Wo die Freiheit wächst - Frank M. Reifenberg - E-Book

Wo die Freiheit wächst E-Book

Frank M. Reifenberg

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Beschreibung

Liebe, Freiheit und Widerstand in den Zeiten der NS-Diktatur!

Emotionsgeladenes und spannendes Jugendbuch von Erfolgsautor Frank Maria Reifenberg über Freundschaft, Liebe und den Kampf um Freiheit im Köln des Zweiten Weltkrieges. Der Autor, der für dieses Projekt durch das Autorenstipendium des Landes NRW und das Stipendium der Kunststiftung NRW gefördert wurde, erzählt eine berührende Geschichte von Mut, Widerstand und Erwachsenwerden in Zeiten des Nationalsozialismus.

Mut zur Freiheit statt Angst und Gleichschaltung

Köln, 1942. Lene Meister ist 16 Jahre alt und Auszubildende in einem Frisörsalon, doch der Zweite Weltkrieg raubt ihr viel von dem, was sich ein Mädchen in ihrem Alter erträumt. Ihre Heimatstadt wird seit einem Jahr regelmäßig von Bombenangriffen erschüttert. Lene lässt sich aber nicht unterkriegen und versucht tapfer, die Familie zusammenzuhalten. Mit jeder neuen Todesnachricht von der Front und mit dem allmählichen Verschwinden ihrer jüdischen Freunde und Bekanntschaften beginnt sie an den Worten des Führers und insgesamt am NS-Regime zu zweifeln.

In dieser Zeit zwischen Furcht, Verzweiflung und Hoffnung lernt sie Erich kennen und verliebt sich. Bald entdeckt Lene, dass Erich ein gefährliches Spiel spielt. Er gehört zu den Jugendlichen, die nicht in Reih und Glied marschieren wollen: zu den Edelweißpiraten. Diese Jugendgruppen interessieren sich nicht für die Tätigkeiten der Hitlerjugend oder des BDM. Sie tragen keine Uniformen und singen ihre eigenen Lieder. Sie beschmieren die Wände mit Anti-Nazi-Parolen und teilen regimekritische Flugblätter aus. Und das alles ist der Gestapo ein großer Dorn im Auge.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Gefördert durch ein

Autorenstipendium des Landes NRW

sowie ein Stipendium der

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2019 arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Frank Maria Reifenberg

Der Autor wurde vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, Berlin

Lektorat: Kerstin Kipker

© Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung einer Illustration von Felicitas Horstschäfer

ISBN eBook 978-3-8458-3528-0

ISBN Printausgabe 978-3-8458-2274-7

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich ver-

folgt werden.

Für meinen Onkel, Otto Reifenberg,

verstorben am 16. Mai 1943 in einem Feldlazarett im Osten.

Im Alter von 19 Jahren.

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Widmung

TEIL I

Lene – Köln, 13. März 1942

Rosi – Detmold, 22. März 1942

Kalli – Gleiwitz, 25. März 1942

Lene – Köln, 28. März 1942

Franz – im Osten, 28. März 1942

Lene – Köln, 3. April 1942

Lene – Köln, 15. April 1942

Lene – Köln, 15. April 1942

Lene – Köln, 19. April 1942

Rosi – Detmold, 24. April 1942

Lene – Köln, 1. Mai 1942

Franz – im Osten, 2. Mai 1942

Lene – Köln, 7. Mai 1942

Lene – Köln, 7. Mai 1942

Erich – Simmern, 8. Mai 1942

Rosi – Strehlen, 11. Mai 1942

Franz – im Osten, 12. Mai 1942

Erich – Konstanz am Bodensee, 12. Mai 1942 (Postkarte)

Kalli – Vossenack in der Eifel, 12. Mai 1942

Lene – Köln, 14. Mai 1942

Lene – Köln, 18. Mai 1942

Erich – Konstanz, 22. Mai 1942

Lene – Köln, 27. Mai 1942

Lene – Köln, 30. Mai 1942

TEIL II

Franz – im Osten, 3. Juni 1942 (Telegramm)

Lene – Köln, 4. Juni 1942

Lene – Köln, 6. Juni 1942

Franz – im Osten, 9. Juni 1942

Rosi – Strehlen, 12. Juni 1942

Lene – Köln, 18. Juni 1942

Kalli – Köln, 20. Juni 1942

Lene – Bad Hönningen, 22. Juni 1942

Erich – Köln, 22. Juni 1942

Lene – Köln, 27. Juni 1942

Franz – im Osten, 29. Juni 1942

Lene – Köln, 4. Juli 1942

Lene – Köln, 5. Juli 1942

Lene – Bad Hönningen, 7. Juli 1942

Franz – im Osten, 9. Juli 1942

Rosi – Strehlen, 12. Juli 1942

Lene – Köln, 22. Juli 1942

TEIL III

Lene – Köln, 1. August 1942

Lene – Köln, 1. August 1942

Erich – Tübingen, 3. August 1942 (Postkarte)

Franz – im Osten, 6. August 1942 (Luftfeldpost)

Lene – Köln, 8. August 1942

Kalli – Berlin, 10. August 1942

Erich – Tübingen, 12. August 1942

Rosi – Strehlen, 15. August 1942

Lene – Köln, 18. August 1942

Lene – Mittelhof, 22. August 1942

Lene – Mittelhof, 23. August 1942

Lene – Wissen a.d. Sieg, 23. August 1942 (Postkarte)

Erich – Tübingen, 29. August 1942

Lene – Mittelhof, 30. August 1942

Franz – im Osten, 4. September 1942

Rosi – Strehlen, 5. September 1942

Kalli – Köln, 8. September 1942 (Telegramm)

Lene – Köln, 10. September 1942

Lene – Mittelhof, 8. September 1942 (Luftpostkarte)

Lene – Köln, 11. September 1942

Lene – Köln, 15. September 1942

Lene – Köln, 17. September 1942 (Postkarte)

Franz – im Osten, 19. September 1942

Lene – Köln, 24. September 1942 (Luftpostkarte)

Erich – Tübingen, 24. September 1942

Lene – Köln, 29. September 1942

Erich – Tübingen, 30. September 1942

TEIL IV

Rosi – Strehlen, 4. Oktober 1942

Rosi – Strehlen, 6. Oktober 1942

Lene – Köln, 12. Oktober 1942

Rosi – Strehlen, 18. Oktober 1942 (Postkarte)

Lene – Köln, 19. Oktober 1942

Lene – Köln, 20. Oktober 1942

Lene – Köln, 24. Oktober 1942

Lene – Köln, 3. November 1942

Rosi – Strehlen, 9. November 1942

Franz – im Osten, 11. November 1942

Lene – Köln, 13. November 1942

Lene – Köln, 22. November 1942

Lene – Köln, 23. November 1942 (Postkarte)

Erich – Tübingen, 30. November 1942

Erich an Lene – Tübingen, 6. Dezember 1942 (Telegramm, aufgegeben von Peter »Piff« Rodewald)

Lene – Köln, 8. Dezember 1942

Erich – Tübingen, 15. Dezember 1942

Rosi – Strehlen, 18.Dezember 1942 (Postkarte)

Lene – Köln, 24. Dezember 1942

Lene – Köln, 31. Dezember 1942

EPILOG

Rosi – Köln, 14. Februar 1943

Nachwort und Danksagung des Autors

Unangepasste Jugendliche im Dritten Reich

Zeittafel

Literaturverzeichnis/Quellen (Auswahl)

Über den Autor

Weitere Titel

Leseprobe zu "Roman Quest"

TEIL I

März – Mai 1942

§1

Fernhaltung von öffentlichen Straßen und Plätzen während der Dunkelheit: Jugendliche unter 18 Jahren dürfen sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen oder an sonstigen öffentlichen Orten während der Dunkelheit nicht herumtreiben.

(Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend vom 9. März 1940)

Lene – Köln, 13. März 1942

Mein liebstes Röschen,

schimpf nicht mit mir, bitte, aber ich muss dich heute so nennen, denn dein Paket ist angekommen. Ich weiß, dass du diesen Namen nicht magst, aber du bist nun einmal mein Röschen und nicht die stocksteife Rosemarie, die sie dort auf dem Gutshof vielleicht aus dir machen wollen. Am Ende gar noch Fräulein Rosemarie, was? Aber nein, so vornehm geht es im Kuhstall wohl nicht zu?

Ich würde dich zu gerne einmal sehen, wie du mit den Milchkannen daherstapfst, die Schürze umgebunden, und dann die dicken Zöpfe, die unter einem karierten Kopftuch hervorschauen. Du hattest immer die schönsten Haare von uns allen, so deutsch und blond wie du war keine von uns. Weißt du noch, wie viele Stunden wir auf den Rheinwiesen saßen, um sie dir so hübsch zu flechten und immer neue Kringel und Kronen daraus um deinen Kopf zu winden? Mit Kränzen aus Gänseblümchen? Jetzt sind wir schon froh, wenn wir uns die Haare waschen können, ohne dass der Engländer uns das Wasser abdreht. Ich hasse diese Tommys mit ihren Flugzeugen und Bomben, alles wollen sie uns nehmen, es ist der reinste Terror. Was haben wir im schönen heiligen Köln ihnen denn getan? Kann mir das einer erklären? Der Führer wird es ihnen heimzahlen, daran müssen wir fest glauben. Und wenn sie uns den Dom wegschießen, dann gnade ihnen Gott. (Vorausgesetzt, sie haben einen.)

Vielleicht ist es besser so, dass deine Mutter dich und das kleine Walterchen aufs Land in Sicherheit gebracht hat. Für mich wäre es nichts, das weiß ich doch sehr genau, auch wenn es hier noch so sehr rumst und scheppert.

Vorigen Mittwoch, als ich noch bei der Arbeit im Salon war, heulten die Sirenen, viel früher als sonst, aber dann stellte es sich als Fehlalarm heraus. Es ist schon schlimm genug, wenn man nachts losrennen muss, da braucht es doch nicht auch noch einen falschen Alarm am Tag, oder? Nun ja, besser einmal zu viel als einmal zu wenig, aber demnächst legen sie schon los, wenn nur eine Schar Wildgänse am Himmel auftaucht.

Jedenfalls war es gerade als Madame Céline der Frau Lorenzen die Farbe auf die Haare geschmiert hatte. Wir mussten alle in den Luftschutzkeller. Da war nichts mehr mit Auswaschen, das sag ich dir, und die große Operndiva hat geschrien, erst weil es so auf ihrer Haut brannte und dann weil ihr nach einer Stunde die ersten Haarbüschel vom Kopf fielen.

Die alte Frau Winter aus dem dritten Stock hat die Lorenzen angeschnauzt: »Dann döste dir enne vun den Peröcke us eure Singbude upp de Kopp. Aber jetz hällste mo de Schnüss!«

Stell dir das vor! Die alte Hexe bestreitet ihren Lebensunterhalt mit Pulloverstopfen und sagt zum Star der Oper, dass sie den Mund halten soll. Ich konnte mich vor Lachen nicht halten und hab von Madame Céline eine strenge Ermahnung bekommen: Noch solch ein Vorfall und ich könne mir woanders eine Lehrstelle suchen. Liebend gerne, hätte ich ihr fast geantwortet, aber ich habe es mir im letzten Moment verkniffen. Wer weiß, was Mutti sich einfallen lässt, wenn ich aus dem Salon fliege.

Nun ja, es geschah der Lorenzen nur recht, dass ihr mal jemand übers Maul fährt. Neulich kam sie doch glatt mit einer Flasche vom ganz vornehmen französischen Champagner in den Keller, kannst du das glauben? Natürlich hat sie die Flasche nur an sich gepresst und überhaupt nicht daran gedacht, mal eine Runde auszugeben.

Ich kann dir was verraten: Die Lorenzen ist gar nicht von Natur aus so strohblond. Blond à la Madame Céline ist sie. Das ist natürlich ein Staatsgeheimnis, schließlich sieht man sie alle naselang am Arm vom Gauleiter Grohé in die Kameras lächeln. Von wegen, ein Abbild des germanischen, urdeutschen Stars, wie es neulich unter einer Fotografie in der Kölnischen Illustrierten stand. Ihre Augen sind lange nicht so schön blau wie die deinigen, das muss man doch einfach mal feststellen. Wie auch immer, im Keller sind wir alle gleich. Gleich müde, gleich staubig, gleich voller Angst.

Aber davon heute nicht so viel, nichts vom Keller und nichts von dem Bomben, obwohl es mir immer hilft, es einfach einmal aufzuschreiben, dann ist es nämlich weg, für ein paar Augenblicke, dann flattern all diese schweren Gedanken weg, weg, hinaus aus dem Kopf, mit der Post ins – ja, wohin? Zu dir, und ich bin so froh, dass du nicht längst schon geschrieben hast, ich soll davon schweigen. Hier kann ich doch mit niemand darüber sprechen. Wir erleben und erleiden es schließlich doch alle gemeinsam.

Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, der Krieg fängt jetzt erst so richtig an. Drei oder vier Nächte die Woche geht es momentan ab in den Keller, manchmal sogar mehrmals in einer Nacht. Wir legen uns jetzt allabendlich vollständig angezogen ins Bett. Wenn du nicht im Nachthemd da unten zwischen Opa Kallfels und dem Ludwig vom Kohlenhändler hocken willst, muss das so sein. Unsere beiden Kleinen packen wir in Decken, die schlafen dann einfach weiter, eine in meinen, eine in Muttis Armen, die kleine Toni hält das mit ihren drei Jahren schon für völlig normal. Ich tu, was ich kann, um es den Mäusen leichter zu machen.

Aber nun noch einmal von vorne: Mein liebstes, liebstes Röschen, dein Paket und deine wunderschöne Geburtstagskarte sind verspätet, aber wohlbehalten angekommen, und ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich kann’s gar nicht fassen. Blutwurst, Speck, Zwiebeln und ein Glas Apfelmus!! Du bist wirklich verrückt. Oma Stina macht Himmel un Äd daraus und wir werden bei jedem Bissen an dich denken.

Auf deine Frage kann ich fröhlich antworten: Ja, das Einmachglas hat es überlebt, kein Löffel von dem leckeren Mus ist verloren gegangen. Du hattest es auch bestens eingewickelt.

Aber hör mal, das halbe Pfund Butter wäre wirklich nicht nötig gewesen, das ist einfach zu großzügig, und ich will hoffen, dass du nichts von den Sachen einfach abgezweigt hast. Hier bei uns lassen sich die Leute mit jedem Monat, den der Krieg dauert, neue Halunkenstreiche einfallen, um ordentlich was zwischen die Zähne zu bekommen. Den ganzen letzten Sommer über haben Opi und die anderen in den Schrebergärten in Ossendorf Wache geschoben, damit die Gurken und Möhren keine Beine kriegen. Manchmal wundere ich mich, wie frech die Leute zugreifen. Gerade wenn’s irgendwo ordentlich gescheppert hat, holen die den armen ausgebombten Leuten hinten noch die Unterhosen von der Leine, während die vorne löschen.

Mit deinem wunderbaren Fresspaket wird es nun mit einiger Verspätung mein Geburtstagsessen geben. Oma dankt dir, die ganze Familie dankt dir, das kannst du glauben. Wir hungern zwar nicht, aber es ist doch ein arg eintöniger Mampf, mit dem wir uns oft zufriedengeben müssen.

Leider können wir dem Franz im Augenblick nicht viel nach Russland schicken, obwohl der es wirklich brauchen könnte. Unser lieber Führer hat sich wohl ein bisschen verrechnet, was die Männer da draußen an der Front brauchen, um für Volk und Vaterland zu kämpfen. Sie werden satt, ja, aber die feinen Sachen fehlen, die einem die Seele trösten.

Über die Beziehungen von Onkel Hugo kommen wir zwar hier und da auch an ein paar Extrawürste heran (im wahrsten Sinne!), aber Mutti will das eigentlich nicht, bis sie Papis Totenschein in der Hand hält. Dass nicht einmal Onkel Hugo den endlich besorgen kann, wundert mich. Bei uns ist doch alles bis aufs kleinste i-Pünktchen so ordentlich, nichts geht in einer deutschen Behörde verloren. Kannst du dir das vorstellen: Ich muss Onkel Hugo zu ihm sagen, sogar zu Hause! Er wohnt nicht bei uns, ist (und isst!) aber fast jeden Tag hier. Als ob die Leute nicht wüssten, dass er alles andere als unser Onkel ist.

Doch ich will nicht ungerecht sein. Er gibt sich die größte Mühe, das muss ich zugeben. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, er ist der Einzige, der mich hier versteht. Jedenfalls hat er mit seinem Geburtstagsgeschenk den Vogel abgeschossen.

Du wunderst dich bestimmt schon die ganze Zeit, dass du nicht mehr meine Sauklaue entziffern musst, über die du dich schon oft beschwert hast. Also, in Zukunft werde ich dir immer so hübsch und ordentlich auf der Schreibmaschine schreiben. Du hast richtig gelesen: Onkel Hugo hat mir diese tipptopp funktionierende Erika Modell M geschenkt, mit Tabulator und Sperrschrift. So sieht das dann aus: S P E R R S C H R I F T – sehr G R O S S Z Ü G I G von ihm oder etwa nicht?

Er hat gesagt, sonst hätte sich die ganze Mühe mit den Kursen in Maschineschreiben und Stenografie, die ich letztes Jahr nebenher gemacht habe, doch gar nicht gelohnt. Fast hätte ich ihm eine patzige Antwort gegeben. Ich hätte wohl sehr gerne noch weitergemacht, aber eine andere als Fräulein Herz konnte ich mir nicht leisten und Fräulein Herz konnte ER sich nicht leisten. Seine künftige Stieftochter (davon können wir ausgehen!) sollte sich natürlich nicht von einem ach so gierigen jüdischen Tippfräulein ach so arge zwei Reichsmark für eine Stunde in Stenografie »abpressen« lassen. Raffgierig! Das ist doch ein Witz, oder? Die arme Frau kann fast gar nichts mehr arbeiten, weil ihr alle Berufe, in denen sie sich auskennt, verboten sind. Zum Unterricht kommt kaum noch einer zu ihr, als ob man sich die arischen Finger an ihrer jüdischen Schreibmaschine schmutzig machen würde. Dabei ist sie doch nur Halbjüdin.

Onkel Hugo hätte sicher nichts dagegen, wenn ich bei ihm im Büro als Tippse arbeiten würde oder als Telefonfräulein, aber Mutti würde das nicht zulassen, da muss ich gar nicht fragen, das ist klar. Frisöse sei etwas Handfestes, meint sie. Die Frauen ließen sich zu jeder Zeit die Haare machen, das sei ihre Natur.

Es ist gar nicht leicht, an eine solche Schreibmaschine heranzukommen, und leisten könnte ich sie mir schon gar nicht. Meine liebe kleine Erika – jetzt habe ich zwei beste Freundinnen, denn ihr beiden seid die Einzigen auf der Welt, vor denen ich nichts zu verbergen habe.

Ihr habt auch noch etwas gemeinsam, nämlich eine kleine Macke, jawohl. Bei der Schreibmaschine ist es das k. Es rutscht, wie du sicher schon gemerkt hast, immer ein wenig zu weit nach oben, obwohl Onkel Hugo einen Fachmann beauftragt hat, die Maschine wieder auf Vordermann zu bringen.

Ich sehe deinen Gesichtsausdruck vor mir, wenn du das liest, und wahrscheinlich denkst du: »Wer von uns hat hier die größte Macke, wohl du, Lene Meister!« Reg dich nicht auf, ich meine doch nur das halbe Ohrläppchen, das der Dackel von eurem Nachbarn dir abgebissen hat. Eine kleine Macke ist es an deiner sonst natürlich strahlenden Schönheit! Ich meine das ganz ernst. Was gäbe ich dafür, nur die Hälfte davon zu haben: statt meiner struppigen braunen Fussellocken deine blonden Seidenhaare. Deine verboten verführerischen Lippen, von denen mein Bruder in jedem zweiten seiner Briefe schwärmt. Jetzt verdrehe nicht die Augen!! Das tut er!! Der Franz IST in dich verliebt, und ich wünsche mir nichts mehr, als dass ihr ein Paar werdet. Wenn er das nächste Mal Fronturlaub hat, locke ich dich hierher und dann verlobt ihr euch ganz offiziell. Geheiratet wird auch so schnell wie möglich, denn Verheiratete bekommen schneller Heimaturlaub, so heißt es jedenfalls.

Ja, deine Lippen – hätte ich sie nur! Meine beiden strengen Striche unter der Nase will keiner bützen. Ach je, ich bleibe bestimmt bis ans Ende meiner Tage ungeküsst!

»Du dummes Mondgesicht!«, hat Madame Céline neulich gerufen, als ich die ganzen Scheren wieder einmal nicht auseinanderhalten konnte. Und sie hat recht. Runder als mein Gesicht ist nicht einmal der Vollmond, der über den Spitzen von unserem guten alten Dom vom Himmel blickt.

Mutti hat Onkel Hugo auf jeden Fall ziemlich wütend angeschaut und geschimpft, er solle mir keine Flausen in den Kopf setzen, was meine Schreiberei angehe. Ich würde nun Frisöse lernen, aus und Ende, wir bräuchten das Geld und das sei ein ordentlicher Beruf. Außerdem habe einer von der Sorte in der Familie gereicht, der habe nur Unheil über alle gebracht.

VON  D E R  S O R T E! Das hat sie gesagt. Es tut mir arg weh, wie sie über Vati spricht, aber ich habe den Mund gehalten. Du kannst dir vorstellen, dass mir das schwergefallen ist. Am Ende hätte sie mir vielleicht verboten, das Geschenk anzunehmen, da bin ich lieber still gewesen. Wenn man Mutti danach fragt, was sie mit der Sorte meint, wird sie immer ganz fuchsig. Ja, sie hätte es gerne gehabt, wenn Vati sein Fähnchen ein bisschen mehr in den Wind gehängt hätte – als ob ich das nicht wüsste. Ich erinnere mich noch zu genau, wie sie sich gestritten haben, weil er partout nicht in die Partei eintreten wollte.

So, ich muss nun aufhören. Ich bin vom Herumstehen im Salon jeden Abend hundemüde und außerdem will ich dem Franz noch schreiben. Bestimmt soll ich ihm herzallerliebste Grüße von dir ausrichten, nicht wahr?! Den Brief schicke ich auf jeden Fall gleich morgen ab, wer weiß, wie lange die verschlafene Reichspost braucht, um ihn zu dir nach Detmold zu bringen. Von Franzens Post von der Front geht auch viel verloren. Wenigstens bei der Feldpost könnten sie sich doch etwas mehr Mühe geben, aber vielleicht hat eine dumme Gans wie ich da ganz falsche Vorstellungen. Wenn das Postflugzeug abgeschossen wird, nützt die größte Mühe nichts.

Ach, Rosi, es geht schon wieder los. Als hätte ich es beschrien. Die Sirenen. Vorwarnung. In zwei Minuten rumpelt es an meiner Zimmertür, das kann ich dir garantieren. Mutti, mit der kleinen Toni auf dem Arm und dem Edithchen an der Hand. Siehst du! Bum, bum. Wir sind meistens die Ersten im Keller.

Das nun doch noch in aller Eile: Ich habe den großen Schmalen getroffen, der früher ums Eck in der Siebachstraße gewohnt hat, weißt du noch, dem wir den Schulranzen hinter den Hühnerställen versteckt haben und der dann später hinüber auf die andere Rheinseite gezogen ist? Na ja, schmal ist er nicht mehr, ein ordentliches Kreuz hat er sogar und Schultern, an die du dich so richtig anlehnen kannst. Ganz zufällig bin ich ihm über den Weg gelaufen. Und dann gab es eine Menge Ärger mit dem HJ-Streifendienst! Die Tage mehr davon.

Nun sende ich aber wirklich liebste Grüße.

Deine Lene

Rosi – Detmold, 22. März 1942

Liebe Lene,

ich freue mich über jeden Brief von dir, da kannst du ganz und gar sicher sein. Jede Zeile aus der Heimat macht mein Heimweh größer. Ich sehne mich nach unserem schönen Köln und nach denen, die mir daheim in Nippes lieb und teuer sind, und auch nach den guten alten Zeiten. Ich würde bei der ersten Gelegenheit den Koffer packen und zurückkommen. Wenn ich nicht so schnell und oft antworte, so bin ich doch keine treulose Tomate. Ich denke jeden Tag an dich, das musst du mir glauben.

Im Moment zittere ich jedoch um eine Nachricht von dir. Gerade am Tag, als du mir geschrieben hast, ist es doch in der Nacht über Nippes ordentlich losgegangen, das weiß ich von Frau Ebersberger. Über ihre Tochter Mia, die Pummelige, die mit mir im Kaufhof die Lehre begonnen hat, also über Mia habe ich eine schrecklich traurige Nachricht erhalten. Eine der Art, wie ich sie über dich niemals hören will, versprich mir das. Die Mia und ihr Schwesterchen, die kleine Gertrud, sind am 14. ums Leben gekommen. Die Bomben, die sie jetzt werfen, sind wegen der furchtbaren Druckwellen so schlimm, schreibt die Frau Ebersberger. Der Keller hat ihnen nichts genützt, gar nichts.

Lenchen, mir fällt es nicht so leicht wie dir, die Worte aufs Papier zu bringen. Vor allen Dingen fehlt mir die Zeit dazu. Wenn ich mal einen Augenblick freihabe, stehle ich mich am liebsten davon und suche mir ein Plätzchen, an dem ich für mich sein kann, wo niemand im nächsten Moment nach mir schreit. Meistens schlafe ich auf der Stelle ein, sobald ich mich unter einen Apfelbaum oder auf den Holzsteg unten am See setze. Abends schaffe ich es nicht einmal mehr, ein paar Seiten in den Illustrierten durchzublättern, die du mir aus dem Salon schickst. Außerdem mault die neue Küchenhilfe, mit der ich mir jetzt die Dachkammer teilen muss, wenn ich das Licht so lange brennen lasse.

Nun, man muss froh sein, dass Mama und das Walterchen und ich hier einen Platz gefunden haben, obwohl wir mein armes Brüderchen erst einmal zu einem Pächter geben mussten. Fast zehn Kilometer ist es bis zu dem kleinen schäbigen Bauernhof, da hat er einen Schlafplatz über dem Kuhstall. Ich sehe den kleinen Kerl höchstens einmal die Woche, meistens sonntags nach dem Kirchgang. Wenn es ans Abschiednehmen geht, weint der Knirps so furchtbar, dass dir das Herz zergeht. Aber ich reiße mich zusammen und lass selbst die Tränen erst laufen, wenn er hinten auf dem Pferdekarren um die Ecke verschwindet. Alles nur weil Mama ganz und gar die Nerven verloren hat und sagt, dass es für uns alle besser ist hier auf dem Land.

Ich habe mich bei Knöter, dem Verwalter, beschwert, ob es nicht doch noch fürs Walterchen ein kleines Eckchen gibt, habe ich gefragt. »Wenn’s der Mamsell auf dem Gut nech’ passen tut«, sagt er da in seinem ostpreußischen Dialekt (er stammt aus Königsberg), »kann se sech jemand anderen suchen, der ihr die Sonderwünsche erfillt. Oder zurück in de verkommene Stadt kann se abmarschieren.«

Mein Gott, nur weil wir den kleinen Walter bei uns behalten wollen. Das wird doch noch erlaubt sein, oder? Ich schufte mir hier den Rücken krumm, meine Hände sind schon rau wie ein Reibeisen und voller Schwielen. An die Theke mit der Feinwäsche lassen sie mich in Köln im Kaufhof nicht mehr, das ist mal sicher. Die Kundinnen würden sich ekeln und mit den Schrunden tät ich Laufmaschen in die zarten Seidenstrümpfe reißen.

Auf einem Gutshof gibt es Arbeit rund um die Uhr, zumindest für Leute wie mich, von Fräulein Rosemarie kann keine Rede sein, das gilt nur für die im feinen Salon.

Den alten Baron sehen wir hier nie. Nur Ansgar, sein Jüngster, ein Student, ist in den Semesterferien hier. Ansonsten überlassen sie alles dem Verwalter. Gegen ihre Güter in Ostpreußen ist unser Schlösschen hier mit den 300 Hektar Land nur ein Fliegendreck. Die Herrschaften machen gute Geschäfte mit dem Gauleiter und der Wehrmacht, weil die sie brauchen.

»Wir füttern ganz Westfalen durch«, sagt der Knöter. Außerdem bedienen sich die ganz Großen aus Berlin im Gestüt, das zu unserem Gut gehört. Letztens war die Aufregung groß, der Verwalter wäre fast geplatzt vor Stolz. Alle mussten wir antreten und eine große Rede hat der Knöter gehalten: »Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring höchstpersönlich kommt …«, und dann gab es eine Lobesrede auf die Heldentaten des Reichsmarschalls. Kurz darauf stand der dann samt seiner Gattin auf dem Schlosshof. Sie haben sich die Jährlinge angeschaut, da war was los, das kannst du dir gar nicht vorstellen.

Der junge Herr Ansgar hat allerdings ein ziemlich langes Gesicht gezogen. »Der letzte lahme Gaul wäre zu schade für den Dicken!«, hat er gemurmelt, als der Göring und seine Frau sich in ihr riesiges Automobil gewuchtet haben. Und dann ist er rot geworden, der junge Herr, meine ich. Ich habe so getan, als hätte ich es gar nicht gehört.

Mit seinem Mercedes Cabriolet ist der Reichsmarschall die Allee mit den alten Eichen entlanggebraust. Eine Kolonne von Fremdarbeitern musste in den Graben springen, sonst hätte er ihnen die abgemagerten Knochen zertrümmert. Eigentlich sollten die gar nicht dort sein, nur wir deutschen Maiden, alle aufgeputzt und im besten Kleid mit schneeweißen Schürzen. Mit sauberen Spitzentüchern, die wir nachher wieder bei der Hausdame abgeben mussten, haben wir gewinkt. Die Männer im schlammigen Graben haben dem Göring sehr böse Blicke nachgeworfen. Manchmal, wenn ich den armen Kerlen aus Polen und Russland in die Augen sehe, denke ich: Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren! So viel Hass! So viel Wut! Wenn sie die an uns auslassen! Der Knöter hat recht, die werden uns zum Frühstück verspeisen.

Aber nun genug davon. Bis der Russe über unsere Felder trampelt, ist es noch ein bisschen hin, da bin ich mir sicher.

Jetzt zu dir: Warum um alles in der Welt hattest du Ärger mit dem Streifendienst? Mit denen legt man sich besser nicht an oder dein »Onkel« Hugo muss dich am Ende aus der Sache raushauen. Ihr könnt froh sein, dass ihr den habt, dann passt wenigstens jemand auf euch auf. Deine Mutti sollte endlich reinen Tisch machen und den Hugo heiraten. Mit seinen Beziehungen in der Partei kann er doch bestimmt dafür sorgen, dass ihr den Totenschein für deinen Vater schnell bekommt. Warum hat er das eigentlich nicht schon längst in die Wege geleitet? Ein paar Lebensmittel für euch unter der Hand oder dir eine Schreibmaschine schenken, das hilft doch auf die Dauer nicht viel. Du hast doch selbst gesagt, dass wahrscheinlich keiner von der Mannschaft des U-Boots überlebt hat, meinst du, ausgerechnet dein Vater ist durch die halbe Nordsee geschwommen?

Nun ja, deine Mutti wird schon wissen, was sie da tut, bei so was darf man keinem reinreden, also halte ich lieber meinen Mund.

Ich schreibe jetzt lieber noch die allerliebsten Grüße und klebe den Umschlag zu, dann kann der junge Herr Baron meinen Brief gleich morgen in der Frühe mit zur Post nehmen. Leider reist er schon wieder ab. Gelegentlich, wenn keine Hausdame und kein Verwalter in der Nähe sind und überhaupt niemand, der mich scheuchen könnte, plaudert er ein bisschen mit mir. Ich komme mir zwar schrecklich dumm bei ihm vor, er redet so gescheit, das glaubst du kaum. Manchmal liest er mir auch einfach ein Gedicht vor, und wenn ich Pech habe, muss ich da lachen. Hier, das konnte ich mir merken:

Es ist schon so. Der Frühling kommt in Gang.

Die Bäume räkeln sich. Die Fenster staunen.

Die Luft ist weich, als wäre sie aus Daunen.

Und alles andere ist nicht von Belang.

Die Bäume räkeln sich! Da musste ich lachen. Eine dumme Gans bist du, habe ich gleich gedacht, wie dumm, wie dumm. Da sagt er so schöne Worte, weil, es ging ja um den Frühling und vielleicht auch darum, dass bald alle ein bisschen verliebt sind und all so etwas: Der Lenz ist da! Die Welt wird frisch gestrichen! Und dass es jedes Jahr die gleiche Sache ist, aber jeden Frühling doch wieder so, als wär’s der allererste Frühling im Leben. Und ich lache. Ich an seiner Stelle hätte mich einfach in den Stall geschickt, aber Ansgar (er hat nachher gesagt: »Sag Ansgar zu mir, einfach Ansgar, ohne Herr und von und Baron und so weiter.«), Ansgar hat leuchtende Augen bekommen und sich gefreut. So ein Lachen wie meins tät einem das Leben so bunt anmalen wie in dem Gedicht.

So, jetzt ist aber wirklich Schluss und aus!

Es drückt dich doll

deine Rosi

Kalli – Gleiwitz, 25. März 1942

Liebe Lene!

Mir geht es gut. Wie geht es dir? Da wunderst du dich doll, was? Du bekommst endlich einen Brief von deinem kleinen Bruder aus dem schönen Gleiwitz. Wir müssen jeden Mittwoch einen Brief schreiben. Man darf auch öfter. Die Mädel schreiben ganz oft und viel. Was die alles zu sagen haben!

Mittwochs hocken wir also alle hier und Lehrer Pütz und Lagerführer Nolden schauen, dass wir es auch hübsch ordentlich machen. Wir müssen wenigstens 1 Seite schreiben, aber nicht mehr als 10 Seiten. Ich weiß auch, warum. Lagerführer Nolden muss ja alles lesen, und wenn man einen Roman schreibt, wird der Herr Nolden nie fertig, und außerdem haben wir alle eine Sauklaue, sagt er. Voriges Jahr hat einer aus Stuttgart hundsgemeine Sachen geschrieben über das Lager hier und Herr Nolden hat es gelesen und gleich die Eltern informiert. Ich finde ja, dass die Kinderlandverschickung eine feine Sache ist, auch wenn hier viele vor Heimweh weinen. Das sind Memmen, das sag ich dir. Die Eltern von dem Kerl haben jedenfalls ein großes Geschrei gemacht und den Verräter abgeholt. Genau, ein Verräter, das ist er. Eine Memme und ein Verräter. Einer, der hier alles schlechtredet. So undankbar darfst du nicht sein, wo der Führer doch alles tut, damit es uns gut geht. Außerdem fallen uns hier keine Bomben auf den Kopf von diesen verfluchten Engländern. Aber was weiß einer aus Stuttgart schon über Bomben?

Er hat über alles gemeckert. Das Essen ist schlecht, er kann nicht schlafen, weil in seiner Stube zu viele Jungen sind. Und die Wanderungen! Und die Übungen! Wir robben durch das Unterholz. Und tarnen tun wir uns. Dafür habe ich sogar eine Auszeichnung bekommen. Mich findet der Feind ganz bestimmt nicht. Im Kompasslaufen war ich nicht so gut. Sogar der Wolfi war besser. Da habe ich mich sehr geärgert. Abends am Lagerfeuer singen wir. Kartoffeln schälen kann ich jetzt auch. Das muss man können. Eigentlich ist das Mädchensache, aber wenn du ins Feld ziehst, musst du dich auch selbst versorgen.

Wo kommen wir denn hin, wenn jeder schreibt, was er will, und meckert und anschwärzt. Am meisten hat es diesen verweichlichten Kerl aus dem Schwabenland gestört, dass er endlich lernen musste, wie ein deutscher Junge Ordnung in seiner Stube und in seinem Spind hält.

»Ohne Ordnung und Sauberkeit verkommt ein Volk«, sagt Herr Nolden fast jeden Tag. »Das deutsche Volk entstammt einer Rasse, der Ordnung, Pflichterfüllung und Disziplin ins Erbgut gelegt wurden.« Deshalb dürfen wir uns auch nicht mit den Untermenschen zusammentun. Das ist Rassenschande, weil, irgendwann ist das gute Erbgut völlig versaut.

Ich bin sehr froh, dass ich hier das Meinige beitragen kann. Der Führer zeigt es dem Russen und dem Engländer und allen. Und wir alle werden dem Engländer vom Himmel und vom Wasser aus zeigen, wo es langgeht. Da braucht er jeden Mann und jeden Jungen. Ich kann es kaum erwarten, bis er auch mich zu den Waffen ruft. Der Führer weiß, wovon er spricht. Er hat selbst im letzten Krieg gedient. Wir hören an den Heimabenden immer Vorträge und manchmal auch abends am Lagerfeuer. Ich durfte sogar ein Kapitel aus dem Buch des Führers vorlesen.

Mama hätt mich viel lieber zu Hause, aber ich habe ihr geschrieben, dass jeder dort sein Bestes geben muss, wo der Führer ihn hinstellt. Sie kann ja auch nicht verlangen, dass Franz zu seinem Kompaniechef sagt: »Meine Mutti findet, dass ich besser in Köln-Nippes für Volk und Vaterland kämpfe, Herr Leutnant.« Es gibt ja nichts zu kämpfen in Köln, stimmt’s? Bitte, liebe Lene, bitte sprich doch bei Mutti ein gutes Wort für mich, damit ich bis zu den Ferien (den Sommerferien!!!) hierbleiben darf.

Jetzt muss ich aber zum Ende kommen. Wir gehen jetzt alle zusammen ins Kino. Herr Nolden hat eine Sondervorführung organisiert. Stell dir das vor: Wir gucken Quax, der Bruchpilot mit Heinz Rühmann!

Heil Hitler!

Dein Kalli

Lene – Köln, 28. März 1942

Liebe Rosi,

auf eine Antwort von dir warte ich nun gar nicht erst. Wer weiß, ob du geschrieben hast, und wer weiß, wie lange die Post braucht. Eigentlich sollte die Neugier dich mit Haut und Haaren fressen, nachdem ich dir von Erich erzählt habe, der mit dem Schulranzen und den Hühnerställen. Es ist ein richtiger junger Mann (und ein schmucker dazu!) aus ihm geworden.

Ich habe ihn also getroffen. Am Volksgarten oder besser gesagt: ein paar Meter davor. Da komme ich sonst eigentlich gar nicht hin, was soll ich dort im Kölner Süden? Und auch der Erich hat da gar nichts zu suchen, der ist ja schon vor ein paar Jahren auf die andere Rheinseite gezogen.

Jedenfalls hatte Madame Céline mich geschickt, um der Frau Liebigmann eine Perücke zu bringen, die Madame für sie gemacht hat. Madame Céline hat immer geschwärmt, wenn Frau Liebigmann in den Salon kam. »Très chic«, hat sie dann gerufen, »abärr nur ein bisschen von die Spitzän schneide isch ab! Auch wenn es einä schlescht Geschäft ist pour moi.«

Leider gibt es da nichts mehr abzuschneiden. Der armen Frau sind nämlich zuerst alle Haare von einem Tag auf den anderen grau geworden. Auch in Silbergrau waren die dicken langen Haare noch wunderschön, das kannst du mir glauben. Aber in diesen Zeiten gilt wohl: »Schlimmer geht immer!« Vor ein paar Monaten sind ihr nämlich die Haare auch noch ausgefallen, restlos alle, es ist furchtbar.

Kein Wunder, hat die alte Winter gesagt, und dass ihr auch die Haare ausfallen würden, wenn man ihr zuerst die Wohnung nähme und dann den Mann und den Sohn. So ist es der Frau Liebigmann passiert.

»Es ist noch nicht vorbei«, hat Frau Liebigmann schon vorher hier im Salon gesagt, da war ich eine Woche in der Lehre und durfte den Kundinnen noch nicht einmal die Haare waschen. Das war kurz nachdem die Juden den gelben Stern tragen mussten, im vergangenen September. Und dann kam es auch so. Aus der vornehmen Wohnung in der Lütticher Straße mussten die Liebigmanns raus, und dann kam kurz nach Nikolaus die Nachricht, dass Herr Liebigmann und der Salomon auf der Liste für die Fahrt in den Osten stehen. Da war es um die Haare von der Frau Liebigmann geschehen. Restlos weg. Zum Glück hat sie alle aufbewahrt, jede Strähne.

Für Madame Céline war es ein Kinderspiel, daraus eine Perücke zu machen, den Unterschied sieht man nachher kein bisschen, sagt sie. In den Salon traut sich Frau Liebigmann allerdings schon lange nicht mehr. Sie bringe uns nur in Verruf, sagt sie. Die Zeiten, in denen Leute wie sie mit einem Tässchen Mokka oder einem Gläschen Sekt in das Separee für die vornehmen Kunden geführt wurden, sind lange vorbei. Sie habe nichts gegen die Juden, sagt Madame. Aber man muss auch an die anderen Kunden denken, die dann wegbleiben. Das bringe doch auch niemandem etwas, sagt sie.

Also laufe ich mit der Perücke zu Frau Liebigmann in die Rolandstraße, wo sie in ein Judenhaus einquartiert wurde. Es ist gar nicht schön dort, das sage ich dir, meine liebe Rosi! Über 70 Leute hocken da doch sehr eng aufeinander. Und das, wo die Frau Liebigmann eine so vornehme Dame ist. In den feinsten Kreisen hat sie verkehrt, als ihr Mann noch Direktor im Bankhaus gewesen ist. Jetzt müssen sie sich mit sechs anderen ein Zimmer teilen. Den Platz für sich und ihre Tochter Irene trennt sie mit einem alten Bettlaken ab. »Ein bisschen privat will man doch sein«, sagt sie, und besser als im Lager in Müngersdorf, wo sie auch viele von ihnen zusammenpferchen, sei es allemal, und sie entschuldigt sich tausendmal, weil sie mir nicht viel anbieten kann. Über die Perücke hat sie fast geweint und noch mehr darüber, dass Madame mir verboten hat, Geld dafür zu nehmen.

Einen dicken Schmöker hat sie mir hingehalten, als Trinkgeld solle ich es nehmen, denn ich sähe aus wie ein gelehriges Mädchen. Ich habe das Buch angenommen und es schnell in meine Umhängetasche gestopft, weil mir alles so peinlich gewesen ist. So schnell es ging, bin ich rausgelaufen und direkt vor der Tür in einen reingerannt, bums, fiel ich ihm mitten vor die Füße.

»Na, das ist aber eine jüdische Hatz«, hat er gerufen. Einer von der Partei, habe ich gedacht, oder von der Polizei oder noch Schlimmeres. Einen dollen Schrecken hat er mir eingejagt. Du weißt, dass man besser nicht mit den Leuten aus solchen Häusern verwechselt wird. Was soll der auch denken, wenn ich aus einem Judenhaus gerannt komme?

Aber es war der Erich. Er lacht, als er meinen Schrecken sieht. Wie eine von deinen glotzenden Kühen sah ich bestimmt aus. »Du hast da was fallen lassen«, sagt er und hebt meine Umhängetasche auf, die mit den gestickten Veilchen, Primeln und Vergissmeinnicht drauf, erinnerst du dich noch an die? Ich Schussel grapsche danach und schütte den Inhalt aus Versehen komplett auf den Gehsteig. Wie schrecklich, wo ich doch immer so viel Kram mit mir rumschleppe.

»Man könnte meinen, du bist auf der Flucht«, hat der Franz früher immer gesagt. Von dem soll ich dich übrigens lieb grüßen, habe ich das schon getan? Um genau zu sein, hat er GANZ lieb gesagt!!! Schreib ihm unbedingt, unsere Männer brauchen das. Wir schreiben an den Heimabenden vom BDM Männern an der Front, die sonst keinen haben, der ihnen schreibt. Wer diesen Bund Deutscher Mädel jemals erfunden hat, hat sich wahrscheinlich auch nicht gedacht, dass wir uns dort eines Tages zum Briefeschreiben an wildfremde Männer treffen.

Das Buch von Frau Liebigmann lag jedenfalls im Rinnstein. »Vom Winde verweht«, sagt er, und ich weiß zuerst gar nicht, was er meint, bis ich auf den Umschlag von dem Buch gucke. »Vom Winde verweht«, habe ich auch gelesen, so hieß das Buch, das Frau Liebigmann mir gegeben hat. Der Erich hebt es auf, schaut es sich ein bisschen länger an, bevor er es in meine Tasche steckt und dabei die linke Augenbraue bis hinauf in seinen lockigen Haarschopf zieht. »So siehst du auch aus«, sagt er. »Ein bisschen verweht.« Da lächele ich und greife mir in die Haare und weiß immer noch nicht, was ich sagen soll.

Grüne Augen hat er! Wie eine saftige Wiese, so grün – aber was schwärme ich dir hier vor, denn die Sache nahm einen gar nicht so romantischen Verlauf.

»Was treibt dich in die Südstadt?«, fragt er dann. Ich erwidere ihm, dass ich ihn das meinerseits auch fragen könnte. »Hab meiner Tante drüben an der Bonner Straße ein paar Sachen gebracht«, sagt er. »Und du? Hast du auch eine Tante hier?« Dabei zeigt er auf das Judenhaus und zieht dieses Mal beide Augenbrauen hoch.

»Und wenn schon?«, gebe ich ihm zurück. Am liebsten hätte ich noch gesagt, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen kann, ich hab mir aber sofort auf die Lippen gebissen.

»Keine Sorge«, sagt der Erich da und packt mich an beiden Schultern und guckt noch einmal mit seinen grünen Augen. Da hat es in meinem Bauch gegluckert. Zuerst gegluckert (leider sehr lautstark) und dann gekribbelt. Ich weiß jetzt, wie sich die Sache mit den Schmetterlingen im Bauch anfühlt. Sorgen hab ich mir in dem Augenblick überhaupt gar keine mehr gemacht. Verstehst du das? Er könnte morgen zur Gestapo gehen! Na ja, vielleicht nicht gleich zur Geheimen Staatspolizei, aber ein paar Worte zum Blockwart würden schon reichen. Unserer hat noch vorige Woche dafür gesorgt, dass ein Nachbar eine Vorladung zur Gestapo-Dienststelle ins EL-DE-Haus bekommen hat. Wegen Sachen, die weit weniger schlimm sind als eine jüdische Verwandtschaft, stehst du dann bei denen am Appellhofplatz und kriegst unangenehme Fragen gestellt. Nicht ordentlich geflaggt am Führergeburtstag oder kein JUDEN-UNERWÜNSCHT-Schild an der Tür, dann bist du ja schon fast verdächtig. Nun gut, es steht nirgendwo geschrieben, dass man das tun muss, aber erwartet wird es doch von einem folgsamen Volksgenossen.

Wie auch immer, der Erich fragt dann etwas, und ich krieg keinen Ton heraus, bis er vorschlägt, wir könnten doch ein Stück gemeinsam gehen, und noch irgendetwas, das ich nicht verstehe, weil mein Gehirn meine Gedanken und meine Hände den Kram in der Tasche sortieren. Mehr als zwei Dinge gleichzeitig, das kriege ich nicht hin. Also sage ich einfach: »Ja!«

Wir sind dann die Rolandstraße Richtung Volksgarten gegangen. Kein Wort hat er geredet. Ich auch nicht. Ich musste mich erst mal einkriegen. Schweigen ist Gold, das sage ich dir. An der Vorgebirgsstraße, wo ich hinüber zur Haltestelle von der Straßenbahn abbiegen wollte, bekommt er endlich den Mund auf und sagt: »Da wären wir.«

Jetzt sickert mir in den Kopf, was ich kurz zuvor nicht verstanden hatte. »In den Volksgarten könnten wir noch gehen«, das war es, was er gesagt hatte. Es sei doch noch einigermaßen schön und etwas von seinen Freunden, Gitarre spielen und singen und dummes Zeug reden.

Wirklich schön war das Wetter nicht, und den Ärger mit Mutti, wenn sie erführe, dass ich mit einem Burschen und seinen Freunden im Volksgarten umherstreiche, den wollte ich mir gar nicht vorstellen. Onkel Hugo hat neulich beim Abendbrot erzählt, dass es immer häufiger Ärger gibt, weil so viele in unserem Alter sich drücken und nicht genug Einsatz zeigen für die große Sache des Führers: »Für die Winterhilfe sammeln, das ist die Aufgabe der Mädchen«, hat er gesagt, ist aufgesprungen und hat mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen, dass die Tassen schepperten. Und wenn die Jungs noch überschüssige Kraft hätten, hätte die Hitlerjugend eine Menge Angebote, um sie abzuarbeiten. »Aber den Drückerbergern kommen wir bei, Lene, denen kommen wir bei!«

»Die jungen Leute müssen doch auch mal das Leben genießen«, hat Mutti da gesagt. »Auf andere Gedanken kommen. In den Keller rennen und zittern darf doch nicht das Aufregendste in ihrem Leben sein.«

»Kommste?«, fragt der Erich mitten in meine Gedanken hinein. Er steht da und streckt mir die Hand entgegen.

Fast hätte ich zugegriffen. Ganz aus dem Augenblick heraus, als ob gar nichts dabei wäre. Eigentlich fühlte es sich ganz richtig an mitzugehen, aber dann habe ich doch gezögert. Es war schon spät und kalt war mir auch.

Das merkt er sofort und zieht seine Strickjacke aus grober blauer und weißer Schafswolle aus. »Hier, die ist mummelig warm«, sagt er. Bevor ich mich wehren kann, legt er sie mir über die Schultern.

Wirklich mummelig warm, denke ich, und gut riecht sie.

Antworten kann ich nichts, weil er mir gar keine Wahl mehr lässt, mich an der Hand fasst und einfach mit sich zieht. Also kann ich gar nichts dafür, denke ich, obwohl ich weiß, dass Mutti dazu eine ganz andere Meinung hätte.

Fast rutscht mir die Wolljacke von den Schultern, aber ich raffe sie im letzten Moment und schlüpfe mit den Armen rein. Viel zu groß ist sie mir, knapp bis zu den Knien reicht der Saum, aber sehr, sehr mummelig ist sie, o ja.

Am Eingang zum Park hockt ein Junge in meinem Alter. Erich grüßt ihn nur mit einem Tippen an die Stirn und der Junge tippt genauso. »Das ist die Wache«, sagt Erich und läuft Hand in Hand mit mir weiter. Erst als wir schon jemand lachen und die Klänge von einer Gitarre hören, lässt er mich los. Ich glaube, er merkt da erst, dass er meine Hand gehalten hat, so rot, wie seine Ohren werden, ist es ihm wohl peinlich. Aber ich lächle nur und frage ihn, ob das seine Freunde sind. Da nickt er nur und wir gehen weiter.

Hinter dem Rosengarten saßen und standen sie, 10 oder 15 Jungen und Mädchen. Ein Junge spielte auf der Gitarre, die anderen sangen dazu von wilden Gesellen und Sturmwind, von Lumpen und Loden, viel habe ich nicht verstanden und mir behalten können.

Als könnte er meine Gedanken lesen, fragt der Erich, ob mir das Lied gefällt, es sei ein Wanderlied. Wandern?! Ich bin doch so faul, hätte ich ihm fast geantwortet, hab’s mir aber verkniffen. In seiner Stimme lag so viel Begeisterung. Und ich? Ich bin das letzte Mal vor gut sechs Jahren mit Vati gewandert, von Königswinter hinauf auf den Drachenfels, und das auch nur, weil er mir ein Eis mit drei Kugeln versprochen hat.

Zum Glück riefen ein paar Jungs, die ein bisschen abseits hockten und die ganze Zeit aufgeregt quatschten, den Erich mit einem Pfiff zu sich herüber, sodass ich ihm nicht antworten musste ob mir das Lied gefällt.

Alle anderen zucken bei dem Pfiff zusammen. Ein Mädchen stößt einen unterdrückten Schrei aus, der Gitarrenspieler springt auf. »Datt wör nur dä Hoppel«, sagt einer der Sänger. Dabei atmet er erleichtert aus. Ein Mädchen namens Nelly in einem Dirndl-Kleid schimpft mit dem Burschen, den sie Hoppel nannten, der solle doch nicht alle so erschrecken. »Der Wutz hält vorne Wache und hinten steht auch einer, jetzt regt euch mal nicht auf.« Warum sie sich so erschreckt haben, sollte ich ein paar Minuten später erfahren, als nämlich genau dieser Wutz auf seinem Fahrrad angerast kam, als wäre der Teufel hinter ihm her. Gemacht oder gesagt hat er nichts. Trotzdem springen alle auf. Der Wutz hat unser Plätzchen am Rosengarten noch nicht erreicht, da sind restlos alle verschwunden. In alle Himmelsrichtungen, nicht über die Kieswege, sondern, schwupp, durch die Büsche.

Ich stehe da, bis der Erich »Weg hier!« ruft und mich wieder am Arm packt, dieses Mal aber so hart, dass es mir richtig wehtut. Ich habe immer noch einen blauen Fleck davon. Von zwei verschiedenen Eingängen des Parks marschieren sie an: ziemlich finster dreinschauende Jungs vom Streifendienst. Von Marschieren kann eigentlich keine Rede sein bei dem Tempo, das sie vorlegen. Hitlerjungen, wie sie im Buche stehen, sag ich dir. In der vollen Montur, aber zusätzlich jeder mit einem Knüppel in der Hand oder irgendetwas, mit dem sie ordentlich zulangen können. Ein paar von uns, die es nicht schnell genug in die Büsche schafften, haben sich feste mit ihnen gekeilt. Das hat sicher den ein oder anderen Zahn gekostet. Ohne ihre Uniformen sähen die Hitlerjungen vom Streifendienst doch aus wie Hinz und Kunz, und hier tun sie so, als müssten sie den Führer persönlich beschützen.

Der Erich zieht mich dann weiter, durch ein paar Hecken hinaus auf die Straße, rüber zum Bonner Wall, durch ein paar Hinterhöfe und wieder raus auf die Wormser Straße.

Drei von der Streife sind aber ganz schön hartnäckig. Als wir dachten, dass wir sie abgehängt haben, da tauchen sie wieder auf. Wir also rein in die Rolandstraße, fast da, wo wir uns vorher getroffen hatten. Um die Ecke ist das Geschrei unserer Verfolger zu hören. Mir brennt die Lunge, ziemlich weit würde ich in diesem Tempo nicht mehr kommen. Das war klar. An der Hausnummer 63 reiße ich mich dann los. »Da hinein«, rufe ich und nehme den Erich nun meinerseits an der Hand und zerre ihn in den Hausflur vom Judenhaus. Den Eimer mit Putzwasser übersehe ich und die Tochter von der Frau Liebigmann, die gerade den letzten Absatz wischt, auch. Eine Riesenpfütze gibt es. Die Irene Liebigmann verdreht nur die Augen und legt den Finger auf die Lippen.

Draußen ist es still. Nach ein paar Minuten geht die Irene auf die Straße, um nachzuschauen, ob die Luft rein ist.

»Sie haben es aufgegeben«, sagt sie danach, aber sicherheitshalber sollten wir den Hinterausgang nehmen. Als Erich schon draußen ist, hält sie mich zurück und sagt: »Meine Mama ist sehr glücklich wegen der Perücke. Aber es ist besser, wenn du nicht mehr hierherkommst. Das bringt uns allen kein Glück. Verstehst du das?«

Der Erich hat mich dann bis nach Nippes gebracht. Wir haben gerade noch eine Straßenbahn erwischt, aber als ich ihn gefragt hab, warum der Streifendienst so hinter ihm und seinen Freunden her gewesen ist, hat er nur gesagt: »Manchmal ist es besser, wenn man nicht alles weiß.« So kann man mich natürlich nicht abspeisen. Leider ist er, bevor ich weiter nachbohren konnte, am Adolf-Hitler-Platz aus der Bahn gesprungen und weg war er.

Seine Strickjacke hat er vergessen. Ich habe mich abends richtig fest eingemummelt darin. Nur frage ich mich, wie ich sie ihm bloß zurückgeben soll? Denn jeden Tag auf gut Glück runter bis in den Volksgarten marschieren, das kann ich wohl auch nicht.

Jetzt soll erst einmal der Kalli zurückkommen. Er hat ordentlich gemault. Bei der Frage, ob er nach Hause kommen soll, sind sich Onkel Hugo und Mutti in die Haare geraten. Jeder muss da seine Aufgaben erfüllen, wo der Führer ihn braucht, meint Onkel Hugo. Alles andere diene nicht der Sache des Volkes und schon gar nicht der des Führers. Am Ende hat Mutti gewonnen: »Der Führer hat schon meinen Großen, das muss reichen!«, sagt sie. Seinen Geburtstag soll Kalli unbedingt hier in Köln feiern.

Ich werde ihm auf jeden Fall einen Kuchen backen, auch wenn die letzten Lebensmittelmarken für Mehl und Zucker dafür draufgehen. Meine Brüder sind ja beide »ganz süße Burschen«, wie Tante Sofie immer sagt, das wird den Kalli dann versöhnen. Herrn Brinkmeier vom Laden am Wilhelmplatz habe ich ein Päckchen Eckstein Nr.5 unter dem Ladentisch zugesteckt, damit wir noch ein bisschen was an den Bezugskarten vorbeischmuggeln konnten. Kakaopulver und Eier waren ihm die Glimmstängel wert. Wie gut, dass Brinkmeier Kettenraucher ist! (Nein, frag lieber nicht, wie ich an ein ganzes Päckchen Zigaretten gekommen bin! Ich sage nur so viel, dass man findig und rege sein muss, wenn man heutzutage einen Marmorkuchen backen will!)

Nun sage ich also auf bald und wirklich bald, sonst komme ich höchstpersönlich nach Detmold und hole dich. Es küsst und drückt dich

dein Lenchen

PS: Deinen Brief vom 22. brachte gerade erst die Jolante Kallig, die Post tragen jetzt nämlich auch die Frauen aus. Ich lese später!!

Franz – im Osten, 28. März 1942

Liebe Lene,

dein letzter Brief ist nun erstaunlich schnell angekommen, aber der vorige und, wie ich befürchte, auch einige andere fehlen immer noch, die müssen wir wohl aufgeben. Du kannst ja mit deiner dollen neuen Schreibmaschine demnächst mit Durchschlag schreiben und die verschwundenen Briefe noch einmal schicken. Sage mir aber bitte sehr bald, ob der Koffer, den ich schon vor drei Wochen aufgegeben habe, bei euch angekommen ist! Darin sind ein paar Hemden und mein guter Pullover, den brauche ich hier nicht mehr, der ist nur unnötiges Gepäck. Auch Tabak für Opi ist drin und ein ganz fein geschnitztes Püppchen für Mutti, das ich von einem knorrigen alten Kerl hier bekommen habe. Es soll euch beschützen, er hat es gesegnet oder vielleicht auch mit einem Zauberspruch belegt. Das weiß man hier alles nicht, aber es ist auch egal: Hauptsache, es hilft.

Ach, es ist verrückt mit der Post, wir sind nie auf demselben Stand. Manchmal zerreißt es mir das Herz, wenn ich mitbekomme, dass ihr euch solche Sorgen macht. Ich weiß gar nicht, ob das so gut ist, wenn ihr die Wehrmachtsberichte in der Zeitung lest und dann gar nicht wisst, ob meine Kompanie wirklich in Schwierigkeiten geraten ist oder in Gefangenschaft gegangen oder Schlimmeres.

Erst einmal die guten Dinge: Hier ist etwas mehr Ruhe eingetreten, weil wir weiter ins Hinterland gerückt sind. Vor plötzlichen Überfällen der Russen sind wir nun wohl ein bisschen sicherer. Das Dorf, in dem wir untergebracht sind, ist halbwegs beisammengeblieben. Nur die Leute sind alle weg, zum größten Teil.

Die Nachrichten aus Bad Hönningen sind nicht so gut (heute kam wieder ein Päckchen und ein paar Zeilen von Tante Sofie), weil Onkel Fredi jetzt auch eingezogen wurde. In zwei Wochen geht es los mit der Ausbildung und dann hopplahopp nach Frankreich. Was für ein Glück, dass er nicht in den Osten muss.

Auf die wunderbaren Päckchen von meiner Lieblingstante muss ich somit in Zukunft wohl verzichten, die gehen dann nach Frankreich, das ist klar. Diesmal waren nicht nur Dauerwurst und Pumpernickel darin, sondern auch Schokolade, Himbeerbonbons und Pudding. »Wo du doch so ein Süßer bist«, hat das Tantchen dazugeschrieben. Ein Kamerad hat es gelesen und überall herumposaunt, aber vom Pudding wollten sie dann alle etwas. Süße Sachen sind hier rar.

Oh, Lene, es ist nicht nur der Pudding, es sind auch eure Zeilen, über die ich mich ganz wahnsinnig freue. Es tut einfach so gut zu wissen, dass es noch eine andere Welt gibt, ohne Kälte und Matsch und Läuse und Wachdienste, die nicht enden wollen. Ich weiß doch, dass es euch daheim auch nicht gut geht, aber ihr seid in der Heimat, halbwegs beieinander. Immerhin habe ich seit vier Wochen den Reuters Josef hier, erinnerst du dich an den? Der bleiche Bengel aus der Werkstattstraße, sein Bruder Hubert war bei dir in der Klasse. 18 Jahre ist er gerade geworden und sie haben ihn hierhergeschickt. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass er etwas angestellt hat und schnell aus Köln wegmusste. Josef hat noch Glück gehabt, dass er in unserer Kompanie gelandet ist, da wird er vielleicht nicht so schnell zum Kanonenfutter.

»Ich bin so dünn«, hat er gesagt, »da muss der Russe ordentlich Zielwasser trinken, um mich zu treffen.« Irgendeinen Spruch hat der verrückte Kerl immer drauf.

Ein paar kölsche Töne zu hören, ist eine wahre Wonne, das sage ich dir. Sehr weit reicht es bei ihm mit der Fröhlichkeit aber nicht. Nachts hör ich ihn oft seufzen und jammern, und wenn wir mit dem Essenholen dran sind, singt er leise vor sich hin: »Ich mööch zo Fooß noh Kölle jon.«

Also, schreib, sooft du kannst, damit ich nicht vor Heimweh kaputtgehe. Es muss gar nicht immer ein langer Brief sein und schon gar nicht ein Päckchen. (Obwohl dein gefräßiger Bruder darauf nicht verzichten will und auch warme Socken sind stets willkommen.)

Im Augenblick ist es aber in Ordnung so, die letzten 14 Tage hatten wir ausreichend zu essen. An der Truppenverpflegung hat sich nichts geändert, aber ich beschaffe mir gelegentlich zusätzlich etwas, hauptsächlich Eier und Kartoffeln. Ich habe meine Kontakte zu den Leuten hier. Die Menschen leben unter schlimmen Bedingungen, zweimal war ich bei Bauern einquartiert, ich glaube, so schlimm sah es bei uns im Reich vor 300 Jahren nicht aus. Die Läuse sind jedenfalls unsere ständigen Untermieter, manchmal gehe ich mir mit dem Finger am Kragen entlang, und es ist ein fieser schwarzer Bratsch, den ich dann hervorhole.

Ich rauche nur noch wenig, weil ich die Zigaretten für meine Geschäfte brauche. Die muss man ein bisschen raffiniert betreiben, wenn man zurechtkommen will. Ja, Russland ist brutal und gewissenlos, und du musst auch so sein, sonst gehst du unter. Mit dem Sold kannst du hier wenig anfangen, deshalb lasse ich dir das Geld zukommen. Kauf dir neue Farbbänder dafür, für deine Erika, oder schönes Papier, um weiter deinen Lieben an der Front zu schreiben!

Nun ja, solange der Onkel Hugo sich bei Mutti den Hintern wärmt, muss man sich um euch wohl keine Sorgen machen. Ach, ich lasse es lieber. Ich weiß ja, dass du ihn eigentlich ganz gerne magst, und Vorwürfe helfen jetzt auch nicht. Du hast die Schreibmaschine angenommen. Punkt und aus. Ich sage dir, Schwesterchen, sei trotzdem vorsichtig mit ihm.

Den Vater vom Kirchners Rudi, das ist der Kleine, der mit mir die Lehre gemacht hat, also dem alten Herrn Kirchner haben sie das ganze Gesicht zerschlagen, nur weil er gesagt hat, dass der Herr in Berlin doch mal ein paar Nächte im Keller zubringen sollte, wenn die Bomber kommen, dann wüsste er, dass sein dolles Deutsches Reich bald am Ende ist. Stell dir das vor: Jemand aus dem eigenen Haus muss ihn angeschwärzt haben. Und auch gesagt haben, dass der Herr Kirchner früher die Kommunisten gewählt hat. Da war ja klar, dass die ihm im EL-DE-Haus gezeigt haben, was so einem blüht. Sei also vorsichtig, was du herumplapperst.

Immerhin ist das Wetter hier endlich etwas besser. Schon seit 14 Tagen. Kalt ist es immer noch, aber trocken. Das ist Russland hier, da geht es auch im Mai noch runter bis unter null, im März sowieso. Ostern wird aber gefeiert, aufs nächste Wochenende freuen sich schon alle. Seit einiger Zeit sparen wir dafür aus der Verpflegung.

Ich bin natürlich wieder für das Musikprogramm eingeteilt. Hätte ich bloß nicht erzählt, dass ich bei der Nippeser Bürgerwehr im Spielmannszug gewesen bin. »Dreimol vun Hätze, Kölle Alaaf! Dä Jefreite Meister mäht datt«, hat der Major gerufen. Der war der Einzige, der kapiert hatte, dass die Bürgerwehr ein Karnevalsverein ist, weil er nämlich auch aus Köln kommt, aus Deutz, um genau zu sein.

Und damit weißt du das auch: Ich bin seit zwei Wochen kein einfacher Soldat mehr, sondern der Gefreite Meister.

Jetzt höre ich mal auf, mir geht es so durcheinander im Kopf. Ich versuche meine Gedanken zu sammeln und lass das Radio noch ein bisschen quäken und dann ist bald Ruhe hier. Das Programm ist immer sehr lustig. Eben habe ich meine Lieblingsmelodie gehört: »Der kleine Postillion«. Dazu haben die Rosi (grüß sie ganz lieb von mir) und ich so lustig getanzt, letztes Jahr, am Abend bevor dann der Stellungsbefehl gekommen ist.

Schicke mir bitte die Adresse von unserem Kalli, die hat er nämlich nicht auf seinen Brief geschrieben. Er jubelt, wie sehr es ihm in der Kinderlandverschickung gefällt, dass sie marschieren und strammstehen müssen. Mir wäre lieber, wenn ihr den Knirps bei euch in Köln behieltet. Wenn ich sein Gekritzel so lese, sollte er besser Nachhilfe in Rechtschreibung nehmen und nicht mit dem Jungvolk durch den Schlamm waten. Sprich mit Mutti, das mit der Kinderlandverschickung ist nichts für den Kalli.

Und nun recht herzliche Grüße, auch an Mutti und die Kleinen, und alles Gute

dein großer Bruder, der GEFREITE Franz

(Nein, ich bild mir nichts drauf ein, lieber wäre ich bei euch.)

Lene – Köln, 3. April 1942

Liebe Rosi,

jetzt hast du selbst mal auf Post von mir warten müssen, aber der Karfreitag heute, der ist geradezu dafür gemacht, um mich endlich wieder an die Maschine zu setzen. Im Moment komme ich sonst kaum zur Ruhe. Es wird langsam eng bei uns in der Sechzigstraße. Als ich dir vor gut zwei Wochen geschrieben habe, mussten wir nachts noch in den Keller und es hat ordentlich gerumst, aber im Gegensatz zu deiner Freundin Mia hatten wir Glück. Sie sagen, dass es der schlimmste Angriff war, den wir im gesamten Krieg bisher hatten. Ein riesiges Feuer hat in den Clouth-Werken gewütet.

Leider hat es auch den Schuster Wilhelms und seine Werkstatt getroffen, was sehr ärgerlich ist. Natürlich ist es für alle schlimm, aber ausgerechnet der Schuster! Der hat es zwar mitsamt der Familie überlebt, nur gibt es jetzt keinen mehr, der uns die durchgelatschten Schuhe heil macht. Und das, wo neue kaum zu kriegen sind! Da nützt dir auch ein Bezugsschein nichts. Außerdem werden solche Sachen jetzt nur an Ausgebombte ausgegeben und davon sind wir glücklicherweise auch dieses Mal wieder verschont geblieben. (Klopf auf Holz!!)