Die dunkle Loge: Unsichtbarer Käfig - Mina Miller - E-Book

Die dunkle Loge: Unsichtbarer Käfig E-Book

Mina Miller

5,0

Beschreibung

Nach ihrer Befreiung aus der Gewalt der Loge, einer weltweit tätigen kriminellen Organisation, lebt Liz in Sicherheit auf dem Anwesen des Millionärs Adrian Lorain. Ihr Retter, der Dominus Henry Zeiser, hat ihr Herz im Sturm erobert, doch der Kampf gegen die Loge fühlt sich an wie ein Kampf gegen Windmühlen. Wegen der drohenden Gefahr lebt Liz im goldenen Käfig, worunter auch ihre Beziehung zu Henry leidet. Sie erfährt, dass ihr Vater mit der Loge Geschäfte macht und den Schlüssel in seinen Händen hält, um die Organisation zu Fall zu bringen. Beseelt von dem Wunsch, die Loge zu zerstören, kehrt Liz zu ihrem Vater zurück und findet sich in einem wahren Albtraum aus Gewalt und Folter wieder. Henry kann sie erneut retten und diesmal nimmt er Liz mit nach Frankreich, in sein Heimatland. Weit weg von der Gefahr durch die Loge erwacht Liz' Sehnsucht, von Henry dominiert zu werden, aufs Neue. Doch Henry trifft eine folgenschwere Entscheidung und eine alte Feindschaft stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe. Werden sie trotz der schwierigen Umstände an den Schlüssel gelangen, um die Loge zu zerstören? Vertrauen ist wichtig – Liebe ein Bedürfnis.

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Mina Miller

Die dunkle Loge 3: Unsichtbarer Käfig

© 2021 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Mia Schulte / Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-495-5

ISBN eBook: 978-3-86495-496-2

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Autorin

Kapitel 1

Liz zog ihre Handschuhe aus und hielt in der Bewegung inne. Sie starrte auf die scharfen Dornen und giftigen Beeren des Mistelzweigkranzes, der vor ihr an der Tür hing. Verschwommen stiegen Bilder in ihr auf: ihre Mutter, die in einem Engelkleid durch die Küche fegte, während ihr Vater sich vergewisserte, dass die Weihnachtsdeko in vollem Glanz erstrahlte. Damals war Liz neun Jahre alt gewesen, und es war das letzte Weihnachtsfest, das sie gemeinsam als Familie feierten. Kurz danach zerbrach Liz’ heile Welt in tausend Scherben.

Mit einem Mal knickten ihr die Beine weg und sie stützte sich schnell am Türbogen ab. Der Entschluss, zu ihrem Elternhaus zurückzugehen, war ihr so schwergefallen, als würde sie barfuß über Glassplitter laufen. Nun spürte sie, wie ihr Körper unter der Anspannung der letzten Tage nachgab, und zu der eisigen Kälte in ihrem Inneren gesellte sich starke Übelkeit.

Liz lehnte den Kopf gegen die Hauswand und schloss die Augen. Sie begann, tief ein- und auszuatmen, denn sie musste sich für das wappnen, was unmittelbar hinter dieser Tür auf sie lauerte. Noch einmal genoss sie die nach Schnee duftende Luft, öffnete die Augen und stellte sich gerade hin. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, vielleicht die wichtigste in ihrem ganzen Leben. Nun lag es an ihr, diese Mission erfolgreich auszuführen. Den Griff ihres Koffers umklammerte sie so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Der Schmerz gab ihr den nötigen Halt, den sie benötigte, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Bevor sie es sich doch noch anders überlegte, klopfte sie mit dem schweren Messinggriff gegen das harte Holz. Der hohle Klang drang ihr bis ins Mark und sie biss die Zähne fest zusammen. Es kostete sie Überwindung, sich nicht umzudrehen, die Beine in die Hand zu nehmen und von diesem Ort, den sie seit Jahren nicht mehr ihr Zuhause nennen konnte, fortzulaufen. Schritte, die hinter der Tür zu hören waren, ließen ihr Herz schneller schlagen, und als sie geöffnet wurde, zuckte Liz zusammen. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle, als sie ihre Stiefmutter erkannte. Der Blick aus den schwarzen Augen ließ sie erschaudern. Liz konnte sich noch gut daran erinnern, mit wie viel Verachtung und Kälte die neue Frau ihres Vaters sie vom ersten Tag des Kennenlernens an betrachtet hatte. Viktoria Schäfer hatte Liz’ Vater, Richard Heffner, ein paar Jahre nach der Scheidung ihrer Eltern geheiratet. An dem Tag, an dem Viktoria und ihr Sohn Stephan bei Liz und ihrem Vater eingezogen waren, veränderte sich ihr Leben nach dem Fortgehen ihrer Mutter ein weiteres Mal, und wieder nicht zum Besseren. Viktoria hatte Liz vom ersten Tag an spüren lassen, wie wenig sie sie leiden konnte. Ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Liz hatte sich immer gefragt, was ihr Vater an ihr fand. Für Liz war sie eine geldgierige Frau, die sie piesackte, wo immer es möglich war.

„Soso, kehrt das Aschenputtel also doch nach Hause zurück?“ Viktorias Stimme erklang leise, ihre Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln.

Liz zwang ihre Glieder, aus der Erstarrung zu erwachen, und hob das Kinn. „Viktoria, schön, dich wiederzusehen. Wie ich erkennen kann, sind die letzten drei Jahre nicht spurlos an dir vorbeigegangen.“

Ihre Stiefmutter verengte die Augen zu Schlitzen, und Liz’ Lächeln wurde breiter. Ohne weiter auf Viktoria zu achten, ging sie an ihr vorbei und trat ins Haus. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte, das heftige Gefühl, dass sie ihr Zuhause so sehr vermisst hatte, oder wie fremd ihr ehemaliges Zuhause auf sie wirkte.

 Liz kannte dieses Haus vollgestopft mit antiken Möbeln, einer Gemäldesammlung ihrer Mutter und einem gewissen Maß an Unordnung, das sie aber nie gestört, sondern das eher etwas Heimeliges für sie gehabt hatte.

Jetzt stand sie in einer Eingangshalle, die ihr völlig unbekannt war. Wüsste sie nicht, dass sie hier richtig war, hätte sie vermutet, am falschen Haus geklingelt zu haben. Der Eingangsbereich erinnerte sie an ein Foto aus einer Designer-Zeitschrift. Sie musste schwer schlucken und blinzelte die Tränen weg, die sich in ihre Augen stahlen.

Viktoria ging an ihr vorbei und strich über eine weiße Kommode mit Eisenornamenten. „Gefällt es dir? Ich habe eine befreundete Innenarchitektin damit beauftragt, unser Haus zeitgemäß einzurichten. Dein Vater kann, als Person des öffentlichen Lebens, schließlich nicht in einem Haus mit einer uralten Einrichtung wohnen.“

Ihre Stiefmutter berührte die silberne Vase auf dem Schrank, in der ein Strauß Lilien stand. Dann warf sie einen kurzen Blick in den Wandspiegel neben der Kommode und strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.

„Dein Vater ist im Arbeitszimmer und möchte dich sofort sehen. Lass den Koffer stehen, ich sage Stephan Bescheid, dass er ihn gleich hochtragen soll.“

Victoria wandte sich von ihr ab und verließ, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, den Raum. Sie ging nach links in das Wohnzimmer, falls die Räumlichkeiten so geblieben waren wie früher, dachte Liz bitter. Sie presste die Lippen zusammen und stellte den Koffer neben der Treppe ab, die in das obere Stockwerk führte. Ihr Blick flog zu dem Zimmer, in dem ihre Stiefmutter verschwunden war. Die Tür stand offen, und erleichtert sah sie das Wohnzimmer, auch wenn es nun neu eingerichtet war. Dann wandte sie sich nach rechts und folgte einem schmalen Flur, an dessen Ende das Zimmer ihres Vaters lag.

Liz trödelte, denn vor dem Zusammentreffen mit ihrem Vater graute ihr noch mehr als vor dem mit Viktoria. Ihr Blick schweifte über die Wände und sie ballte die Hände zusammen. Auch hier hatte sich etwas verändert. Die Tapeten waren nicht mehr mokkafarben, sondern, wie die Eingangshalle, weiß gestrichen worden. Wären da nicht die Fotos ihrer Familie an den Wänden gewesen, wäre sie sich wie in einem Krankenhaus vorgekommen. Fehlte nur noch der strenge Geruch nach Desinfektionsmittel. Liz zog die Nase kraus und konzentrierte sich auf die Bilder. Überall hingen Bilderrahmen mit Fotos von ihrem Vater und seiner neuen Familie. Das Brennen in Liz’ Magen begann sich zu verstärken, denn sie war lediglich auf einer Handvoll Fotos mit abgelichtet. Als sie am Ende der Wand ankam, stolperte ihr das Herz in der Brust. Das Bild von ihrem Vater und ihrer Mutter war fort. An dessen Stelle hing ein Porträt ihrer Stiefmutter.

Liz schluckte ihre Wut herunter und atmete tief durch. Am liebsten hätte sie das Bild abgerissen und wäre darauf herumgetrampelt. Ihr Blick richtete sich auf die Tür vor sich, und ihr missfiel der Gedanke, dort hineinzugehen. Als ihre Mutter noch hier wohnte, hatte die Tür für sie immer offen gestanden. Liz war im Arbeitszimmer ihres Vaters jederzeit willkommen gewesen. Doch mit dem Fortgehen ihrer Mutter hatte ihr Vater sie nicht nur aus seinem Arbeitszimmer ausgeschlossen, sondern auch aus seinem Leben, was immer noch wie eine frische Wunde schmerzte. Früher hatte Liz ihren Vater abgöttisch geliebt. Selbst nach dem Fortgang ihrer Mutter, als er sich zu verändern schien. Aber seit Viktoria Schäfer, seine neue Ehefrau, und ihr Sohn Stephan in seine Leben getreten waren, hatte sich ihr Vater komplett in einen anderen Menschen verwandelt.

Wenn Liz sich jetzt umschaute, wurde ihr bewusst, wo sie sich wirklich zu Hause fühlte: auf Adrian Lorains Anwesen. Die letzten vier Jahre, die sie dort verbringen durfte, hatten ihr geholfen, ihr Trauma zu verarbeiten und sich selbst besser kennenzulernen. Wie ein Sturm waren Adrian, Henry und die anderen Master über sie hinweggefegt und hatten ihr Stück für Stück einen Teil ihrer verloren geglaubten Seele wiedergegeben. In diesem Sinne hatte ihre Entführung durch die Loge auch etwas Gutes gehabt. Sie war dort auf Henry getroffen, der ihr zur Flucht verholfen hatte. Allein ihm hatte sie es zu verdanken, der verbrecherischen Organisation entkommen zu sein. Sie erinnerte sich noch genau an das Leuchten seiner hellblauen Augen, das durch das Schwarz der Logenmaske zu sehen gewesen war.

Henry Zeiser war ein berühmtes Männermodel, daher hatte ihm sein Bekanntheitsgrad ermöglicht, sich in die Loge einzuschleichen, um diese auszuspionieren. Wie sie nachher erfuhr, bestand die Organisation bereits seit vielen Jahren in der ganzen Welt. Eine Gruppe von reichen Männern, die ihre Macht und ihren Einfluss ausnutzten, um Frauen zu entführen, zu unterdrücken und zu missbrauchen. Außer Liz waren noch vier weitere Mädchen in dem Van gewesen, in den sie sie gezogen und in dem sie sie gefesselt hatten. Ihr schmerzte noch immer das Herz, wenn sie an das leise Wimmern der anderen Frauen dachte, die nicht das Glück gehabt hatten, befreit zu werden.

Liz bekam eine Gänsehaut, wenn sie an die Bühne und den verdunkelten Raum dachte, in den sie und die anderen Mädchen gebracht worden waren. Durch das grelle Scheinwerferlicht ließ sich nur erahnen, dass vor ihnen mehrere Personen saßen und sie begutachteten. Die ganze Situation war unglaublich surreal gewesen, und doch hatte sich dieser Moment, diese Erinnerung fest in ihr Gedächtnis gebrannt. Einer ihrer Entführer trat auf die Bühne und begann, einen Mindestpreis für jede Frau aufzurufen. Wegen ihrer mohnroten Haare wurde für Liz das höchste Gebot abgegeben. In dem Moment wurde ihr klar, dass sie und die anderen Mädchen wie ein Stück Vieh verkauft werden sollten. Zu ihrem Glück ersteigerte Henry sie, warf seinen Auftrag, die Loge zu unterwandern, über Bord und floh kurz nach der Auktion mit ihr.

Sie konnte bis heute nicht begreifen, wie spielend leicht es gewesen war, mit ihm aus dem Sitz der Loge zu spazieren. Als die Verbrecher sie durchschaut hatten, war es bereits zu spät gewesen. Doch nun war seine Tarnung aufgeflogen, was es ihm unmöglich machte, die Loge weiter auszuspionieren. Das war der Preis, den er für ihre Rettung zahlen musste. Henry hatte sie auf Adrians Anwesen in Sicherheit gebracht.

Adrian war ein Jugendfreund von Henry und mit der Loge verfeindet, da er vermutete, sie wäre für den Tod seiner Eltern verantwortlich gewesen. Auf Adrians Anwesen lernte sie die anderen Master kennen, die ihr die Augen für eine neue Welt öffneten. Nun änderte sich Liz’ Leben ein weiteres Mal. Mit jedem Tag, jeder Woche und jedem Monat, der verging, fühlte sie sich wohler bei ihnen. Ihr Wohlergehen stand bei ihnen an erster Stelle. Eine Erfahrung, die Liz bis dahin fremd gewesen war. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen erklärten sie ihr, was einen dominanten Mann ausmachte und wie kostbar eine Sub für ihren Dom war. Doch der letzte Schrecken ihrer Entführung war erst verschwunden, als Henry ihr Dom und Partner wurde.

Henry war ihr vom ersten Moment an, als er sie aus der Gefangenschaft der Loge befreit hatte, nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie ließ sich von ihm in einen erotischen Strudel aus Unterwerfung und Hingabe ziehen, hieß den Lustschmerz mit jeder Zelle ihres Körpers willkommen, als hätte sie, wie Dornröschen, nur darauf gewartet, von ihrem Prinzen wach geküsst zu werden.

Der Gedanke an ihn schmerzte. Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet, denn sie wusste, er hätte sie niemals allein hierher zurückkehren lassen. Er wollte sie vor allem beschützen, und als Henry und Adrian verstanden hatten, wie organisiert die Loge war und wie weitreichend sie ihre Fäden zogen, veränderte er sich. Er verbrachte weniger Zeit mit ihr, und wenn sie zu zweit waren, wirkte er oft irgendwie abwesend. Sie wusste, er wollte die Verbrecher zur Strecke bringen, damit sie keine Angst mehr zu haben brauchte, noch einmal von der Loge gekidnappt zu werden, und er gab ihr mehr als einmal das Versprechen, alles zu tun, um sie zu beschützen. Doch ihre Beziehung fing langsam an, unter diesem Versprechen zu leiden. Er würde es zwar niemals zugeben, aber nichts gegen die Loge unternehmen und damit sein Versprechen nicht halten zu können, belastete ihn immer mehr. Henry zog sich immer mehr in sich zurück. Er sprach nur noch das Nötigste und verschloss seine Gedanken vor ihr. Etwas, was früher undenkbar gewesen wäre. Sie hatten sich seit ihrem Kennenlernen alle Sorgen, Ängste und Geheimnisse gegenseitig anvertraut.

Liz hatte ihm von ihrer Familiengeschichte erzählt, und er hatte sie in den Arm genommen und getröstet, ihr versichert, dass alles gutwerden würde.

In den letzten vier Jahren, die sie auf Adrian Lorains Anwesen verbracht hatte, telefonierte Liz nicht mit ihrer Mutter. Die Angst davor, sie in die Machenschaften der Loge hineinzuziehen, war zu groß gewesen. Mit ihrem Vater hatte sie seit ihrer Entführung kein Wort mehr gewechselt. Adrian Lorain hatte ihrem Vater nach ihrem Eintreffen eine Nachricht über ihren Verbleib zukommen lassen, aber er hatte sich nicht einmal vergewissert, dass es ihr bei Adrian gut ging.

Ein Zittern durchlief ihren Körper und schnell verschloss sie die Erinnerungen an die Vergangenheit tief in sich drinnen. Sie hatte eine Mission, und wenn das hieß, dass sie sich dafür ihren Dämonen stellen musste, würde sie das tun. Mit einem Ruck hob sie die Hand, klopfte gegen die Tür und keine zwei Sekunden später ertönte die vertraute Stimme ihres Vaters. Liz’ Herz begann zu rasen und ihre Handinnenflächen wurden schwitzig. Sie drückte die Klinke herunter und trat in das Büro ein. Die Freude, dass das Zimmer noch genauso aussah, wie sie es von früher kannte, und nicht unter Viktorias Neudekorierungswahn gefallen war, wechselte sich mit der Trauer und Wut ab, die sie empfand, als sie ihren Vater am Schreibtisch sitzen sah. Ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, in der er sich nicht einmal nach ihrem Wohlergehen erkundigt hatte, versetzte ihr einen Stich in der Brust. Er hielt einige Papiere in der Hand und winkte sie, ohne aufzusehen, herein.

Sie hatte ihm ihr Erscheinen vor ein paar Tagen in einem Brief angekündigt. Kurz und knapp hatte sie ihm geschrieben, dass sie heute zurückkehren würde. Ihn telefonisch davon zu unterrichten, hatte sie sich nicht getraut, denn seine Stimme zu hören, hätte sie vielleicht in ihrem Vorhaben wanken lassen. Liz schloss die Tür hinter sich und ging über den Perserteppich zu seinem antiken Schreibtisch. An den Wänden befanden sich Regale mit alten Büchern aus aller Welt. Ein Ledersessel stand in einer Ecke, daneben ein uralter Globus auf einem Holzsockel.

Liz erinnerte sich daran, dass sie hier drinnen gern Schatzsuche gespielt hatte, und meistens war der Schatz eine mit bunten Steinen verzierte Holzschachtel gewesen, die in einer der vielen Schubladen des Tisches versteckt gewesen war. Selbst der Geruch nach alten Büchern und Möbeln lag noch in der Luft, so, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Sie merkte erst, dass sie lächelte, als ihr Vater ein Räuspern hören ließ. Liz schaute ihn an. Sein Haar war grauer geworden. Ansonsten war sein Aussehen wie immer: adrett und gepflegt. Der Blick aus seinen braunen Augen fokussierte sie.

„Du siehst deiner Mutter immer ähnlicher.“ Ihr Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Liz’ Lächeln erlosch so schnell, wie es sich hervorgestohlen hatte. Die schönen Erinnerungen waren Vergangenheit, dies war die Realität. Ihr Vater erhob sich vom Stuhl, ging einen Schritt auf sie zu und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Du möchtest also wieder hier einziehen? Ich dachte, du kannst Viktoria nicht ausstehen und wärst froh, woanders zu wohnen.“

Liz glaubte, sich verhört zu haben. Woher wollte ihr Vater das denn wissen? Hatte er sie etwa ausspioniert?

„Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, du hättest mit dem Model Henry Zeiser angebändelt. Du weißt, dass ich solche Paparazzigeschichten nicht gebrauchen kann. Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du diesen Kerl nicht wiedersehen. Haben wir uns verstanden, Elisabeth?“

Das Brodeln in ihrem Magen nahm zu. Seit drei Jahren hatte sie niemand mehr Elisabeth genannt. Den Namen hatte sie nach ihrer Entführung abgelegt und die Kurzform davon benutzt, weil sie ein neues Leben anfangen wollte. Und jetzt stand sie hier, vor ihrem Vater, und fühlte sich nicht wie sechsundzwanzig, sondern wie ein kleines Kind, das gescholten wurde. Er hatte sich die letzten Jahre nicht für sie interessiert und wollte ihr nun Vorschriften machen? Nach der langen Funkstille hatte sie sich eine herzlichere Begrüßung erhofft, auch wenn sie die bittere Wahrheit innerlich schon geahnt hatte. Sie befeuchtete ihre Lippen.

„Ich wundere mich, dass du über Henry Bescheid weißt, wo du doch seit meiner Entführung nicht mehr mit mir gesprochen hast.“

Seine linke Augenbraue hob sich bis unter den Haaransatz. Ein Zeichen dafür, dass er ein Problem mit ihrem Verhalten hatte.

„Ich bin ein hochrangiger Politiker, Elisabeth. Ich muss über alles Bescheid wissen, was meinem Ruf in der Öffentlichkeit schaden könnte. Ich habe dich vier Jahre lang deine eigenen Entscheidungen treffen lassen und dich tun und machen lassen, was du wolltest. Ich wusste, dass eure sexuellen Ausschweifungen hinter geschlossenen Türen stattfinden und Lorain kein Interesse daran hat, mit seinen Vorlieben hausieren zu gehen. Aber jetzt bist du freiwillig hierher zurückgekehrt, also wirst du dich an meine Regeln halten, und dazu gehört, dass du kein Wort über die Zeit bei ihm verlierst. Ich will nicht, dass an die Öffentlichkeit gelangt, wo und bei wem du dich die letzten Jahre aufgehalten hast. Sollte dich jemand fragen, hast du eine Privatschule in Frankreich besucht. Und jetzt möchte ich, dass du auf dein Zimmer gehst. Wir werden uns wieder unterhalten, wenn ich mir überlegt habe, wohin deine Zukunft dich führen soll.“

Liz drückte ihre Fingernägel in die Handinnenflächen. „Du meinst, wenn du weißt, wie du mich am besten für deine Machenschaften benutzen kannst? Du hast zugelassen, dass die Loge mich entführt hat. Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Bist du ein Mitglied in dieser Organisation? Und was würde Mutter dazu sagen, wenn sie das wüsste?“ Dass Liz zurückgekommen war, um das Passwort für die gestohlenen Dateien zu besorgen, verschwieg sie ihm.

Sie hatte sich so in Rage geredet, dass sie die Zornesfalten auf der Stirn ihres Vaters zu spät bemerkte. Er stellte sich hinter seinen Schreibtisch und klatschte mit der Hand auf die Schreibtischplatte, dass Liz zusammenzuckte. „Das reicht jetzt!“

Liz presste die Lippen fest aufeinander und starrte ihren Vater an. Wie immer, wenn er wütend war, senkte er die Stimme.

„Von deiner Mutter möchte ich keinen Ton mehr hören. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, und du hast dich damals entschieden, bei mir zu bleiben. Und von der Loge will ich nie wieder etwas hören. Das geht dich nichts an.“

Liz blinzelte heftiger, es kostete sie alle Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Doch das Zittern konnte sie nicht unterdrücken. Zu groß waren Wut, Enttäuschung und Trauer in ihrem Inneren. Sie hatte gehofft, er würde seine Machenschaften mit der Loge leugnen, sie von sich weisen, doch seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Er hätte einfach abstreiten können, etwas über die Organisation zu wissen. Doch das tat er nicht. Ihr wurde klar, dass wahrscheinlich alles stimmte, was Adrian über ihren Vater ausgegraben hatte. Ein kleiner Funke in ihr drinnen hatte die ganze Zeit gehofft, die Anschuldigungen gegen ihren Vater würden sich nicht bewahrheiten, doch nun konnte sie die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Das Entsetzen darüber schnürte ihr die Kehle zu.

Ihr Vater ging langsam zurück zu seinem Bürostuhl, ließ sich darauf nieder und nahm die Papiere wieder in die Hand. „Jetzt lass mich weiterarbeiten. Wir sprechen uns später noch einmal, und dass du im Haus zu bleiben hast, muss ich dir wohl nicht sagen.“ Damit wandte er sich seinen Unterlagen zu und ignorierte sie.

Liz fühlte sich, als hätte jemand einen Kübel mit eiskaltem Wasser über ihr ausgeschüttet. Auf wackeligen Beinen ging sie zur Tür, trat aus dem Arbeitszimmer heraus, schloss die Tür hinter sich und lief den Flur entlang in die Eingangshalle. Ohne nach links und rechts zu sehen, hastete sie die Treppe hinauf in das Obergeschoss. Dort folgte sie einem weiteren Gang, der in das entlegenste Zimmer im Haus führte: ihren Zufluchtsort. Vor ihrer Zimmertür angekommen, erkannte sie noch genau, wo das Schild mit ihrem Namen an der Tür gehangen hatte. Mit den Fingerspitzen strich sie über den Abdruck, den es hinterlassen hatte. Sie hatte sich damals mit ihrem Türschild viel Mühe gegeben. Ihre Mutter hatte die Buchstaben aus Knete geformt, während ihr Vater das Holz zurechtschnitt, und sie war glücklich gewesen, mit ihren Eltern Zeit zu verbringen.

Mit eiskalten Händen öffnete sie die Tür und seufzte auf, als sie in ihr Zimmer trat. Mit Erleichterung sah sie, dass Viktoria sich ihren Raum nicht unter den Nagel gerissen hatte. Ihr Zimmer sah noch genauso aus wie damals, bevor sie entführt worden war. Der alte Zedernholzschreibtisch stand vor ihrem Fenster, und der Kleiderschrank und das Bücherregal, beides hatte sie vor Jahren auf einem Antikmarkt ergattert, befanden sich auch noch immer an der gleichen Stelle.

Sie ging zu ihrem Himmelbett, auf dem ihr Plüsch-I-Aah aus der Kinderserie Winnie Puuh lag und sie mit seinen zuckersüßen, traurigen Augen ansah. Sie nahm ihn in die Arme und vergrub das Gesicht in seinem Fell. Als Kind waren ihre Eltern mit ihr ins Disneyland Paris gefahren, wo sie sich sofort in den kuscheligen I-Aah verliebt hatte. Liz gab ein leises Seufzen von sich.

„Sieh an, meine Schwester ist nach Hause zurückgekehrt.“

Beim Klang dieser Stimme kroch Liz ein Frösteln den Nacken hinauf, und langsam drehte sie sich zu der offenen Tür um. Ihr Stiefbruder Stephan lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und grinste sie an. Seine Augen leuchteten in einem kalten Dunkelbraun, wie Zartbitterschokolade, die durch den hohen Kakaoanteil, für Liz’ Geschmack, viel zu bitter schmeckte. Stephan war zwei Köpfe größer als sie, und an den Muskeln unter seinem Shirt erkannte sie, dass er die letzten Jahre sportlich sehr aktiv gewesen sein musste. Fort war der schlaksige, aber durchaus gut aussehende Junge, der ihr vor Jahren als Bruder vorgestellt worden war. Sein dunkles Haar kräuselte sich an den Enden und für viele weibliche Wesen galt er sicherlich als attraktiv. Doch Liz hatte schnell mitbekommen, dass er der Außenwelt den Mustersohn mit den guten Noten und einem tadellosen Benehmen nur vorspielte. Zu Hause war er stinkfaul und höchst arrogant gewesen. Liz hatte sich jedoch nicht weiter daran gestört, denn obwohl sie zusammenlebten, hatten sie wenig miteinander zu tun gehabt, wofür sie auch dankbar gewesen war.

Jetzt sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass sich an Stephan etwas verändert hatte. Sie konnte nicht sagen, ob es an seinem Blick oder seiner Körperhaltung lag, aber plötzlich überkam sie ein ungutes Gefühl, das sich noch verstärkte, als Stephan langsam auf sie zukam. Sie konnte nicht verhindern, dass sie vor ihm zurückwich, bis sie das Bett in den Kniekehlen spürte. Die Aura ihres Stiefbruders erdrückte sie und raubte ihr die Luft zum Atmen. Sein schiefes Grinsen vertiefte sich, und sie sah, wie es in seinen Augen blitzte. Er blieb vor ihr stehen und beugte den Kopf zu ihr herunter, wobei sich das Shirt über seinen Oberarmmuskeln spannte und sein viel zu aufdringliches Aftershave ihr in die Nase stieg.

„Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich habe gehört, du hast einiges durchgemacht, und ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde, wenn du mich brauchst. Schließlich sind wir Bruder und Schwester.“

Liz’ Herz schlug schneller. Sein Atem streifte ihre Wange und plötzlich spürte sie seine Lippen auf ihrer Haut. Es erschien wie eine kurze harmlose Geste, doch die Berührung fühlte sich absolut falsch an. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass etwas mit Stephan nicht stimmte. So nah war ihr Stiefbruder ihr noch nie gekommen. Eine seiner Hände legte sich auf ihr Kreuz und fuhr langsam ihren Rücken hinauf bis zu ihrem Nacken, wo sie liegen blieb. Seine Finger streichelten durch die Locken, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.

Liz war wie erstarrt, ihr Verstand konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Bevor sie auch nur ein Wort stammeln konnte, trat Stephan zurück und ging mit einem letzten überheblichen Lächeln aus ihrem Zimmer. Sie lief schnell zur Tür, drehte den Schlüssel um und schloss sie ab. Das Klicken ließ sie die angehaltene Luft ausstoßen und die Hand auf ihr rasendes Herz legen. Was war da eben geschehen? Wenn sie mit ihrem Bauchgefühl richtiglag, wollte Stephan mehr von ihr, als es zwischen Geschwistern üblich war. Oder hatte er sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt? Ein Arschloch war er schon immer gewesen, aber er hatte sie nie länger als nötig beachtet, und geküsst hatte er sie auch noch nie. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und ging zurück zu ihrem Bett. Was sollte sie jetzt machen? Sie hatte eine Mission und konnte nur hoffen, dass Stephan ihr dabei nicht in die Quere kam.

Ein Seufzen entschlüpfte ihren Lippen und sie rieb sich müde über das Gesicht. Dann ließ sie sich rücklings auf das Bett sinken und nahm ihren I-Aah in den Arm. Sie wollte es nicht zugeben, aber Stephan machte ihr Angst. Seine aufdringliche Art kannte sie nicht und bei seinen Worten beschlich sie ein ungutes Gefühl. Wie gern wäre sie jetzt in ihrem Zimmer auf Adrians Anwesen. Mit einem Mal war die Sehnsucht nach Henry so groß, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Seit ihrem Streit vor ihrer Abreise, bei dem sie Henry vorgeworfen hatte, sie vor Sorge in einen goldenen Käfig zu sperren, hatten sie nur noch das Notwendigste miteinander gesprochen. Sie vermisste seine Stimme, seine Wärme, seine Berührungen. Wie gern würde sie sich jetzt in seine Umarmung schmiegen und vergessen, wo sie sich gerade befand. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, und Liz hatte nicht mehr die Kraft, sie zurückzuhalten. Alle Anspannung wich von ihr und erschöpft drückte sie ihr Kuscheltier an sich. Obwohl sie geahnt hatte, worauf sie sich hier einließ, hatte sie keine andere Möglichkeit gesehen, als wieder zu ihrem Vater zurückzukehren. Scherzhafterweise hatte sie sich mit einer Spionin verglichen, die sich in die Höhle des Löwen schlich, um die Loge von innen heraus zu Fall zu bringen.

Liz fragte sich, wie es ihre Freundin Madeleine geschafft hatte, wochenlang, in der Gefangenschaft der Loge zu verbringen, ohne wahnsinnig zu werden. Die kleine Stimme in ihr drinnen, die ihr zuflüsterte, sie wäre niemals so stark wie Maddie, ignorierte sie dabei geflissentlich. Es gab keine andere Möglichkeit, wollten sie und ihre Freunde die Organisation zu Fall bringen. Sie musste sich zusammenreißen. Und mit den Erinnerungen an Henry driftete sie in einen unruhigen Schlaf.

Der Blitz der Kamera blendete Henry und einen Moment lang schloss er die Augen. Normalerweise liebte er es, vor der Kamera zu posieren. Doch heute war er genervt von der Helligkeit und den Klickgeräuschen des Fotoapparates, und ein Stechen in seinen Schläfen kündigte heftige Kopfschmerzen an.

„Okay, stopp! Wir machen eine kurze Pause“, erklang die Stimme des Fotografen. Erleichtert seufzte Henry auf und öffnete die Augen. Sofort wuselten die Make-up-Stylistin und die Assistentin des Fotografen um ihn herum. Er hatte üblicherweise nichts gegen die Damen, doch heute glichen sie einem Schwarm Fliegen, der ihm aufdringlich folgte, wo immer er hinging. Wie auf ein Stichwort trat Michael, der Fotograf, zu ihnen und wedelte mit den Händen.

„Mädels, seid so gut und lasst unser Starmodel durchschnaufen. Besorgt uns bitte eine Kleinigkeit zum Mittagessen.“

Mit einem Lächeln verabschiedeten sich die Frauen und verließen das Studio. Henry ging zu der Sitzecke, die in dem Raum aufgebaut worden war, ließ sich auf einem der gepolsterten Sessel nieder und lehnte den Kopf zurück.

„Nicht dein Tag heute, was? Du warst so grottenschlecht wie ein Elfjähriger bei einem Banküberfall.“

Henrys Mundwinkel hoben sich und er sah Michael gegenüber von ihm Platz nehmen. Sein Kameraequipment hatte er auf einem Beistelltisch am Set zurückgelassen. Henry schwenkte den Blick und sah auf den großen Monitor, der vor dem Set aufgebaut war, um die Fotos im Detail betrachten zu können. Er seufzte auf und fuhr sich mit den Händen durch das Haar, als er die letzten Bilder von sich betrachtete. Michaels Kritik war berechtigt. Henry konnte sogar aus dieser Entfernung sehen, dass die Fotos nicht die besten waren, und das war noch untertrieben.

„Du hast recht, die Aufnahmen sind wirklich miserabel. Tut mir leid, ich habe heute einen schlechten Tag. Gib mir zehn Minuten und eine Kopfschmerztablette, dann gebe ich wieder hundert Prozent.“

Unter dem intensiven Blick seines Freundes und Fotografen beugte sich Henry vor, zog seine schwarze Sporttasche zu sich und kramte die Tabletten hervor. Michael nahm eine Wasserflasche vom Tisch, drehte den Verschluss auf und hielt sie ihm entgegen.

„Danke“, sagte Henry, nahm ihm die Flasche ab, warf sich zwei Tabletten in den Mund und trank in großen Schlucken. Fotoshootings waren harte Arbeit, und es brauchte viel Ausdauer, um mehrere Stunden am Stück konzentriert zu bleiben.

Michael hob die Schultern und sah ihn an. „Du gefällst mir schon die ganze Woche nicht. Man erkennt auf den Fotos, dass du mit dem Kopf woanders bist. Irgendetwas bedrückt dich.“

Henry schnaubte, nahm ihm den Deckel ab und drehte die Flasche wieder zu. Dann stellte er sie auf den Glastisch neben sich.

„Wenn du wüsstest.“ Er schüttelte den Kopf.

„Erzähl es mir“, sagte Michael. „Du weißt, du kannst mir vertrauen. Ich weiß mehr über dich als die Klatschpresse.“

Jetzt musste Henry lachen. „Du kennst also alle meine Sehnsüchte? Hast den Durchblick, mit welcher Frau ich ein Verhältnis und wie viele uneheliche Kinder ich angeblich habe?“

Sein Freund grinste. „Und nicht zu vergessen die Gerüchte, dass du schon einmal von Aliens entführt wurdest, um die Erde zu invadieren.“

Henry schüttelte den Kopf, dann verschwand sein Lächeln. Er sah nach oben an die Decke, die, wie der Rest des Raumes, weiß gestrichen war. Dafür funkelte die Küche rechts von ihnen onyxschwarz, genau wie die Sitzgarnituren, auf denen sie saßen. Henry hatte dieses Studio sofort gemocht. Es war groß und bot genug Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. Ein Badezimmer war genauso vorhanden wie ein Make-up-Raum und ein Pausenraum für die Mitarbeiter. Michael, einer der berühmtesten Fotografen Deutschlands, war bekannt für seinen minimalistischen Stil. Dekorationen, Bilder oder Ähnliches suchte man in seinem Studio vergebens. Henry hatte ihn einmal gefragt, warum er die Wände kahl ließ, wo doch andere prominente Fotografen möglichst viele Fotos der Stars präsentierten, die sie bereits abgelichtet hatten. Michael hatte ihm geantwortet, dass er keine Ablenkungen in seinem Studio duldete. Fotografieren war schwere Arbeit, wenn man das perfekte Bild schießen wollte. Henry arbeitete am liebsten mit ihm und schnell hatte sich eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.

„Ich habe mich mit Liz gestritten.“ Henry atmete hörbar aus.

„Oh shit.“

Henry sah seinen Freund an. Besser hätte er es nicht aussprechen können. „Seitdem redet sie kaum noch mit mir. Das geht schon eine Woche so.“

„Ist der Streit denn so groß, dass du sie nicht mit ein paar Rosen und Zärtlichkeiten aufmuntern kannst? Oder du fesselst sie an euer Bett und sagst ihr, du würdest sie erst befreien, wenn sie dir verziehen hat.“

Henry seufzte. Michael wusste von seiner Dominanz und der Liebe zum BDSM sowie von Liz und Adrian, auf dessen Anwesen sie sich aufhielt, doch in mehr hatte er ihn nicht einweihen wollen. Zu viele Menschen waren bereits im Zusammenhang mit der Loge verletzt worden. Er musste nur an Evelines und Madeleines Gefangenschaft denken und sofort brandete heiße Wut in seinem Magen auf. Nein, mehr konnte er Michael nicht sagen. Zumal die Organisation nicht der einzige Grund für seinen Streit mit Liz gewesen war.

„Liz möchte zu ihrer Familie zurück, aber diese hat sich die letzten vier Jahre nicht darum geschert, wie es ihr geht. Sie haben sie einfach ignoriert.“ Henry ballte die Hände auf der Lehne zusammen.

„Aber ist es nicht gut, dass sie sich mit ihrer Familie versöhnen will? Wer weiß, ob sie es sonst nicht eines Tages bereuen wird.“

Henry stieß ein kehliges Lachen aus. „Wäre ihre Familie normal, würde ich sie nicht aufhalten wollen. Aber Liz wird sich dadurch in Gefahr bringen, und das kann ich nicht zulassen.“

Michael rieb sich mit der Hand über sein bärtiges Kinn. „Mhmm … okay ich weiß, da steckt mehr dahinter, als du sagen willst oder kannst. Aber lass mich dir einen Rat geben: Manchmal muss man der Angst ins Auge blicken, um sich von ihr zu befreien, und dann ist es hilfreich, einen Freund an der Seite zu haben, der auf einen aufpasst.“

Henry schwieg und dachte über die Worte nach. Michael erhob sich. „Ich werde dich noch ein paar Minuten alleine lassen und die hübschen Mädels von dir ablenken. Du bist schließlich nicht der einzige Mann mit Sex-Appeal in diesem Studio.“

Henry sah ihn dankbar an. Michael war schon immer sehr feinfühlig gewesen, was auch ein Grund für ihre gute Zusammenarbeit war. Michael hatte ein besonderes Händchen dafür, seine Models in das rechte Licht zu rücken und damit die besten Aufnahmen von ihnen zu machen.

Henrys Kopfschmerzen hörten endlich auf und erleichtert nahm er noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann stand er auf und ging zu Michael und seinen zwei Mitarbeiterinnen. Sein Freund unterhielt die Frauen und ihr Lachen flutete den Raum. Henry gab ihm ein Handzeichen und nahm seinen Platz vor den Scheinwerfern wieder ein. „Lass uns weitermachen.“

Michael nickte ihm zu und holte seine Kamera. Während die Make-up-Artistin Henry nachschminkte, gingen ihm die Worte seines Freundes nicht mehr aus dem Kopf. War er übervorsorglich, wenn er Liz vor allem beschützen wollte, was sie verletzen könnte? Er wusste aus ihren Erzählungen, dass ihre Familie ihre Achillesferse war. Insgeheim sehnte sie sich danach, dass ihre Eltern wieder zusammenkamen, auch wenn die Realität anders aussah. Und ausgerechnet bei ihrem Vater schien sich die Lösung zu befinden, um die Loge zu zerschlagen.

Henry atmete aus und ließ sich ganz in die Rolle des arroganten Möchtegernhelden fallen. Michael gab ihm die nötigen Anweisungen, und er bemerkte zufrieden, wie gut sie wieder miteinander harmonierten. Liz würde ihn ausschimpfen, wenn sie wüsste, dass er wegen ihr zu abgelenkt von seiner Arbeit war. Er grinste frech und stellte sich breitbeinig, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, vor die Kamera. Er nahm sich fest vor, so bald wie möglich mit Liz zu sprechen. Egal wie schlimm der Streit zwischen ihnen auch gewesen war, er konnte sich keine andere Frau an seiner Seite vorstellen.

Henry ließ die Hände an seinem Körper hinunterfahren und schaute in die Kamera. Er strich über die Lederhose, die sich eng an seine Beine schmiegte. Als Oberteil trug er ein schwarzes Hemd mit eingestickten Silberfäden. Die mitternachtsblaue Jacke war ebenfalls mit silbernen Fäden bestickt. Er machte gern Werbeshootings für diese Marke. Er stellte sich vor, durch Liz’ mohnrotes Haar zu streicheln, und dabei würden ihn ihre grünen Augen aufreizend anfunkeln. Selbst in seiner Fantasie ahnte er, welche frechen Sprüche über ihre Lippen kommen würden, wenn sie versuchen würde, ihn zu reizen. Mit einem Lächeln verschränkte er die Arme vor der Brust und stierte in die Linse. Mit diesem Blick würde er Liz in die Knie zwingen und sie so lange lecken, bis sie ihn schreiend um Vergebung bat.

Nach einer kurzen Mittagspause arbeiteten sie noch vier Stunden weiter, bis Michael das Ende ihres Shootings verkündete. Etwas außer Atem ging Henry zu dem Monitor. Eine der Frauen reichte ihm ein Handtuch, das er dankbar annahm und mit dem er sich über das schweißnasse Gesicht und den Nacken rieb.

Michael klopfte ihm auf die Schulter. „Diese Fotos sind es, die dein Talent zeigen.“

Henry grinste, denn wenn Michael wüsste, an wen er während des Shootings ununterbrochen denken musste, würde er Liz unbedingt kennenlernen wollen. Doch er und Liz waren sich einig geworden, sich so wenig wie möglich zusammen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sollte herauskommen, dass Henry mit Liz zusammen und ihr Vater ein einflussreicher Politiker war, würde das zu viel Aufsehen erregen, und das würde die Loge sicherlich ausnutzen, um Henry und seiner Karriere zu schaden. Henry wollte gerade etwas sagen, da klingelte das Handy in seiner Sporttasche. Er ging zu der Sitzecke, legte das Tuch über den Stuhl und holte das Handy heraus. Auf dem Display sah er die Nummer seines Freundes Adrian. Er nahm ab und hielt sich das Handy ans Ohr.

„Hallo, Adrian, ich bin gerade fertig mit dem Shooting. Ich werde gleich losfahren und noch pünktlich zu Liz’ grandiosem Abendessen vorbeikommen.“

Adrians Tonfall ließ Henry aufhorchen, und was er als Nächstes sagte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sein Handy, das er in der Hand hielt, knirschte. Einen Moment lang schloss er die Augen. „Ich komme sofort zu euch!“ Damit legte er auf und ließ den Arm sinken.

„Alles okay? Du bist kreidebleich.“

Henry öffnete die Augen. Michael stand vor ihm und sah ihn mit einem besorgten Gesichtsausdruck an. „Ich muss sofort los. Es ist etwas Familiäres.“

Bevor Michael irgendwas sagen konnte schnappte er mit der freien Hand seine Tasche und rannte durch das Studio zum Ausgang. Draußen angekommen, lief er die Treppe zur Tiefgarage hinunter. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren. Das durfte alles nicht wahr sein! Außer Atem betrat er die Garage und ging auf direktem Weg zu seinem blauen Sportwagen. Er schloss auf, warf die Tasche achtlos auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Als er den Motor startete, war sein einziger Gedanke: Warum zum Teufel hatte er Liz keine Leine angelegt, damit sie nicht auf den Gedanken kam, auf eigene Faust zu handeln und zu ihrem Vater zurückzukehren? Seine Fingerknöchel wurden weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad.

Adrian hatte ihm mitgeteilt, dass Liz sich vom Anwesen geschlichen und zu ihrem Vater zurückgekehrt war. Henry ahnte, warum sie so gehandelt hatte, obwohl sie wusste, welcher Gefahr sie sich damit aussetzte. Die Angst um Liz legte sich wie ein Schraubstock um sein Herz. Nachdem ihre Gemeinschaft erfahren hatte, dass Liz’ Vater der Loge angehörte, traute er diesem alles zu.

Mit quietschenden Reifen fuhr er aus der Tiefgarage. Er würde Liz ein weiteres Mal aus den Fängen der Loge befreien und die verbrecherische Vereinigung ein für alle Mal auslöschen.

Kapitel 2

Ein leises, aber beharrliches Klopfen riss Liz aus ihrem Schlaf und sie öffnete blinzelnd die Augen. Die Zimmerdecke kam ihr bekannt vor, dennoch musste sie kurz überlegen, wo sie sich befand. Mit ihrem I-Aah im Arm setzte sie sich auf und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es klopfte erneut und Liz räusperte sich.

„Ja? Wer ist da?“

„Elisabeth, ich bin die Haushälterin Frau Reimers und soll Ihnen von Ihrem Vater ausrichten, dass es in einer Stunde Abendessen gibt, an dem Sie teilnehmen müssen.“

Liz presste ihr Kuscheltier fest an sich. „Danke, ich werde kommen.“

„Vielen Dank“, sagte die Hausangestellte, dann herrschte Stille. Das Licht, das durch das Fenster fiel, hatte bereits an Helligkeit verloren. Wie lange hatte sie geschlafen? Liz legte ihren I-Aah zur Seite, stand auf, gähnte und ging zum Lichtschalter. Sie betätigte ihn und sofort glomm das Licht der zwei Kristalllampen an den Wänden auf. Dann trat sie zu ihrem Koffer und hob ihn mit einem Ächzen auf ihr Bett. Sie öffnete den Reißverschluss ihres neuen Koffers und klappte den blauen Deckel auf.

Ihre Gedanken wanderten ein paar Tage zurück zu Adrians Anwesen.

 So ganz war ihr immer noch nicht klar, wie Evelin und Madeleine es geschafft hatten, den nicht gerade unauffälligen Koffer in Adrians Anwesen zu schmuggeln, ohne dass die Männer es mitbekamen. Nachdem die Master einstimmig gegen ihre Idee gewesen waren, bei ihrem Vater zu spionieren, war ihr klar geworden, dass sie ihr Vorhaben ohne deren Hilfe umsetzen musste. Liz hatte sich schon gedacht, dass Adrian, Falco, Patrick und Henry nicht vorhatten, sie in Gefahr zu bringen. Doch seitdem die Nachricht bei ihnen eingetroffen war, dass Liz’ Vater die Passwörter der Loge verwaltete, konnte sie an nichts anderes mehr denken. Die Bestätigung, dass er wirklich der schrecklichen Organisation angehörte, hatte sie tief getroffen.

Dann kam der Streit mit Henry. Sie hatte noch einmal versucht, ihn dazu zu überreden, sie zu ihrem Vater zurückgehen zu lassen, um an das benötigte Passwort zu gelangen, schließlich würde sie ohne Probleme zu ihm zurückkehren können. Doch er hatte sich geweigert und ihr nicht einmal mehr zugehört. Sie wusste, er kämpfte schon lange mit der Furcht, sie zu verlieren, und so erlebte Liz zum ersten Mal, dass Henry ihr aus dem Weg ging.

Dieser Umstand tat ihr mehr weh als die Nichtbeachtung durch ihre eigene Familie. Henry war quasi ein Teil von ihr geworden, war nach der Befreiung aus der Loge ihr Rettungsanker gewesen und hatte sie aus ihrem Schneckenhaus, in das sie sich schon seit dem Weggang ihrer Mutter zurückgezogen hatte, herausgeholt. Er wollte ihr helfen, wollte sie vor der Loge beschützen, aber ihm waren die Hände gebunden, und das machte ihn reizbar und wütend.

Seit ihrem Streit hatte Liz kaum mehr ein Wort mit ihm gesprochen. Die Enttäuschung darüber, dass er ihren Vorschlag, zu ihrem Vater zurückzukehren, um das Passwort zu stehlen, als zu gefährlich abgetan und es ihr verboten hatte, tobte zu sehr in ihr. Sah er nicht die Chance, die sich dadurch allen bot? Madeleine hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt und die Dateien der Loge entwenden können, in denen alle Namen der Logenmitglieder abgespeichert waren. Liz musste nur nach Hause zu ihrem Vater gehen, in einem unbeobachteten Moment das Passwort für die Dateien besorgen und dann wieder zum Anwesen zurückkehren. Natürlich würde sie erst den richtigen Zeitpunkt abwarten und ihrem Vater hinterherschnüffeln müssen, aber in Gefahr würde sie nicht sein. Auch wenn ihr Vater der Loge angehörte und alle ihre Freunde ihn daher zu einem Monster abgestempelt hatten, bewahrte sie sich in ihrem Innern die Hoffnung, dass ihr Vater von früher noch irgendwo in ihm sein musste.

Liz beschloss, zu ihrem Vater zurückzugehen und das Beschaffen des Passwortes zu ihrer eigenen Mission zu machen. Doch dafür brauchte sie die Hilfe der Marten-Schwestern. Es hatte Liz viel Überzeugungsarbeit gekostet, Evelin und Madeleine von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Sie mussten Liz’ Entschlossenheit gespürt haben, denn irgendwann gaben sie nach und willigten ein, ihr zu helfen. Heimlich, damit die Master nicht misstrauisch wurden, erstellten sie einen Plan, wie sie Liz unbemerkt aus dem Anwesen herausschmuggeln konnten. Evelin war diesbezüglich eine gute Quelle, denn sie war selbst schon einmal von Adrians Anwesen geflohen, weil sie von einem Logenmitglied erpresst worden war. Dieses hatte Evelin gedroht, ihre Schwester zu töten, sollte sie seinen Anweisungen nicht Folge leisten.

Und so stand sie nun in ihrem alten Jugendzimmer und hoffte, die Master würden die beiden nicht zu sehr bestrafen. Schließlich war es Liz’ Plan gewesen, sie war die Strippenzieherin.

Seufzend packte sie ihren Koffer aus, legte alles auf das Bett und stellte ihn neben ihren Kleiderschrank. Sie öffnete die massive Holztür und sah, dass alle ihre Sachen ordentlich eingetütet waren. Sie gab sich einen Ruck und ging die Kleider auf der Kleiderstange durch. Dann zog sie das dunkelgrüne Etuikleid hervor, das ihr Vater ihr kurz vor ihrer Entführung geschenkt hatte. Sie holte es aus der Schutzfolie und kam sich wie eine Totgeglaubte vor, die nun doch zurückgekehrt war und ihren alten Kleiderschrank plünderte. Sie ging zu dem hohen Wandspiegel und hielt das Kleid vor ihren Körper. Sie war sich sicher, dass es eines der wenigen Kleidungsstücke war, in das sie noch reinpassen würde. Der Gürtel an der Hüfte ließ sich verstellen, was es ihr ermöglichte, doch in die alte Größe S hineinzupassen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Auf Adrians Anwesen hatte sie ein paar Kilo zugelegt, und alle Master hatten sie darin bestärkt, dass sie mit diesen viel besser aussah. Sie war ein Klappergestell gewesen. Nun besaß sie das passende Gewicht für ihre Größe, und Henry liebte ihre sinnlichen Kurven. Der Gedanke an ihn stach in ihrer Brust und schnell legte sie das Kleid auf ihr Bett, um auf andere Gedanken zu kommen.

Sie besah sich ihre Auswahl für das Abendessen. Das Etuikleid mit den kurzen Ärmeln, das ihrem Vater sicherlich gefallen würde, oder eine hellblaue Jeans und ein knallgelbes Shirt mit orangefarbenem Schriftzug, die sie vom Anwesen mitgebracht hatte. Liz hatte in den letzten Jahren herausgefunden, dass sie es liebte, sich bunt und hell zu kleiden. Die Anziehsachen, die die meisten Menschen als übertrieben zusammengewürfelt ansahen, waren für Liz genau richtig. Die freie Entscheidung zu haben, anzuziehen was ihr gefiel, hatte ihr Selbstbewusstsein gestärkt, und so stand sie nun vor ihrem Bett und betrachtete die absolut gegensätzlichen Outfits. Mit dem Kleid würde sie sich perfekt an die Umgebung anpassen, und das wollte sie ja: ihrem Vater gefallen, sein Vertrauen gewinnen, um an das Passwort zu gelangen, und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden. Mit den farbenfrohen Sachen würde sie ihn reizen und dazu verleiten, mehr auf sie zu achten, als ihr lieb wäre. Liz kämpfte mit ihrer Entscheidung, als es klopfte. Sie ging zur Tür und atmete einmal tief durch, bevor sie den Schlüssel umdrehte und sie öffnete.

Ihre Stiefmutter schneite mit einem breiten Lächeln unaufgefordert herein. „Elisabeth, ich wollte mich nur versichern, dass du alles hast, was du benötigst.“ Dabei blieb sie in der Mitte des Raumes stehen und sah sich mit gerümpfter Nase um. „Leider hat dein Vater darauf bestanden, dein Zimmer nach deinem Auszug so altmodisch zu lassen, sonst hätte ich dir ein wirklich hübsches Zimmer mit etwas mehr modernem Flair herrichten können.“

Liz spürte, wie die Wut in ihrem Magen hochkochte. „Danke für deine Mühe, aber ich bin ganz froh, dass mein Vater dagegen war, sowohl sein Arbeitszimmer als auch mein Zimmer zu verunstalten.“

Viktorias Augen richteten sich auf sie. „Pass auf, was du sagst.“ Bei ihrem Lächeln wurde Liz übel. „Ich bin jetzt die Frau in diesem Haus, und wenn du hierbleiben möchtest, solltest du dich nicht mit mir anlegen. Ich habe kein Problem damit, deinen Vater davon zu überzeugen, dich wieder auf die Privatuni im Ausland zurückzuschicken. Du hast keinen Job und keine Wohnung. Ohne das Geld deines Vaters bist du ein Nichts und würdest auf der Straße sitzen. Also pass auf, dass du es dir nicht mit mir verscherzt.“ Mit hoch erhobenem Kopf drehte sie sich um, ging aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Liz zischte ihr „Widerliche Hexe“ hinterher, dann musste sie lächeln. Von ihr aus konnte Viktoria ihrem Vater ruhig damit in den Ohren liegen, dass er sie auf die Privatuniversität zurückschicken sollte, denn sie glaubte nicht, dass er sie so schnell wieder gehen ließe.

Entschlossen griff sie nach dem Kleid. Viktoria hatte ihr die Entscheidung, für welches Kleidungsstück sie sich entscheiden sollte, abgenommen. Sie würde versuchen, ein wenig Zwietracht zwischen ihr und ihrem Vater zu sähen.

Dass weder ihre Stiefmutter noch ihr Vater ihr am meisten Schwierigkeiten bereiten würden, an das Passwort zu gelangen, ahnte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Henry überfuhr vier Stoppschilder und eine rote Ampel und war heilfroh, dass die Polizei ihm nicht mit Sirenengeheul hinterherjagte. Sein Magen verwandelte sich aus Sorge um Liz in einen Eisklumpen. Wütend schlug Henry mit der Faust auf das Lenkrad und bog mit quietschenden Reifen in den gepflasterten Weg zu Adrians Anwesen ein. Ungeduldig klopfte er auf die Armaturenfläche und wartete, bis sich das schmiedeeiserne Tor öffnete. Beim Vorbeifahren nickte er Mike und David, zwei Freunden von ihm, zu und fuhr auf den kreisrunden Kiesplatz vor der Villa. Schnell stellte er den Motor ab, sprang aus dem Wagen und war mit wenigen Schritten an der Haustür angekommen, an der Adrian bereits stand und auf ihn wartete. Wie immer war sein Jugendfreund adrett gekleidet, doch das Lächeln bei ihrer Begrüßung fehlte. Er hatte sich am Handy nicht weiter zu Liz’ Verschwinden geäußert, aber Henry sah nun die Sorgenfalten um seine Augen herum, und der grimmige Ausdruck in seinem Gesicht verursachte ihm Übelkeit.

„Komm rein, ich habe alle zusammengerufen.“ Adrian drehte sich um und eilte in das Wohnzimmer, das in früheren Zeiten als Ballsaal gedient haben musste. Antike Möbel wurden mit moderner Dekoration aufgehübscht und überall standen Vasen mit bunten Blumensträußen und verteilten einen dezenten Duft im ganzen Haus.