der Risse

danach

fremde – fast überall

ofenwind

Ende der Worte

Europa du vergeßliche du

Dunkelgedanken

hinter der nebelwand

Nachtasyl

aufgehoben

Ein Geheimnis

aufbruch

Wende

Schmerzensfieber

im stachelschutz

Mi Corazón

Dein Aufbruch:

Schattensprung?

Nonsens und Wortgespiel

zauberspruch

Das Einhorn

Ich zieh sie nieder

Mir juckt die Feder – ich verschweigs

oh miranda

Weihnacht

Im Gras da riecht der kleine Hüpfer

auf ein neues

Spiel mir

Kochen wollte ich

graupensuppe

sand und mehr

Markgrafenheide

exclave

In diesen Dunkelnächten

Gebet zum Hühnergott

orpheus

Mövennebel

herbststurm

seebestattung

Verloren im Sand

Schneestand im Bild

alle sinne

Abendgedanken

du schöne

melancholie

Über Tag, da lebt

Kochen und Schreiben - Essen und Lesen

mohn – mon amour

irre / lust

Ode an die Spaghetti

ertränke deine gedanken worin

Verführung

nullum diem sine mea

Salut an L

leben ist rund

An Amelie

Beim Betrachten meiner Bibliothek

Oh du unsere Malou

Hexenzeit

brennendes herz

Für Max

ich habe keine zeit

In Memoriam HSch

Lebensbogen

I

In Zeiten der Quarantäne

Am 13. Juli 1977 gingen in New York um 21.36 Uhr die Lichter aus.

Horden marodierten, plünderten Geschäfte, setzten ganze Häuserblocks in Brand. Der finanzielle Schaden reichte in die Milliarden.

Und Eheleute - sie hatten sich nichts mehr zu sagen, der Fernseher hatte Mattscheibe - begaben sich ins Bett. Und neun Monatespäter war der Babyboom sichtbar. Heißt es.

Die Pandemie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die Spanische Grippe, raffte je nach Zählweise zwischen 25 und 50 Millionen dahin. Der Erste Weltkrieg soll dagegen „nur“ 20 Millionen Tote gehabt haben.

Man hatte keine wirksamen Medikamente gegen die Spanische Grippe, erst recht keine Impfung. Es blieb die Quarantäne bis alle Überlebenden immun waren.

Pandemien wie der Schwarze Tod, Pest, Pocken, Fleckfieber gab es in der Geschichte immer wieder. Die Bevölkerung wurde dezimiert, die kräftigsten überlebten. Arbeitskräfte wurden knapp, sie konnten deswegen bessere Einkommen aushandeln. Die Schere zwischen Armen und Reichen schloß sich so lange, bis es wieder einen Überhang an Arbeitskräften gab.

Giovanni Boccaccios Il Decamerone ist vielleicht noch in Erinnerung: Im Sommer des Jahres 1348 wütet die Pest in Florenz – Boccaccio beschreibt alles sehr detailliert und manches erinnert an unser derzeitige Pandemie.

Sieben junge Frauen und drei jungen Männer (von wegen männliche Dominanz), fliehen aus Florenz in ein nahe gelegenes Landgut. Begleitet werden sie von ihren Bediensteten. Die zehn jungen Leute erzählen sich in zehn Nächten hundert Geschichten mit denen sie die Leidenschaften und das Leben feiern: Liebeserzählungen, Überlebenserzählungen, sinnliche Erzählungen.

Die alte heilige Zahl Zehn ist das Gliederungsgerüst – an die Zehn Gebote erinnern wir uns manchmal – Ungläubige nennen sie lieber die Zehn Verbote. Boccaccio orientierte sich wohl an Dantes Göttliche Komödie, die in hundert Gesänge gegliedert ist. Damals galt die Hundert als vollkommene Zahl.

Boccaccio`s Novellensammlung ist eine frühe literarische Aufarbeitung der Quarantäne durch Flucht vor einer Epidemie, einer Pandemie.

Die Geschichten in Il Decamerone haben oft eine erotische Essenz, besonders der Klerus, Nonnen, Patres, zu alte Ehemänner und sinnliche junge Frauen bekommen da ihr Fett weg.

Deswegen landete Il Decamerone auf dem Index der verbotenen Bücher. Der italienische Dominikaner Savonarola ließ alle Exemplare, die er erlangen konnte, verbrennen – es nutzte nichts.

Erzähle ich heute eine solche Geschichte, heißt es naserümpfend „Du mit deinen Fantasien“ oder zumindest „ Träum nur weiter“.

Die vor über 100 Jahren erschienene Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann kennt die Cholera: Seine Figur Aschenbach verfällt der obsessiven Liebe zu dem Jungen Tadzio, verbindet sein Schicksal mit dem der untergehenden Stadt und dieser stirbt konsequenter Weise dort.

Jetzt haben auch wir eine Pandemie. Den Coronavirus, korrekt Covid-19. Und sind freiwillig-unfreiwillig zu Hause eingesperrt.

Also wieder Quarantäne auch wenn sich inzwischen alles gelokkert. Abstand und Masken sind angesagt. Statt sich des Über-Lebens zu freuen, rottet man sich gegen die vermeintliche Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten zusammen.

In manchen Familien nahmen die Aggressionen bis hin zu körperlicher Gewalt zu. Für andere wurde es eine Zeit der Hinbesinnung, der Umbesinnung, der Hirnbesinnung, der Wie-derbesinnung, der Endbesinnung, vielleicht auch der Schlußbesinnung.