Wir triggern uns zu Tode - Bernhard Hommel - E-Book

Wir triggern uns zu Tode E-Book

Bernhard Hommel

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Beschreibung

Bernhard Hommel beantwortet in seinem neuen Buch die Frage, warum immer mehr Menschen an ihre psychischen Grenzen und darüber hinaus gelangen, unentwegt empört oder niedergeschlagen, und immer öfter gestresst und überfordert sind. Allgemeinverständlich und ohne Fachjargon erklärt er: All diese psychologischen Ausnahmezustände sind neurotischer Natur. Und er zeigt, aus welchen Komponenten menschliche Neurosen bestehen und dass viele gesellschaftspolitische Veränderungen und Moden der letzten Jahre prädestiniert sind, neurotische Zustände in uns herzustellen, zu befeuern und dauerhaft zu etablieren. Aber Hommel bietet auch Trost: Wir können etwas tun, um unsere Neurosen wieder abzuschwächen und unsere soziale Umwelt geistig gesünder zu gestalten.

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Ebook Edition

Inhalt

Cover

Einleitung

Was sind Neurosen?

Aufmerksamkeit

Bewältigungsstrategien

Komplexe

Wie werden wir neurotisch?

Die Flut der Trigger

Selbstsensibilisierung

Die Rehabilitierung des Bauchgefühls

Die Moralisierung des Alltags

Empathie als Klebstoff

Authentizität und Wahrheit

Komplexbildung

Die neuen Narrative

Die öffentliche Haltung

Der autoneurotische Teufelskreis

Wie werden wir unsere Neurosen wieder los?

Neue Sachlichkeit

Dem Zweifel eine Chance

Lust auf Diversität

Nachwort

Literatur

Einleitung

Was sind Neurosen?

Aufmerksamkeit

Bewältigungsstrategien

Komplexe

Wie werden wir neurotisch?

Die Flut der Trigger

Selbstsensibilisierung

Komplexbildung

Der autoneurotische Teufelskreis

Wie werden wir unsere Neurosen wieder los?

Neue Sachlichkeit

Dem Zweifel eine Chance

Lust auf Diversität

Orientierungsmarken

Cover

Inhaltsverzeichnis

Prof. Dr. Bernhard Hommel

WIR TRIGGERN UNS ZU TODE

Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-98791-067-8

1. Auflage 2024

© Westend Verlag GmbH, Waldstraße 12A, 63263 Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Einleitung

Es steht nicht gut um unsere geistige Gesundheit. Der im Jahr 2021 erschienene Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse weist einen seit Mitte der 2000er-Jahre stetig wachsenden Krankenstand aus. Dafür sind keineswegs körperliche Krankheiten verantwortlich, denn die befinden sich seit 2000 auf ungefähr gleichem Niveau. Es sind Störungen von Psyche und Verhalten, die uns zunehmend krank machen, wie ein dramatischer Anstieg über den gesamten Zeitraum deutlich zeigt. Auch die DAK berichtet im selben Jahr über eine Zunahme der Fehltage seit 2010 von 56 Prozent, während körperliche Erkrankungen im selben Zeitraum nur zu 11 Prozent zunahmen. Psychische und Verhaltensstörungen stellen bei jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren mittlerweile den häufigsten Grund für stationäre Krankenhausbehandlungen dar, wogegen sich der Anteil aller körperlichen Ursachen zwischen 2005 und 2020 teilweise deutlich reduziert hat. Der Youth Risk Behavior Survey, eine repräsentative nationale Studie zur Erfassung der psychischen Gesundheit US-amerikanischer Highschool-Studenten zwischen 2011 und 2021, stellt äußerst beunruhigende Trends fest: der Prozentsatz von Studenten mit dauerhaften Gefühlen von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit hat sich in dem Zeitraum von 28 auf 42 Prozent erhöht; inzwischen haben 22 Prozent der Studenten ernsthaft erwogen, sich umzubringen, 18 Prozent haben dazu einen konkreten Plan entwickelt, und 10 Prozent haben diesen Plan bereits (erfolglos) ausgeführt. Studentinnen sind davon stärker betroffen als Studenten: 57 Prozent von ihnen fühlen sich dauerhaft deprimiert, und 30 Prozent haben einen ernsthaften Selbstmordversuch unternommen. Untersuchungen in Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland zeigen sehr ähnliche Trends. Der Psychologe Jonathan Haidt spricht dementsprechend von einer weltweiten Epidemie mentaler Krankheit bei Kindern und Heranwachsenden.

Was aber sind psychische und Verhaltensstörungen eigentlich, worum genau geht es hier? Das Robert Koch-Institut hat diese Kategorie bei 18- bis 79-Jährigen weiter aufgeschlüsselt. Angststörungen machen demnach mit fast 20 Prozent den Löwenanteil aus, gefolgt von etwa 12 Prozent affektiver Störungen (wie etwa Depressionen), Substanzabhängigkeiten (also Drogensucht), psychotische Störungen, Essstörungen und anderem. Diese Kategorien sind keineswegs völlig unabhängig voneinander. Tatsächlich finden sich in der psychiatrischen Diagnose häufig sogenannte Komorbiditäten, wie etwa wenn depressive Personen oder Menschen mit Essstörungen gleichzeitig unter Angst leiden. Auch ohne jede medizinische, psychiatrische und psychologische Ausbildung lässt sich leicht erkennen, dass irgendetwas mit unseren Gefühlen nicht in Ordnung ist. Ebenfalls lässt sich erkennen, dass dies ein relativ neuer Trend ist, der erst so richtig Mitte der 2000er-Jahre einsetzt und der immer größere Teile unserer Gesellschaft umfasst. Dabei geht es nicht nur um psychiatrisch bedeutsame Verhaltensweisen, also Störungen mit einer konkreten psychiatrischen Diagnose. Denn auch außerhalb von Kliniken und psychologischen Behandlungszentren geraten unsere Gefühle aus den Fugen.

Oft beklagt wird etwa die stetige Zunahme narzisstischen Verhaltens im Alltag. Von Narzissmus redet man bei Menschen, die sich besonders großartig und wichtig finden, die also ein großes Bedürfnis nach Bewunderung und einen Mangel an Einfühlungsvermögen in andere an den Tag legen. Menschen mit diesen Eigenschaften gibt es immer mehr: Tatsächlich zeigen einige Studien ein systematisches Wachstum des Narzissmus in westlichen Ländern. Während zum Beispiel um 1963 lediglich 12 Prozent der heranwachsenden US-Amerikaner der Aussage »Ich bin eine wichtige Person« vorbehaltlos zustimmen konnten, stieg der Anteil bis 1992 auf 77 bis 80 Prozent. Neuere Studien legen nahe, dass es sich beim Wachstum von Narzissmus nicht unbedingt um ein Naturgesetz handelt, sondern dass der Anstieg narzisstischen Verhaltens vor allem mit der Benutzung sozialer Medien zusammenhängt. In welche Richtung dieser Zusammenhang entsteht, ob also die Nutzung von sozialen Medien nur ein Ausdruck oder die eigentliche Ursache der narzisstischen Neigung darstellt, ist allerdings noch unklar.

In jedem Fall ist es wichtig, zwischen zwei Formen des Narzissmus zu unterscheiden. Einerseits gibt es den grandiosen Narzissmus, den man leicht an großspurigem, exhibitionistischem Verhalten, einem hohen Maß an Selbstsicherheit und einer »großen Klappe« erkennt. Wenn nicht aus Ihrem Bekanntenkreis, dann werden Sie solche Menschen aus der Sparkassen-Werbung kennen: mein Haus, mein Auto, mein Boot! Diese Art des Narzissmus mag für andere unangenehm sein, aber sie macht einen in der Regel nicht krank. In Führungspositionen und bestimmten Bereichen der Wirtschaft kann sie sich sogar als nützlich für die betroffene Person und das entsprechende Unternehmen erweisen. Andererseits gibt es den verletzlichen Narzissmus, den man an der Introvertiertheit, den negativen Gefühlen, der zwischenmenschlichen Kälte, der Boshaftigkeit und einem hohen Grad an Egozentrik der betroffenen Person erkennt. Menschen mit dieser Art von Narzissmus finden sich zwar großartig und anderen überlegen, haben aber den Eindruck, dass die anderen diese Fähigkeiten nicht hinreichend anerkennen. Und versuchen daher, diese Anerkennung durch Aggressivität gegenüber anderen zu erzwingen. Es ist diese zweite Gruppe, die unter Angststörungen leidet und anderen zu schaffen macht. Es sind Narzissten dieser Art, von der Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit beleidigende, übermäßig persönliche Kommentare im Internet bekommen – wenn Sie dort unterwegs sind. Und die in dafür geeigneten gesellschaftlichen Positionen die Existenzen anderer Menschen bedrohen, manchmal auch vernichten wollen und können.

Psychische Probleme wirken oft nach innen, wie etwa bei Depression oder bei Essstörungen. Menschen mit emotionalen Problemen können sich zum Beispiel ritzen, sich sozial selbst isolieren und in einen Kreislauf negativer Gedanken und Gefühle geraten. Psychische Probleme können aber auch nach außen wirken. Während also manche Betroffenen ihre Probleme »internalisieren«, wie es im Fachjargon heißt, werden sie von anderen externalisiert. Das beginnt mit Wut und anderen nach außen gerichteten negativen Emotionen. Allein in den letzten zwei Jahren hat sich die Anzahl deutscher Bürger, die ihre Gefühlslage mit Wut bezeichnen würden, verdoppelt und liegt nun mit 40 Prozent auf einem besorgniserregend hohen Niveau. Auch die aktive Gewalt nimmt zu. Fälle von Cybermobbing sind in den letzten Jahren rapide gestiegen und haben 2020 ein Rekordniveau von über 17 Prozent Betroffenen zwischen 8 und 21 Jahren erreicht. Die Jugendkriminalität hat nach einem Rückgang während der Pandemie wieder ordentlich zugelegt, vor allem bei Gewaltdelikten von Jugendlichen unter 14 Jahren. Auch die Gewalt in partnerschaftlichen Beziehungen und Familien hat im Jahr 2022 ein neues Rekordniveau erreicht, Fälle der Nötigung, der Bedrohung oder der Nachstellung (Stalking) steigen kontinuierlich an. »Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt«, fasst Bundesfamilienministerin Lisa Paus bei der Vorstellung des Lagebilds Häusliche Gewalt im Juli 2023 zusammen. »Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten.«

Kurzum, wir werden zunehmend das, was man früher »irre« genannt hat, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass Besserung vor der Tür steht. Tatsächlich hat die Corona-Pandemie viele Probleme mit unserer geistigen Gesundheit verstärkt beziehungsweise sichtbar gemacht. Vor allem bei den Jüngeren, die zeitweise des Großteils ihrer sozialen Umwelt beraubt wurden. Nun sind fachliche Diagnosen nicht immer bedeutsam für die breite Öffentlichkeit. Warum sollte sich also diese Öffentlichkeit mit den Entwicklungen an den Rändern ihres Normalitätsspektrums befassen? Mit den Abweichlern. Es hat schon immer ein paar merkwürdige Menschen gegeben, so könnte man denken, warum sollen wir uns Sorgen darüber machen, ob es nun ein paar mehr werden? Sind medizinische Statistiken wirklich so wichtig für unseren Alltag? Ist das nicht etwas für Fachleute? Ich fürchte nicht. Und zwar deshalb, weil wir alle mehr oder weniger betroffen sind. Das zeigen schon die Zahlen: Wenn etwa jeder siebte Erwachsene mindestens einmal im Leben ernsthaft depressiv wird und wenn viele davon auch noch mindestens eine andere psychiatrische Diagnose erhalten, wenn über die Hälfte aller Studentinnen derart hoffnungslos sind, dass viele von ihnen an Selbstmord denken, dann sind das wirklich viele Menschen. Und wir reden hier nur von einer von vielen psychischen Störungen. Die Probleme mit unserer mentalen Gesundheit sind also derart angewachsen, dass es wirklich jeden von uns treffen kann. Das hat einerseits ganz persönliche Konsequenzen, weil es viele dieser Probleme wirklich in sich haben. Andererseits aber auch soziale Konsequenzen, denn die ökonomischen Probleme durch Arbeitsausfälle, Krankenstände und Ähnliches sind sehr real und sehr erheblich. Es geht also wirklich um uns alle. Aus diesem Grund werde ich in diesem Buch davon ausgehen, dass wir es bei diesem Niedergang unserer geistigen Gesundheit mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem zu tun haben.

Für diese Annahme spricht noch ein weiteres Argument. Abseits aller fachlichen Diagnosen und Einschätzungen gibt es nämlich auch noch eine ganze Reihe weniger wissenschaftlich motivierter Zweifel an der geistigen Gesundheit unserer Gesellschaft. In- und ausländische Zeitungen haben Deutschland immer wieder als eine Gesellschaft der »Dauerempörten« charakterisiert. Immer mehr Hass wird im Internet und auf den Straßen verortet – Hass auf Ausländer, Juden, Schwarze, Schwule und viele andere mehr. Deutschland, so hat Thilo Schmidt im Deutschlandfunk diagnostiziert, verliert seine Hemmungen. Der Spiegel konstatiert, dass Unsicherheit und Wut der Deutschen wachsen, gemischt mit Hoffnungslosigkeit. Es braucht wenig medizinischen Sachverstand, um in diesen Tendenzen Vorstufen der von den Krankenkassen festgestellten psychopathologischen (also mit geistigen Erkrankungen zu tun habenden) Entwicklungen zu sehen. Was aber können wir tun? Um das beurteilen zu können, so lautet eines meiner Argumente, müssen wir besser verstehen, welche Mechanismen zu diesen weitreichenden und drastischen Verschlechterungen unserer geistigen Gesundheit geführt haben. Warum sind auf einmal so viel mehr Menschen deprimiert, zerbrechlich oder aggressiv, warum kämpfen sie mit Abhängigkeiten und Essstörungen? Erst wenn wir besser verstanden haben, worin der gemeinsame Kern dieser Probleme besteht, können wir überlegen, wie wir sie bekämpfen, vielleicht sogar beseitigen können. Aber auch für uns selbst ist ein besseres Wissen um die zugrunde liegenden Mechanismen wichtig. Nur wenn wir verstehen, wie wir so geworden sind, können wir diese Entwicklung vernünftig einordnen und ihr konstruktiv begegnen.

Das Ziel dieses Buches besteht daher darin zu erklären, wie die Mechanismen beschaffen sind, die den genannten psychologischen Problemen zugrunde liegen, und wie viele der jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen, die viele von uns eigentlich als sehr positiv empfinden, doch dazu geeignet sind, unsere psychologischen Probleme zu verschärfen. Die Einsicht in diese Zusammenhänge wird entscheidend dafür sein, ob wir diese Probleme wieder in den Griff bekommen. Im nächsten Kapitel werde ich erst einmal argumentieren, dass der Kern der genannten psychologischen Probleme etwas mit Neurosen und Neurotizismus zu tun hat. Dies sind zunächst einfach nur Begriffe, die Sie vielleicht aus der Psychiatrie, aber nicht aus dem Alltag kennen. Nicht-Experten werden sie also wenig sagen, und selbst viele Experten verwenden sie lediglich zur Etikettierung und Einordnung von Patientengruppen beziehungsweise Persönlichkeitseigenschaften – ohne dass sie notwendigerweise verstehen, worum genau es sich dabei handelt. Daher werde ich versuchen, verständlich zu machen, worin das Wesen der Neurosen beziehungsweise des Neurotizismus eigentlich besteht. Um mich selbst und meine Leser nicht in wissenschaftliche Finessen zu verstricken, werde ich dabei viele Details geflissentlich übergehen und lediglich eine relativ holzschnittartige Erklärung anbieten, die aber völlig ausreicht, um zu erkennen, inwiefern Neurotizismus die zunehmend problematischen Verhaltensweisen ermöglicht und befeuert. Und sie macht deutlich, inwiefern wir selbst zur Verstärkung unserer Neurosen und damit zum verstärkten Auftreten verschiedenster emotionaler Störungen beitragen. Mit »uns« selbst meine ich sowohl das Individuum, einschließlich Ihrer und meiner selbst, als auch unsere Gesellschaft, deren aktiver Teil wir ja ebenso sind. Wie wir gemeinsam unsere Neurosen aktiv verstärken, werde ich im darauffolgenden Kapitel anhand verschiedener gesellschaftlicher Trends der letzten Jahre ausführlich besprechen. Das vierte und letzte Kapitel widme ich dann der Frage, welche Möglichkeiten wir haben, um die Entwicklung unserer geistigen Gesundheit zum Guten zu wenden. Wie, werde ich fragen, können wir alle weniger neurotisch werden? Aber der Reihe nach, was sind überhaupt Neurosen?

Was sind Neurosen?

Wortgeschichtlich bedeutet der Begriff Neurose so etwas wie »Nervenkrankheit«. Der erste Teil des Wortes leitet sich vom altgriechischen »Neuron« ab, was im Deutschen so etwas wie Nerv bedeutet, und der zweite Teil »-ose« wird häufig dazu verwendet, Krankheiten zu bezeichnen. In der Psychiatrie werden die Neurosen von den Psychosen unterschieden. Beide sogenannten »Störungen« haben gemeinsam, dass sie sich nicht auf eindeutige körperliche Ursachen zurückführen lassen. Es handelt sich also in beiden Fällen um »Geisteskrankheiten« im tatsächlichen Sinne. Das heißt übrigens keineswegs, dass sich diese Störungen nicht auch körperlich nachweisen lassen. Moderne bildgebende Verfahren konnten vielfach zeigen, dass sich die Hirnaktivitäten von mehr oder weniger neurotischen oder psychotischen Personen von den Aktivitäten anderer systematisch unterscheiden. Neurosen und Psychosen sind also nicht bloß etwas, das man sich einbildet, sondern sie sind sehr real. Aber es gibt eben nicht ein bestimmtes Organ, eine bestimmte Gehirnschädigung, die ihr Auftreten bewirkt. Der Unterschied zwischen Neurosen und Psychosen liegt darin, dass Psychosen die Wahrnehmung der Wirklichkeit in systematischer Weise beeinträchtigen und verzerren, während das für Neurosen nicht zutrifft. Wenn Sie also Dinge sehen, die da nicht wirklich sind, dann leiden Sie vermutlich unter einer Psychose; wenn Sie dagegen gelegentlich Panikattacken bekommen, dann haben Sie es mit einer Neurose zu tun.

Der Begriff der Neurose hat eine längere Geschichte, die mindestens auf den schottischen Arzt William Cullen im 18. Jahrhundert zurückgeht, aber er ist im deutschen Sprachraum vor allem durch die Freud’sche Psychoanalyse populär geworden. Von Neurosen redet man eigentlich vor allem im Bereich der Psychopathologie, wenn es also um Geisteskrankheiten mit einer psych­i­atrischen Diagnose geht. Aber auch geistig vollkommen gesunde Menschen können neurotisch sein, manche mehr, andere weniger. Persönlichkeitspsychologen wie Hans-Jürgen Eysenck haben argumentiert, dass Neurotizismus eine ganz zentrale, also vollkommen »normale« Eigenschaft der menschlichen Persönlichkeit darstellt. Inzwischen haben die wichtigen Persönlichkeitsmodelle Neurotizismus als einen der Bausteine von Persönlichkeit akzeptiert. Das momentan vorherrschende Persönlichkeitsmodell der Big Five, also der Großen Fünf, verbindet den Faktor des Neurotizismus mit vier anderen Faktoren (Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen und Verträglichkeit), um die menschliche Persönlichkeit umfassend zu beschreiben.

Es ist für unsere Zwecke wichtig zu verstehen, dass mit diesen Entwicklungen ein Bedeutungswandel des Konzeptes der Neurose verbunden ist. Zunächst bezog sich dieses Konzept nur auf eine diskrete Eigenschaft, also etwas, was man entweder ist oder nicht ist, beziehungsweise etwas, das man entweder hat oder nicht hat. Und dies nur in einem psychopathologischen Zusammenhang, wenn es also um die Diagnose einer geistigen Erkrankung im medizinischen Sinne ging. Eine Neurose wäre demnach etwas, das man haben oder nicht haben kann und das einen krank macht, wenn man es hat. Solange man keine hat, wäre man vollständig gesund, und wenn man sie bekommt, wäre man ein psychopathologischer Fall. Der Begriff des Neurotizismus oder Neurotizität bezieht sich hingegen auf eine kontinuierliche Eigenschaft, die wir alle in gewissem Maße haben können. Der Grad kann jedoch von Person zu Person variieren, und das persönliche Ausmaß kann man zumindest theoretisch mit geeigneten Fragebögen oder anderen diagnostischen Instrumenten messen. Dies legt nahe, dass es sich bei Neurosen eben nicht um etwas Diskretes handelt, sondern um etwas, das alle Menschen mehr oder weniger stark haben können. Wir könnten demnach neurotisch sein, ohne deswegen gleich krank sein zu müssen beziehungsweise eine psychopathologische Diagnose zu erhalten. Und dieser Neurotizismus kann unter bestimmten Umständen zu- oder abnehmen. Es ist dieses kontinuierliche Verständnis von Neurosen, das ich mir in diesem Buch zu eigen machen möchte. Es geht mir also im Weiteren nicht um eine bestimmte psychopathologische Kategorie oder eine diagnostizierte Nervenkrankheit. Sondern es geht mir um einen Aspekt der Persönlichkeit, den wir alle mehr oder weniger teilen. Nach diesem Verständnis können Neurosen auf einer Skala kontinuierlich variieren, sodass manche von uns minimal neurotisch sind (also minimale Neurotizismus-Werte auf einer Skala erzielen würden), manche von uns maximal neurotisch (also maximale Werte erzielen würden), während wieder andere irgendwo dazwischenliegen. Wo man auf dieser Skala eine psychopathologische Linie ziehen möchte (oder ob man das überhaupt tun will), ist für meine Argumentation unerheblich. Denn ich rede von Neurosen und neurotischen Neigungen, die wir alle haben (können).

Aber warum rede ich überhaupt über Neurosen? Dieses Konzept ist deshalb interessant, weil es mit all den Problemen, die ich eingangs erwähnt habe, zu tun hat: Depressionen, Angstzustände, Suchtverhalten, Essstörungen, Aggressionen gegenüber sich selbst und anderen und vieles mehr. Menschen, die unter diesen Problemen leiden, zeigen in der Regel erhöhte Werte auf Neurotizismus-Skalen entsprechender Fragebögen. Dies legt wiederum nahe, dass wir einen besseren Zugang zu den geschilderten Problemen haben, wenn wir nur etwas besser verstehen, was Neurotizismus eigentlich ist. Was also ist Neurotizismus? Eine ausgefeilte, allgemein akzeptierte Theorie der mechanistischen Grundlagen von Neurotizismus haben wir nicht, und so bleibt es oft bei bloßen Beschreibungen. Geht man von den Fragen aus, mit deren Hilfe Neurotizismus in Fragebögen diagnostiziert wird, dann zeichnen sich hochneurotische Personen durch die folgenden Verhaltensweisen aus: Sie sind ängstlich, reizbar, nervös, deprimiert, unzufrieden, introvertiert, sozial befangen, impulsiv, sensibel und verletzlich. Personen mit niedrigen Neurotizismus-Werten lassen sich hingegen als emotional stabil, unempfindlich und unsensibel beschreiben. Wir merken hier bereits, dass Neurotizismus Vor- und Nachteile hat, denn sensibel sind Menschen in der Regel sehr gern, sehr ängstlich hingegen eher nicht. Es ist ebenfalls leicht zu erkennen, dass es bei Neurotizismus um Emotionen geht, also um das Reagieren auf emotionale Reize und auf den Umgang damit. Diese Themen werden uns im Weiteren noch öfter beschäftigen, und sie stellen auch einen Schlüssel dafür dar, wie man den Mechanismus neurotischen Verhaltens verstehen kann.

Aufmerksamkeit

Für ein tieferes Verständnis neurotischen Verhaltens ist es wichtig, sich mit drei Faktoren und deren Zusammenwirken auseinanderzusetzen, denn es ist die Art ihres Zusammenspiels, die Neurosen erzeugt. Den ersten Faktor könnte man Aufmerksamkeit nennen. Aufmerksamkeit ist ein schillernder Begriff, der zu viele Bedeutungen hat, um wissenschaftlichen Nutzen daraus zu ziehen. Was ich hier meine, ist allerdings etwas ganz Konkretes: Wie viel Aufmerksamkeit messen wir dem emotionalen Aspekt von Ereignissen bei, die wir wahrnehmen und verarbeiten? Oder anders gesagt: Wie hoch gewichten wir den emotionalen Anteil eines Ereignisses oder einer Botschaft im Vergleich zu dem inhaltlichen Anteil? Der Begriff der Aufmerksamkeit bezieht sich hier auf den Einfluss, den bestimmte Eigenschaften von Ereignissen auf unser Erleben und unser Handeln haben. Normalerweise fokussieren wir uns auf nur wenige dieser Eigenschaften: Die Bedeutung einer Nachricht hängt nicht von der Beschaffenheit des Papiers ab, auf der sie gedruckt wurde, oder der Größe des Monitors, auf dem sie erscheint; der Geschmack eines Fisches hängt nicht vom Dekor des Tellers ab, auf dem er serviert wird; und die wahrgenommene Klarheit eines Sees hängt nicht vom Wochentag ab, an dem man ihn wahrnimmt. Manche Eigenschaften eines wahrgenommenen Ereignisses sind also für uns viel wichtiger als andere, sodass wir unsere Aufmerksamkeit auf die wichtigen richten und die unwichtigen ignorieren. Interessanterweise verarbeiten wir immer auch die unwichtigen, und dies kann auch durchaus einiges mit uns anstellen; aber darum soll es in diesem Zusammenhang nicht gehen.

Alle Ereignisse haben nicht nur Eigenschaften, die man physisch beschreiben kann, also eine bestimmte Größe, eine bestimmte Farbe, einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem man ihnen begegnet, und so weiter, sondern sie haben auch emotionale Eigenschaften: Eine Schlange finden wir vielleicht angsterregend, eine Flutwelle beunruhigend, ein schönes Bild mag uns begeistern, ein bestimmter Rhythmus kann uns mitreißen, und vieles mehr. Einige Ansätze in der Emotionsforschung gehen davon aus, dass wir diese emotionalen Eigenschaften von Ereignissen ganz automatisch verarbeiten, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Tatsächlich haben wir ja auch dann Angst vor Spinnen, wenn wir ganz genau wissen, dass sie eigentlich unschädlich sind, und viel kleiner als wir selbst sind sie ja ohnehin. Während seiner Studien über die menschliche Emotion war Charles Darwin fasziniert von der Beobachtung, dass er selbst immer wieder große Angst beim Anblick von Schlangen entwickelte, obwohl sie doch ganz offensichtlich in einem Terrarium eingeschlossen und daher für ihn völlig ungefährlich waren. Die emotionalen Eigenschaften von Ereignissen scheinen uns also zu überkommen, lange bevor wir rationale Überlegungen über diese Ereignisse anstellen und unsere Reaktionen darauf abstimmen können. Präferenzen (also emotionale Zu- oder Abneigung) brauchen keine Schlussfolgerungen, so hat dies der Psychologe Robert Zajonc einmal zusammengefasst.

Einen großen Anteil an dieser hochgradig automatischen Verarbeitung emotionaler Information hat der sogenannte Mandelkern, die Amygdala. Diese Hirnstruktur hat ihren Namen wegen ihres mandelförmigen Äußeren und sie findet sich in unserem limbischen System, also in einem evolutionär ziemlich alten Teil unseres Gehirns. Daher ist sie auch relativ direkt mit unseren Sinnesorganen verdrahtet und kann unsere Handlungen gewissermaßen kurzschließen. Wenn wir ein emotional relevantes Ereignis registrieren, dann wird eine ganze Reihe von Verarbeitungsprozessen gezündet, deren Ergebnis unsere bewusste Wahrnehmung ist. Die Augen leiten beispielsweise Informationen zum visuellen Kortex weiter, wo sie durch eine ganze Reihe von »Merkmalskarten« (also Hirnregionen, die sich der Analyse ganz bestimmter Merkmale widmen, wie Form oder Farbe) analysiert werden. Das Ergebnis wird an Hirnregionen weitergeleitet, die komplexere Verarbeitungen zuwege bringen können. So nehmen wir dann irgendwann ein bestimmtes Objekt wahr, das uns vielleicht vertraut vorkommt und zu dem uns auch ein Name einfällt. Das dauert seine Zeit, gerade bei der visuellen Informationsverarbeitung, die ja sehr stark auf chemischen und damit sehr langsamen Prozessen beruht. Bevor wir zum Beispiel realisieren, dass vor uns eine Schlange liegt, kann schon mal eine halbe Sekunde vergehen. Wenn wir dann erst noch eine Entscheidung treffen müssen, was zu tun ist, und diese Entscheidung in eine motorische Handlung übersetzen, nähern wir uns bereits einer Sekunde oder mehr – für erfolgreiches Überleben eine Ewigkeit. Daher ist es nützlich, auch aus evolutionärer Perspektive, dass wir mithilfe unseres Mandelkerns und seiner direkten Verdrahtung mit Wahrnehmung und Handlung vielen Gefahren reflexhaft begegnen können. In nur wenigen Hunderten Millisekunden sind wir meist schon zur Seite gesprungen oder weggelaufen, lange bevor wir tatsächlich verstanden haben, dass die Schlange der Auslöser war.