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Frau Meiers Leben bewegt sich farblich im Spektrum zwischen sahara-beige und schlammfarben. Sie ist in den Sechzigern, verbittert, ein wenig böse und kugelrund. Das macht das Leben weder für sie noch für die anderen locker, luftig und leicht. Ihr Dasein wird jedoch bunt und schillernd, als einige unerwartete und mehr oder weniger bedauerliche Todesfälle in ihrem Umfeld geschehen. Doch obwohl nicht alles Mord ist, was den einen oder anderen umbringt, erwacht Frau Meier mit jeder Leiche zu neuem Leben.
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Seitenzahl: 252
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Jette Johnsberg
Witwe Meier und die toten Männer
Kriminalroman
Ausgewählt durch
Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Benjamin Arnold
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © smartinka / photocase.de
ISBN 978-3-8392-4870-6
Für Mama
und für Willy, die heißeste Bestatterin aller Zeiten!
Wissenschaftler haben festgestellt, dass ein Schmetterling sich mit seinen zarten Flügeln unbedingt selbst aus seinem Kokon befreien muss. Hilft man ihm, indem man beispielsweise den Kokon vorsichtig aufschlitzt, so wird der Schmetterling sterben. Seine Flügel sind einfach nicht stark genug, um fliegen zu können. Und somit hat alle Mühe und jedes Leid, aus dem man sich selbst befreien kann, doch einen tieferen und überlebenswichtigen Sinn.
Draußen schrie eine Amsel, und es kam ihr vor, als prügelte ihr deren Geschrei den neuen Tag in den Kopf. Nur nicht gleich die Augen öffnen. Langsam, ganz langsam sollte dieser Tag von ihr Besitz ergreifen.
Alles, was sie tat, hatte grundsätzlich irgendeinen Sinn. Mitunter verstand sie ihn zwar selbst nicht so recht, aber das tat meist auch nicht not.
Sie hatte es sich angewöhnt, die Aufwachphase hinauszuzögern und dem neuen Morgen somit ihre Macht zu demonstrieren. Macht war eine Sache, die sie nun nicht mehr an ihrem Mann ausüben konnte, denn der lag einen Kilometer weiter unter einer schattigen Buche und hatte violette und weiße Stiefmütterchen über sich. Hatte er eigentlich je Stiefmütterchen leiden mögen?
Bei ihrer Tochter scheiterte sie in Sachen Machtausübung bedauerlicherweise auch. Zumindest in der Regel. Vermutlich lag es an der Entfernung, denn der undankbare Nachwuchs hatte es vorgezogen, in ein Kuhdorf zu ziehen, das mehr als zwei Autostunden weit entfernt lag. Fuchsdorf, was für ein Name! Vielleicht lag es aber auch daran, dass die Tochter nicht mehr ganz so empfänglich war für kriegerische Auseinandersetzungen. Ihr Schlachtfeld waren nun das Haus, der Elternbeirat im Kindergarten, und ihre Gegner waren Staub, Wäsche, Unkraut und mitunter auch ihre beiden Rotznasen, die sie zu erziehen nicht in der Lage zu sein schien.
Erneut stieß die Amsel einen gellenden Schrei aus.
Das Mistvieh weiß doch genau, dass ich noch nicht so weit bin, schoss es ihr durch den Kopf. Hätte sie nicht dazu aufstehen müssen, so hätte sie dieses schwarze Federvieh mit ihrem neuen beigen Gesundheitstreter erschlagen. Aber beige sagte man ja nun nicht mehr, das hieß jetzt »nude«, nackert, na, wer’s mag.
Langsam, langsam, ich will noch nicht, nicht jetzt!
Ihr schwerer Körper begann zu arbeiten. Das Herz setzte kurz aus, und der Puls überschlug sich anschließend. Doppelter Salto. Der mächtige Körper bewegte sich unter der Steppdecke, und sie fühlte einen stechenden Schmerz im linken Fuß.
Verdammter Fuß! Heute bleibe ich einfach liegen. Ich kann nicht auftreten, es geht nicht. Aus die Maus!
Froh, einen Grund gefunden zu haben, drehte sie ihre 130 Kilo mühsam auf die Seite. 09.28 Uhr leuchtete der Radiowecker. So schnell es ihr angebracht erschien, rechnete sie zurück. Der Wecker ging genau 18 Minuten vor. Ein Trick. Ein toller Trick, sie wusste nur nicht mehr so genau, wofür sie ihn sich eigentlich ausgedacht hatte.
09.52 Uhr. Die Zahlen leuchteten rot. Rot, die Signalfarbe. Für sie hatte dieses Signal jedoch schon lange keinerlei Bedeutung mehr. Rote Lippen, rote Ampeln, rote Punkte auf Lebensmitteln, das juckte sie nicht mehr. Was ging es sie schon an.
18 Minuten zurück, so spät ist es ja noch gar nicht. Nein! Ich werde nicht aufstehen. Heute nicht. Mein Fuß sticht wie wild. Wozu aufstehen? Eigentlich tut mir alles weh. Nicht nur der Fuß! Wirklich weh, extrem weh!
Genau um 10.01 Uhr schrie die Amsel erneut um ihr Leben. Mit einem Ruck fuhr Frau Meier wütend auf. Sie war gerade mitten in einem wunderbaren Tagtraum, der sie jung und schlank in einem weißen Kleid mit Rosenmuster zeigte. Sie drehte sich barfuß im taufrischen Gras – bis diese verdammte Amsel wieder anfing, sich ausgerechnet mit IHR anzulegen!
Ihr Kopf war schwer wie Blei, und ihr Rücken war durch den plötzlichen Anflug von Bewegung so überrascht worden, dass er streikte und die Protestfahne hisste. Ihr Kreuzbein rebellierte. Die Bandscheibe, der Ischias oder was auch immer. Eines stand fest: Sie musste sofort zum Arzt! Da führte kein Weg daran vorbei.
Millimeterweise kämpfte sie sich aus dem Bett. Den linken, also den stechenden, Fuß zuerst, oder war es doch der rechte? Egal, nun war der Rücken dran, an den musste sie sich nun halten. Mit ausgestellten Beinen schleppte sie sich durch den Flur ins Badezimmer. Sich auf die Toilette fallen zu lassen, war der einzige und unendlich wohltuende Gedanke. Sie hob den Deckel und plumpste schwer auf die Brille.
Nach fünf Minuten kam sie nicht mehr hoch. Ihre Finger klammerten sich um den Haltegriff oberhalb der Badewanne, doch sie befürchtete zu Recht, der Griff könnte, wenn sie sich daran hochzog, aus der Wand brechen.
Vorsichtig, ganz vorsichtig drehte sie sich zur Seite und stützte sich am Waschbecken ab, da ihr diese Möglichkeit noch als die sicherste erschien. So ein Waschbecken würde das wohl aushalten.
Als sie die Vertikale knapp erreicht hatte, trafen sich ihr Blick und ihr dreifaches Spiegelbild in dem doch recht schlecht geputzten Alibertschrank.
Mein Gott, war ich nicht eben noch schlank und schön?
Zu beiden Seiten ihres runden Gesichtes hingen kraftlos die schwarzen Haarsträhnen. Fransenschnitt würde ihr supergut stehen, hatte die Friseuse mit dem Nasenring gesagt.
Unter ihren Augen haftete ein dunkler Balken zerflossener Wimperntusche.
Mistzeug, darauf werde ich in Zukunft verzichten. Müll! Macht nur Arbeit so was und wozu überhaupt!
Lippenstift, Lidschatten, Kajal und Co. waren bereits der neuen gelben Tonne zum Opfer gefallen, weil man damit nämlich nur gut aussah, wenn man es täglich mehrmals auftrug. Restauration hatte sie nicht nötig. Sie nicht. Sie war nun mal, wie sie war. Und so, wie sie war, wollte sie auch bleiben. Aber war sie auch wirklich die, die sie eigentlich war?
Solche Fragen wollte sie sich heute definitiv nicht stellen. Heute nicht. Sie hatte schließlich etwas vor. Sie musste zum Arzt. Immerhin hatte sie Rückenschmerzen! Ach so, und Fußschmerzen natürlich auch.
Um 11.11 Uhr, allerdings laut der Küchenuhr, die ging nur drei Minuten vor, war sie bereit zum Aufbruch.
Ihre beigen, nein, nudefarbenen und extrem bügelfreien Hosen, ein Hauszelt in Größe 54 von ähnlich reizendem Farbton und ihre feinen Gesundheitsschuhe in dezentem Schokobraun. Fertig.
Sie nahm die Autoschlüssel und verließ die Wohnung, wobei sie umständlich und geräuschvoll die Tür schloss. Im Treppenhaus atmete und schnaufte sie mehrmals äußerst bemitleidenswert auf. Wer weiß, vielleicht würde die Nachbarin unter ihr, Frau Lehmann, sie hören und zur Tür eilen, um ihr Hilfe anzubieten, die sie dann jedoch selbstverständlich gönnerhaft ablehnen würde. Doch im Erdgeschoss des Sechsparteienhauses tat sich nichts.
Wo steckt die denn schon wieder? Mensch – Rentnerin und auch Witwe und ewig unterwegs! Die weiß gar nicht, wie gut sie es hat. Und ich komm’ hier kaum die Treppen runter. Was für ein Tag!
Als sie die Straße erreichte, hatte sie das Gefühl, der Rückenschmerz habe bereits nachgelassen. Eigentlich war er kaum mehr zu spüren, aber egal, nun war sie schon mal auf dem Weg, jetzt würde sie auf jeden Fall den Hausarzt aufsuchen.
Vor der Praxis waren alle Stellplätze belegt. Alle, bis auf den Behindertenparkplatz.
Also, ich bin behindert, wenn ich heute nicht behindert bin, dann weiß ich auch nicht, dachte sie und nahm scharf die Kurve, wobei der 80-Jährige an zwei Krücken, der gerade harmlos über den Gehweg schlich, einen entsetzten Sprung zur Seite machte und ihr anschließend wütend den Mittelfinger zeigte.
Mit geübtem und betont langsamem Hin und Her kroch sie aus dem Wagen.
Hoffentlich schaut diese überfreundliche Sprechstundenhilfe gerade aus dem Fenster, dann wird sie mich vorlassen, durchfuhr es sie, und damit es noch etwas bemitleidenswerter aussah, hinkte sie nun ein wenig mit dem rechten Bein. Das hatte heute schließlich auch schon einmal wehgetan. Oder war es das linke?
Die Sprechstundenhilfe freute sich Frau Meier zu sehen, brachte sie doch alle zwei Wochen frische Bamberger Hörnla für alle und ein Pfund Bohnenkaffee von Mövenpick mit. Da ihr auch just in diesem Moment der Magen knurrte, erwachte in der Arzthelferin die Hoffnung auf eine kalorienreiche süße Zwischenmahlzeit und zauberte ihr im Handumdrehen ein Lächeln in ihr wunderschönes, straffes und junges Gesicht. Frau Meier hasste junge Gesichter generell. Bei Sprechstundenhilfen jedoch im Besonderen.
Auch sie war früher bei einem Arzt angestellt gewesen. Ein fieser kleiner Kerl war das, mit polnischem Akzent und unkontrollierbaren Fingern, die nicht nur die verstauchten Knöchel der örtlichen Fußballmannschaft untersuchten. Damals war SIE jung und schlank und auch sie lächelte einst den alten Damen freundlich und aufmunternd zu, in der Hoffnung auf eine kleine Spende in die Kaffeekasse.
Sie kam tatsächlich vor den anderen Patienten im Wartezimmer dran. Der freundliche Dr. Böhm, der immer diesen schrecklich abgearbeiteten Zug um den Mund hatte, kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Ja, nehmen Sie doch Platz, liebe Frau Meier, was kann ich denn h e u t e für Sie tun?«
War da nicht so ein Unterton von »Na, was wollen Sie denn schon wieder hier?« zu hören? Frau Meier war auf der Hut. Langsam koordinierte sie den Rückzug in ihr Schneckenhaus. So etwas sollte er mal besser bleiben lassen, ich bringe ihm schließlich genug Geld, noch ein Wort und ich werde ihn schmoren lassen, bis ich das nächste Mal wieder einen Fuß über seine Schwelle setze, durchfuhr es sie.
Doch der Arzt hatte ein extrem gutes Gespür für nahenden Ärger und nahm seinen Fehler sofort wahr. Einfühlsam, ja sogar schmeichelnd, nickte er ihr zu und tätschelte verständnisvoll ihre Hand.
Als das Vertrauensverhältnis nicht mehr auf gar so wackeligen Füßen stand, rang sich Frau Meier dazu durch, dem Arzt von ihrem quälenden Rücken und dem schmerzenden Fuß zu berichten. Die Pausen setzte sie geschickt mit einer Spur Dramatik als Grundwürze, und auch das eine oder andere schwere Seufzen hätte kein Regisseur der Welt besser platzieren können.
Dr. Böhm runzelte die Stirn. Mit sonorer Stimme wies er sie darauf hin, dass er ihr als Hausaufgabe »Schonung« verordnen würde. Ganz viel Ruhe und Schonung. Dabei griff er zu einem Rezeptblock und rezeptierte ihr einen Schwung neuer bunter Pillen und eine Salbe – rein pflanzlich – für den Fuß. Auf den Hinweis, 30 – 60 Kilo abzunehmen, verzichtete er heute. Das war Frau Meier beim letzten Mal wohl gewaltig in die Nase gestiegen. Ganze zehn Tage hatte sie ihn seitdem nicht mehr konsultiert. So lange hatte sie ihn noch nie warten lassen!
Schließlich rieb er sich gedankenverloren am Kinn und wog die Vor- und Nachteile einer Injektion zur Schmerzlinderung ab. Er überschlug kurz sein Kassenbudget und öffnete letztlich doch das Schränkchen mit dem Sicherheitsschloss und fischte die passende Ampulle für seine Patientin heraus. Zwei Nadelstiche später war Frau Meier therapiert und durfte mit dem erneuten Hinweis auf Schonung und der Anweisung, in zwei Tagen wieder auf der Matte zu stehen, endlich nach Hause. Ach so, und die Pillen sollte sie natürlich nicht vergessen. Besonders die kleinen grünen.
Tatsächlich fühlte sie sich auch gleich etwas besser. Vielleicht ein wenig wattiert im Kopf, aber dieses Gefühl war ihr nicht fremd.
Wie gut, dass kein Strafzettel vom äußerst gefürchteten Parküberwachungsdienst am Wagen hing. Aber sie war überzeugt davon, dass ohnehin jeder Parkwächter eingesehen hätte, dass gerade sie jedes Recht der Welt hatte, genau hier zu parken. Also, wenn sie nicht behindert war, wer denn dann, bitteschön?
Sie lenkte den Wagen aus der verkehrsdichten Innenstadt hinaus über den Berliner Ring in das Industriegebiet. Ein Paradies für Kaufsüchtige jeden Genres. Baumarkt an Aldi, Supermarkt an Billigkette, Drogerie an Factory-Outlet.
Vor dem größten der fünf Supermärkte fand sie einen Mutter-Kind-Parkplatz direkt am Eingang. Sie hatte die Kindersitze ihrer Enkel immer auf der Rückbank, wer sollte da zweifeln?
Mit einem Gefühl von neuem Schwung und einem Hauch Morphium im Rücken traten Frau Meier und ihr überdimensionierter Einkaufswagen durch die sich automatisch öffnenden Schiebetüren in den Supermarkt.
Man konnte nicht sagen, ob es nun an der leisen Hintergrundmusik liegen mochte, den freundlichen Angestellten oder an den beiden Spritzen, die man ihr in den Rücken gejagt hatte, jedenfalls lächelte sie nun den Reihen mit bunt verpackten Waschmitteln und Dosensuppen zufrieden zu und stürzte sich hemmungslos und mit gnadenloser Leidenschaft in den Konsumrausch.
»183,25, zahlen Sie in bar oder mit Karte?«
»Mit Karte.«
»Die Karte bitte hier hineinstecken, vielen Dank, und da unten noch eine Unterschrift, auf Wiedersehen.«
Der Einkauf hatte ihr gutgetan. Sie sammelte die restlichen Waren vom Band und warf sie in den Einkaufswagen. Straußensteaks, abgepackter Käse, Kindermilchschnitte, Wiener Würstchen im Familypack, Pralinenstapel und Cola light. Sie freute sich. Ihr Rücken freute sich auch.
»Ah, kommen die Enkele wohl am Wochenende?«, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter.
»Oh, Frau Lehmann, guten Morgen. Hätte ich gewusst, dass Sie auch hier einkaufen wollen, dann hätte ich Sie doch mitgenommen.«
»Nicht nötig, Frau Meier. Sie wissen doch, ich laufe gerne. Das hält mich fit!«, lächelte die Nachbarin.
Wenn auch nur sehr gequält, lächelte Frau Meier zurück und betrachtete die arme, einsame fettreduzierte H-Milch und die beiden bedauernswerten Bananen, die Frau Lehmann in ihrem Körbchen beherbergte.
Na, wenn sie so fit sein will, dann soll sie auch nach Hause laufen – bergauf hält doppelt fit, dachte Frau Meier bei sich.
Heute war ja auch wirklich ein ganz herrlicher Tag und so gutes Wetter für einen Spaziergang!
Frau Meier ging es bestens. Sie lächelte. Ja, man konnte wohl sagen, sie habe sich über ihre Nachbarin geärgert, aber was sollte der Frust, so eine kleine Packung Pralinchen, und die Welt war wieder in Ordnung.
Die Füße auf dem Tisch, die kleine feine Schachtel Glückseligkeit auf dem Bauchgebirge, saß sie auf dem Sofa und schaute »Emergency Room«, die Wiederholung vom Vorabend. Niemals in 35 Jahren Ehe hatte sie die Füße auf dem Tisch liegen gehabt. Aber so hatte es auch seine guten Seiten, das Alleinsein, dachte sie und suchte nach einer angenehmen Liegeposition für die nächsten paar Stunden.
Auf dem Bildschirm rannte ein Ärzteteam um das Leben eines Menschen. Diagnose unklar! Klar war aber, dass Frau Doktor Meier die Lage sofort gepeilt hatte. Schließlich hatte sie Berufserfahrung in der Medizin, sie war immerhin vom Fach!
»Schlaganfall! 150 mg von irgendwas, und die Sache ist wieder im Lot!«, befahl sie dem Ärzteteam, aber das wollte einfach nicht hören!
Am Ende stellte sich eine Vergiftung heraus, ihre Diagnose hätte den guten Mann in der Serie das Leben gekostet, aber das bekam Frau Meier nicht mehr mit.
Das Telefon schellte, und schwerfällig erhob sie sich von ihrem Platz. Hätte sie das Mobilteil doch nur nicht wieder auf die Station im Flur gestellt!
»Meier.«
Lange Pause.
»Grüß dich, hier ist der Georg!«
»Ja, der Georg!? Das ist aber eine, ähm, Überraschung! Wo bist du denn gerade?«
»Na, in Australien, wo sonst?«
Erneute, noch längere Pause – was in aller Welt will der denn nach all den Jahren?
»Oh, das ist aber schön, dass du dich auch mal wieder meldest. Geht es dir gut? Ist was passiert?«
»Ja, gut geht’s mir schon, aber, hör mal, du, ich habe erst jetzt davon gehört, dass Hans gestorben ist, das tut mir wahnsinnig leid, du, ich habe das wirklich nicht gewusst, sonst hätte ich mich ja schon viel früher mal bei dir gemeldet.«
»Ist ja schon eine ganze Weile her, Georg. Ich komme schon zurecht. Irgendwie. Aber es ist halt wirklich wahnsinnig schwer, so ganz alleine. Niemand kann einem das ersetzen, was man verloren hat. Wirklich niemand. Und der Hans, der war einfach der Beste.«
Mit dem einen Auge schielte sie auf den Fernsehbildschirm, um zu sehen, ob in der Notaufnahme auch ohne sie alles glattging.
»Ach, du Arme, das denke ich mir. Ist schon schwer, aber das Leben geht nun mal weiter. Weshalb ich anrufe: Also, ich muss kommenden Monat nach Deutschland fliegen. Ein paar Dinge regeln, wegen der Rente und so. Dann besuche ich dich ganz bestimmt. Ist doch schön, oder? Also, dann sehen wir uns in einem Monat, mach’s gut, bis die Tage! Bye bye, Honey!«
»Ja, tschüss dann, bis die Tage …«, doch am anderen Ende der Welt hatte Georg bereits aufgelegt.
Frau Meiers Herz setzte kurz aus. Nein, es stolperte, wie sie es nennen würde. Kurze Arrhythmie.
Hätte sie doch gleich noch eine Ersatzpackung Blutdrucktabletten mit auf das Rezept setzen lassen! Georg kam also nach Deutschland, nach Bamberg, zurück in seine fränkische Heimat.
Er war ursprünglich der Mann ihrer besten Freundin Hanni gewesen, die beiden waren mittlerweile jedoch längst geschieden. Nach 25 Jahren Ehe. Sie, also Hanni, die Exfrau von Georg, war neuerdings verheiratet in Mexiko. Vermutlich mit einem Drogenboss, wie Frau Meier mutmaßte. Er, Georg, Schorsch, liiert mit einer Fabrikantentochter in Australien. Oder vielleicht war er ja gar nicht mehr liiert mit der Fabrikantentochter?
Schwang in seinem Ton nicht so ein klitzekleines Stück »außer Spesen, nichts gewesen« mit? Ihr war fast so. Darüber wollte sie nachdenken und die Situation am Telefon noch einmal detailliert interpretieren. Aber nicht jetzt, später. Im »Emergency Room« wartete man schließlich auf ihre Fachkompetenz.
Seien Sie mal ehrlich, Sie hatten bislang vermutet, bei Frau Meier handle es sich um eine alte Dame, Mitte 70. Aber nein, weit gefehlt! Sie benimmt sich nur so, aber in ihrem Pass steht, sie sei 60 Jahre alt, 168 cm groß und habe braune Augen. Auf dem Foto kann man unschwer dunkles Haar erkennen.
Frau Meier ist schon mit 40 in Pension gegangen. Wegen ihres Rückens, der, wie Sie ja wissen, wirklich Probleme macht. Ihr Mann war deutlich älter als sie, und während er immer jünger wirkte, verwandelte sie sich schon bald in eine – wie soll man es nennen – alte Schachtel. Die Welt war ihrer Ansicht nach ungerecht zu ihr, und keiner konnte etwas richtig machen. Niemand kümmerte sich um sie, und im Allgemeinen war ihre Grundstimmung immer beigebraun. Nude also. Nach dem Tod ihres Mannes zwischenzeitlich auch mal schwarz, aber meist zwischen schlammfarben und saharabeige.
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