Wirrnis und Wagnis - Alexander Bunde - E-Book

Wirrnis und Wagnis E-Book

Alexander Bunde

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Beschreibung

Als die Profiboxkarriere von Tony zerbricht, verlässt ihn seine langjährige Partnerin. Er muss sich neu orientieren, die Rückkehr ins Berufsleben gestaltet sich schwierig. Auch seine Beziehungen zu Frauen enden meist nach kurzer Zeit. Nach erfolglosen Versuchen eine Anstellung zu finden entscheidet er sich, ein Transportunternehmen zu gründen. Anfänglich läuft alles zufriedenstellend, erst durch Zufall merkt er, dass er von einem Kunden getäuscht und für Drogentransporte missbraucht wurde. Als er diese kriminelle Zusammenarbeit beenden will, wird er von Dealern erpresst und bei einer Auseinandersetzung schwer verletzt. In Zusammenarbeit mit der Polizei gelingt es, vor allem durch seinen todesmutigen Einsatz, den internationalen Rauschgiftring zu sprengen. Doch die Unterbrechung seiner unternehmerischen Aktivitäten wirkt sich negativ aus, er verliert viele Kunden, muss den Betrieb einstellen und kehrt wieder in den Boxring zurück. Er lernt die hübsche, blutjunge Lisa kennen, die sich nach einer kurzen Romanze von ihm wegen eines Missverständnisses trennt. Während eines dramatischen Kampfverlaufs im Boxring halten ihm nur die Erinnerungen an Lisa aufrecht und verhindern seinen Untergang.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

1.

Er hörte den Lärm in der Halle kaum, nur langsam verstärkte sich seine Wahrnehmung. Er öffnete die Augen. Über ihn war ein Mann mit fleischigen Wangen in einem weißen Hemd und einer schwarzen Fliege gebeugt, der seinen Arm hob und senkte und dabei zählte.

Dumpf durchfuhr es ihn: Wenn er sich nicht augenblicklich erhob und weiterboxte, dann war er K. o. und die eben begonnene Karriere als Profiboxer zu Ende. Er versuchte, auf die Knie zu kommen und sich an den Ringseilen hochzuziehen, doch er schaffte es nicht. Der Ringrichter kreuzte die Arme, der Kampf war beendet. Sein Trainer stürzte aus der Ecke und half Tony auf die Beine, der sich nach einigen Augenblicken wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass er halbwegs klar denken konnte.

„Bist du okay?“, erkundigte sich sein Trainer, ein kräftiger Mitvierziger mit rundem, gutmütigem Gesicht und blauen Augen.

„Ja“, erwiderte Tony leise. Er bot einen jammervollen Anblick, besiegt, blutend und gedemütigt.

Der Ringrichter kam in die Ecke und erkundigte sich ebenfalls um das Wohlergehen von Tony.

„Er ist okay“, brummte Bergmann, sein Trainer.

„Komm’ in die Ringmitte zur Urteilsverkündigung“, bat der Ringrichter Tony und wollte ihm stützend unter die Arme greifen. Doch dieser stieß ihn heftig zurück. Wenn die Blamage nur bald beendete wäre, dachte er und schleppte sich in die Ringmitte. Die beiden Kämpfer stellten sich auf, der Ringrichter hob den rechten Arm seines Gegners als der Saalsprecher dessen Sieg verkündete. Tony gratulierte kurz und hatte nur mehr einen Wunsch: so schnell wie möglich den Ort der Niederlage zu verlassen.

In der Garderobe warf er wütend die Boxhandschuhe in eine Ecke und betrachtete sein zerschlagenes Konterfei im Spiegel. Ober dem rechten Auge hatte er einen Cut und auch am rechten Nasenflügel war die Haut aufgeplatzt. Beide Wunden waren jedoch nicht tief und konnten mit Pflasterstreifen zusammengehalten werden. Sein Trainer saß schweigend mit ratlosem Gesicht auf einem Hocker. Scheinbar fiel es ihm schwer, zum traurigen Ausgang des Kampfes etwas zu sagen. Tony brach die peinliche Stille.

„Ich werde mich jetzt duschen, kannst du nachher meine Cuts versorgen?“

„Ist doch klar“, antwortete Bergmann. „Weißt du“, fügte er dann hinzu, „du hättest diesen Kampf nie verlieren dürfen. Du bist nach Punkten ganz eindeutig vorne gelegen. Warum du in der siebenten Runde die Deckung vernachlässigt hast, das ist mir ein Rätsel.“

„Er hat mich mit einem Leberhaken voll erwischt“, erklärte Tony. „Ab diesem Zeitpunkt bekam ich Probleme mit der Atmung. Ich wollte ihn daher schnell ausknocken. Dabei bin ich ein zu großes Risiko eingegangen. Das war’s dann.“

„Ich würde mich von der Niederlage nicht von der Fortsetzung der Profikarriere abhalten lassen“, sagte Bergmann nachdenklich. „Dein heutiger Gegner war ein sehr guter Mann. Es war ein Fehler gegen ihn anzutreten. Ich habe dich vor ihm gewarnt, aber du wolltest unbedingt gegen ihn boxen.“

„Ja, ja“, erwiderte Tony genervt. „Ich wollte wissen, wo ich stehe. Mich in meinem Alter durch viele Aufbaukämpfe gegen zweitklassige Gegner zu quälen, das war nie mein Ziel.“

„Schade“, sagte Bergmann bedauernd und verarztete geschickt Tonys Verletzungen. „Mit achtundzwanzig ist man noch nicht zu alt im Boxsport. Aber es ist deine Entscheidung.“ Er hielt kurz inne und sagte dann: „Auf jeden Fall kannst du dich über eine fette Börse freuen, fünfunddreißigtausend Euro sind ein schöner Batzen Geld, dazu kommen noch die Gelder von deinen Sponsoren!“

„Das Geld werde ich auf jeden Fall brauchen. Ich muss mir einen neuen Job suchen, das kann dauern!“

Tony blieb eine Ewigkeit unter der Dusche. Minutenlangließ er das warme Wasser über seinen gemarterten Körper laufen, bis sich die Muskeln entspannten. Seine Gedanken begannen sich um seine Zukunft zu drehen und verdrängten die bösen Erinnerungen an diesen Abend. In mancher Hinsicht erleichterte es ihn, dass er nicht mehr boxte. Er musste an die vielen traurigen Schicksale von Boxern denken, die nach anfänglichen Erfolgen durch unzählige Ringschlachten immer mehr zermürbt wurden und letztlich nur mehr Wracks mit zerschlagenen Gesichtern waren.

2.

Tony ließ sich von einem Taxi nach Hause chauffieren. Er wohnte im Westen von Wien, nahe der Stadtgrenze. Die Ausläufer des Wienerwaldes reichten bis in sein Wohngebiet. Er besaß in dieser schönen Wohnlage – Villen und exklusive Appartementhäuser prägten diesen Bezirk – eine Zweizimmerwohnung. Früh hatte er begonnen zu sparen, um sich die Anzahlung für diese teure Wohnung leisten zu können. Den restlichen Kaufpreis finanzierte er über einen günstigen Kredit. Er hatte gutes Geld als Fernfahrer in einer internationalen Spedition verdient, bevor er vom Amateur- in den Profiboxsport wechselte und seinen Beruf an den Nagel hängte. Tonnenschwere Sattelschlepper hatte er durch ganz Europa gesteuert, es gab fast kein Land, in welchem er nicht unterwegs gewesen war, um Frachten aufzunehmen oder zu löschen. Sogar bis Russland und in die Türkei war er gefahren.

Vorsichtig öffnete er die Tür seiner Wohnung und betrat leise das Vorzimmer. Er wollte seine Freundin Kathi nicht aufwecken, obwohl er nicht sicher war, ob sie schlief. Sie verabscheute den Boxsport, niemals hatte sie einen seiner Kämpfe angesehen. Die nervliche Anspannung, der sie ausgesetzt war, wenn er boxte, war enorm. Er hatte sie vor vier Jahren kennengelernt. Ihr volles, dunkelbraunes, halblanges Haar, die kleine, kräftige Nase und die wunderschönen blauen Augen, die zu ihrem dunklen Typ kontrastierten, gefielen ihm. Der kleine Mund und das bestimmende Kinn gaben ihrem Aussehen einen selbstsicheren Ausdruck. Sie war mittelgroß und hatte vollendet weiblich ausgeformte Körperpartien. Er verliebte sich sofort in sie. Es dauerte nicht lange und Kathi zog zu ihm in die Wohnung. Sie war erst neunzehn Jahre alt und Tony war der erste Mann, mit dem sie eine sexuelle Beziehung hatte.

Kathi hatte als Fremdsprachensekretärin im selben Unternehmen wie er gearbeitet. Doch irgendwann hatte sie gewechselt, vor allem weil es laufend interne Konflikte gab. Es gab Eifersüchteleien und man unterstellte ihr, dass sie ihm die lukrativsten Frachten zukommen ließ. Nun war sie in einem führenden französischen Kosmetikunternehmen für die Logistik verantwortlich und verdiente sehr gut. Tony fragte sich oft, warum sie mit ihm, einem LKW-Fahrer, eine Beziehung eingegangen war. Sicher, er war eine interessante Erscheinung, groß, schlank, dunkelblondes Haar und tiefliegende, blaue Augen. Seine hohe Stirn, die gerade, scharfe Nase und die bestimmende Kinnpartie gaben dem schmalen Gesicht ein ernstes, fast gebieterisches Aussehen.

Für ihn war eine akademische Laufbahn vorgesehen gewesen. Doch sein Vater kam bei einem Autounfall ums Leben und seine Mutter konnte die finanziellen Mittel für das geplante Studium an der Wirtschaftsuniversität nicht aufbringen. Er inskribierte trotzdem und versuchte, durch jobben seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch er schaffte es nicht, Beruf und Studium zu vereinen, fiel bei Prüfungen durch und gab nach zwei Jahren auf. Nach einigen Stellungswechseln bewarb er sich schließlich bei Eurotrans, einem führenden Speditionsunternehmen. Anfänglich wurde er mit einfachen Büroarbeiten betraut. Als er bessere Einblicke ins Unternehmen gewann und feststellte, dass man als Fahrer viel mehr verdienen konnte, absolvierte er den Führerschein für die Lenkung von schweren Fahrzeugen und ließ sich als Fernfahrer anstellen. Bedingt durch das stundenlange Sitzen im LKW baute sein Körper immer mehr ab und verlor an Spannkraft. Als Jugendlicher hatte er einige Zeit geboxt, weil man ihm außerordentliches Talent und überdurchschnittliche Schlagkraft attestierte. Er begann wieder mit dem Boxen, vorerst nur um fit zu bleiben, doch bald bestritt er Amateurkämpfe, entwickelte sich zum Profiboxer, und gab seine Stellung bei Eurotrans auf.

Viele aus seinem sozialen Umfeld verstanden nicht, dass er diese raue Sportart ausübte. Kathi war überhaupt dagegen und Tony sah sich starkem Widerstand ausgesetzt. Kathi drohte oft, ihn zu verlassen, weil sie seine riskante Laufbahn als Boxer und die Sorgen um seine Gesundheit fast in den Wahnsinn trieben. Seither hatte ihre liebevolle und zärtliche Beziehung einen Knacks bekommen. Sie liebten sich nicht mehr so oft, manchmal war Kathi vom Büro gestresst und ein anderes Mal war Tony nach dem Boxtraining erschöpft. Ihre Beziehung war noch intakt, aber doch ein wenig auseinandergedriftet.

Tony entkleidete sich lautlos, auf leisen Sohlen begab er sich in das Schlafzimmer. Kaum hatte er es betreten, flammte das Licht der Nachttischlampe auf. Kathi, die immer nackt schlief, hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen, um ihre Blößen zu verbergen. Das tat sie nur, wenn sie verstimmt war. Tony hätte es vorgezogen, wenn sie nicht aufgewacht wäre. Am nächsten Tag, wenn früh morgens die Zeit knapp war, wäre eine Diskussion über das Boxen – wenn überhaupt nur sehr kurz ausgefallen. Nun musste er sich auf Vorwürfe gefasst machen, umso mehr, als er vom Kampf schwer gezeichnet war.

„Leider …“, hob Tony an, und wollte den Verlauf des Kampfes kurz schildern, aber Kathi ließ ihn nicht weitersprechen.

„Sag nichts, ich brauche dir nur ins Gesicht zu sehen und weiß alles. Wann wirst du endlich gescheiter!“

„Ich bin schon gescheiter geworden. Wie alles im Leben zwei Seiten hat, so auch diese Niederlage. Ich habe mich entschlossen, mit dem Boxen aufzuhören und es bereits Bergmann mitgeteilt.“

„Bergmann“, sagte sie verächtlich. „Er wird dir wieder tagelang in den Ohren liegen, damit du weiter boxt. Er muss ja keine Schläge einstecken.“

Sie seufzte, drehte ihm den Rücken zu und löschte das Licht.

3.

Das Wochenende ging vorbei und Tony fragte sich, ob er es riskieren sollte, bei Kessler, dem Chef und Eigentümer der Spedition Eurotrans, wegen einer Anstellung vorzusprechen. Als er damals die Firma verließ, um seine Boxkarriere zu starten, hatte ihn Kessler eindringlich gewarnt und Recht behalten. Außerdem waren die Spuren des Boxkampfes in seinem Gesicht noch zu sehen.

Am Montag stieg er früh aus dem Bett. Er hoffte, bei einem gemeinsamen Frühstück Kathi versöhnlich stimmen zu können. Doch sie war nicht mehr da, wahrscheinlich war sie schon ins Büro gefahren. Sie hatte kein Frühstück für ihn vorbereitet, was sie sonst immer tat, wenn sie vor ihm das Haus verließ. Ihre Verstimmung war also noch nicht verflogen. Seine Glieder waren schwer wie Blei und ein dumpfer Schmerz pochte in seinem Kopf. Nun spürte er erst so richtig die Nachwirkungen des Kampfes. Missmutig schlurfte er in die Küche und braute sich starken Kaffee. Dann suchte er die Dusche auf und ließ die heißen Strahlen minutenlang über seinen Körper rinnen. Am Ende seines Duschvorganges schloss er den Warmwasserhahn und ließ kaltes Wasser auf sich niederprasseln. Er prustete heftig, doch dann fühlte er sich besser. Er stöberte in Kathis Kosmetikkoffer und suchte nach einem Make-up, mit dem er seine Schrammen im Gesicht kaschieren konnte, was ihm ganz gut gelang. Er trank noch eine Tasse Kaffee und schluckte zwei Kopfwehpulver. Nun war er bereit, seinem Leben eine neue Wendung zu geben.

Er wählte auf seinem Handy die Telefonnummer von Eurotrans und bat, mit Herrn Kessler sprechen zu dürfen. Er wurde mit der Sekretärin von Kessler verbunden. Sie hieß Jennifer Schönfeld, ihr hauptsächlicher Vorzug war Sexappeal. Sie war blond, hatte schöne große braune Augen, einen Schmollmund und trug fast ausschließlich Kleider, die ihren Körper betonten. Sie war sich ihrer Stellung als Chefsekretärin bewusst und verhielt sich distanziert, oft herablassend gegenüber dem Personal, zu Tony war sie allerdings immer nett gewesen. Wenn Kessler Besprechungen mit Kunden und Geschäftsfreunden hatte, ließ sie ihren Charme bei den Gästen spielen. Es gefiel Kessler, mit seiner attraktiven Sekretärin Eindruck zu schinden. Daher deckte er sie, wenn sie wieder einmal bei Kolleginnen und Kollegen aneckte. Auch ihr Arbeitsaufwand hielt sich in Grenzen. Ab und zu servierte sie Kessler und seinen Besuchern Kaffee, verband Telefongespräche und tippte ein paar Briefe. Aufgrund der Privilegien, die sie genoss, munkelte man in der Firma, dass sie mit Kessler ein Verhältnis hatte. Tony glaubte nicht so recht daran, Kessler war mit einer hübschen Frau verheiratet und hatte zwei Söhne im Schulalter.

Als Kathi noch bei Eurotrans arbeitete, war es zwischen den beiden Frauen oft zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen. Tony hatte Jennifer nie einen Anlass zum Flirten gegeben, doch Kathi schienen die Avancen Jennifers nicht zu gefallen, sie war eifersüchtig.

„Hallo Herr Forsberg, wir haben lange nichts von Ihnen gehört, wie geht es Ihnen?“, erkundigte sie sich freundlich, als sie das Telefongespräch übernahm.

„Nicht so gut“, antwortete Tony zurückhaltend. „Haben Sie den Sportteil in der Zeitung gelesen?“

„Ich interessiere mich nicht für Sport, gibt es etwas Besonderes?“

„Nichts Besonderes eigentlich, das heißt für mich schon, ich bin bei einem Boxkampf schwer geschlagen worden.“

Eine Pause entstand. Dann sagte Jennifer: „Hoffentlich sind Sie nicht verletzt worden.“

„Nein, nur ein paar Schrammen im Gesicht.“ Dann sah sich Tony veranlasst, zu seiner Ehrenrettung doch etwas zum Kampf zu sagen. „Ich war auf der Siegerstraße und habe eindeutig geführt, aber ich bin leichtsinnig geworden und habe zu viel riskiert. Mein Gegner, ein hervorragender Mann, ein Aspirant auf den Europameistertitel, hat das eiskalt ausgenützt und mich mit einem Konter ins Land der Träume geschickt.“

„Machen Sie sich nichts daraus, es war eine ehrenvolle Niederlage. Hoffentlich kümmert sich jemand um Ihre Wunden?“

War das wieder ein Versuch von Jennifer, die Chancen für einen Flirt, vielleicht für mehr, auszuloten?

Tony antwortete nicht direkt. „Ich werde schon irgendwie damit zurechtkommen“, meinte er.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte sie zweideutig.

Teufel, dachte er sich, so direkt hatte sie noch nie mit mir geflirtet. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine attraktive Frau wie sie keinen Freund hatte. Warum also das Interesse an ihm?

„Ja bitte, können Sie mir einen Termin bei Herrn Kessler reservieren, ich muss mit ihm etwas besprechen.“

„Warten Sie, ich werfe einen Blick auf seinen Terminkalender.“

Einige Augenblicke verstrichen. „Ich glaube heute Nachmittag um sechzehn Uhr ginge es. Ich werde Herrn Kessler fragen, ob er einverstanden ist. Bleiben Sie in der Leitung.“

Es dauerte ein Weilchen, bis sie sich wieder meldete: „Geht in Ordnung, heute sechzehn Uhr ist okay. Ich … wir freuen uns Sie zu sehen, Herr Forsberg!“

4.

Als der Nachmittag hereinbrach, machte er sich auf den Weg zur Spedition Eurotrans. Die Sonne versteckte sich hinter einer milchigen Wolkendecke, die Straßen, ja, die ganze Stadt schien in einem eintönigen Grau zu versinken. Menschen hasteten mit eingezogenen Köpfen dahin, um sich vor Kälte und dem beißenden Wind zu schützen. Er fröstelte, als er sich hinter das Steuer seines Wagens klemmte und den Motor startete. Sein alter Peugeot Diesel, den er von einem Taxifahrer um tausend Euro erworben hatte, tat noch immer klaglos seine Dienste.

Nachdenklich steuerte er den alten Wagen in Richtung Süden, an die Stadtgrenze von Wien. Der Hauptverkehr hatte noch nicht eingesetzt, er kam zügig voran. Er überlegte, wie er sich bei Kessler verhalten sollte. Bewerbungsunterlagen benötigte er keine, er hatte lange genug bei Eurotrans gearbeitet. Ein bisschen irritierten ihn die Flirtversuche von Jennifer Schönfeld. Kessler war empfindlich, wenn sie mit Mitarbeitern kokettierte, es schien fast so, als ob er Jennifer als sein exklusives Eigentum betrachtete.

Er war früh dran, als er in das Firmengelände von Eurotrans einbog. Das längliche, zweistöckige Bürogebäude von Eurotrans hatte an der Vorderfront eine rund ausgebildete Fassade. Dies verschaffte den Mitarbeitern einen guten Überblick nach allen Seiten über das riesige Firmengelände, nämlich auf das Lager und auf den Abstellplatz des Fuhrparks. Dort standen Sattelschlepper und LKWs mit Anhänger, alle in Weiß lackiert. Die meisten Fahrzeuge waren bereits beladen und unterwegs, er sah nur mehr zwei ungeladene Sattelschlepper. Wahrscheinlich konnten sie keine Ladung übernehmen, weil sie zum Service oder zu einer Reparatur vorgesehen waren. Kessler hatte sein Büro im zweiten Stock. Langsam stieg Tony die Treppen empor. Die Tür zu Jennifer Schönfelds Büro war angelehnt, trotzdem klopfte er. Es dauerte einige Sekunden, bis ein „Herein“ ertönte.

Jennifer saß hinter ihrem Schreibtisch und blickte auf den Bildschirm ihres Computers. Als sie Tony gewahr wurde, erhellten sich ihre Züge. Seinen Gruß erwiderte sie mit übertriebener Freundlichkeit.

„Nehmen Sie Platz Herr Forsberg, Sie sind früh dran, Herr Kessler hat noch Besuch! Darf ich Ihnen Kaffee anbieten?“ Sie deute auf einen Stuhl.

Tony nahm das Angebot an und nahm auf einem Stuhl neben einem kleinen Tischchen Platz. Jennifer erhob sich. Sie verströmte den intensiven Geruch eines teuren Parfums. Schon nach kurzer Zeit erschien sie mit einer Kaffeetasse, und stellte sie auf das kleine Tischchen, wobei sie sich weit nach vorne neigte. Die langen blonden Haare berührten fast seine Wange. Sie ließ sich gegenüber von Tony auf ihrem Bürostuhl nieder und kreuzte die Beine, wobei der enge Rock weit über das Knie hinaufrutschte.

„Wie lange ist es her, dass Sie unsere Firma verlassen haben?“, fragte sie.

„Es ist fast ein Jahr her.“

„Und wie ist es Ihnen gegangen?“

„Es war eine harte Zeit, ich habe viel trainiert und einige Kämpfe bestritten. Am Freitag war mein letzter Kampf. Hätte ich gewonnen, wäre ich für einen Kampf um die Europameisterschaft nominiert worden. Aber leider … Dabei war ich knapp dran, zu gewinnen!“

„Vielleicht hat es auch etwas Gutes“, sagte Jennifer nachdenklich.

„Sie sagen es. Diese Niederlage hat mich veranlasst, meine Boxkarriere vorzeitig an den Nagel zu hängen, obwohl viele, vor allem mein Trainer, versuchten, mich zum Weiterboxen zu bewegen. Jetzt kehre ich reuig zurück und möchte wieder bei Eurotrans arbeiten. Aber vielleicht hat Herr Kessler genug von mir. Er war sehr böse, als ich damals die Firma verließ.“

„Das glaube ich nicht. Zwar hat es ihn geärgert, dass er einen seiner besten Fahrer verlor, aber wahrscheinlich ist er froh, dass Sie wieder für uns fahren. Das Geschäft geht sehr gut, wir brauchen Fahrer für den Frankreich-Verkehr, und vor allem einen, der so gut Französisch spricht wie Sie.“

„Wir werden ja sehen“, sagte Tony. Leichte Skepsis war nicht zu überhören.

Jennifer lächelte überlegen. „Nur Mut“, sagte sie.

Die Tür zum angrenzenden Büro öffnete sich. Zwei Herren in dunklen, eleganten Anzügen verließen das Büro von Kessler. Offensichtlich war die Besprechung beendet. Jennifer erhob sich und betrat das Büro ihres Chefs. Nach einigen Sekunden kehrte sie zurück. Sie hielt die Türe geöffnet.

„Herr Kessler erwartet Sie“, sagte sie mit verbindlichem Lächeln.

Tonys Pulsschlag erhöhte sich als er in das großzügige Büro Kesslers eintrat.

Dieser thronte hinter einem riesigen Schreibtisch in noblem Schwarz, flankiert von zwei hochgewachsenen Grünpflanzen. Vor dem Schreibtisch standen zwei wuchtige Drehstühle mit Lederbezug. Etwas abseits befand sich ein länglicher Besprechungstisch, in dessen Mitte das Modell eines Kessler-Sattelschleppers thronte.

Kessler erhob sich. Er war groß und schlank, hatte ein ovales, längliches Gesicht und volle, leicht gewellte Haare. Seine Augen blickten ruhig, aber wachsam. Dieser Eindruck wurde durch die leicht nach oben gezogenen Augenbrauen verstärkt. Der perfekt sitzende Anzug konnte nur von einem Maßschneider angefertigt worden sein. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich erhob und schweigend auf einen der wuchtigen Ledersessel vor seinem Schreibtisch deutete.

Tony grüßte und ließ sich nieder. Kessler betrachtete ihn, noch immer hatte er kein Wort gesprochen. Einige Sekunden, die Tony peinlich waren, verstrichen. Er hatte erwartet, dass Kessler das Gespräch eröffnen würde. Das Schweigen irritierte ihn. Er suchte nach Worten.

„Herr Kessler“, sagte er schließlich und kam gleich auf den Punkt, „ich möchte mich um eine Stelle als Fahrer bewerben.“

„So so!“, waren Kesslers erste Worte. Er ließ Tony weiter zappeln.

„Ich habe entschieden, meine Boxkarriere zu beenden. Ich würde gern wieder in Ihrer Firma arbeiten.“

„Boxkarriere“, sagte Kessler mit leichtem Sarkasmus. „Karriere finde ich leicht übertrieben.“

Tony schluckte. Wollte Kessler ihn demütigen? Er versuchte einen aufsteigenden Unmut zu unterdrücken.

„Nennen Sie es, wie Sie wollen, es tut mir jedenfalls leid, Ihren Rat damals nicht befolgt zu haben“, versuchte er einzulenken.

„Der verlorene Sohn kehrt also reuig zurück“, sagte Kessler, „und glaubt, dass ihm alle Türen auf einmal offenstehen!“

Er möchte, dass ich vor ihm krieche, dachte Tony.

„Das glaube ich nicht“, sagte er ruhig und stand auf. „Ich danke Ihnen für das Gespräch, erlauben Sie, dass ich mich entferne!“ Er deutete eine leichte Verbeugung an und verließ Kesslers Büro.

Das war’s, dachte Tony. Nicht Kessler hatte die Türe zugeschlagen, sondern er. Aber er wollte sich nicht erniedrigen lassen, auch nicht um den Preis eines Jobs.

„Wie war’s?“, fragte Jennifer, als Tony die Tür hinter sich schloss.

„Herr Kessler hat mir scheinbar nicht verziehen, dass ich die Firma vor einem Jahr verlassen habe.“

Jennifer hob erstaunt die Augenbrauen. „Sie müssen mir erzählen, was da schiefgelaufen ist, aber nicht hier“, sagte sie teilnehmend.

„Ja gerne!“

„Wenn Sie Zeit haben, warten Sie in Charlys Café auf mich, oder besser im Café Engels, im Charly sind viele Leute von der Firma.“ Tony war einigermaßen erstaunt über diese Initiative Jennifers.

„Okay“, sagte er und verließ umgehend Eurotrans, um keine neuerliche Begegnung mit Kessler zu riskieren.

5.

Tony nahm an einem der hinteren Tische Platz und bestellte einen Espresso. Das Café Engel strahlte Gemütlichkeit aus. Bänke und Stühle waren bequem gepolstert und mit bordeauxrotem Velours überzogen. Es war nicht viel los, aber nach Büroschluss in den umliegenden Firmen würde sich das Lokal wahrscheinlich bald mit Gästen füllen. Tony ging zu einem Zeitungsständer und nahm eine Tageszeitung. Er überflog die Überschriften, doch dann legte er die Zeitung beiseite, ohne sich darin zu vertiefen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, Jennifer würde nicht vor einer Stunde erscheinen können. Es plagten ihn Selbstvorwürfe, weil er ihre Einladung angenommen hatte. War er unbewusst dem Sexappeal von Jennifer unterlegen? Sie war offensichtlich an mehr als nur einem Flirt interessiert. Wie sollte er sich verhalten, wenn ihm die Situation entglitt? War es fair gegenüber Kathi, überhaupt wo er die Beziehung durch sein risikoreiches Leben als Berufsboxer schwer belastet hatte? Und wie sollte er seine weitere berufliche Zukunft gestalten? Bei Eurotrans hatte er sich selbst aus dem Spiel genommen, sein Stolz hatte ihm einen üblen Streich gespielt. Kessler wollte ihn am Boden kriechen sehen, doch diese Genugtuung wollte und konnte er ihm nicht geben. Also lautete die Devise für die nächsten Tage, auf Jobsuche zu gehen. Er musste seinen Unterhalt bestreiten und die monatlichen Raten für den Wohnungskredit begleichen.

Er schob die leere Kaffeetasse von sich und bestellte einen Cinzano. Genussvoll schlürfte er an dem süßlichen, aber würzig schmeckenden Getränk. Schon nach einigen Minuten hatte er das Glas geleert, und ließ sich abermals einen Cinzano servieren. Als Sportler war es ihm streng verboten gewesen, Alkohol zu trinken. Daher spürte er bereits nach zwei Gläsern die entspannende Wirkung des alkoholischen Getränks.

Seine Gedankengänge wurden immer wieder, ohne dass er es wollte, von Bildern durchkreuzt, die sich um Jennifer drehten. Von seinen Vorstellungen wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt als Jennifer plötzlich vor ihm stand.

„Hallo, Tony“, sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln.

Tony erhob sich. Nachdem sie ihn mit dem Vornamen angesprochen hatte, tat er desgleichen.

„Hallo Jennifer“, sagte er und half ihr aus dem Mantel. Der angenehme Duft ihres Parfums strich ihm wieder um die Nase. Der kurze Rock und der enganliegende, rosafarbene Pullover betonten nicht nur ihre Figur, sondern wirkten in einem Maße auffallend, dass Gäste, vor allem die männlichen, sie mit Blicken verschlangen.

„Was wollen Sie trinken?“, fragte er, als sie Platz genommen hatte.

„Was trinken Sie denn?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

„Cinzano!“

„Dann nehme ich das gleiche“, sagte sie und lächelte mit ihrem Schmollmund. Tony stellte fest, dass die Farbe ihres Lippenstiftes jener ihres Pullovers entsprach. „Jetzt erzählen Sie mir einmal, wie das Gespräch mit Kessler gelaufen ist!“

Tony antwortete nicht sofort. Er war nicht sicher, ob Jennifer das Gespräch vertraulich behandeln würde.

„Kessler war sehr zurückhaltend, ich hatte nicht den Eindruck, dass er an einer neuerlichen Zusammenarbeit interessiert war. Außerdem hat er Bemerkungen gemacht, die ich als Beleidigung empfand.“

„Wahrscheinlich wollte er den Triumph über Ihre reuige Rückkehr auskosten.“

„Reuig, reuig“, sagte Tony angekratzt. „Aus Reue bin ich nicht zu Eurotrans zurückgekehrt. Ich wollte meine Dienste anbieten, mehr nicht. Dafür lass ich mich nicht beleidigen.“

„Kessler wollte Sie wieder einstellen. Er war aufgebracht, als Sie die Unterredung beendeten und bezeichnete Sie als arrogant.“

Er erregte sich. „Arrogant? Er hat meine Qualitäten als Boxprofi infrage gestellt, das schmerzt umso mehr, wenn man vor ein paar Tagen eine bittere Niederlage erlitten hat.“

Jennifer legte beruhigend ihre Hand auf die seine. „Ich kann Sie gut verstehen, seine Bemerkungen mir gegenüber sind manchmal auch mehr als sarkastisch. Es fällt mir immer schwerer, ihn zu ertragen. Aber er bezahlt mich sehr gut. Wahrscheinlich glaubt er, dass er sich deswegen so viel herausnehmen kann. Früher war er nicht so.“ Sie seufzte.

Der Ober servierte den Cinzano. Sie hob das Glas und prostete Tony zu. „Cin cin“, sagte sie, „ich bin die Jennifer!“

„Und ich bin der Tony“, erwiderte er, hob sein Glas und lächelte. Er hatte geahnt, dass es so kommen würde, daher war er über das Angebot, sich zu duzen, nicht sonderlich überrascht.

Trotzdem war der Übergang vom Sie zum Du ungewohnt, sie schwiegen eine Weile.

Jennifer brach das Schweigen. „Was gedenkst du jetzt zu tun?“

„Am liebsten würde ich mir einen Sattelschlepper kaufen und ein kleines Unternehmen gründen. Aber wo kriege ich ein halbwegs gutes Fahrzeug, das ich mir leisten kann? Wenn das nicht funktioniert, muss ich mir einen Job als Fahrer suchen.“

„Da kann ich dir vielleicht helfen.“ Plötzlich zuckte sie nervös mit den Augenlidern. „Die Lieninger ist gerade mit der Grossmann hereingekommen.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Eingang.

Friederike Lieninger war die Chefbuchhalterin bei Eurotrans. Sie kontrollierte penibel die finanziellen Vorgänge der Firma, als ob sie ihr gehörte. Vor allem Reisespesenabrechnungen der Mitarbeiter wurden einer genauen Kontrolle unterzogen. Sie war mittleren Alters, schlank und hatte weißblondes, kurzgeschnittenes Haar. Ihr schmallippiger Mund war ungeschminkt, die Wimpern hatte sie jedoch mit dunklem Mascara bemalt. Der Kontrast zu den hellen Haaren war auffallend stark. Begleitet wurde sie von Monika Grossmann. Monika Grossmann war Disponentin bei Eurotrans und bestimmte, welche Frachten die Fahrer zu übernehmen hätten. Sie war eine korpulente Frau mit einem breiten Gesicht. Die hellblauen Augen und die grauen Haare mit den violetten Maischen gaben ihr ein kühles, unnahbares Aussehen. Bei Eurotrans war bekannt, dass sie und Lieninger eine freundschaftliche Beziehung pflegten.

Tony folgte ihrem Blick. Die beiden Damen hatten bereits Platz genommen. Friederike Lieninger warf einen prüfenden Blick auf die Gäste im Lokal und erblickte ihn. Sie zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, doch dann lächelte sie. Auch Monika Grossmann blickte in ihre Richtung und lächelte. Natürlich hatten sie längst bemerkt, dass er in Begleitung von Jennifer Schönfeld war. Trotz ihres freundschaftlichen Lächelns entging es Tony nicht, dass sich die Gesichter der beiden mit einer gewissen Häme überzogen.

„Das war nicht vorauszusehen, dass die beiden Hexen hierherkommen“, sagte Jennifer verärgert.

„Ich hoffe, dass ich dich nicht kompromittiere, die beiden sind die größten Klatschtanten in der Firma.“

„Das lässt sich jetzt nicht ändern. Aber schließlich bin ich ein freier Mensch“, sagte Jennifer lakonisch.

Es wäre sicherlich nicht angenehm für Jennifer, wenn der besitzergreifende Kessler von ihrem Treffen erführe, dachte Tony. Aber er vermied, seine Bedenken zu äußern. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, in diesem Lokal zu bleiben. Doch Jennifer hatte ihm vorhin angedeutet, dass sie ihm bei der Suche nach einer Beschäftigung behilflich sein könnte.

„Du hast vorhin gesagt, dass du mir bei der Suche nach einer neuen Beschäftigung behilflich sein könntest …“

Bevor er den Satz beenden konnte, fiel ihm Jennifer ins Wort. „Sicher kann ich auch bei der Jobsuche etwas für dich tun, in der Branche kennt doch jeder jeden. Aber ich wollte mit dir über dein Projekt wegen der Gründung einer Firma sprechen, vor allem wegen der Anschaffung eines Sattels.“ Sattel war in der Transportbranche eine übliche Kurzbezeichnung für einen Sattelschlepper. „Aber hier möchte ich nicht mehr bleiben“, fügte sie hinzu.

„Ich auch nicht“, stimmte Tony zu. „Ich kenne in Mödling ein gemütliches Lokal, dort können wir auch eine Kleinigkeit essen, ich lade dich ein.“

„Warte“, sagte Jennifer und schien zu überlegen, „essen können wir auch bei mir eine Kleinigkeit. Ich möchte eigentlich nicht mehr in ein Lokal gehen. Isst du gern Pizza?“

Er ahnte seit geraumer Zeit, dass Jennifer sich für ihn interessierte, aber dass sie ihn nun zu sich nach Hause einlud, damit hatte er nicht gerechnet.

Daher sagte er etwas zögerlich: „Gerne, aber mache dir bitte keine Umstände.“

„Nicht im Mindesten“, sagte sie mit Bestimmtheit. „Ich werde jetzt gehen. Zahle bitte und komme nach, ich warte draußen in meinem roten Mini auf dich. Es ist nicht weit, ich wohne in Maria Enzersdorf.“

6.

Als er das Lokal verließ, sah er den roten Mini. Jennifer saß bereits hinter dem Steuer, sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. Nach einigen Minuten bog sie in eine leicht ansteigende Straße, gesäumt von Villen und Einfamilienhäusern und stoppte vor einem langgestreckten, ebenerdigen Wohnhaus mit einem kleinen Vorgarten. Er hielt ebenfalls und stieg aus, während sie das schmiedeeiserne Gartentor öffnete und wartete, bis er ihr folgte. Ein kurzer Kiesweg führte zur Eingangstür des Hauses. Sie schloss auf und sie traten in einen breiten Flur. Links und rechts des Flurs waren mehrere Türen, die wahrscheinlich zu den Appartements führten. Sie eilte voraus und öffnete eine Tür, die sich am Ende des Flurs befand und ließ ihn eintreten.

Ein kleines Vorzimmer diente vorwiegend als Garderobe. Sie forderte ihn auf, seine Jacke abzulegen und schlüpfte aus ihrem wattierten Mantel und hängte ihn über einen Kleiderhaken. Vom Vorzimmer aus betrat man direkt ein geräumiges Wohnzimmer, in dem ein Küchenblock auf der rechten Seite integriert war. Dahinter, auf einer länglichen Bar, vor der vier Hocker standen, konnte man die Speisen einnehmen. Vor dem Fenster, am Ende des Wohnzimmers, stand eine behaglich aussehende Eckbank, davor ein niedriger Couchtisch. Eine verglaste Tür führte auf eine kleine Terrasse. An der linken Wand befand sich eine weitere Tür, die offen stand. Das Schlafzimmer, wie Tony mit einem schnellen Blick feststellte. Auf dem Parkettboden lag ein hellbeiger Teppich, welcher der funktionalen und modernen Einrichtung der Wohnung ein gemütliches Ambiente verlieh.

Jennifer warf einen prüfenden Blick auf Tony. „Gefällt dir meine kleine Wohnung?“

„Sie ist entzückend“, sagte er. „Modern und trotzdem behaglich, du hast Geschmack, das muss man sagen!“

Sie fasste ihn unter dem Arm und führte ihn zu der Eckbank. „Mach es dir gemütlich, ich mache uns schnell eine Pizza“, sagte sie. „Was willst du trinken? Ein Glas Rotwein vielleicht?“

Er stimmte zu, obwohl er bereits zwei Cinzanos getrunken hatte. Nach einigen Augenblicken kehrte sie mit einer Rotweinflasche zurück und stellte zwei Gläser auf den Couchtisch. Sie bat ihn, die Flasche zu öffnen und einzuschenken.

„Cin cin“, sagte sie und prostete ihm zu. Der Rotwein schmeckte vollmundig und erzeugte ein samtiges Gefühl, als er die Kehle hinunterrann.

„Ein vorzüglicher Wein“, lobte er. Auf dem Etikett stand „Garnacha Tintoreta“.

„Fein“, sagte sie, „und jetzt mache ich mich ans Kochen und dann reden wir über das Geschäft.“

Tony nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. Er war sich bewusst, dass nach der monatelangen Abstinenz Alkohol besonders stark wirken würde. Trotzdem nippte er immer wieder an seinem Glas. Als er es geleert hatte, schenkte er sich von neuem ein. Ab und zu warf er einen Blick auf Jennifer, die sich eine kleine weiße Schürze umgebunden hatte und in ihrer Küche hantierte. Obwohl er es zu unterdrücken versuchte, gaukelte ihm seine Phantasie immer wieder Vorstellungen von Jennifer auf High-Heels, nur mit ihrer Schürze bekleidet, vor. Die Pläne über die Gestaltung seiner beruflichen Zukunft wurden stark von erotischen Vorstellungen zurückgedrängt. Plötzlich standen die Überlegungen, wie er Jennifer bezaubern könnte, im Vordergrund. Und mit dem Genuss dieses hervorragenden Rotweins schien sich sein Rückhalt immer mehr aufzulösen.

Er stand auf und ging zu Jennifer. Er legte ihr den Arm über die Schulter und warf einen Blick auf die große Pfanne, in der die Pizza brutzelte.

„Herrlich“, sagte er und sog den Duft ein.

„Gleich ist es so weit“, sagte sie, „nimm an der Bar Platz.“ Sie drehte ihr Köpfchen und küsste ihn auf die Wange.

Er wollte ihren Kuss stürmisch erwidern, hielt aber den Moment noch nicht für gekommen. Jennifer servierte eine riesengroße Pizza auf einem Tablett und teilte sie in zwei Teile. Die hohen Barhocker waren ungewohnt für ihn, seine Füße baumelten herunter, bis er begriff, dass er sie auf einer Quersprosse aufstützen konnte. Sie bat ihn, Weinflasche und Gläser vom Couchtisch zu holen. Er schenkte die Gläser voll und stellte fest, dass sie dem Wein tüchtig zusprach. Als sie ihr frugales Mahl beendet hatten, erhob sie sich und nahm ihren CD-Player in Betrieb. Romantische Melodien, gesungen von Andy Williams erklangen. Sie nahm auf der Eckbank Platz und machte ihm ein einladendes Zeichen, es ihr gleichzutun.

Einige Augenblicke saßen sie schweigsam nebeneinander. Tony fragte sich, wie er sich verhalten sollte. Taktvoll zurückhaltend oder verliebt und zärtlich?

Er war ihr so nah, dass er ihre Aura spüren konnte, und es ging etwas aus von ihr, dass ihn wie einen Magnet anzog. Er spürte den Zauber des Augenblicks, der auch auf sie übergesprungen zu sein schien. Sie blickten sich tief in die Augen, um sich einige Sekunden später in einer liebevollen Umarmung zärtlichen Küssen hinzugeben. Sie küssten sich immer wieder, heftiger, leidenschaftlicher. Er spürte, wie seine Schläfen zu pochen begannen und vage wurde ihm bewusst, dass die Küsse bald sein Verlangen nicht mehr stillen würden können. Jennifer lag mehr auf der Bank als sie saß, ihr kurzer Rock war bis weit über die Oberschenkel hinaufgerutscht. Er beugte sich über sie und zog mit einem plötzlichen Ruck an ihrem Slip und ihren Strümpfen. Als er sie berühren wollte, zog sie sanft seine Hand nach oben.

„Wollten wir nicht über das Geschäft reden?“, sagte sie leise. Ein doppeldeutiges Lächeln umspielte ihre Lippen.

Tony benötigte einige Sekunden, um seine Gefühle halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Er war irritiert, sein Kopf schien zu glühen.

„Ich war dem Paradies so nahe“, sagte er, seine Stimme klang rau. „Warum nur, blieben mir die Pforten verschlossen?“

„Dafür gibt es Gründe, lieber Tony.“

Er schwieg. Gründe gab es mehrere. Sie wusste von seiner Liaison mit Kathi und überhaupt, sie bei der ersten Gelegenheit lieben zu wollen, war gewagt. Jennifer nahm wieder die Konversation auf.

„Lebst du noch mit Kathi zusammen?“, fragte sie und blickte ihn forschend an.

Ich könnte die Liebesspiele mit ihr fortsetzen, wenn ich diese Frage verneinen würde, dachte er sich. Darüber war er sich fast sicher. Doch er verwarf diesen Gedanken.

„Ja, wir sind noch beisammen. Aber unsere Beziehung ist nicht spannungsfrei, weil die Risiken des Boxsports eine große Belastung für sie darstellten. Obwohl ich versprochen habe, mit dem Boxen aufzuhören, verhält sie sich noch immer distanziert.“

„Trotz deines Versprechens?“, bohrte Jennifer nach.

„Ja, ich glaube wir sind in einer Krise, die nichts mit dem Boxen zu tun hat.“ Er klang deprimiert. „Eigentlich wollte ich heute nicht darüber reden, aber …“

„Das habe ich gemerkt“, fiel sie ihm ins Wort.

Er war mit einer anderen Frau liiert. Würde Jennifer es akzeptieren, die Geliebte eines solchen Mannes zu werden? Wahrscheinlich nicht. Ihre ursprüngliche Fröhlichkeit war von ihr abgefallen und über ihrem Gesicht lag ein Zug von Melancholie. An die Zärtlichkeiten von vorhin anzuknüpfen, schien ihm unpassend, daher begann er über sein Geschäftsprojekt zu reden.

„Also, wenn es möglich ist“, begann er, „möchte ich ein kleines Transportunternehmen ins Leben rufen. Am Beginn werde ich die Transporte selbst durchführen. Das ist so weit kein Problem. Sehr wohl ein Problem ist, einen Sattelschlepper anzuschaffen. Ich habe zwar als Profi gut verdient, aber um einige hunderttausend Euro ein neues Fahrzeug zu kaufen, übersteigt meine Finanzkraft.“

„Ich kenne einen Händler, der auf den Verkauf von gebrauchten Sattelschleppern spezialisiert ist“, sagte sie etwas unterkühlt.

Er hatte den Eindruck, dass sie ebenfalls bedauerte, dass die Stimmung so abrupt gekippt war. Der Abend, der vielversprechend begonnen hatte, war aus dem Ruder gelaufen. Nachdem sie sich geküsst hatten und er Jennifer nahegetreten war, kam plötzlich Kathi ins Spiel und dann war die Luft draußen. Der Schwenk zu seinen beruflichen Problemen hatte dem Abend noch den letzten Hauch von Romantik genommen.

„Das klingt gut“, sagte er. „Weißt du, welche Fahrzeuge er anbietet und zu welchem Preis?“

„Ich glaube, er kann sehr günstig anbieten. Man munkelt in der Branche, dass er manchmal aus zwei alten, identischen Fahrzeugen, einen guten Gebrauchten zusammenbaut, indem er die brauchbaren Teile der beiden Fahrzeuge zusammenfügt. Aber er bietet auch jüngere Fahrzeuge an, die sind natürlich teurer. Wegen der Einzelheiten muss man sich natürlich an ihn direkt wenden.“

„Kannst du mir die Adresse geben?“, fragte er interessiert. „Vielleicht auch den Namen des Ansprechpartners?“

Jennifer erhob sich mit einem leisen Seufzer und brachte ihre Garderobe in Ordnung. Sie ging zu einer kleinen Kommode und machte auf einem Zettel einige Notizen.

„Der Eigentümer der Firma, Anton Petermann, ist auch für den Verkauf zuständig“, sagte sie und reichte Tony den Zettel. „Ich werde ihn morgen anrufen und dich ankündigen. Ich kenne Petermann persönlich von den jährlichen Cocktails der Frächter-Vereinigung.“

„Das wäre super“, sagte Tony. Er warf einen Blick auf den Zettel und stellt fest, dass die Firma Petermann ihren Sitz in Klagenfurt hatte. „Ich werde übermorgen nach Klagenfurt fahren, kannst du vielleicht einen Termin für mich vereinbaren?“

Sie nickte und lächelte gekünstelt. „Jetzt hast du mich aber schnell zu deiner Sekretärin befördert“, sagte sie mit einem ironischen Unterton.

Er errötete leicht. Sie schwiegen eine ganze Weile. Jennifer erhob sich und legte eine neue CD in den Player. Frank Sinatra sang „Strangers in the night.“ Sie nahm neben ihm Platz und goss Rotwein in die Gläser.

„Also, Prost“, sagte sie leise, „auf dein Firmenprojekt!“

„Prost“, sagte er, „ich bin dir so dankbar, ich sehe jetzt schon optimistischer in die Zukunft.“

„Hoffentlich findest du bei Petermann, was du suchst.“

„Ich habe ein gutes Gefühl, ich glaube es wird funktionieren.“

Wieder schwiegen sie und nippten an ihren Weingläsern. Die Nähe von Jennifer übte wieder eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kämpfte mit dem Verlangen, sie zu küssen, vielleicht wollte sie es sogar. Andererseits zweifelte er, dass sie sich mit der Rolle einer Geliebten neben seiner Lebensgefährtin abfinden würde. Es fiel ihm immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Jennifer war verführerisch schön und er fragte sich, zu was es gut sein sollte, sich mit Gedanken herumzuplagen, wenn Gefühle auf beiden Seiten eindeutige Signale gaben. Langsam wandte er sich ihr zu und umarmte sie. Ihre samtigen Lippen fühlten sich heiß an und von einem Augenblick auf den anderen löste er immer mehr seinen Rückhalt und küsste sie intensiv, stürmisch und leidenschaftlich. Jennifer ließ ihn gewähren, sie erwiderte sogar seine Zärtlichkeiten bis zu einem gewissen Grad, doch als er zu fordernd wurde, schob sie ihn sanft zurück. Er war sich zwar bewusst, dass er mit seiner Liebelei Kathi betrog, aber was sollte er machen, wenn ihn Jennifer immer wieder lockte. Er war verwirrt. Es ist das Beste, wenn ich gehe, dachte er, damit das Spiel ein Ende findet und ich Kathi noch in die Augen schauen kann. Er nahm einen kräftigen Schluck und seufzte.

„Was ist?“, fragte Jennifer mit gespieltem Erstaunen.

„Ich glaube“, begann er zögernd, „ich fahre jetzt am besten nach Hause.“

Sie schwieg.

„Um ehrlich zu sein“, sagte er gedehnt, „fällt es mir schwer, meine Gefühle zu kontrollieren, wenn wir uns so nahe sind. Ich möchte dich nicht in die komplexe Situation, in welcher ich mich befinde, hineinziehen. Daher ist es besser, wenn ich jetzt gehe.“

„Was meinst du mit komplexer Situation?“, fragte sie.

„Damit meine ich meine Beziehung zu Kathi und meine Verwirrung, wenn ich mit dir beisammen bin.“

Sie lächelte wehmütig. „Ich bin nicht leicht zu haben, aber ich weiß nicht warum, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hat es bei mir Klick gemacht.“

„Das hast du sehr schön gesagt, Jennifer. Du bist eine wunderbare Frau, auch du hast mich seit jeher interessiert.“ Wieder überfiel Tony ein unbändiges Verlangen, Jennifer zu küssen. Eine Pause entstand. Dann sagte er: „Ich möchte dich noch einmal in meine Arme nehmen bevor ich gehe, ich muss dich noch einmal küssen“, sagte er erregt und seine Worte klangen drängend.

„Du spielst mit dem Feuer Tony“, flüsterte sie, „ich kann für nichts garantieren …“

Es kam so, wie es kommen musste. Ihre Gefühle und ihr Verlangen waren unkontrollierbar intensiv, die Dämme brachen und sie überschütteten sich mit Liebkosungen. Während sie sich küssten, zogen und zerrten sie an ihrer Kleidung, bis die letzten Hüllen fielen. Als sie sich nackt gegenüberstanden, betrachteten sie eine Sekunde ihre Körper. Jennifers Erscheinung war überwältigend erregend, er glaubte, die Besinnung zu verlieren. Sie liebten sich auf dem weichen Hochflorteppich und ihr Lustempfinden war grenzenlos. Sie erreichten den Höhepunkt und verharrten in ihrer Umklammerung, bis sie sich von neuem liebten und einem zweiten Höhepunkt zustrebten. Jennifer zog vom Sofa eine Decke, die als Überwurf diente, herunter, um ihre erhitzten Körper zu bedecken. Erst nach vielen Küssen und geflüsterten Liebesbezeugungen lösten sie sich. Jennifer warf sich einen Schlafrock über, während Tony sich ankleidete.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte sie.

„Mittwoch werde ich mich in Klagenfurt wegen des LKWs umsehen. Wenn du Zeit hast, können wir uns am Donnerstag treffen, ich kann dir dann berichten, wie es in Klagenfurt gelaufen ist.“

Ein Weinlokal in Gumpoldskirchen wurde als Treffpunkt vereinbart. Jennifer wollte sich nach Büroschluss dort einfinden. Zum Abschied tauschten sie noch viele Küsse, bis er sie endlich nach Mitternacht verließ.

7.

Als er seinen Peugeot heimwärts lenkte, quälten ihn Gewissenbisse. Seit er Kathi kannte, war das sein erster Seitensprung gewesen. Er war sich nicht sicher, welcher Art die Gefühle waren, die er für Jennifer empfand. War es Liebe oder war es mehr das Verlangen, mit dieser Frau eine sexuelle Beziehung einzugehen? Und wie sollte er sein spätes Erscheinen vor Kathi rechtfertigen? Sie hatte wahrscheinlich auf ihn gewartet, aber sicher nicht bis nach Mitternacht. Auf jeden Fall würde sie ihn beim Frühstück zur Rede stellen. Trotz des bewegten Abends schlief er schlecht. Erst gegen Morgengrauen fiel er in einen tiefen Schlaf. Laute Geräusche aus der Küche weckten ihn. Kathi dürfte absichtlich diesen Lärm verursacht haben, um ihn aufzuwecken. Er blieb noch einige Augenblicke im Betten sitzen, rieb sich die Augen und begab sich dann mit gemischten Gefühlen in die Küche. Er wünschte Kathi einen guten Morgen und küsste sie auf die Wange. Kathi, offensichtlich schlechter Laune, nahm kaum davon Notiz.

„Wann bist du gestern nach Hause gekommen?“, forschte sie.

„Ich weiß es nicht genau, ich war nachmittags bei Eurotrans, ich wollte wieder als Fahrer einsteigen, aber Kessler hat sich komisch verhalten, vor allem wollte er mich demütigen. Das habe ich mir nicht gefallen lassen, ich habe daher meine Bewerbung zurückgezogen.“ Und um der Frage nach seiner späten Heimkehr zuvorzukommen, beeilte er sich zu sagen:

„Nachher war ich im Café Engel und habe ein paar Cinzano getrunken und nachgedacht, welche Optionen ich noch habe.“

„Und welche Optionen hast du?“

Tony war erleichtert, dass keine weiteren Nachforschungen bezüglich seines nächtlichen Ausbleibens erfolgten.

„Ich beabsichtige ein kleines Frachtunternehmen zu gründen. Einen gebrauchten Sattel kann ich mir leisten. Nach dem Unternehmensstart werde ich selber fahren. Wenn es gut läuft, kann ich einen zweiten Sattel anschaffen und Fahrer einstellen.“ Er versuchte seinen Worten einen positiven und optimistischen Unterton zu geben.

„Nach dem Boxen die nächste Schnapsidee. Wie soll das funktionieren? Du hast keinen einzigen Kunden. Bis du die ersten Frachtaufträge bekommst, bist du längst pleite!“

Eines musste man Kathi zubilligen: Sie hatte Erfahrung im Frachtgeschäft, war sie doch einige Jahre bei Eurotrans beschäftigt gewesen. Dennoch irritierte ihn, dass sie ihm keine Chancen gab.

„Und wo willst du einen Sattelschlepper bekommen?“, zweifelte sie. „Wenn sie billig sind, kannst du dich gleich darauf gefasst machen, einige zehntausend Euro in Reparaturen zu stecken.“

Tony begann der Pessimismus von Kathi zu ärgern. „Ich fahre morgen nach Klagenfurt zu einem Gebrauchtwagenhändler. Ich bin optimistisch, ein gutes und leistbares Fahrzeug zu finden. Und überhaupt“, sagte er und konnte seinen Ärger nicht mehr kaschieren, „wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Es gehört zum Unternehmertum, Risiken einzugehen.“

„Sprich nicht von Risiken, das kenne ich schon von dir“, antwortete sie bitter. „Meistens geht’s schief und du landest unten.“

„Es hilft mir in meiner Situation nicht weiter“, sagte er mit Bedauern in der Stimme, „wenn du auf meine Niederlage anspielst. Ganz ehrlich Kathi, ich hätte mir mehr moralische Unterstützung von dir erwartet.“

Er fühlte sich wie erschlagen, die negativen, lieblosen Kommentare von Kathi hatten ihm nach der anstrengenden Nacht mit Jennifer den Rest gegeben. Als Kathi die Wohnung verlassen hatte, suchte er wieder das Bett auf. Er schlief bis spät in den Tag hinein. Als er aufwachte, plagten ihn Schuldgefühle. Lange Zeit hatte er als Boxer die Geduld von Kathi auf die Probe gestellt. Nun, nachdem er seine Boxkarriere an den Nagel gehängt hatte, stürzte er sich in das nächste Abenteuer. Zumindest in den Augen von Kathi. Irgendwie konnte er sie sogar verstehen. Und dass er sie vergangene Nacht betrogen hatte, begann ihn zu belasten. Er entschied, Kathi abends mit einem lukullischen Dinner zu überraschen.

Während seiner Studienzeit hatte er sich selber verköstigt. Daher konnte er ganz gut kochen, schon öfters hatte er Kathi mit gelungenen Abendessen oder an Wochenenden überrascht. Nachdem er geduscht und sich angekleidet hatte, fuhr er zum Supermarkt. Ziegenkäse mit Tomaten als Vorspeise, danach Kräuterscampi und Profiteroles mit Schokoladenguss und Schlagobers als Nachspeise wollte er kochen. Er kaufte großzügig ein, ohne Wein und Champagner zu vergessen.

Zuerst bereitete er die Vorspeise und die Profiteroles zu. Letzteren fügte er reichlich flüssige Schokolade und Schlagobers hinzu. Dann machte er sich an die Kräuterscampi, die er in einer großen Bratpfanne mit viel Olivenöl, Herbes de Provence und Knoblauch abmischte und bratfertig auf den Herd stellte. Er deckte den Tisch, in die Mitte stellte er den teuren französischen Weißwein, einen Chablis. Kathi musste jeden Augenblick heimkehren. Seine Blicke fixierten den Chablis, letztlich gab er der Versuchung nach und genehmigte sich ein Glas dieses köstlichen Weins. Die Zeit verging, Kathi war noch immer nicht heimgekommen. Er wartete noch einige Minuten, griff dann zum Handy und wählte ihre Nummer. Doch umgehend wurde sein Anruf in die Mailbox umgeleitet. Tony hinterließ eine Nachricht und bat um Rückruf. Doch er wartete umsonst. Sein Magen machte sich bemerkbar. Es war mittlerweile acht Uhr geworden. Er nahm sich von dem Ziegenkäse und sprach dem Chablis weiter zu. Es verging eine weitere Stunde, noch immer keine Nachricht von Kathi. Er machte sich Sorgen, es war ihr doch hoffentlich nichts zugestoßen? Fast wollte er schon den Herd in Betrieb nehmen, um die Scampi zu braten, als er Schritte hörte und die Tür aufgeschlossen wurde.

Ein Ausdruck freudiger Überraschung lag auf Kathis Gesicht, als sie die Wohnung betrat.

„Hier riecht es phantastisch!“, rief sie aus.

Tony versuchte seine Verärgerung über ihr spätes Erscheinen zu unterdrücken. „Hast du heute Überstunden gemacht?“, fragte er.

Kathi schwieg einige Augenblicke. Dann sagte sie: „Nein, ich war mit Kollegen im Kino.“

„Warum hast du mich nicht angerufen?“, in ihm stieg wieder Ärger auf. „Ich wollte dich mit einem Abendessen verwöhnen und warte seit sieben Uhr auf dich.“

„Erstens wusste ich nicht, dass du gekocht hast, und zweitens hast du mich auch nicht immer angerufen, wenn du spät nach Hause gekommen bist. Ich denke an gestern, ich weiß noch immer nicht, wann du nach Hause gekommen bist und mit wem du dich herumgetrieben hast.“

Das saß. Er musste insgeheim zugeben, dass sie Recht hatte. Nicht auszudenken, wenn sie erführe, mit wem und wie er den Abend verbracht hatte. Er verzichtete daher auf eine weitere Diskussion und bat sie am Tisch Platz zu nehmen. In der Manier eines Maître d’hotel und nicht ohne Stolz informierte er sie über die Speisen und Getränke, die er vorbereitet hatte.

Das Essen schmeckte hervorragend und sie sparte nicht mit Lob. Doch die Meinungsverschiedenheit von vorhin drückte auf die Stimmung. Der Abend nahm erst etwas Schwung auf, als sie die Nachspeise genossen und Champagner tranken.

Trotz der ausschweifenden Nacht, die er mit Jennifer verbracht hatte, begehrte er Kathi und freute sich schon darauf, den Abend mit ihr im Bett abschließen zu können. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal geliebt hatte, denn vor seinem Kampf hatte er enthaltsam wie ein Mönch gelebt. Schnell erledigte er seine Abendtoilette und schlüpfte ins Bett. Als sie im Schlafzimmer erschien, löschte sie das Licht und legte sich nieder. Er wartete einige Augenblicke und hoffte, dass sie sich an ihn kuscheln würde, doch nichts geschah. Als er sie küsste, wollte sie sich abwenden. Doch er hielt sie mit eisernem Griff. Er wollte sie berühren, um mit einem intensiven Vorspiel ihr Verlangen und ihre Lust zu steigern. Doch sie blieb kalt. Bevor seine Erregung nachließ, penetrierte er sie und drang heftig in sie ein. Sein sehniger Körper drückte sie tief in die Matratze. Wollte er die mangelnde Bereitschaft Kathis durch Gewalt ausgleichen?

„Langsam Tony, nicht so stürmisch“, flüsterte sie.

Doch er richtete sich auf, umfasste Kathis Beine und spreizte sie weit, was ihn noch mehr erregte. Dann packte er ihre Beine bei den Kniekehlen und drückte sie auf ihren Oberkörper, um sich auf ihnen abzustützen und tief in das angehobene Becken einzudringen. Er stellte sich vor, dass seine Leidenschaft auf sie überspringen würde, doch sie stemmte ihre Arme gegen seinen Oberkörper und drückte ihn von sich. Erst jetzt gewahrte er seine Entgleisung und sagte liebe Worte und streichelte sie zärtlich, um sie zu versöhnen. Doch seine Versuche blieben erfolglos.

„Du hast mir weh getan“, sagte sie unter Tränen und wandte sich von ihm ab.

8.

Tony konnte lange nicht einschlafen. Er wälzte sich im Bett von einer Seite auf die andere. Endlich fiel er in einen Halbschlaf, immer wieder unterbrochen von Wachsein. Als der Morgen graute und der Wecker läutete, blieb er im Bett, er hatte kein Interesse, nach seinem Fehltritt von gestern, Kathi beim Frühstück zu begegnen, und ihr in die Augen sehen zu müssen. Er wartete, bis sie die Wohnung verlassen hatte, erst dann stieg er aus dem Bett. Ein dumpfes Gefühl bemächtigte sich seiner, er konnte keine klaren Gedanken fassen, nur Gewissensbisse plagten ihn bezüglich seiner Entgleisung vom Vorabend. Doch ganz konnte er die Zurückweisung von Kathi nicht verstehen. Erstens war sie es gewesen, die durch ihr spätes Erscheinen den Abend gestört hatte. Und zweitens war es ebenso sonderbar, seine Zärtlichkeiten zurückzuweisen. Gewiss, ihr Verhältnis war nicht mehr so liebevoll wie noch vor einem Jahr, aber ihn derart kaltzustellen, und das nach langer Zeit der Askese, war ebenfalls eigenartig. Vielleicht fühlte sie, dass er mit einer anderen Frau eine Affäre hatte. Frauen haben einen feinen Instinkt dafür, dachte er.

Er duschte mit wechselnder Wassertemperatur, einmal heiß, dann kalt, dann wieder heiß und abschließend kalt. Dann braute er sich starken Kaffee, den er heiß hinunterschlürfte, dazu aß er eine alte, trockene Semmel. Jennifer hatte ihm in einer SMS mitgeteilt, dass die Besprechung mit Petermann auf zwei Uhr angesetzt war. Er rechnete mit einer Fahrtzeit von vier Stunden, also hatte er genügend Zeit und brauchte sich nicht zu beeilen.