Wir und die Anderen? - Margreth Lünenborg - E-Book

Wir und die Anderen? E-Book

Margreth Lünenborg

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Beschreibung

Flucht, Migration und Integration – diese Themen spielen in journalistischen Mediendiskursen aktuell eine wichtige Rolle. Während zu Inhalt und Sprache der Berichterstattung schon lange geforscht wird, ist das Wissen über den redaktionellen Einsatz und die Gestaltung von Bildern bislang sehr begrenzt. Diese Studie analysiert die Bildberichterstattung in Tageszeitungen und Magazinen zu den Themen "Flucht" und "Migration" anhand ausgewählter Ereignisse. Welche Bilder von Geflüchteten, von Migrantinnen und Migranten werden uns in deutschen Printmedien gezeigt, welche bleiben ungesehen? Wer wird als Individuum erkennbar, wer bleibt anonym? Wer wird als handlungsmächtig sichtbar und wer nicht? Deutlich wird, dass Pressefotografie keine Wirklichkeit abbildet, sondern eigene Muster der Sichtbarkeit erzeugt. Auch wenn dabei "Fremde" zu sehen sind, zielt die Bildaussage oft auf die Vergewisserung des "Eigenen", der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Ob Geflüchtete als hilfsbedürftig oder als bedrohlich erkennbar werden, hängt maßgeblich von Selektions- und Darstellungskonventionen journalistischer Bildberichterstattung ab.

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Margreth Lünenborg, Tanja Maier

Wir und die Anderen?

Eine Analyse der Bildberichterstattung deutschsprachiger Printmedien zu den Themen Flucht, Migration und Integration

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Ulrich Kober

Lektorat: Helga Berger, Gütersloh

Herstellung: Sabine Reimann

Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Umschlagabbildung: Bertelsmann Stiftung/Besim Mazhiqi

Satz: Katrin Berkenkamp, Bielefeld

Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-782-5 (Print)

eISBN 978-3-86793-832-7

ISBN 978-3-86793-783-2 (E-Book PDF)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

1 Einleitung

2 Forschungsstand

2.1Migration und Cultural Citizenship

2.2Forschungsfeld Migration und Medien

2.3Empirische Studien zur visuellen Migrationsberichterstattung

3 Methodische Vorgehensweise

3.1Mediensample, Auswahl der Fallbeispiele und Erhebungszeiträume

3.2Methodische Vorgehensweise der Bildanalyse

4 Fallanalysen

4.1Integrationsgipfel

4.1.1 Überblick über die Motivgruppen

4.1.2 Feinanalyse ausgewählter Bildmotive

4.2Rede von Bundespräsident Wulff

4.2.1 Überblick über die Motivgruppen

4.2.2 Feinanalyse ausgewählter Motivgruppen

4.3Fluchtbewegungen über das Mittelmeer

4.3.1 Überblick über die Motivgruppen

4.3.2 Feinanalyse ausgewählter Bildmotive

4.4Willkommenskultur in Deutschland

4.4.1 Überblick über die Motivgruppen

4.4.2 Feinanalyse ausgewählter Bildmotive

5 Fazit und Schlussfolgerungen

6 Literaturverzeichnis

7 Abbildungsnachweise

8 Die Autorinnen

9 Abstract

Vorwort

Aylan Kurdi war nicht der erste Flüchtling, der die Flucht über das Meer mit dem Leben bezahlte. Aber sein Tod am 2. September 2015 veränderte dennoch auf einen Schlag und weltweit die Wahrnehmung der alltäglichen Tragödie im Mittelmeer. Es gibt dafür einen wesentlichen Grund: das Foto des angeschwemmten toten syrischen Kindes am Strand von Bodrum, das die türkische Fotografin Nilüfer Demir aufgenommen hat.

Was zahllose Appelle von Hilfsorganisationen und kontinuierliche Berichterstattung über den barbarischen Krieg in Syrien nicht vermochten, war infolge der rasanten Verbreitung und Rezeption des Fotos plötzlich Realität: Die Debatte über das globale Migrationsgeschehen, seine Ursachen, seine Opfer sowie die Rolle jener Länder, in die sich die Kriegsopfer flüchten, veränderte sich. In Kanada, wohin die Familie Kurdi ursprünglich hatte fliehen wollen, aber wegen eines fehlenden Visums nicht konnte, hat das Bild des toten Aylan Kurdi die Einwanderungspolitik der Regierung gegenüber Schutzsuchenden aus Syrien gar nachhaltig verändert.

Die Geschichte des Fotos wirft ein Schlaglicht auf die ikonografische Macht von Pressebildern. Seine enorme Wirkung auf ein globales Publikum erzählt viel über unser kollektives Bildergedächtnis. Dass das Bild des toten Jungen zumindest für einen kurzen historischen Moment all jene Fronten zu überwinden vermochte, die die diversen politischen Lager in der Flüchtlingspolitik voneinander trennen, zeugt davon, dass mächtige Bilder in der Lage sind, narrative Strukturen zu schaffen. Sie können zum Bezugspunkt für eine neue Erzählung werden – in diesem Falle eines des Mitleids mit den unschuldigen, aber bis dato anonymen und gesichtslosen Opfern, die ihr Leben riskieren auf der verzweifelten Suche nach Rettung vor dem Krieg.

Doch ist dies nur die eine Seite der faszinierenden Macht kraftvoller Bilder. Die andere Seite lässt sich am Beispiel eines ganz anderen Fotos illustrieren, das der dpa-Fotograf Patrick Lux 1994 anfertigte. Es zeigt eine anonyme junge Frau mit Kopftuch, die, mit dem Rücken zur Kamera stehend, das Wort Integration an eine Tafel schreibt. Das Foto gehört zu den häufigsten Motiven in der Bebilderung von Migrationsthemen in Deutschland, findet regelmäßig Verwendung auch in Kontexten, in denen es weder um Muslime noch um Bildung noch um Frauen geht. Warum ist dieses Bildmotiv, übrigens zum Ärger des Fotografen, so universal einsetzbar, sobald Bildredaktionen ins Archiv steigen und das Thema Migration zu bebildern suchen? Weshalb löst das Bild einer jungen Muslimin mit Kopftuch an der Tafel beim Betrachter offenbar unmittelbar die Assoziation Migrantin aus, obwohl wir von der gesichtslosen Frau nichts wissen, außer dass sie ein Kopftuch trägt?

Die mediale Karriere dieses Fotos erzählt wiederum viel über die archetypischen Bilderwelten in den Köpfen der Betrachter, an die dieses Motiv unmittelbar anschließen kann. Gerade weil Muslime zum Inbegriff des Fremden geworden sind, zum ewigen Objekt integrationspolitischer Bemühungen, zum Sinnbild all der Problemlagen, denen wir uns tatsächlich oder auch nur vermeintlich auf dem Gebiet der Integration gegenübersehen, wird das Foto zur universal einsetzbaren Chiffre – und damit zugleich zum Spiegelbild unserer ureigensten Migrationsphantasien. Der Umstand, dass das Bildmotiv seit über 10 Jahren ununterbrochen Verwendung findet, zeugt davon, dass es sich längst entkoppelt hat von der migrationspolitischen Realität, dass es immun ist gegen jede Korrektur mit Hinweis auf eine differenziertere Wirklichkeit. Das Bild, so könnte man sagen, ist stärker als die Evidenz, die sich über Muslime, Migration und ein vielfältiges Deutschland stattdessen erzählen ließe. Es ordnet stattdessen in stereotyper Form Vorstellungen, Ideen und Emotionen von Migration so an, dass es im Auge des Betrachters zum schnell verstehbaren Referenzpunkt wird: Wenn du dieses Bild siehst, bist du mit dem Thema Migration konfrontiert.

Das Problem dieser monotonen, symbolgetränkten Bildsprache – weniger ein Problem des Bildes an sich als vielmehr seiner Kontextualisierung in konkreten Berichterstattungsmustern – ist evident. Es fixiert die dargestellte Frau in einem eng umrissenen Feld, schreibt ihr stellvertretend für eine ganze Gruppe von Menschen Eigenschaften zu, verwandelt sie so in eine assoziationsreiche Projektionsfläche, aus der sie sich nur schwer herausbewegen kann, in der sie eher das Ergebnis dieser Zuschreibungen ist und nicht aktive Zeugin ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.

Doch wie typisch sind derartige Symbolbilder für die Migrationsberichterstattung in deutschen Medien eigentlich? Erstaunlicherweise weiß die Wissenschaft weltweit zu diesem Thema eher wenig zu sagen, und das, obwohl wir in einer Medienwelt leben, die so stark von Bildern geprägt wird wie nie zuvor. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung hat sich trotz der seit den 1990er Jahren diskutierten ikonischen Wende, also der Renaissance der Bildwissenschaften, bislang vor allem mit der textlichen Berichterstattung über Migration befasst und dort wiederholt und weltweit dokumentiert, dass in ihr problemfixierte Stereotypisierungen von Migranten und die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Muslime, Sinti/Roma etc.) häufig anzutreffen sind.

Insofern betritt die vorliegende Bilder-Studie von Margreth Lünenborg und Tanja Maier weitgehend Neuland. Die beiden Forscherinnen der FU Berlin haben rund um konkrete Berichterstattungsanlässe – Integrationsgipfel, Christian Wulffs Islam-Rede, Flüchtlingstote im Mittelmeer und Willkommenskultur-Euphorie 2015 am Münchner Hauptbahnhof – die Bildsprache in FAZ, Süddeutsche Zeitung, taz, BILD sowie den Magazinen SPIEGEL und STERN untersucht. In ihrer Studie haben sie knapp 450 Bilder identifiziert und analysiert.

Die wichtigsten Erkenntnisse: Die Bildsprache der deutschen Medien ist vielschichtiger und damit weniger stereotyp, als es die zuvor erwähnten Befunde zur Berichterstattung über Migration hätten vermuten lassen. Dennoch sind die Probleme in der Visualisierung des Themas nicht zu übersehen. So ist augenfällig, dass auch in der Bildsprache Migration überproportional oft als Bedrohung und Problem inszeniert wird, dass die kulturelle Differenz zwischen uns und den Anderen betont wird, dass Migranten nicht selten anonym und konturenlos als Masse erscheinen, ohne Geschichte und ohne Individualität.

Was die Studie ebenfalls deutlich macht: In den Visualisierungsstrategien der Medien geht es weit häufiger primär um die Befindlichkeiten der Aufnahmegesellschaft und damit eben nicht um ein bloßes Abbilden der Wirklichkeit, wie es auch Fotojournalisten für sich häufig reklamieren. Vielmehr fließen in die Bildgestaltung die Sorgen, Hoffnungen und Phantasien des deutschen Publikums ein. In einer Fotografie, die ein überfülltes Flüchtlingsboot zeigt, manifestiert sich somit nicht nur eine Realität im Mittelmeer: Die Inszenierung und Kontextualisierung des Bildes wirft nicht selten zugleich die Frage auf, die dem Bild latent zu Grunde liegt: Schaffen wir das? Wollen wir das?

Bilder knüpfen so an innere Bilder der Betrachter an, lösen Assoziationsketten von gelingender oder womöglich gescheiterter Migration aus; sie werfen Fragen kultureller Differenz und des eigenen Selbstverständnisses in Bezug auf die globalen Veränderungsdynamiken aus. All das ist zunächst kein Problem von Bildern. Aber es ist der Subtext, die Tiefendimension visueller Kommunikation, derer sich Fotografen und Rezipienten bewusst sein müssen und die komplexer ist, als es die Rede von der Fotografie als unmittelbarem Abbild der Wirklichkeit glauben machen will. In einer solchen Perspektive, resümieren die Autorinnen, »geht es nicht um den Aktualitäts-, Informations- oder Realitätsbezug von Bildern, sondern darum, wie journalistische Bilder und Diskurse daran mitwirken, was in bestimmten kulturellen Kontexten überhaupt unter Flucht, Integration und Migration verstanden wird.«

Im Zusammenhang mit dieser Tendenz zur thematischen Selbstreferentialität in der Visualisierung des Migrationsgeschehens, die sich in der Berichterstattung selbst ebenfalls findet, kommt überdies eine Dimension oft zu kurz: die Selbstauskunft jener, die auf den Bildern zu sehen sind. Migrationsfotos zeigen zwar oft Menschen aus anderen Kulturen. Aber wir erfahren wenig über diese Menschen selbst, ihre Geschichten und Motive, ihre Erwartungen und Hoffnungen, weil unser Blick auf sie primär geleitet ist durch unsere Fragen und Erwartungen – ein Phänomen, das ja auch schon in der Analyse der eingangs erwähnten ikonischen Bildmotive von Aylan Kurdi und der namenlosen Kopftuchträgerin deutlich geworden ist.

Die Bertelsmann Stiftung verknüpft mit der Veröffentlichung der Studie von Margreth Lünenborg und Tanja Maier die Hoffnung, dass sie den Anstoß gibt für eine intensivere Diskussion der journalistischen Bildsprache über Flucht und Migration.

Franco ZottaProject ManagerProgramm »Integration und Bildung«Bertelsmann Stiftung

1 Einleitung

Migration, Flucht und Integration sind auf der politischen Agenda wie auch in öffentlichen Debatten ein aktuelles und viel diskutiertes Thema.1 Entsprechend widmet sich auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung in Deutschland seit rund 20 Jahren verstärkt diesem Themenkomplex und der Rolle, die journalistischen Medienangeboten dabei zukommt (siehe Kapitel 2). Journalistische Bilder wurden in diesem Kontext bisher kaum untersucht. Die vorliegende Studie nimmt daher journalistische Bildproduktionen gezielt in den Blick und untersucht sie im Rahmen der visuellen Migrationsberichterstattung in deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Dazu werden die Bildmotive ebendieser visuellen Berichterstattung analysiert und die dadurch hergestellten Sichtweisen auf die Themen »Migration«, »Flucht« und »Integration« herausgearbeitet. Ziel der Studie ist also die Analyse der journalistischen Selektions- und Darstellungskonventionen innerhalb der visuellen Migrationsberichterstattung. Es wird gezeigt, welche Bildmotive ausgewählt werden, wie diese redaktionell gestaltet werden und schließlich wie darüber spezifische Sichtweisen auf Migration hergestellt (und andere verhindert) werden. Berücksichtigt wird dabei auch die Frage, ob es sich hierbei vor allem um negative, abwertende und stereotypisierende Bilder und Sichtweisen handelt oder ob diese auch durchbrochen werden.

Die Studie basiert auf vier Fallbeispielen, die verschiedene Ereignisse und Themen umfassen. Bei der Auswahl der Ereignisse war zentral, dass sie unterschiedliche Aspekte aus den Bereichen Migration, Flucht und Integration einschließen und dass sie unterschiedlichen Ereignistypen angehören. So finden nicht nur negative und konfliktorientierte Ereignisse Eingang, sondern auch positive und/oder neutrale Themenfelder; auf diese Weise wird ein Spektrum an Ereignissen und Themen berücksichtigt, das besondere Erfolge, reguläre politische und gesellschaftliche Abläufe sowie konflikthafte Geschehen betrifft (vgl. Hafez 2002: 35). Enthalten sind dabei sowohl Ereignisse, die den Strategien politisch inszenierter öffentlicher Kommunikation folgen und somit journalistisch planbar sind, als auch solche, die unerwartet, als nicht geplante Ereignisse, schnelle Entscheidungsund Selektionsprozesse in den Redaktionen erfordern.

In den aktuellen Auseinandersetzungen um Migration ist die Integration in der Bundesrepublik Deutschland ein bedeutsames Thema. Wichtige Ereignisse, die den Migrationsdiskurs prägen, sind die sogenannten Integrationsgipfel: Sie zeigen zentrale Stellungnahmen der Bundesregierung zum Thema »Migration und Integration« und geben das thematische Feld wieder, auf dem sich die Migrations- und Integrationspolitik aktuell mit ihren regulativen Fragen bewegt (vgl. Castro Varela 2007: 23; Mecheril 2011: 51). Der 1. Integrationsgipfel fand 2006 auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundeskanzleramt in Berlin statt. Die anwesenden 70 Vertreter_innen aus Politik und Gesellschaft verständigten sich darauf, einen Nationalen Integrationsplan zu erstellen. Als zentrale Ziele der staatlichen Integrationspolitik wurden bessere Ausbildungschancen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund formuliert (vgl. hierzu und zum Folgenden: Nationaler Aktionsplan Integration 2011: 10 ff.).

Im Nationalen Integrationsplan, der auf dem 2. Integrationsgipfel 2007 vorgelegt wurde, verpflichteten sich Bund, Länder und Kommunen dazu, Migrant_ innen besser in die Gesellschaft und dabei vor allem in den Bildungsbereich und den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zentrale Stichpunkte waren Integration durch Bildung und durch Sprache sowie in das Ausbildungs- und Erwerbsleben und die Wissenschaft, ebenso die Integration von Frauen und Mädchen sowie die kulturelle Integration durch Medien, Sport etc. Als Erweiterung und Weiterentwicklung wurde auf dem 5. Integrationsgipfel 2012 der Nationale Aktionsplan Integration mit insgesamt elf Themen vorgestellt, wobei bildungspolitische Themen weiterhin den Schwerpunkt bildeten.2 Das erste Fallbeispiel der vorliegenden Studie beschäftigt sich mit der visuellen Berichterstattung über die Integrationsgipfel 2006 sowie 2013 und 2014, in deren Mittelpunkt die Integration von Migrant_innen in den Bildungsbereich und in den Arbeitsmarkt stand.

Wenn es um das Thema Migration geht, spielen Fragen der Kultur und damit auch der Religion eine wichtige Rolle. In den religionspolitischen Debatten des Migrationsdiskurses stellt eine Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff ein Ereignis dar, das bis heute in der Berichterstattung nachklingt. Anlässlich des 20. Jahrestags der Deutschen Einheit hielt Wulff eine Rede unter dem Titel »Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern«.

In seiner Rede auf der zentralen Einheitsfeier in Bremen am 3. Oktober 2010 stellte Wulff fest:

Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem West-östlichen Divan zum Ausdruck gebracht: »Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen«. (Wulff 2010: 6)

Aus der gesamten Rede wurde in der darauffolgenden öffentlichen Diskussion und in der Presseberichterstattung vor allem der Satz(teil) »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« herausgegriffen und breit diskutiert. Diese Aussage des damaligen Bundespräsidenten hat die Diskussion um die Rolle des Islam in Deutschland nachhaltig geprägt.3 Mit der visuellen Berichterstattung über die Rede selbst und die daran anschließende Debatte über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland beschäftigt sich das zweite Fallbeispiel.

Ein weiteres hochaktuelles Thema in medienvermittelten Migrationsdiskursen stellen Fluchtbewegungen dar. Nach Angaben des Flüchtlingswerks UNHCR waren 2013 etwa 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Im Jahr 2015 hat sich diese Zahl sogar auf 59,5 Millionen Menschen erhöht, wobei sich nur ein kleiner Teil davon auf den Weg nach Europa macht (vgl. UNHCR 2014, UNHCR 2015). Die Menschen, die auf dem Seeweg nach Europa flüchten, begeben sich indes in Lebensgefahr: Am 3. Oktober 2013 sank beispielsweise vor der italienischen Insel Lampedusa ein Schiff mit rund 500 Personen an Bord; vermutlich kamen dabei 366 Menschen ums Leben (vgl. IOM 2014: 11 und 15). Nur kurz darauf, am 11. Oktober 2013, starben am selben Ort weitere 34 Menschen (vgl. ebd.: 15). Die beiden Bootsunglücke und die hohe Zahl der Todesfälle an den EU-Außengrenzen im Mittelmeer lösten 2013 eine öffentliche Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik aus. Dessen ungeachtet konnte die Internationale Organisation für Migration (IOM) allein für die ersten elf Monate des Jahres 2014 über 3.000 Todesopfer im Mittelmeer dokumentieren (vgl. ebd.: 20 f.). Im April 2015 kamen bei einem einzigen Bootsunglück vor der libyschen Küste vermutlich 700 Menschen ums Leben. Die visuelle Berichterstattung über die Todesfälle an den EU-Außengrenzen und die Migrationsbewegungen über das Mittelmeer nach Europa bildet das dritte Fallbeispiel.

Im letzten Fallbeispiel wird das Thema »Flucht und Migration« anhand eines weniger konflikthaften Diskurses untersucht, nämlich der Willkommenskultur für Geflüchtete in Deutschland. Der Begriff der Willkommenskultur erfasst nach Heckmann eine »Grundhaltung der Offenheit und Akzeptanz gegenüber Migranten« (Heckmann 2012: 2). Ausgangspunkt ist im vorliegenden Fall die Ankunft von Geflüchteten in Deutschland, nachdem Ungarn ihnen am 1. September 2015 erlaubt hatte, ohne Kontrollen Richtung Westen zu reisen. Im vierten Fallbeispiel wird die visuelle Berichterstattung über die Ankunft von in Ungarn ›gestrandeten‹ Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof analysiert, die Deutschland einreisen ließ.

1Migration erfasst in der vorliegenden Studie alle Formen grenzüberschreitender Mobilität von Menschen, die zur Notwendigkeit einer neuen kulturellen Beheimatung führen. Flucht meint dabei eine spezifische Form der Migration (forced migration), die in der Regel durch akute Krisen- oder Kriegsgründe ausgelöst wird. Die Unterscheidung rechtlich diverser Flucht- und Migrationsgründe, aus denen unterschiedliche Ansprüche auf Aufenthalt in Europa abgeleitet werden, ist in der vorliegenden Studie nicht von Relevanz.

2Die thematischen Schwerpunkte sind: 1) Frühkindliche Förderung, 2) Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, 3) Arbeitsmarkt und Erwerbsleben, 4) Migranten im öffentlichen Dienst, 5) Gesundheit und Pflege, 6) Integration vor Ort, 7) Sprache – Integrationskurse, 8) Sport, 9) Bürgerschaftliches Engagement, 10) Medien, 11) Kultur (vgl. Nationaler Aktionsplan Integration 2011).

3Auf der 1. Islamkonferenz 2006 hat Wolfgang Schäuble einen ähnlichen Satz formuliert. In einer Eröffnungsrede sagte er: »Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas.« (vgl. http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Videos/DIK/DE/video-festakt-10-jahre-dik-schaeuble.html?nn=3330992)2006.

2 Forschungsstand

2.1 Migration und Cultural Citizenship