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Emma Jones hat sich den Job einfacher vorgestellt. Mit ihrem Reporter-Team besucht sie den Yellowstone-Nationalpark um eine Dokumentation zu drehen. Doch ein Sturm und der Zusammenprall mit dem mürrischen Indianer und Ranger Ethan Blackbird werfen alle Pläne über Bord. Als Emma im Wald verschollen geht, setzt Ethan alles daran sie zu finden. Bald schon sind beide auf sich allein gestellt und bemerken, dass sie sich doch ähnlicher sind als sie gedacht haben. Wo vorher eine anfängliche Anziehung zu spüren war, entflammt mitten in der Wildnis eine brennende Leidenschaft. Doch sie ahnen nicht, das Ethans dunkle Vergangenheit nicht die einzige Bedrohung in den Wäldern des Nationalparks ist. Emma und Ethan finden sich bald im Zentrum unheimlicher Vorgänge wieder, die die beiden in Gefahr bringen. Die Großstadtpflanze und der Naturbursche. Zwei Welten, zwei Herzen, die aufeinanderprallen.
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Seitenzahl: 431
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Mina Miller
Wo das Herz der Erde schlägt
© 2020 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
Covergestaltung: © Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)
Coverfoto: © Periodimages.com
Landkarte: © Shutterstock.com
ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-465-8
ISBN eBook: 978-3-86495-466-5
Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.
Inhalt
Landkarte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Autorin
„Im Yellowstone-Park kann man das Herz der Erde spüren und ihr tief ins Auge blicken.“
Mit einem Knirschen kam das Auto auf dem Kies zum Stehen. Erleichtert lehnte sich Emma im Fahrersitz zurück, schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Volvo war nicht mehr der Jüngste und die acht Stunden Fahrt von Colorado nach Wyoming hatte sie mehr als erschöpft.
Ein Luftzug im Gesicht ließ sie tief durchatmen. Das Händewedeln vor ihrer Nase erinnerte sie daran, dass sie nicht allein im Auto saß. Die Blondine neben ihr war nicht irgendein Hippie, den sie am Straßenrand aufgelesen hatte, sondern ihre Vorgesetzte, Vanessa Garcia.
„Emma, lass uns endlich aussteigen. Ich möchte diesen Job hinter mich bringen.“
Sie setzte ihre Sonnenbrille mit den Strasssteinchen auf, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Die sengende Hitze schlüpfte ungehindert in die Fahrerkabine und traf Emma wie ein Hammerschlag. Seufzend strich sie über das Armaturenbrett. „Bis bald, Kumpel.“
Als sie vor drei Jahren ihr erstes Auto gekauft hatte, war der grüne Volvo Liebe auf den ersten Blick gewesen. Für die Klimaanlage hätte sie ihm jetzt am liebsten die Reifen geküsst. Doch nun musste sie erst mal Abschied nehmen. Noch einmal erlaubte sie sich ein tiefes Seufzen, bevor sie ihre Beine, die sich wie Pudding anfühlten, aus dem Auto bewegte.
Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt. Bestimmt hatte sie nur auf den Moment gewartet, Emma mit ihren Strahlen zu versengen. Wie gut, dass sie vor der Fahrt daran gedacht hatte, sich mit Sonnencreme einzucremen. Bei ihrer hellen Haut würde sie sonst in kürzester Zeit zu einem hochroten Krebs mutieren. Langsam streckte sie ihre Glieder und ließ die Schultern kreisen. Ein Glück, dass ihr Hintern nicht eingeschlafen war.
Sie griff nach ihrer Wasserflasche in der Autotür und nahm einen Schluck. Noch hatte die Flüssigkeit eine angenehme Temperatur, doch schon bald würde es so lauwarm sein wie Badewasser. Ein schwarzer Geländewagen hielt neben ihr auf dem Parkplatz und die von ihm erzeugte Staubwolke legte sich wie eine zweite Haut über Emma. Der Motor erstarb und zwei Männer stiegen aus. Emma biss sich auf die Lippen und schluckte die Schimpfwörter herunter, die ihr auf der Zunge lagen. Der Fahrer knallte die Tür zu und kam um die Motorhaube herum.
„Ich glaube, mich knutscht ein Elch. Wir sind hier mitten in der Wildnis. Warum muss ausgerechnet ich diese verdammte Dokumentation über den Park filmen?“ Kai, der Kameramann ihres Teams, war einen Kopf größer als Emma. Sein grimmiger Gesichtsausdruck ließ sie die Schultern einziehen. Emma hatte keine Lust, ihm als Boxsack für seinen Unmut zu dienen. Sie drehte sich zu ihrem Auto um und trank weiter aus ihrer Flasche. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Vanessa sich zu ihnen gesellte und auf ihre manikürten Fingernägel starrte.
„Ganz einfach, Kai, weil der Boss die Besten ausgewählt hat. Oder glaubst du, er schickt mich, die Starreporterin unseres Senders, für eine unbedeutende Kleinigkeit in diesen Dschungel? Du bist der beste Kameramann, den wir haben, natürlich hat er dich ausgewählt.“
Emma verschluckte sich an ihrem Wasser, beugte sich schnell vor und hustete, bis ihre Lunge brannte. Jemand klopfte ihr fest auf den Rücken. Nach einem röchelnden Atemzug wischte sie sich mit dem Arm über den Mund und richtete sich auf. Jeff stand neben ihr und schaute sie aus wasserblauen Augen besorgt an.
„Alles okay, Emma? Die Fahrt war bestimmt sehr anstrengend. Kai und ich konnten uns wenigstens mit dem Fahren abwechseln.“
Kai sah zu ihnen rüber und Emma erstarrte unter seinem Blick.
„Jeff, spar dir deine Energie. Sie ist selbst schuld, wenn sie darauf besteht, selbst zu fahren.“
Bei Kais abfälligem Tonfall zog sich ihr Magen zusammen und sie ballte die Hände zu Fäusten. Jeff schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln und folgte Kai zum Kofferraum. Vanessa besah sich ihr Gesicht in einem Taschenspiegel und zog hoch konzentriert ihren Lippenstift nach. Sie tat so, als hätte sie das Gespräch gar nicht mitbekommen.
Emma versuchte, ruhig zu atmen. Ihr Chef hatte ihnen vor ein paar Wochen eröffnet, dass ihr Team im Yellowstone-Nationalpark eine Dokumentation drehen sollte. Zum Abschluss der Doku beauftragte er sie den momentan bekanntesten Wassersportler der Welt interviewen. David Schiller hatte bei den letzten Olympischen Spielen die Goldmedaille gewonnen und sah dazu noch verboten gut aus. Diesmal würde er am Lake River an einem Wettkampf teilnehmen und Vanessa durfte ein Exklusivinterview mit ihm führen. Emma war das Herz in den Magen gerutscht, denn zu dem Zeitpunkt hatte sie realisiert, dass sie Tag und Nacht mit ihren Kollegen verbringen würde. Umso erleichterter war sie vor ein paar Tagen gewesen, als sie erfahren hatte, dass sie die Strecke mit ihrem eigenen Auto fahren konnte. Wenigstens blieb sie so noch ein paar Stunden ungestört. Bei dem Gedanken daran, acht Stunden lang mit den anderen in einem kleinen metallenen Kasten eingesperrt zu sein, wurde ihr übel. Wie hätte sie ahnen können, dass sich ausgerechnet Vanessa kurz entschlossen dafür entschied, bei ihr mitzufahren? Emma hatte ihrem Wunsch mit zusammengepressten Lippen nachgegeben. Im Endeffekt hatte sie so Ruhe vor Kais schlechter Laune, musste dafür aber Vanessas ununterbrochenes Getratsche aushalten.
„Emma, also echt, träumst du mit offenen Augen? Kai hat dich gerufen. Die Jungs brauchen jemanden, der ihnen beim Tragen des Gepäcks hilft.“
Blinzelnd sah Emma sie an. Mit den Händen in die Hüften gestemmt und hochgezogenen Augenbrauen sah Vanessa auf sie herab. Emma lag eine passende Bemerkung auf der Zunge, die sie mühevoll herunterschluckte. Natürlich würde sich Vanessa nicht dazu herablassen, Gepäck zu tragen!
Nach kurzem Zögern drehte Emma sich um und ging zum Geländewagen. Bei jeder Bewegung spürte sie ihre müden Glieder. Sie wünschte sich nur noch eins: eine lange entspannende Dusche.
Als sie beim Wagen angekommen war, hätte sie bei Kais Gesichtsausdruck am liebsten wieder kehrtgemacht. Er schien heute besonders schlecht gelaunt zu sein, und wie sie ihn kannte, würde er das an ihr auslassen.
„Ich habe dich jetzt mehrmals gerufen. Geht’s vielleicht etwas schneller? Wir sind alle müde und wollen uns ausruhen.“ Damit drückte er ihr zwei Taschen in die Arme.
Emma unterdrückte ein Stöhnen, als sie bei dem Gewicht in die Knie sackte. Bestimmt war seine Kameraausrüstung da drin.
„Lass sie ja nicht fallen.“ Kai nahm eine weitere Reisetasche heraus, schloss den Deckel des Kofferraumes und ging zu dem Eingang der Blockhütte.
Wenn Emma nicht wüsste, welch miesen Charakter er besaß, hätte sie vielleicht, wie die anderen Kolleginnen, für ihn schwärmen können. Sein Aussehen war immer adrett und gepflegt. Doch hinter den engelsgleichen blonden Locken und blauen Augen verbarg sich ein Teufel. Das hatte Emma am eigenen Leib erfahren.
Kai wurde von Jeff auf dem Weg zur Hütte abgefangen und in ein Gespräch verwickelt. Emma nutzte die Gunst der Stunde und huschte an ihnen vorbei.
Sie passierte ein Holzschild mit der Aufschrift „Herzlich willkommen im Wildtierpark“. Hier lebten Wölfe, Bären und viele weitere Tiere, die nicht mehr in den Yellowstone-Park ausgewildert werden konnten. Dieser Park war der westliche Eingang zum Nationalpark und die erste Etappe ihrer Dokumentation. Hier würden sie zwei Tage verbringen, bis sie mit der Wanderung durch den Park begannen. Ein Kribbeln machte sich in ihrem Magen breit, denn im Gegensatz zu ihren Kollegen freute sie sich auf das Abenteuer.
Seit sie vor drei Jahren nach Colorado gezogen war, um als Reporterin beim Fernsehen Karriere zu machen, hatte sie vorgehabt, irgendwann hierherzukommen. Die Natur in diesem Park war einzigartig. Wäre da nicht die Arbeit gewesen, hätte sie die Reise genießen können.
„Emma, wo bleibst du denn schon wieder!“ Vanessa wartete am Eingang der Hütte und tippte mit einem ihrer Pumps auf den Boden.
Jeff stellte Vanessas pinkfarbenen Koffer bei ihr ab und ging zurück zu Kai. Bei Vanessas Anblick musste sich Emma ein Schmunzeln verkneifen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Kollegin ein paar Wanderstiefel in ihrer Guccitasche versteckt hatte. Ansonsten würde es eine lange und nervtötende Wanderung werden. Seufzend drückte Emma die schweren Taschen fester an sich und erklomm die Stufen zu der Blockhütte.
Ethan hatte es kommen sehen. Der neue Praktikant aus New York war ein Milchgesicht und hatte null Händchen für Tiere, und schon gar nicht für die der wilden Sorte. Vielleicht kam er mit seinem Hund klar, aber ein Adler war da schon eine ganz andere Hausnummer. Das Tier hatte sich dank Toms Unaufmerksamkeit aus seinem Transportkäfig befreit und lief unruhig auf dem Metalltisch hin und her.
Bevor der Vogel dem Neuen die Augen aushacken konnte, trat er dazwischen und sprach leise auf das verschreckte Tier ein. Die Tierärztin zog den Praktikanten außer Reichweite der scharfen Krallen und schubste ihn etwas unsanft in die Ecke ihres Behandlungszimmers. Sie zischte ihm irgendetwas zu und der Junge zog erschrocken den Kopf ein. Ethan konzentrierte sich ganz auf das Tier auf dem Behandlungstisch und blendete alles andere um sich herum aus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte der Adler die Schwingen und blinzelte ihm entgegen. Langsam nahm Ethan die Lederhandschuhe und zog sie an. Damit näherte er sich dem Tier und griff blitzschnell zu. Er hielt die Flügel fest zusammen und presste das Tier an seine Brust. Sofort kam die Ärztin mit der Narkosemaske und stülpte sie dem Adler über den Schnabel. Das Tier sackte zusammen und er konnte den Vogel auf den Untersuchungstisch legen.
„Ein Glück, dass du hier warst. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Keiner hat ein solches Händchen für Tiere wie du.“ Dabei strich sich die ansässige Tierärztin den Pony hinter das Ohr. Dr. Samantha Albers, kurz Sam genannt, hatte vor zwei Jahren den in Rente gegangenen Tierarzt abgelöst. Frisch von der Universität kommend, war sie stets dankbar für Ethans Praxiserfahrung gewesen. Sie war eine kleine Person, die man nicht unterschätzen sollte. Wenn es um ihre Schützlinge ging, mutierte sie zu einer Bärenmutter.
„Du solltest dir in Zukunft überlegen, welche Grünschnäbel du in deine Praxis lässt.“ Ethan sah dabei in die Ecke des Untersuchungszimmers.
Der angesprochene Praktikant zog den Kopf noch tiefer ein und schaute betreten zu Boden. Sam unterbrach ihre Untersuchung an dem Adler und sah zu dem Jungen hinüber. „Tom, du darfst jetzt Pause machen, heute Nachmittag sprechen wir uns in meinem Büro.“
Der angesprochene wurde noch eine Spur blasser und machte sich zügig aus dem Staub.
Sam atmete hörbar aus. „Ich habe leider kein Mitspracherecht bei den Praktikanten.“
Ethan verschränkte die Arme vor der Brust. Sams verzweifelter Blick entging ihm nicht.
„Ich weiß, du bist ein wahrer Menschenfreund, Ethan, aber könntest du in diesem Fall nicht mal ein Auge zudrücken und Tom woanders einsetzen? Vielleicht kann er bei der Futtervorbereitung besser helfen.“ Sam hatte von Anfang an klargemacht, wer in ihrer Praxis die Hosen anhatte. Sie hatten beide eine stille Übereinkunft getroffen. In ihrer Praxis gab nur sie die Anweisungen, dafür mischte sie sich nicht in seinen Umgang mit den Wildtieren ein.
Ethan gab ein leises Grummeln von sich und stützte die Hände in die Hüften. „In Ordnung, ich werde Jack damit beauftragen, ein Auge auf ihn zu haben. Ein Tierpfleger wird wohl kein Problem damit haben, dass ihm ein Praktikant zur Hand geht.“
Sie nickte ihm dankbar zu.
„Sam, ich wollte dich noch fragen, ob du nachher mal beim Wolfsrudel vorbeischauen kannst? Toopi humpelt wieder einmal und einer der Jüngeren scheint eine laufende Nase zu haben.“
Die Ärztin strich mit flinken Fingern über die Flügel des Adlers. „Heute Nachmittag kann ich es einrichten. Ich sage dir Bescheid, wann ich genau vorbeikomme.“
Ethan nickte und wandte sich zum Gehen um. „Brauchst du meine Hilfe noch?“
Sam zog das Stethoskop aus ihrer weißen Kitteltasche. „Danke, geh du ruhig wieder zu deinen Notfällen und schick mir beim Hinausgehen Bianca herein.“
Ethan nickte kurz, aber Sam war schon wieder in ihre Untersuchungen vertieft. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging durch die Tür in den Empfangsraum.
Bianca sprang vom Bürostuhl auf und kam auf ihn zu. „Ich habe eine Nachricht für Sam.“ Mit einigem Abstand zu ihm rauschte sie in den Behandlungsraum.
Ethan musste ein Schmunzeln unterdrücken. Bianca war eine nette Dame mittleren Alters und eine Koryphäe in ihrem Job, doch sobald sie ihn sah, bekam sie kaum ein Wort heraus. Er zog seine Stirn in Falten. Es machte ihm nichts aus, eine einschüchternde Ausstrahlung auf andere Menschen zu haben. Er brauchte niemanden und kam bestens allein klar. Eine Frau in sein Leben zu lassen, würde ihm im Traum nicht einfallen. Sein Beruf war es, sich um die Wildtiere zu kümmern, da wäre eine Frau nur eine Ablenkung.
Er öffnete die Tür der Arztpraxis und lief durch das Foyer des Eingangsbereiches. Jetzt, im Spätsommer, waren nur noch wenige Touristen unterwegs, die meisten waren mit dem Ferienende abgereist. Hier am Eingang zum Nationalpark war noch am meisten los, aber je weiter man in den ausgedehnten Park kam, umso weniger Menschen würde man antreffen. Mit seiner knapp neuntausend Hektar großen Fläche gehörte der Yellowstone-Nationalpark zu den größten Nationalparks Amerikas. Ethan konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. Seine eigenen Wurzeln reichten tief an diesem Ort, wie Baumwurzeln, die fest mit der Erde verankert waren. Der Park war seit Jahrhunderten die Heimat seines Volkes gewesen, bis die Fremden gekommen waren und alles zerstört hatten.
Ein paar der Alten aus seinem Stamm glaubten fest daran, dass das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur eines Tages wiederhergestellt werden würde. Aber er war sich da nicht so sicher. Er verglich die Weißen gern mit einer Krankheit, sie weideten den Planeten aus, bis zum Überleben nichts mehr übrig blieb. Umso wichtiger war es ihm, dieses grüne Paradies vor Umweltsündern zu beschützen. Dass er dabei mit lärmenden Touristen vorliebnehmen musste, erduldete er dafür. Ohne die Einnahmen von den Großstadtmenschen wäre manches Projekt nicht umsetzbar. So jedoch war es ihm möglich gewesen, endlich ein Vogelgehege bauen zu lassen, in dem sich die Könige des Himmels nicht wie in einer engen Sardinenbüchse fühlen mussten.
Viel lieber würde er die Tiere, die fast täglich bei ihm strandeten, wieder in die Wildnis entlassen, aber das war nicht bei allen möglich. Manche waren so schwer verletzt oder hatten von Geburt an ein Defizit, dass sie in freier Wildbahn nicht überleben würden. Ethan tat alles, um ihnen ein angenehmes Leben zu schaffen, gleichzeitig war es durch sie möglich, die Touristen zu schulen und sie feinfühliger für ihre Umwelt zu machen.
Mit langen Schritten durchquerte er die Empfangshalle. Ein lautes Aufkeuchen ließ seinen Blick zum Empfangstresen wandern. Eine lebendig gewordene Barbiepuppe mit mörderisch hohen Absätzen starrte ihn unverhohlen an. Sie nahm die Sonnenbrille ab und klimperte ihm, demonstrativ übertrieben, mit den Augen zu. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, warf sie sich filmreif die lange Mähne über die Schulter.
Mit einem grimmigen Blick, der ihr hoffentlich zu verstehen gab, dass er keinerlei Gefallen an ihren Reizen fand, ging er an ihr vorbei. Er konnte ihren enttäuschten Blick förmlich spüren und musste sich ein Lächeln verkneifen. Die Frauen aus der Stadt waren doch alle oberflächlich.
Ethan konzentrierte sich auf die Glastür, die in die Freiheit führte, und musste verärgert feststellen, dass diese von einer anderen Frau blockiert wurde. Normalerweise nahm er immer den Weg nach draußen, der um das Gebäude herumführte. Heute hatte er angenommen, möglichst schnell durch den Haupteingang gehen zu können, da in den Mittagsstunden meistens nicht so viel los war. Doch nun kam er vor der Glastür zum Stehen.
Die junge Frau hatte ihm den Rücken zugewandt und er hörte sie leise vor sich hin fluchen. Voll bepackt, mit zwei Taschen über den Schultern hängend, zerrte sie an einem pinkfarbenen Koffer, der in der Tür festklemmte. Ein Wunder, dass die zierliche Person nicht schon längst unter der Last zusammengebrochen war. Typisch Stadtmenschen, sie wollten immer alles sofort und gleichzeitig erledigt haben.
Bevor er den Mund öffnen konnte, gab es ein lautes Poltern. Der Koffer leistete plötzlich keinerlei Widerstand mehr und ließ die Frau zurückstolpern. Bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, rutschten ihr die Taschen von den Schultern. Eher aus Reflex als aus Überlegung trat er einen Schritt vor und fing die fallende Frau auf. Der Duft nach Zitrusfrüchten stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an den Obstgarten seiner Familie. Der Gedanke wurde jedoch von einem stechenden Schmerz abgelöst, als sich ihr Ellbogen in seine Rippen bohrte.
„Verdammte Scheiße!“ Die Worte kamen gröber über seine Lippen, als er es beabsichtigt hatte, doch der Tag war mehr als beschissen gewesen. Nicht nur, dass unter seiner Aufsicht beinahe ein Praktikant zersäbelt worden wäre und ihm sein Wolfsrudel Sorgen bereitete, nein, zu allem Überfluss gab es im Park Gerüchte über umherstreifende Wilderer. Normalerweise war er die Ruhe in Person, aber diese Vorkommnisse sorgten bei ihm für Magenschmerzen. Er musste endlich an die frische Luft. „Können Sie nicht besser aufpassen?“
Die Frau zuckte unter seinem harschen Tonfall zusammen, drehte sich um hundertachtzig Grad und riss die Augen auf, als sie ihm ins Gesicht blickte. Ob sie in diesem Moment den Indianer in ihm sah oder den Ranger, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht. Schnell trat sie einen Schritt zurück und wurde von dem neonpinkfarbenen Koffer hinter sich aufgehalten.
Ethan war sich immer sicher gewesen, in den Augen seines Gegenübers lesen zu können. Die Seele eines Menschen spiegelte sich in dessen Iris wider – das war eine uralte Überzeugung seines Volkes, an die er bis heute glaubte. Doch in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, es wäre umgekehrt und die Person vor ihm würde in sein Innerstes blicken.
Ein Frösteln kroch seinen Nacken empor, und schnell verschränkte er die Arme vor der Brust. „Wollen Sie noch lange den Weg versperren? Wenn ja, sehe ich mich gezwungen, Geld für Ihr Starren zu nehmen.“
Die junge Frau schluckte mühsam, das sah er an der Bewegung ihres Kehlkopfes, und gleichzeitig beobachtete er ihre viel zu schnellen Atemzüge. Als wäre sie bei etwas Unanständigem ertappt worden, lief sie feuerrot an und versuchte, ihre verknitterte Bluse glatt zu streichen. Dabei fiel ihr Blick auf das Gepäck.
„Oh nein, bitte nicht.“ Sie kniete sich neben die Tasche und öffnete den Reißverschluss; ein paar Kabel und eine Kamera kamen zum Vorschein.
Erleichtert stellte Emma fest, dass das Equipment durch den Sturz nicht beschädigt worden war. Die Kabel hatten als Puffer fungiert und sie vor einer Katastrophe gerettet. Nicht auszudenken, wie sie Kai das Fiasko hätte erklären sollen, wenn seine wertvolle Ausrüstung beschädigt worden wäre.
Ein tiefes Grummeln lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Riesen neben ihr. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Kopf in den Nacken zu legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Und sofort wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Der Blick, mit dem er sie bedachte, glich einem tobenden Orkan. War sie zuvor froh gewesen, dass er sie aufgefangen hatte, so wäre sie bei dem harschen Tonfall tausendmal lieber auf dem Boden gelandet.
Emma wusste nicht, womit sie den Unmut des Rangers auf sich gezogen hatte. Dass er schlechte Laune hatte, konnte selbst ein Blinder sehen.
Bevor sie den Versuch unternahm, wieder aufzustehen, hatte er sich schon zu ihr heruntergebeugt. „Vielleicht sollten Sie sich in Zukunft zweimal überlegen, ob Sie so viel Gepäck auf einmal tragen können. Dann würden Sie anderen arbeitenden Menschen nicht ihre kostbare Zeit rauben.“
Seine dunkelbraunen Augen glitzerten gefährlich, die scharfe Nase und die hohen Wangenknochen unterstrichen seinen Ärger. Emma spürte, wie sie wieder rot wurde, aber diesmal nicht vor Scham, sondern aus Wut. Sie folgte seinem Blick zu dem Prinzessinnenkoffer neben sich.
„Und als kleine Info: In diesem Park gibt es keine glitzernden Einhörner und Luftschlösser. Es gibt hier wilde Tiere, die es gar nicht mögen, wenn einfältige Mädchen wie Sie in ihr Revier spazieren. Lassen Sie sich meine Worte eine Warnung sein. Sie sollten die Wege nicht verlassen, sonst ergeht es Ihnen noch genauso wie Rotkäppchen.“
Emma war wie erstarrt, der Kloß in ihrem Hals ließ sie nach Atem ringen. Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte sich der Mann schon aufgerichtet. Er stieg mit einem langen Schritt über den Koffer und ging auf die Eingangstür zu.
Die Wut in ihrem Bauch brannte lichterloh und trieb ihr die Tränen in die Augen. Was bildete sich der Kerl ein, über sie zu richten, ohne sie zu kennen? Sie hätte ihm gern erklärt, dass kein einziges der Gepäckstücke ihr gehörte und sie nur zum Packesel abkommandiert worden war.
Doch diesem „Ich bin was Besseres“-Lackaffen wäre das sicherlich auch am Arsch vorbeigegangen. Gerade als der Ranger die Hand nach der Glastür ausstreckte, traten Kai und Jeff in die Eingangshalle.
Emma sah, wie sich Kais Gesichtsausdruck verdüsterte, als er die Taschen auf dem Boden sah. Schnell blinzelte sie die Tränen weg. Kaum war Kai bei ihr, fing er zu schimpfen an. Falls der ungehobelte Kerl die Schimpftirade mitbekam, reagierte er nicht. Er trat mit großen Schritten durch die Tür ins Freie und war verschwunden.
Erschöpft schloss Emma die Tür zu ihrem Zimmer und sank auf ihr Bett. Nach dem Zusammenstoß mit dem Riesenarsch und dem Krach mit Kai waren ihre letzten Energiereserven verdampft wie eine Pfütze in der Wüste. Die kleine Blockhütte, die sie sich mit Vanessa teilte, besaß zum Glück zwei Einzelzimmer, denn lieber hätte sie freiwillig draußen gezeltet, als eine Sekunde länger als nötig Vanessas Nähe ertragen zu müssen.
Es war sieben Jahre her, seit sie die Farm ihrer Familie verlassen hatte, um auf das College zu gehen. Danach war sie nach Colorado gezogen und bekam eine Stelle bei einem bekannten Fernsehsender. Seitdem war sie nur an Feiertagen zu Besuch bei ihrer Familie gewesen, und jedes Mal fiel ihr das Abschiednehmen von ihren Eltern und Brüdern schwerer.
Mit fünf Jahren hatte sie zum ersten Mal den Wunsch geäußert, Reporterin zu werden. Ihr Entschluss, Medienwissenschaften zu studieren, stand daher schon früh fest. Hart hatte sie an sich gearbeitet und das Studium erfolgreich absolviert. Doch wenn sie an die drei Jahre als Vanessas Assistentin zurückdachte, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dazu kam, dass Vanessa keinerlei Anstalten machte, ihr bei einer Beförderung zu helfen. Doch ein Neuanfang, ohne etwas aus den bisherigen drei Jahren Arbeit vorweisen zu können, machte ihr Angst.
Emma legte seufzend einen Arm auf die Stirn und richtete ihren Blick auf die Holzmaserung an der Decke. Es war einfach unfair! Sie riss sich jeden Tag den Arsch für diese oberflächliche Barbie auf. War das die Zukunft, von der sie als Mädchen geträumt hatte? Wie eine Praktikantin behandelt zu werden? Nein, ganz bestimmt nicht! Der rosa Schleier ihrer Träume hatte seine Farbe verloren. Die Realität hatte sie in ein tristes Altrosa gehüllt, das abzublättern begann.
Emma konnte an den Fingern abzählen, wie oft sie sich schon vorgenommen hatte, Vanessa die Meinung zu sagen. Doch immer, wenn sie meinte, sich bestens auf die Auseinandersetzung vorbereitet zu haben, bekam sie, wenn es so weit war, keinen Ton raus. Seufzend fuhr sich Emma durch die Haare. Es war zum Verrücktwerden. Früher hatte sie nie ein Blatt vor den Mund genommen. Als einzige Tochter mit drei älteren Brüdern aufzuwachsen, hatte sie früh gelehrt, sich durchzusetzen. Mit einem Grinsen erinnerte sie sich an die Streiche zurück, die sie zusammen mit Elias, Aaron und Finn ausgeheckt hatte. Emma spürte es heiß hinter den Lidern brennen, ließ mit einem Seufzen den Tränen freien Lauf und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Verdammt, wie sollte es nur weitergehen?
Nach einiger Zeit sank sie in einen unruhigen Schlaf, träumte von Indianern, die sie auslachten, und einem Ungeheuer, das sie ausschimpfte.
Am nächsten Morgen erwachte Emma mit schrecklichen Kopfschmerzen. Zwinkernd machte sie die Augen auf und stöhnte, als sie einen Blick auf ihren Wecker warf. Es war erst sechs Uhr dreißig. Ihr Teamtreffen fand erst gegen neun Uhr statt.
Emma stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Dicke Wolken wanderten über einen hellblauen Himmel, und auf den Grashalmen glitzerten Wassertropfen. Es musste in der Nacht geregnet haben. Sie öffnete das Fenster und ließ die kühle Luft in den Raum strömen. Die Arme auf der Fensterbank abgestützt, beobachtete sie, wie sich die Laubbäume im Wind hin und her wiegten. Emma atmete tief durch. Die Luft hier draußen war viel sauberer als der Mief in der Großstadt. Ihre Kopfschmerzen ließen nach.
Mit besserer Laune machte sie ihr Bett und ging leise aus ihrem Zimmer in das Badezimmer. Nach einer kurzen Katzenwäsche zog sie ihre Joggingklamotten an. Sie hatte Lust, laufen zu gehen. Eine Vorliebe, der sie, wegen dem Stress auf der Arbeit, lange nicht mehr nachgekommen war.
Sie betrat den Empfangsraum der Hütte. Die Essecke mit der Kochnische lag direkt an der Eingangstür. Ihr Blick glitt zu der Kaffeemaschine, und kurz überlegte sie, diese einzuschalten. Doch der Gedanke, Vanessa könnte dadurch aufwachen, verdarb ihr die Lust auf einen Kaffee.
Emma nahm ihren Haustürschlüssel und öffnete die Tür. Als sie ins Freie trat, begrüßte sie ein Chor aus Vogelgezwitscher, und ohne ein Geräusch zu verursachen, schloss sie die Tür hinter sich.
Sie folgte dem ausgetretenen Pfad, vorbei an den anderen Blockhütten. Das meterhohe Gras dazwischen ließ jede wie ein eigenes wildes Königreich erscheinen. Emma betrat den breiteren Weg, den sie am vergangenen Tag, von der Anmeldung in der Empfangshütte aus, hierher genommen hatten. Sie machte ein paar Dehnübungen und begann anschließend, zu laufen. Langsam versiegten die Kopfschmerzen endgültig und ihre innere Unruhe legte sich. Das berauschende Gefühl von Freiheit verursachte ihr ein Kribbeln im Bauch. Glückshormone sprudelten durch ihre Nervenbahnen und zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. Wie gut das tat! Endlich weg von Großstadtlärm und nervenden Mitarbeitern.
Ein paar Blätter fielen von den Bäumen und gaben Kunde von dem kommenden Herbst. Noch war es tagsüber heiß, doch das Wetter konnte schnell umschwenken. Emma genoss jeden Schritt und spürte jeden Muskel in ihren Beinen. Neben der Parkverwaltung führte ein weiterer Weg tiefer in den Park hinein. Ohne anzuhalten, folgte sie ihm. Zu dieser frühen Morgenstunde begegnete ihr keine Menschenseele und sie kam sich vor wie der letzte Mensch auf Erden.
Nach ein paar Minuten lichtete sich der Wald vor ihr und die hohen Zäune der Tiergehege kamen zum Vorschein, die sich weit in den Wald hineinzogen. Somit war es den Tieren möglich, sich vor den Besuchern zurückzuziehen. Wenn es für sie nur so einfach wäre, Vanessa und Kai aus dem Weg zu gehen.
Seufzend verlangsamte Emma ihren Lauf und sah auf die Informationsschilder, die den Gästen Auskunft über die Tiere hinter dem Zaun gaben. In dem Gebiet zu ihrer Rechten lebten demnach Grizzlybären und links Wölfe. Von den Tieren hinter der Umzäunung war jedoch weit und breit nichts zu sehen.
Emma ging weiter, als sie plötzlich eine Stimme vernahm, die in der Stille des Morgens besonders laut an ihr Ohr drang. Sie folgte dem Weg und hielt sich links. Nach ein paar Schritten kam sie an einem kleinen Haus an, das wohl die Schleuse und den Eingang zu dem Gehege bildete. Nun hörte sie die Stimme klar und deutlich. Diese war ihr leider noch bestens in Erinnerung.
Warum um alles in der Welt musste sie ausgerechnet dem ungehobelten Blödmann vom Vortag wieder begegnen? Reichte es nicht, dass er sie bis in ihre Träume verfolgte?
Der Kerl stand mitten im Wolfsgehege auf einem Hügel. Das Hemd hatte er sich bis zu den muskulösen Oberarmen hochgekrempelt. Ein paar dunkle Strähnen hatten sich aus dem Dutt auf seinem Kopf gelöst und fielen in sein schweißnasses Gesicht.
Emma blieb der Mund offen stehen. Ihre Kehle war schlagartig wie ausgedörrt. Gestern, als er sie vor dem Sturz bewahrt hatte, hatte sie bereits einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie sich seine Muskeln anfühlten. Jetzt klebte ihm das Hemd am Körper und schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihn. Bei dem Anblick begann es, zwischen ihren Schenkeln zu prickeln.
Ohne dass sie es bemerkt hatte, stand sie nun direkt vor dem Gitter und krallte die Finger um das kalte Eisen des Zaunes. Sie fühlte sich wie einer der Touristen. Es war ihr nicht möglich, den Blick von dem Mann zu lösen. Sie hörte ihn in einer anderen Sprache sprechen, und er klang nicht sehr freundlich, als er versuchte, einen dicken Baumstamm hochzustemmen. Mit einem Keuchen nahm Emma ein Fellbüschel wahr, dass darunter eingeklemmt war und wie auf Kommando zu jaulen anfing. Emma stellten sich die Nackenhaare auf, denn genauso hatte ihre Hündin Zoe damals gejammert, als sie sich bei einem Sturz das Bein gebrochen hatte. Der Wolf musste starke Schmerzen haben.
Aus dem Augenwinkel nahm sie fünf graue Wölfe am Waldrand wahr, die unruhig hin und her wanderten. Ein weißer Wolf brach durch das Gebüsch und rannte auf den Ranger zu. Bevor Emma eine Warnung ausstoßen konnte, bremste der Wolf ab. Sein Blick fand ihren, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, so etwas wie Schläue in ihnen zu erkennen. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
Emma zuckte zusammen, als dieser Wolf die Schnauze hob und ein lang gezogenes Heulen ausstieß. Plötzlich machte der weiße Wolf kehrt und flitzte mit den anderen Wölfen in den Wald.
Emma folgte den Tieren mit den Augen. Als ihr Blick zu dem Mann zurückkehrte, bekam sie erneut Gänsehaut. Der Grobian starrte sie an. Irgendwie hatte sie das Gefühl, die Wölfe hätten ihm ihre Anwesenheit mitgeteilt.
Der Ranger hatte anscheinend Mühe, den Stamm weiter hochzuheben. Ein paar Sekunden verstrichen, ehe sie ihm zurief: „Lassen Sie mich Ihnen helfen!“
Der Kerl antwortete nicht und strengte sich nun noch mehr an, das Holz zu bewegen.
Das klägliche Fiepen des eingeklemmten Wolfes kroch Emma unter die Haut. Wütend umklammerte sie die Stäbe, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. „Lassen sie mich Ihnen endlich helfen, alleine schaffen Sie das nicht!“
Sie meinte, den Kerl knurren zu hören – oder war es vielleicht der Wolf gewesen?
Mit einer fahrigen Geste wischte er sich das schweißnasse Gesicht an der Schulter ab. „Gehen Sie zu dem Haus zurück, öffnen Sie die Tür. Dann treten Sie ein und betätigen die Kette an der Seite der Eisentür. Aber denken Sie daran, sie wieder hinter sich zu schließen.“
Emma lief los und folgte den Anweisungen. Die Ketten waren mit einem Mechanismus verbunden und leicht hochzuziehen. Als sie kurz darauf durch das Tor geschlüpft war und es sich hinter ihr wieder schloss, wurde ihr bewusst, dass sie in einem Gehege voller Wölfe stand. Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht?
Doch das klägliche Jammern des Tieres, das erneut zu hören war, ließ sie die Gefahren vergessen. Vorsichtig, um nicht auf dem schlammigen Untergrund auszurutschen, kletterte sie den kleinen Berg hinauf. Schnell eilte sie an die Seite des Mannes und griff mit den Händen unter den Baumstamm, dessen Rinde sich in ihre Handflächen grub. Mit ganzer Kraft stemmten sie sich gegen den Boden. Ihre Schulter berührte die des Rangers und ein angenehmes Prickeln wanderte an ihrem Arm hinauf. Emma biss die Zähne zusammen. Es musste ihnen gelingen, das arme Tier zu befreien!
Ethan fluchte zum wiederholten Male in seiner Muttersprache. Was war nur in ihn gefahren, ohne Funkgerät in den Park zu gehen? Die Regel lautete, es immer bei sich zu haben, sobald man den Park betrat. Nur mit dem Funkgerät war es den Rangern möglich, in Verbindung zu bleiben.
Seine morgendliche Runde, bevor Horden von Touristen den Park stürmten, war immer eine Wohltat gewesen. Er genoss die Stille der Natur, denn er fühlte sich allein wohler als in Gesellschaft anderer Menschen. Doch seit gestern Abend ging ihm die Frau aus dem Eingangsbereich nicht mehr aus dem Kopf. Er schämte sich, sie so angefahren zu haben, gleichzeitig war er wütend darüber, wie der Mann mit der Frau umgesprungen war. Menschen, die andere ausnutzten und auf Schwächeren herumtraten, konnte er noch weniger ausstehen als lärmende Jugendliche. Als ihm der Kerl mit der schlechten Aura im Gang entgegengekommen war und mit der Frau geschimpft hatte, hätte er beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht und ihm gezeigt, was er von solchen Kerlen hielt.
Ethan hatte der Frau eine Seite von sich offenbart, die kaum einer von ihm kannte. Er war stets distanziert und immer in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber bei ihr hatte er die Beherrschung verloren. Als Leiter der Wildtierauffangstation war es sein Job, klare Anweisungen zu geben, und das tat er mit einer emotionslosen Miene, die er in all den Jahren aufzusetzen gelernt hatte. Allein in der Natur oder bei den Wölfen war es ihm möglich, die Maske fallen zu lassen. Umso überraschter war er von sich selbst, dass er dieser Frau gegenüber so aggressiv aufgetreten war.
Ethans Gedanken schnellten in die Wirklichkeit zurück, als er den warmen Körper neben sich spürte. Es war ein Risiko gewesen, die Frau in das Gehege zu lassen. Doch was blieb ihm anderes übrig, als ihre Hilfe anzunehmen, wenn er dem jungen Wolf helfen wollte? Die Frage, warum es ausgerechnet sie sein musste, die hier zufällig aufgetaucht war, verwarf er schleunigst. Er hatte gerade anderweitige Probleme.
„Ich zähle bis drei, dann stemmen wir gleichzeitig den Stamm hoch, okay?“
Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie mit angestrengtem Gesicht nickte. Ihr Blick war entschlossen auf das Holz gerichtet. Ethan suchte mit den Beinen nach einem besseren Stand, spannte die Arme an und zählte bis drei. Mit aller Kraft drückten sie gemeinsam den Baum in die Höhe.
„Noch ein kleines Stück!“ Er hörte ihr Keuchen und hoffte, sie würde vor Anstrengung nicht ohnmächtig werden.
Die Pfoten des Wolfes scharrten ungeduldig über den aufgewühlten Boden. Dann gab es ein kurzes Jaulen, und das schwarze Fellbündel sprang mit einem Satz unter dem Stamm hervor.
Gleichzeitig ließen sie das Holz fallen, sodass der Schlamm an ihnen hochspritzte. Die Frau trat einen Schritt zurück und lockerte ihre Arme. Ein paar Haarsträhnen klebten ihr an der verschwitzten Stirn, und mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht strahlte sie ihn an. Sie war hübsch, stellte er fest. Ihr heller Hautton betonte die Sommersprossen, und die schräg stehenden Augen verliehen ihr etwas Niedliches. Sein Blick wanderte tiefer und verweilte auf ihrem Mund. Die Lippen waren voll und luden förmlich zum Küssen ein.
Innerlich zuckte er zusammen. Woher zum Teufel kamen diese Gedanken? Schnell ging er um den Baumstamm herum und wäre um ein Haar auf dem matschigen Untergrund ausgerutscht. Er konnte sich gerade noch aufrecht halten und ging anschließend wesentlich vorsichtiger weiter als zuvor.
Das Wolfsjunge hatte sich auf ein trockenes Stück Wiese gerettet. Langsam streckte Ethan seine Hand aus und sprach beruhigend auf den Wolf ein. Die grauen Augen musterten ihn und er erkannte Schmerz darin. Nach einem weiteren Augenaufschlag senkte das Tier den Blick. Ethan kniete sich hin und streichelte den zitternden Körper des Wolfes. Er fühlte sich kalt an, aber scheinbar war er nur an der Flanke verletzt. In dem schwarzen Fell erspähte Ethan eine Schürfwunde. Der junge Wolf hatte Glück gehabt.
„Geht es ihm gut?“ Die Frau hatte sich zu ihm gekniet.
Er wollte sie warnen, zurückzubleiben, als sie schon ihre Hand ausstreckte und diese dem Wolf vor die Schnauze hielt. Dieser zuckte bei ihren Worten mit den Ohren, schnüffelte und leckte ihr sanft über die Hand.
Ethan glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Bisher hatte das Wolfsrudel niemand anderen als ihn in seine Nähe gelassen. Verwundert beobachtete er, wie sie das Tier hinter den Ohren kraulte, und dem kleinen Verräter schien das auch noch zu gefallen. Ein Grummeln machte sich in seinen Eingeweiden breit und er zog harsch ihre Hand von dem Tier weg.
„Sind Sie lebensmüde? Das ist ein Wolf und kein Hund. Er könnte Ihnen den Arm abreißen.“
Die Frau entzog ihm die Hand. „Aber Sie sind doch auch hier.“
Ethan schnaubte. „Sie können mich ja wohl nicht mit Ihnen vergleichen. Die Wölfe kennen mich seit Jahren, und wir haben eine Verbindung, die Sie nie verstehen würden.“
Er sah fasziniert, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengten wie bei einer Katze, die zum Sprung ansetzte.
„Was haben Sie eigentlich gegen mich? Sie wissen doch gar nichts über mich!“
Hätte sie als Nächstes ihre Krallen ausgefahren, wäre er nicht verwundert gewesen. Die Frau, die in diesem Moment vor ihm im Dreck kniete, war ganz anders als diejenige, die er gestern im Foyer getroffen hatte. War sie dort schüchtern und ängstlich wie ein neugeborenes Fohlen gewesen, stand sie nun wie eine selbstbewusste Wölfin vor ihm. Trotzdem, was fiel ihr ein, so mit ihm zu sprechen? Und warum zeigte sie keinerlei Argwohn oder Angst ihm gegenüber? Es schien ihr auch nichts auszumachen, dass sich ihre Knie berührten. Wer war diese Frau, die er überhaupt nicht einschätzen konnte, obwohl er sonst in anderen Menschen las wie in einem offenen Buch?
Ethan lag eine gepfefferte Antwort auf der Zunge, als der Wolf plötzlich aufsprang und einen Satz in Richtung Wald machte. Dabei traf er die Frau, die daraufhin ihr Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Schnell griff er nach ihrem ausgestreckten Arm und zog sie zu sich, als er auf dem schlammigen Untergrund den Halt verlor. Er stieß einen Fluch aus, zog sie an seinen Körper, und zusammen schlitterten sie den matschigen Berg hinunter. Ihr Schrei vibrierte als Echo in seinen Nervenbahnen und er drückte sie fester an sich.
Nach wenigen Sekunden kam ihre Schlitterpartie zum Stillstand. Ethan lag mit dem Rücken auf der Erde und starrte in den morgendlichen Himmel. Seine Kehrseite schmerzte von der unfreiwilligen Rutschpartie.
Plötzlich spürte er zwei Hände auf der Brust, drehte den Kopf nach vorn und schaute in das schlammbespritzte Gesicht der Frau. Sie saß rittlings auf ihm und machte eine solch überraschte Grimasse, dass er sich ein Lachen nicht verkneifen konnte.
Emma spürte bereits, wie der Schlamm auf ihrer Haut zu trocknen anfing. Sie hatte durch den Wolf das Gleichgewicht verloren und der Ranger hatte sie gerettet. Alles war so schnell gegangen und fühlte sich gleichzeitig wie in Zeitlupe an.
Emma spürte die Muskeln seiner Brust unter ihren Händen. Die schwarzen Haare hatten sich aus seinem Dutt gelöst und sein intensiver Blick raubte ihr den Atem. Dort, wo sie sich berührten, sickerte Wärme in sie. Ihre Brüste streiften seinen Oberkörper und ihre Hüfte befand sich auf seiner. Ihr Blut begann, in ihren Adern zu pulsieren, und ein begehrliches Kribbeln wanderte durch ihre Nervenbahnen. Sie war ihm so nahe, dass sie sich nur vorbeugen bräuchte, um ihn zu küssen. Doch es war ihr irgendwie nicht möglich, sich zu bewegen, denn sein Blick brannte sich tief in den ihren, als würde er versuchen, bis in ihre Seele zu sehen. Seine Lippen bewegten sich. Emma fühlte sich wie hypnotisiert und sein Lachen hörte sich wie Musik in ihren Ohren an.
Auf einmal erklang eine Stimme von der anderen Seite des Zaunes. „Sollte ich fragen, warum ihr mitten im Wildgehege im Matsch liegt und euch anschmachtet, als wolltet ihr gleich übereinander herfallen?“
Wie von der Tarantel gestochen erhob sich der Ranger unter ihr und stellte sie dabei unsanft auf die Füße. Emma stützte sich mit einer Hand am Zaun ab, um nicht wieder hinzufallen.
Der Mann auf der anderen Seite des Geheges starrte sie an. Er trug kurze braune Haare und eine Rangeruniform. Emma schätzte ihn auf Ende dreißig. Unter seinem Blick wurde sie rot. Was für ein Bild mussten sie beide abgegeben haben!
Stumm folgte sie dem Indianer aus dem Gehege heraus. Auf dem Kiesweg blieb sie stehen, während der Griesgram zu seinem Kollegen ging.
„Leon, ruf per Funk Sam an. Sie muss herkommen, sobald sie Zeit hat, und das schwarze Wolfsjunge verarzten. Es hatte sich unter einem Baumstamm eingeklemmt. Soweit ich erkennen konnte, hat es nur eine Schürfwunde, aber sie soll es sicherheitshalber einmal komplett durchchecken.“ Er sah an sich herunter. „Ich bin in einer Stunde wieder da, um ihr bei der Untersuchung zu helfen.“
Der Ranger nickte, doch der Blick, den er ihnen beiden zuwarf, sprach Bände. Der Indianer ignorierte seinen Kollegen und machte Anstalten, zu gehen.
Emma knetete ihre Hände. Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell, und sie konnte nicht begreifen, was da eben zwischen ihr und dem Indianer geschehen war. Sie schaute zu Boden und versuchte, den Nebel in ihrem Kopf zu lichten. Wütend auf sich selbst grub sie die Fingernägel in ihre Handballen und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Ich werde dann mal zurückgehen.“
Der andere Rancher kam auf sie zu. „Ist alles in Ordnung? Schaffen Sie den Weg zu den Blockhütten alleine? Sie sind doch nicht verletzt, oder?“
Emma horchte in sich hinein. Verletzt war sie nicht, jedenfalls nicht körperlich. Sie war eher verwirrt.
Auf einmal trat der Indianer neben sie und ergriff ihren Arm. „Ich werde sie mit zu mir nehmen, der Weg ist kürzer. Dort kann ich mir in Ruhe anschauen, ob sie verletzt ist.“
Die beiden Männer sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. Der andere Ranger nickte kurz, drehte sich um und zog sein Funkgerät aus dem Gürtel.
Emma hörte ihn sprechen, als der Druck am Arm sie in die andere Richtung lenkte. Sie schlug mit dem Indianer schweigend die entgegengesetzte Richtung ein, aus der sie vorhin gekommen war. Wie viel Zeit wohl seit ihrem Aufbruch vergangen war? Ob das Teammeeting schon begonnen hatte? Vanessa würde bestimmt nicht erfreut darüber sein, dass sie nicht anwesend war.
„Vielleicht sollte ich doch zu unserem Bungalow gehen. Um neun Uhr haben wir ein Meeting, und da muss ich pünktlich sein.“
Sie wollte stehen bleiben, doch der Grobian zog sie weiter. Mit der anderen Hand fasste sie ihn am Arm und versuchte, sich zu befreien. Abrupt stoppte er und sah sie mit funkelnden Augen an.
„Wir haben noch keine neun Uhr, und ich werde mir vor meinem Kollegen nicht die Blöße geben, Sie verdreckt und alleine durch den Wald zurückzuschicken. Auch wenn mir das tausendmal lieber wäre, als den Babysitter für Sie spielen zu müssen.“
Emma traute ihren Ohren nicht. Das sinnliche Prickeln in ihrem Körper wurde von einem schwarzen Loch verschluckt und hinterließ eine beißende Kälte in ihr. Der Mann war und blieb ein Mistkerl! Wütend presste sie die Lippen aufeinander und ließ sich von ihm über den Pfad führen. Im nächsten Augenblick kamen sie auf eine Lichtung mit einem Steinhaus. Er führte sie zielstrebig zur Haustür und ließ sie los.
Emma verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war mehr als angepisst von seinem Verhalten.
Er schloss die Tür auf und zeigte ihr mit einer Geste, sie solle hineingehen. Emma erkannte Ungeduld in seiner Körperhaltung und trat ein, nur damit er sie nicht wieder hinter sich herzog.
Das Wohnzimmer, in das sie kamen, war überraschenderweise sehr gemütlich eingerichtet. Vor dem steinernen Kamin stand ein breites Sofa. In einer Ecke erhob sich ein Bücherregal, daneben standen ein Sessel und eine Leselampe. Für jemanden, der seine Zeit mit Lesen verbrachte, hätte sie ihn nicht gehalten.
Geradeaus kamen sie in einen Flur. Der Raum zu ihrer Linken hatte keine Tür. Dort befand sich die Küche mit einer Essecke. Rechts zweigten zwei weitere Räume ab. Da er gerade von einem der beiden die Tür öffnete und es sich dabei um ein Badezimmer handelte, vermutete sie in dem anderen sein Schlafzimmer. Unsanft schob er sie in den Raum mit den hellblauen Kacheln.
„Sie duschen als Erstes. In dem Schrank befinden sich Handtücher. Ziehen Sie Ihre Sachen aus. Ich werde sie waschen.“
Bevor Emma etwas erwidern konnte, hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeknallt. Mit einem sengenden Brennen im Magen zog sie sich die verschlammten Klamotten aus und warf sie neben die Tür auf den Boden. Mit Genugtuung betrachtete sie das Muster aus braunen Schlammspritzern auf den hellen Fliesen. Hoffentlich würde sich der Grobian darüber ärgern.
Schnell hüpfte sie in die Dusche. Gerade als sie den Duschvorhang zugezogen und das Wasser angestellt hatte, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde. Ihr Herz blieb beinahe stehen, und einen kurzen Augenblick lang fragte sie sich, wie es wäre, wenn er zu ihr unter den Wasserstrahl käme. Unbewusst hielt sie den Atem an.
„Beeilen Sie sich. Ich möchte auch noch mit warmem Wasser duschen können.“
Der Wachtraum zerplatzte wie ein Luftballon. „Dann schließen Sie die Tür und hören Sie auf, zu spannen!“
Sie hörte ihn etwas in einer anderen Sprache zischen und die Tür schließen. Langsam ließ sie den Atem entweichen. Der Kerl war ihr nicht geheuer. Warum sie dennoch in seiner Dusche stand? Emma schrieb es dem Schock durch den Unfall zu. Anders konnte sie sich ihr Verhalten nicht erklären.
Während sie sich den Schlamm vom Körper wusch, kam sie zu dem Entschluss, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Den Augenblick der Intimität im Gehege musste sie sich eingebildet haben. Bald ging es weiter in den Yellowstone-Nationalpark hinein, und der war so riesig, dass sie dem ungehobelten Indianer, Ranger oder was auch immer er war, bestimmt nie mehr begegnen würde.
Zufrieden mit ihrem Vorsatz drehte sie das Wasser aus und stieg aus der Dusche. Emma wickelte sich in eines der weichen Handtücher. Das ungute Gefühl, in einem fremden Haus mit einem fremden Mann darin und nur mit einem Stück Stoff bekleidet zu sein, sperrte sie aus ihren Gedanken aus.
Emma öffnete die Tür und folgte einem Knistern, das aus dem Wohnzimmer kam. Der Hausbesitzer kniete mit nacktem Oberkörper vor dem Kamin und stocherte mit einem Schürhaken in der Glut herum. Bei ihrem Eintreten stellte er den Eisenstab zur Seite und stand auf. Das Licht des flackernden Feuers tanzte auf seiner bronzefarbenen Haut. Seine muskulöse Brust war ebenso wenig behaart wie seine Arme oder sein Gesicht. Dafür reichten ihm die schwarzen Haare bis zu den Schulterblättern.
Ihr fiel ein Schlangentattoo auf, das sich um seinen rechten Arm schlängelte. Der zierliche Schlangenkopf endete am Handgelenk. Jede einzelne Schuppe des Reptils war zu erkennen. Im Schein der Flammen glitzerten sie sanft. Einen Moment lang schien das Tier zum Leben erweckt worden zu sein. Emma musste blinzeln, danach war der Zauber verflogen. Die Schlange war wieder ein normales Tattoo und der Mann vor ihr ein griesgrämiger Holzkopf.
„Setzen Sie sich auf das Sofa und wärmen Sie sich am Feuer auf. Ich habe Ihnen einen Tee gekocht, und Ihre Sachen sind in der Waschmaschine.“ In seinem Tonfall schwang Ungeduld mit.
„Sie haben hier eine Waschmaschine?“ Emma kam sich im selben Augenblick, als sie die Worte aussprach, dumm vor. Warum fiel es ihr so schwer, in seiner Nähe einen klaren Gedanken zu fassen?
Die Stirn ihres Gegenübers legte sich in Falten. „Ja, und einen Trockner. Nur weil ich im Wald lebe, bin ich kein Neandertaler.“
Mit einem grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht ging er an ihr vorbei und verschwand im Badezimmer.
Emma schloss genervt die Augen. Warum reagierte er immer gereizt, wenn sie etwas sagte? Sie ging zu dem Couchtisch und nahm die Teetasse in die Hand. Ein fruchtiger Duft stieg ihr in die Nase und vorsichtig nahm sie einen Schluck. Süß und herb rann die warme Flüssigkeit durch ihre Kehle. Genießerisch seufzte sie auf. Entweder hatte sie eindeutig zu lange auf das Teetrinken verzichtet oder dieser hier war einzigartig gut.
Emma drehte sich auf dem weichen Teppich im Kreis. Die Leseecke hatte sie bereits beim Eintreten erspäht. Sie ging zu dem Sessel und klappte den Einband des Buches auf, das dort lag. Wunderschöne Zeichnungen von unberührter Natur kamen zum Vorschein. Sie blätterte weiter. Indianer nahmen jede Seite des Papiers ein. Ob zu Pferd, in bunte Gewänder gehüllt oder auf der Jagd, sie alle besaßen ein Strahlen, das von innen zu kommen schien. Der Stolz eines großartigen Volkes zeichnete sich auf jedem ihrer Gesichter ab.
Sie schloss das Buch und ließ ihren Blick weiter durch den Raum gleiten. Alles war rustikal eingerichtet, und doch verliehen Einzelheiten dem Raum eine gemütliche Atmosphäre. Hinter dem Sofa war eine mit hellen Mustern versehene Decke an der steinernen Wand befestigt. Daneben hing ein altes Zaumzeug. Ein Traumfänger in verschiedenen Blautönen drehte sich in einem der Fenster hin und her. Doch das Highlight war der Federschmuck, der über dem Kamin hing. Sie trat vor und strich mit den Fingern über eine der weißen Federn. Es war ein Kunstwerk und würde bestimmt atemberaubend auf dem Kopf eines Indianers aussehen. Dass ihr dabei das Bild eines ganz bestimmten Indianers vor Augen kam, ignorierte sie geflissentlich.
Emma erspähte einen Bilderrahmen auf dem Kaminsims. Sie stellte die Tasse ab und nahm ihn in beide Hände. Vermutlich handelte es sich bei dem Foto darin um seine Familie. Ein lächelndes Ehepaar umarmte sich. Ein Mädchen hielt einen kleinen Jungen am Arm, der mürrisch guckte. Emma hätte alles darauf gewettet, dass sie gerade in dem Haus dieses Jungen stand.
„Sind alle Reporter so neugierig, oder liegt es in Ihrer Natur, überall unaufgefordert Ihre Nase reinzustecken.“
Vor Schreck hätte Emma beinahe das Bild fallen gelassen. Sie war so in das Foto vertieft gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen hören.
Er ging auf sie zu, nahm ihr das Bild aus den Händen und stellte es zurück. Eine tiefe Furche hatte sich in seine Stirn gegraben.
„Ich hoffe, Sie haben etwas gefunden, worüber Sie mit den anderen tratschen können.“
Emma war sprachlos über so viel Unverschämtheit. Der Kerl nahm kein Blatt vor den Mund.
Immerhin war er nicht mehr halb nackt. Die feuchten Haare hatte er sich zu einem Zopf gebunden und die Rangerjacke sah an ihm ziemlich sexy aus.
Schnell schüttelte sie den Kopf. Solche Gedanken wollte sie gar nicht erst aufkommen lassen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin keine Reporterin, sondern Aufnahmeleiterin. Ich informiere mich über die Drehorte und bin dafür verantwortlich, dass die Arbeit planmäßig verläuft.“
Innerlich spürte sie einen Stich. Zu gern hätte sie ihm unter die Nase gerieben, erfolgreich in ihrem Job zu sein. Doch Vanessa degradierte sie ständig zu ihrer persönlichen Assistentin.
Er kam einen weiteren Schritt auf sie zu. Seine Nähe verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie fühlte sich unsicher, weil sie nur mit dem Handtuch bekleidet war, während er angezogen vor ihr stand. Dennoch konnte sie das erregende Kribbeln in der Magengegend nicht ignorieren, und er müsste schon blind sein, um das schnelle Heben und Senken ihres Brustkorbes nicht zu bemerken.
„Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Nicht jeder mag es, wenn jemand Fremdes in seinem Haus herumschnüffelt.“
In seinen Augen lag ein gefährliches Glitzern, das sie zu ihrer Überraschung jedoch nicht ängstigte. Er war ihr so nahe, dass sie nicht mal den Arm ausstrecken bräuchte, um ihn zu berühren. Der Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Sie konnte den Kerl nicht ausstehen, aber ihr Körper reagierte verräterisch auf seine Anwesenheit.