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Frau Meier ist verliebt. Platonisch, versteht sich - mehr oder minder, denn sie ist noch immer nicht ganz über den Tod ihres Mannes hinweg. Der Bamberger Bestatter Paul Uhlbein liebt Frau Meier, oder auch einfach nur »Schnuppel«, sogar ohne »Anfassen«. Doch statt die Vorweihnachtszeit genießen zu können, geht es in ihrer Bestatter-Patchworkfamilie drunter und drüber. Ein in der Martinsgans verschwundener Ehering, ein unauffindbares Sargbukett und dann auch noch das mysteriöse Abtauchen des »Schwierigvaters« nebst Christkind - ausgerechnet am Heiligen Abend!
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Seitenzahl: 342
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Jette Johnsberg
Witwe Meier und das Sarggeflüster
Kriminalroman
Ausgewählt durch Claudia Senghaas
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© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © detmering design / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5064-8
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Impressum
Haftungsausschluss
Inhalt
1. Rabimmel, Rabammel
2. Willy
3. Novemberblues
4. In der Weihnachtsbäckerei
5. Daham is daham
6. LKW
7. Eiszeit
8. Der Unterwasser-Playboy
9. Häschen
10. Blubberwasser
11. Engelschor
12. Wikingerblut
13. Duschkabinen-Tango
14. Meister Proper
15. Adventswatsch’n
16. Schrecksekunde
17. Eierlikörtorte
18. Gnadenlos
19. Monday, Monday
20. Ewig Dein
21. Christrosen
22. Gehörnt
23. Schweinkram
24. Verschnaufpause
25. Sexy Hexy
26. Heiß auf Eis
27. Hüftschwung
28. High
29. Trimm-Dich
30. Nikolausi
31. Dieb in dunkler Nacht
32. Und wenn das zweite Lichtlein brennt …
33. Let it snow
34. Tatütata
35. Auf ein Wort
36. Blut- und Leberwörscht
37. Die Innung tanzt
38. Überraschung!
39. Witwenblut
40. Verliebt, verlobt …
41. Mordsgaudi
42. Maries Glück
43. Froschbrause
44. Tischlein deck dich
45. Happy Birthday
46. Küchengespräche
47. Schwierigvater
48. Und wenn das vierte Lichtlein brennt …
49. E. T. und ein Wildschwein
50. Ruhe vor dem Sturm
51. Weihnachtsmann-Metamorphose
52. Nussknacker-Suite
53. Kühlschränke
54. Schöne Bescherung
55. Tafelfreuden
56. Ganz großes Kino
57. Vom Himmel hoch
Danksagung
Lesen Sie weiter …
Das, was sie fühlte, war kalt. Eiskalt. Ihre Hand arbeitete blind, denn in manche Dinge konnte man nun mal – selbst beim besten Willen – nicht hineinsehen. Nach jedem Ziehen gelangte sie daraufhin ein kleines Stückchen tiefer hinein. Ihr linker Unterarm färbte sich rot. Nicht blutrot, nein, die Flüssigkeit, die an ihrem Unterarm entlanglief, war blassrot, eher fleischfarben und sah extrem ungesund aus. Mit dem Zeigefinger voran spürte sie es bereits. Unter ihren Fingern knisterte es leise im Inneren. Schließlich hatte sie ihn erwischt, konnte die Knochen spüren, die weichen Bestandteile, den Metallring mit der Plombe.
Mit einem heftigen Ruck zog sie den Beutel ein Stück weit heraus und fluchte dabei leise vor sich hin. Sehr leise, damit Paul sie nicht hören konnte, sie nicht Rechenschaft darüber ablegen musste, warum sie bis fast zum Ellenbogen in dieser bemitleidenswerten und mausetoten Kreatur steckte und vollkommen roh, pietätlos und barbarisch darin herumwühlte. Aber was sein musste, das musste nun mal sein.
Frau Meier zog das Tütchen mit den Innereien und dem langen, abgezogenen Hals vollends aus dem Leib der noch leicht gefrorenen Gans und entsorgte es schwungvoll im Mülleimer mit der sich elektrisch öffnenden Tür. So ein Schnickschnack, dachte sie bei sich. In ihrer eigenen Dreizimmerwohnung gab es so etwas nicht. Aber bei Paul! Paul Uhlbein war reich, Bestatter in der fünften Generation und seit dem Herbst vergangenen Jahres sowohl ihr Chef als auch ihr Lover, wie Gina, Frau Meiers Tochter, es ausdrücken würde. Das mit dem Lover stimmte natürlich nicht wirklich, denn für die Liebe war Frau Meier noch nicht bereit. Also für die körperliche. Für die andere schon – irgendwie.
»Mein Schnuppelchen, sag, was treibst du da eigentlich in der Küche? Es ist so still.«, rief es aus dem Wohnzimmer.
»Paul, ich koche, was sonst? Heute ist Sankt Martin, die Kinder kommen und die Gans muss langsam in den Ofen. Außerdem ist es so still, weil die blöde Gans nun mal nicht mit mir redet, wie könnte sie auch? Die ist ja tot!«
»Ach, Meierchen, so war das doch gar nicht gemeint. Ich dachte nur, wenn man so ein Festessen bereitet, dann muss es doch klappern und scheppern in der Küche? Und die Hausfrau muss dabei leise vor sich hinträllern.«
»So, muss sie das? Ich trällere grundsätzlich nicht und bei mir scheppert auch nichts, mein lieber Paul, gar nichts. Aber wenn du gerne ein wenig Krach haben willst, dann kannst du den bekommen. Ich würde nur zu gerne wissen, warum du mir so eine Gans gebracht hast. Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine ohne Innereien will, und frisch sollte sie sein, nicht gefroren!«
»Aber die Bäuerin hat sie doch ausgenommen und ich habe sie nun mal schon letzte Woche gekauft. So lange hätte sie sich uneingefroren doch nicht gehalten.«
»Ja, das stimmt. Aber deine Bauersfrau hätte die Innereien entsorgen sollen. Stattdessen hat sie die ganzen Glibbersachen in eine Plastiktüte gepackt und sie der doofen Gans von hinten wieder hineingeschoben. Das ist doch eklig so was, total eklig.«
»Sie hat es ja nur gut gemeint. Die Gänseleber kann man doch auch ganz wunderbar braten. Mit Zwiebelchen und ein wenig Madeira. Oh, da hätte ich jetzt so richtig Lust drauf, da knurrt mir direkt der Magen. Du, Schnuppelchen, sag, magst du mir die Gänseleber nicht vielleicht kurz ein wenig anbraten, mein Herz?«
»Paul, wenn du noch einmal ›Schnuppel‹ zu mir sagst, dann nenne ich dich ›Leichenfledderer‹!«
»Aber mein Schätzelchen, was ist denn los?«
»Was los ist? Ich stecke bis zur Schulter in dieser dämlichen Gans und du sitzt vor dem Kamin und nimmst ein sprudelndes Fußbad! Wenn ich das gewollt hätte, mein lieber Paul, dann, dann …«
»Ja, was dann? Dann hättest du lieber eine Pute gewollt?«
»Nein! Ich will überhaupt keine Gänse oder Puten braten. Ich will eingeladen werden! Jawohl! Schließlich habe ich mit diesem dummen Sankt Martin absolut nichts am Hut. Du, du hast Gina und die Kinder eingeladen und von der ollen Martinsgans geschwärmt, nicht ich!«
»Ja, aber, das sind doch deine Tochter und deine Enkel – die laufen heute mit der Laterne durch die Straßen und singen! Schau«, wurde er ein wenig versöhnlicher, »sie sind doch gerade erst wieder zurück nach Bamberg gezogen. Die Kinder brauchen schöne Erlebnisse in ihrer neuen Umgebung. Und wenn sie jetzt zu uns nach Hause kommen und ganz rote Nasen von der Kälte draußen haben, dann wollen sie halt ein Ganserl essen. Das macht man doch so an Sankt Martin.«
»Ich hab das bei Gina nie gemacht! Da gab es im Kindergarten nach dem Umzug eine Bockwurst und eine Limo, und alle waren zufrieden.«
»Du hast deiner Familie nie eine Martinsgans gemacht?«
»Doch, aber erst später, als Gina ausgezogen war – und nur für meinen Mann und meine Geschwister. Und Cousins. Und deren Cousins. Gina war als Kind mit einer Bockwurst wirklich absolut glücklich. Da gab es solch ein Tamtam nicht, das kann ich dir sagen.«
»Ach, Schnuppel, denk doch auch mal an mich, mir machst du damit eine große Freude. Ich habe jetzt durch dich doch eine richtige Familie. Und Enkel und eine Tochter.«
»Wenn du noch einmal ›Schnuppel‹ zu mir sagst, dann wird dein Kopf gleich dort sein, wo der Beutel mit den Innereien eben noch war, Paul! Ich wette, Gans macht sich ganz wunderbar als Kopfbedeckung – jetzt im Herbst. Und wenn du glaubst, ich helfe dir dabei, deinen Kopf wieder herauszubekommen, dann hast du dich aber so was von geschnitten, jawohl!« Frau Meier war wütend. Hätte Paul nicht einfach ein paar Scheinchen springen lassen können und sie alle zur Martinsgans ins »Klosterbräu« einladen können? Oder ins »Schlenkerla«. Kostete ja weiß Gott nicht die Welt. Aber nein, Paul musste einen auf Familienidyll machen. Oma in der Küche mit gestärkter Schürze, Sonntagsgeschirr und Kerzenschein. Und der Herr des Hauses durfte dabei seine Quanten im Wohnzimmer bei einem durchaus erquicklichen Fußsprudelbad pflegen. So hatte sie sich das nicht erträumt, als sie eingewilligt hatte, noch einmal so etwas wie eine Beziehung einzugehen. So nicht! Auf ihre alten Tage hier zur Küchenfee mutieren zu müssen.
Draußen schlug die Domuhr halb vier. Der verdammte Vogel musste langsam in den Ofen. Aber vorher sollte die Füllung noch hinein. Diese hatte Gina am Vortag schon zubereitet und sie sah einfach nur widerlich aus. Maronenfüllung. Alles braun und matschig. Einer Gans von hinten etwas Braunes einführen zu müssen, das ging ihr vollkommen gegen den Strich. Früher hatte man Zwiebeln, Äpfel, Möhrchen und Beifuß hineingestopft und gut war’s. Aber heutzutage – Maronencremefüllung! Sah ein wenig aus wie Durchfall.
»Schnuppel? Um noch mal auf die Gänseleber zurückzukommen, meinst du, du könntest mir die vielleicht doch in ein Pfännchen werfen? Das wäre gerade mein größter Wunsch, mein Schatz«, tönte es aus dem Wohnzimmer.
Frau Meier gab es auf, gegen die Freundlichkeit dieses Mannes war partout kein Kraut gewachsen. Sie drückte mit dem Knie gegen die Abfalleimertür und diese flog leise summend auf. Dann griff sie beherzt in den Mülleimer, fischte zwischen einigen weniger leckeren Dingen die Tüte mit den Innereien heraus und drückte die Schublade wieder zu. Schließlich ging sie kurzerhand die wenigen Stufen hinab in das Beerdigungsinstitut, holte sich ein paar Latexhandschuhe, die sie noch während des Gehens überstreifte, stopfte zuerst der Gans die braune Masse in den Po, wühlte anschließend – äußerst ungern – in der Tüte zwischen Nieren, Herz und Hals, bis sie die Leber fand, um diese dann, mit etwas Mehl bestäubt, grazil in eine heiß glühende Pfanne zu werfen. Es zischte und die Leber wölbte sich an den Seiten nach oben. Pfeffer und Salz darauf, ein wenig Kräuterbutter und gut war’s. Ein winziger Schluck Portwein zum Ablöschen, dazu ein Scheibchen Weißbrot und Pauls Imbiss war perfekt.
Paul strahlte, als sie ihm den Snack auf einem Goldrandtellerchen brachte. »Mein Schnuppelchen, du bist die Beste!«
»Danke Paul, du alter Leichenfledderer.«
Es war eine wahre Freude, wie Paul die vor Hitze noch dampfende Leber in seinen Mund schob. Ein Klecks Kräuterbutter klebte in seinem ansonsten so gepflegten, grauen Bart und irgendwie passte weder dieser Klecks noch das Sprudelfußbad zu seinem äußeren Erscheinungsbild mit Anzug, Krawatte und dem passenden Einstecktuch.
»Ach, Schnuppelchen, wie du das wieder hinbekommen hast. Köstlich.«
»Ja, nicht wahr?«, grinste Frau Meier auf ihn herab, streichelte ihm die Schulter und freute sich, dass Paul nicht ahnte, dass er soeben den Inhalt seines Mülleimers als Delikatesse pries. So einfach konnte man einen Mann glücklich machen.
»Paul, du, hör mal, dieses ›Schnuppel‹, das solltest du dir abgewöhnen.«
»Aber warum denn, meine Liebste?«
»Weil ich es auf den Tod nicht ausstehen kann. Es klingt so nach Kosenamen aus dem Osten. Wir wollen doch nett zueinander sein und das Leben in vollen Zügen genießen, oder? Mittlerweile wissen wir doch beide, lieber Paul, wie kurz das Leben sein kann, und ich will dich doch noch recht lange behalten, wenn du verstehst, was ich meine.« Mit diesen Worten griff sie sich an die Kehle und imitierte gekonnt einen Würgegriff.
Paul verstand, räusperte sich kurz und widmete sich sofort wieder der Leber auf seinem Teller. »Hervorragend, meine Liebste, hervorragend. Du bist eine geniale Köchin. Du solltest viel öfter kochen, das würde mir gefallen, mein Schupp… ähm, Liebling.«
Punkt sieben klingelte es an der Haustür und Gina war da. Mikka und Ole, ihre beiden Jungs, hatten ihre leuchtenden Laternen in der Hand und begannen für Paul und ihre Oma zu singen. Frau Meier fand das Lied von Sankt Martin sehr hübsch, aber diese Laternen! Die hatte Gina wohl wieder selbst zusammengezimmert. Ein Drache und ein Ufo. Meine Güte, früher tat es doch auch ein gekaufter Lampion in Mondform. Was hatte denn ein Ufo mit Sankt Martin zu tun? Paul hingegen war begeistert und fragte sofort nach der Technik, die sie dafür angewandt hatte. Ob sie das mit Tapetenkleister und Buntpapier, oder lediglich mit Sprühkleber gemacht habe. Frau Meier drehte sich um und ging zu ihrer Gans, die mittlerweile genauso braun war wie Frau Meiers Schwester Marie, die seit Kurzem ein Abo im Sonnenstudio hatte. Ach, ja.
Als Frau Meier die Gans unter deren Ofensolarium hervorholen wollte und sie ihre Hand in die feuerfesten Kochhandschuhe gleiten ließ, fiel ihr mit Entsetzen auf, dass ihr Ring plötzlich fehlte. Der Ring ihres verstorbenen Gatten Hans, ihr Ehering, das Zeichen ihrer 35 Jahre lang währenden glücklichen Ehe. Leise weinend sank sie auf die Küchenbank und betrachtete die helle Stelle, an der der Ring eine tiefe Furche in ihrem Finger hinterlassen hatte. Eigentlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Heulanfälle, schalt sie sich selbst, aber – wann um Himmels willen war er ihr nur abhandengekommen? War er schon weg, als sie die Latexhandschuhe übergezogen hatte, oder war er da noch dran gewesen? Sie konnte es nicht sagen und schämte sich dafür in Grund und Boden. Sie hatte ihren Ehering verloren! Und wenn sie nicht alles täuschte, briet dieser gerade bei 180 Grad auf mittlerer Schiene im Hintern einer Martinsgans!
Das Ganserl sah himmlisch aus auf seiner Servierplatte. Was das Zerteilen von Körpern anging, hatte Frau Meier offenbar ein gutes Händchen. Alles wohl portioniert und hübsch drapiert. Dazwischen Petersilienstängel und Orangenscheiben.
Paul stand die Vorfreude auf diesen Gaumenschmaus direkt ins Gesicht geschrieben. Offenbar genoss er es, das Oberhaupt einer Familie zu sein. Er thronte an der Stirnseite seiner langen Esszimmertafel und stand schließlich auf, um diesem Abend, durch eine nette Tischrede, auch noch die ihm gebührende Würde zu verleihen.
Er räusperte sich kurz und begann seine kleine Ansprache, während Frau Meier indes unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und die Augen verdrehte. Sie hatte Angst, es würde alles kalt werden, wenn er sich erst einmal in Fahrt geredet hätte. Schließlich faltete er auch noch die Hände und betete. Das Vaterunser. Mikka und Ole sahen begeistert zu ihm auf und Ole, der neben Paul saß, legte seine kleine Hand nach dem Gebet zärtlich auf die seine, worauf der Hausherr ein wenig Hochwasser im Bereich der unteren Augenlider bekam. Frau Meier hingegen schritt zur Tat. Rammte energisch die Fleischgabel in die Gänsestücke und verteilte sie zügig an die hungrigen Mäuler. Für die beiden Kleinen natürlich die Keulen, für die Großen die butterzarte Brust, mit der hübsch gebräunten und herrlich gewürzten Haut.
»Gina«, so begann Paul, »sag, wie fühlst du dich denn jetzt so, wieder in der alten Heimat. Hast du den Schritt bereut, oder kommst du hier in Bamberg gut zurecht?«
Gina überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete, und kaute verlegen auf ihrem Bissen herum. »Na ja, es geht so. Ich habe es mir etwas leichter vorgestellt. Mir fehlen meine alten Nachbarn, meine Freunde, das Haus. Noch kann ich nicht sagen, ob ich das Richtige getan habe, aber weißt du, Paul, das weiß man vorher ja nie und jetzt ist es einfach so, wie es nun mal ist. Ich mag mein neues Häuschen hier, die Kinder haben in der Schule und im Kindergarten gut Kontakt gefunden und irgendwie wird der Rest auch noch werden.«
»Gina, ich wollte damit zwar noch bis Weihnachten warten, aber vielleicht sollte ich doch jetzt schon mal auf das Thema zu sprechen kommen«, setzte Paul an und Frau Meier blickte vollkommen überrascht auf ihren Paul, was der denn nun schon wieder ausgeheckt haben mochte. »Also, Gina, du weißt, ich habe keine eigenen Kinder und natürlich auch keine Enkel. Meiner verstorbenen Frau und mir war dieses Glück nicht vergönnt.« Gina nickte und sah ihn gespannt an. Die Luft in Pauls Esszimmer schien zu knistern, so verstand er es, die Spannung zu steigern. »Also. Meine Familie führt unser Bestattungsunternehmen mit mir nun bereits in der fünften Generation. Danach sind die Uhlbeins ausgestorben. Ich würde mich freuen, wenn wir – vielleicht gemeinsam – einen Weg finden würden, dies zu verhindern und der Bestattungsservice ›Ruhe sanft‹ auch noch in einer weiteren Generation fortgeführt werden könnte.«
Gina schluckte, Frau Meier war geschockt. »Paul, du willst doch jetzt nicht allen Ernstes meiner Gina einen Heiratsantrag machen und ihr vorschlagen, Kinder mit ihr zu zeugen! Hier! Vor meinen Augen!«
»Aber nein, mein Schnuppel, ich wollte Gina fragen, ob sie nicht vielleicht die Chance nutzen möchte, bei mir eine Ausbildung zu absolvieren, das Unternehmen zu übernehmen und dann an ihre Kinder weiterzugeben.«
Gina wirkte vollkommen überfahren, war sich aber schlagartig der Tatsache bewusst, dass man von ihr erwartete, dass sie sich dazu äußerte.
»Ähm, Paul, du, also, das ist eine sehr unerwartete Frage, die du mir da stellst. Also, ich weiß nicht so recht. Es ist nicht so, dass ich dein Angebot nicht zu schätzen wüsste, aber spontan kann ich gerade gar nichts dazu sagen. Ich muss das doch jetzt hoffentlich auch nicht gleich entscheiden, oder?«
»Nein, Gina, das musst du nicht. Lass dir Zeit, denke in Ruhe über alles nach und im neuen Jahr reden wir darüber, okay? Wäre das in deinem Sinne? Ist das genug Bedenkzeit?«
Frau Meier war sprachlos, was bekanntermaßen sehr selten vorkam, und Gina war der Appetit, bei der Vorstellung, ins Bestattergewerbe einzusteigen, irgendwie vergangen. Nur Mikka und Ole, die nicht so recht wussten, um was es hier eigentlich ging, plapperten fröhlich vor sich hin. Mikka, der seit September die zweite Klasse besuchte, schaffte es sogar, einen perfekten Themawechsel am Tisch zu inszenieren, indem er Paul fragte, ob er ihm nicht vielleicht sein neu erlerntes Herbstgedicht aufsagen dürfe.
»Du bist ein alter blöder Angeber!«, schimpfte Ole, der leider kein Gedicht zum Herbst kannte, aber Paul bot Mikka mit großer Geste eine Bühne.
Mikka verbeugte sich, atmete tief durch und begann:
»Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.«
Alle applaudierten, und Paul bekam schon wieder feuchte Augen.
»Mikka, Kleiner, weißt du, von wem das ist?«, fragte er und beugte sich zu dem blonden Kerlchen hinunter, um ihn zu umarmen. »Das ist von Rilke. Reiner Maria.«
»Echt? Reiner und Maria haben das geschrieben?«, fragte Mikka.
»Nein, nein, nein, der Dichter heißt so. Reiner Maria Rilke. Ein ganz besonders schönes Gedicht«, und zu Frau Meier und Gina gewandt, »schaut, das drückt genau das aus, was ich euch eigentlich sagen wollte. Es wird Herbst und bald kommt der Winter und dann will ich wissen, dass mein Lebenswerk Fortbestand hat. Ich wandere also auch unruhig, jetzt – wo die Blätter treiben.«
Frau Meier war das alles zu viel der Gefühlsduselei. Sie stand auf und fragte, die sentimentale Stimmung durchbrechend, ob noch jemand Nachtisch wolle.
Das Wort »Nachtisch« hat für alle Kinder eine gewisse Zauberkraft und so reckten die zwei ihre kleinen Arme in die Höhe und schrien um die Wette: »Ich, ich, ich!«
»Du auch, Gina?«, fragte Frau Meier, doch Gina lehnte dankend ab und half ihrer Mutter beim Abräumen des Tisches.
In der Küche schloss sie leise die Tür. »Mama, hast du das gewusst? Hättest du mich nicht irgendwie vorwarnen können? Oder ihn von dieser abstrusen Idee abbringen? Wie stehe ich denn da, wenn ich ablehne? Er ist so ein lieber, netter Mensch! Ich kann ihn einfach nicht im Regen stehen lassen. Aber wenn ich mir vorstelle, ich soll Bestatterin werden und die nächste Generation Bestatter auch schon mal so ganz nebenbei heranzüchten, dann wird mir speiübel.«
»Gina, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich davon gewusst habe. Ich bin völlig geplättet! Mit keiner Silbe hat er das vorher erwähnt. Ehrenwort! Kannst mir schon glauben, dass ich ebenso überrascht bin, von dieser Bombe, die er da hat platzen lassen, wie du!«
»Mama, ich brauch jetzt mal nen Schnaps. Einen doppelten Willy, wenn’s geht.«
Auf diesen Schreck füllte Frau Meier erst einmal zwei geschwungene Grappagläser mit Williams Christbirne. Selbstverständlich bis fast zum Rand, und mit einem tiefen Seufzen kippten die beiden Frauen den rettenden Klaren in einem Zug hinunter. Gina schüttelte sich. Frau Meier verzog keine Miene. Der zweite brannte dann schon gar nicht mehr so stark und der dritte machte direkt glücklich.
Frau Meier hasste den November. Es war der Monat, der ihr am meisten auf das Gemüt schlug. Nicht nur, dass Hans, ihr verstorbener Gatte, in diesem Monat Geburtstag gehabt hatte, nein, was ihr wahrlich Angst, ja sogar blanke Panik bereitete, war das unausweichliche und stetig näher rückende Weihnachtsfest. Weihnachten war so gar nicht ihr Ding. Während andere Omas in Heerscharen ausströmten um jede Menge Dies und Jenes für die Weihnachtsbäckerei zu besorgen, sah Frau Meier natürlich auch der Tätigkeit des Backens nur mit äußerster Skepsis, ja, vielleicht sogar mit totaler Ablehnung entgegen.
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