Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Atmosphärisch, intelligent und mit Tiefgang erzählt. In einem norddeutschen Wissenschaftsmuseum treibt ein Historiker tot im Wind-Wellen-Kanal. Dr. Franziska de Beer, eine junge, erfolgreiche Wissenschaftlerin und Direktorin des Museums, gerät bald unter Verdacht, eine Mitschuld an seinem Tod zu tragen. Doch die Obduktion fördert Seltsames zutage. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel, das sie nach Warnemünde und zurück in die Zeit der DDR führt. Aber alle Spuren scheinen im Nichts zu enden …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 339
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Catharina Berents, promovierte Kunsthistorikerin, veröffentlichte Bücher und Aufsätze zu Kunst-, Design- und Kulturgeschichte. Nach ihrer Museumstätigkeit im Rheinland, in Hessen und zuletzt als Direktorin eines kulturgeschichtlichen Museums in Schleswig-Holstein ist sie seit 2013 an der Leuphana Universität Lüneburg beschäftigt. Dort lehrt sie im Fach Design und Kunstgeschichte und ist im Wissenschaftsmanagement tätig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Zacarias da Mata/stock.adobe.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-954-9
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Für Uwe Rosenfeld, der Bücher liebte und sicher auch dieses gern gelesen hätte
Wilhelm Musswessel hatte jeden Morgen kurz vor Öffnung einen Rundgang durch die Ausstellungsräume zu machen. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die diversen Monitore der audiovisuellen Medien anzuschalten und zu überprüfen, ob die Programme sich nicht in irgendwelchen Endlosschleifen verfangen hatten. Im Grunde hätte er das an jeder Station machen müssen, aber heute beschränkte er sich auf wenige Stichproben. Er war etwas verunsichert, denn beim Reinkommen hatte er bemerkt, dass am Ende des Parcours Licht brannte – und das war merkwürdig, denn an diesem Morgen, einem Donnerstagmorgen, setzte das Team der Raumpflegerinnen turnusgemäß aus. Als Musswessel dem letzten Raum, dem Saal mit dem Wind-Wellen-Kanal, näher kam, vernahm er erst unterbewusst und dann immer deutlicher das schlagende und schmatzende Geräusch der Wellen und das Rauschen des künstlichen Windes. Der Kanal war an! Musswessel vergaß die übrigen Geräte und betrat den Raum mit der Hauptattraktion des Museums.
Nun stand er vor dem zwanzig Meter langen Aquarium. Links, wo sich die Windmaschine befand, war das Becken am tiefsten, während es nach rechts zu einem künstlichen Strand anstieg. Das einzige Leben darin erzeugte die Welle, die sich aus einem glatten Meeresspiegel vom Wind angetrieben auf den künstlichen Strand zubewegte und hochstieg, um dann zu brechen und langsam auszulaufen. Im Querschnitt ihre oft aberwitzig sich überschlagenden Profile zu beobachten, war faszinierend – für den Laien wie für den Forscher. Es hatte zahlreiche Versuche gegeben, unter anderem in Kleefeld, die Bewegungsgesetze und die daraus resultierenden Formen nach ihren Regeln zu ergründen, aber man war keineswegs zum Abschluss gelangt. Die Fraktal-Forschung hatte jedoch sehr vielversprechende Wege eröffnet.
In den Wellen trieb, mit den Wellen stieg und sank aber nun ein lebloser Körper. Musswessel hatte das befremdliche Schauspiel beim Betreten des Raumes sofort wahrgenommen. Fast automatisch drängte sich ihm der Eindruck auf, alles sei genau so arrangiert worden: das stetige Vorantreiben der grünen Wassermassen und in ihnen der Leichnam. Seine konstante Position zeigte an, dass in einiger Tiefe das Wasser relativ ruhig blieb und nur die Oberfläche in Bewegung war. Der gesamte Anblick wirkte auf Musswessel wie eine Versuchsanordnung. Dabei war es ein absolutes Wunder, dass der Ertrunkene nicht einfach auf den Grund sank, sondern sich so eifrig in zwei bis drei Metern Höhe hielt.
Musswessel war der Technische Assistent des Jensen-Museums Kleefeld, kurz JMK, er kannte sich mit Apparaten und mit IT aus, die Physik gehörte nicht zu seinen Aufgabengebieten. Er stand regungslos da und bestaunte diesen Sieg über die Schwerkraft, diese Weigerung des Toten, ganz aufzugeben und sich gewissermaßen endgültig niederzulassen. Der Sakko des Mannes war weit ausgebreitet, ebenso die Arme, er schwebte förmlich im Wasser. Die langen rötlichen Haare fächerten sich auf kuriose und unheimliche Weise zu einem Schirm auf. Das Aquarium wurde teilweise von unten beleuchtet, was den Lehrstückcharakter des flottierenden Körpers noch verstärkte, ihn aber gleichzeitig ins Naturreich zurückholte. Da die Kleidung des Mannes sehr hell war, fühlte Musswessel sich an die Unterseite eines Plattfisches erinnert. Er wagte gar nicht, den Notschalter zu betätigen. Das Museum setzte auf das Prinzip Erfahrungsraum. War hier nicht ein solcher entstanden?
Dann tat er einige Schritte rückwärts, drehte sich abrupt um und zog sein Handy, mit schnellen Schritten gen Ausgang eilend. Er hatte erst die falsche Notrufnummer gewählt und war, als der zweite Teilnehmer antwortete, bereits so durcheinander, dass die Beamtin das Gestammel mit den Worten »Also ein Todesfall im Museum« zusammenfasste, dem Statement aber einen so ironischen Dreh gab, als wäre dies der letzte oder vielleicht der normalste Ort, an dem man solches erwarten konnte, sodass Musswessel ins Telefon bellte: »Natürlich haben wir Todesfälle im Museum«, und das Gespräch beendete. Das mit dem Plural sollte sich als Fehler erweisen.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Förderer des Jensen-Museums Kleefeld, ich begrüße Sie herzlich zur Eröffnung unserer Ausstellung ›Der Strom des Lebens – Leben am Wasser, Leben mit Wasser‹.«
Dr. Franziska de Beer, die Museumsleiterin, hatte das Wort ergriffen. Der Geräuschpegel legte sich, die zahlreich an diesem Sonntagvormittag zur Vernissage erschienenen Gäste waren gespannt auf ihre Einführungsrede. Heute Abend wurde der zweite Teil der geplanten Ausstellungstrilogie »Der Strom des Lebens« eröffnet.
Das JMK war eine Institution, die sich der Erforschung der Flussniederung und ihrer Kulturlandschaft, den Marschen von Kleefeld, widmete. Eine über Jahrhunderte fruchtbare, von Handel, Gewerbe und Landwirtschaft geprägte Region. Bevor Kleefeld von einem Monarchen im 17. Jahrhundert gegründet worden war, hatte hier nur amphibische Ödnis geherrscht. Die Landschaft, die dem täglichen Wechsel von Ebbe und Flut ausgesetzt war, musste erst einmal kultiviert werden. Viele Kilometer Deich waren notwendig gewesen, bevor das Terrain besiedelt werden und der Stadtbaumeister des Königs mit seiner Arbeit beginnen konnte.
Im Jensen-Museum wurde die Entstehungsgeschichte der Stadt und der umliegenden Marschen erzählt. Jens Jensen, ein umtriebiger Kleefelder Lateinlehrer, hatte die Sammlung im späten 19. Jahrhundert gegründet. Viele Objekte belegten, wie schwer es gewesen sein musste, Deiche zu errichten und den Boden zu kultivieren. Der Große Fluss beherrschte schon damals Land und Leute.
Auch heute Abend ging es um Wasser.
»Wir möchten in unserer Ausstellung zeigen, wie nachhaltig der Fluss das Leben der Menschen und die Entwicklung der Region geprägt hat. Für den Stadtgründer war die Lage am Strom vor fast vierhundert Jahren ausschlaggebend, lieferte er doch zum einen die notwendige Verbindung zu den Weltmeeren und zum anderen ins Binnenland zu den großen Städten, die bald zu wichtigen Handelspartnern wurden. Die Stadt Kleefeld hat sich bis heute ihre Prägung durch den Hafen und die Lage direkt an der Wasserkante bewahrt.«
Manche Ortsbezeichnungen ließen erahnen, dass hier in früheren Zeiten raue Gesetze herrschten, nach Norden erstreckte sich die Gerbersche, nach Süden die Siebrechtsche Wildnis. Die beiden Lehnsherren, nach denen diese Regionen benannt worden waren, gingen mit unrühmlichen Taten in die Geschichte ein, grausame Knechtschaft, Vergewaltigung und Hunger hatten deren Untertanen zu erleiden.
Franziska de Beer scherzte oft, dass sie am Rande der Wildnis lebe. Wie recht sie damit haben sollte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
Sie war wie immer vor öffentlichen Auftritten nervös, das hatte sie in all den Jahren, die sie ihren Beruf schon ausübte, nicht abgelegt. In Erwartung des bevorstehenden Frühlings trug sie einen cremefarbenen Hosenanzug, dazu helle Wildlederpumps. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt. Ihre äußere Erscheinung war ihr wichtig, perfekt gekleidet zu sein, gab ihr Schutz, wenn so viele Augenpaare auf sie gerichtet waren. Aber sie badete auch in der Menge des Publikums und letztlich in ihrem Erfolg, denn alle waren hier, um ihre Ausstellung zu sehen.
Sie war vor vier Jahren nach Kleefeld gezogen, da war sie eher an ein komfortables Großstadtleben gewöhnt gewesen als an Windstärke neun, Gummistiefel und Kohlfelder, aber sie hatte sich mit den etwas einsilbigen und oft verstockten Marschbewohnern ins Benehmen gesetzt, ja sogar einige von ihnen ins Herz geschlossen. Die ständige Bedrohung durch Wasser und Sturm hatte die Menschen hier über Jahrhunderte geprägt, das war selbst heute, in Zeiten von Küstenschutz und immer höher wachsenden Deichkronen, noch zu spüren. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten und Berührungsängsten war Dr. Franziska de Beer angekommen. Man schätzte ihre Arbeit, vor allem ihr Geschick, interessante Kooperationspartner nach Kleefeld zu holen. Seit Franziska die Leitung des JMK übernommen hatte, flossen die Gelder, und mit ihren Projekten hatte sie das Interesse der überregionalen Presse geweckt. Kleefeld in den großen Feuilletons, das hatte es zuvor noch nie gegeben.
Aber ihr Erfolg rief auch Neider auf den Plan.
Franziska de Beer bewohnte am Rande von Kleefeld einen hübsch renovierten Bungalow aus dem Jahr 1959. Er war der letzte in einer Reihe von Häusern, die an einem schmalen Seitenlauf des Großen Flusses lagen, der durch die Siebrechtsche Wildnis floss. Genau auf ihrer Grundstücksgrenze befand sich das Ortsschild, auf der einen Seite stand »Kleefeld«, auf der anderen »Siebrechtsche Wildnis«. Das Haus hatte ihr auf Anhieb gefallen, es war natürlich aus rotem Klinker, und es hatte einige sehr schöne zeittypische Details. Zum Vordereingang gelangte man über eine Terrasse mit weißen hölzernen Gartenmöbeln. Zur Straßenseite war die Terrasse mit einem Glasbild geschlossen, das aus einem Mosaik bunter Scheiben bestand, es zeigte ein Segelboot auf großer Fahrt. Es war ein Wunder, dass das Glasbild all die Jahre überstanden hatte.
Innen gab es ein großes Wohnzimmer mit riesigen Blumenfenstern. Franziska war vor allem von der nierenförmig geschwungenen Fensterbank begeistert. Das Haus war voller breiter Fensterbänke. Zwar hatte sie keinen Sinn für Topfblumen, aber dieses Haus bot endlich Platz für ihre kleinen Tierskulpturen. Sie besaß eine ansehnliche Sammlung von Bronzetieren.
Vom Esszimmer aus konnte sie weit in die Felder schauen. Zwischen Küche und Esszimmer waren aufwendig geschreinerte Einbauschränke erhalten, darin Schubladen mit samtausgelegten Unterteilungen eigens für Besteck. Franziska hatte das alte Familiensilber geputzt, schwere silberne Bestecke aus der wilhelminischen Zeit, jedes Teil versehen mit einem von Ranken eingerahmten »B«. Im ersten Frühjahr hatte sich das riesige Feld hinter ihrem Haus in einen leuchtenden gelben Teppich verwandelt: Raps, wohin sie nur schauen konnte. Aber fast noch mehr beeindruckt hatte sie das frisch gepflügte Feld, als sie im Herbst davor eingezogen war. Die großen, fettig glänzenden Schollen des Marschbodens schienen beinahe in ihr Esszimmer zu fluten. Am tief liegenden Horizont drehten fleißig die Windräder ihre Flügel. Eigentlich mochte sie diese gigantischen Stromproduzenten nicht, aber zu dieser Landschaft gehörten sie dazu.
Franziska griff in ihre rechte Hosentasche, wo sie das Netsuke spürte, einen kleinen rundlichen Hasen aus Elfenbein. Er lag schmeichelnd in der Hand und brachte ihr Glück bei wichtigen Auftritten oder beschützte sie in schwierigen Situationen, so dachte sie zumindest. Auf jeden Fall beruhigte sie der kleine Hase. Er war ihr immer das Lieblingsstück aus der Sammlung von Netsukes gewesen, die sich, seit sie denken konnte, in ihrem Elternhaus befunden hatte. Nun war diese Sammlung von kleinen Figuren, Hasen, Schildkröten, Drachen und japanischen Glücksgöttern, geschnitzt aus Wurzelholz, Büffelhorn und Elfenbein, in ihren Besitz übergegangen.
Franziska schaute ins Publikum, bevor sie weitersprach. »Besonders stolz bin ich auf den Wind-Wellen-Kanal. Er wurde eigens für unsere Ausstellung von den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strömungsmechanik der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg geplant und hier vor Ort aufgebaut. Für diese außerordentlich großzügige Unterstützung meinen ganz herzlichen Dank an die HSU, besonders an Herrn Professor Dr. Rainer Fahrenholz, den ich hiermit begrüßen möchte. In dem Wind-Wellen-Kanal können Wellen unterschiedlicher Stärke und Form simuliert werden. Unsere Besucherinnen und Besucher haben an einem Pult per Fernsteuerung die Möglichkeit, die Frequenzen des Wellenpaddels und die Windstärken zu bestimmen. Das zwanzig Meter messende Glasbecken stellt eine Art Miniaturmodell des unendlichen Meeres dar, gezähmt und mächtig zugleich. Aber dazu wird Ihnen nun Herr Professor Fahrenholz Näheres erzählen.«
Franziska de Beer richtete an alle Beteiligten, Sponsoren und Organisatoren ihre Dankesworte und überließ das Rednerpult Herrn Professor Fahrenholz. Sie steuerte den freien Platz neben ihrem Ehrengast an, der sich gerade erhob, um vor das Publikum zu treten. Sie nickte ihrem Kollegen freundlich zu.
Franziska de Beer war als Chefin des Museums stets darum bemüht, den Teamgeist ihrer Mannschaft zu fördern. Es gelang ihr fast immer, die Begabungen und Interessen jedes Einzelnen anzusprechen. Vor vier Jahren bestand die Belegschaft des Jensen-Museums aus einer Truppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die alle auf ihre Weise ihre Meriten hatten, doch es herrschte kein Teamgeist, keine Identifikation mit der Institution, keine gemeinsame Idee. Das hatte sich unter Franziska geändert. Bei manchen Mitarbeitern hatte sie sogar das Gefühl gehabt, sie hätten nur darauf gewartet, unter neuer Führung so richtig durchzustarten.
Dazu zählte auf jeden Fall ihre rechte Hand in Sachen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Eliza Mendes, eine feurige Puerto Ricanerin, die, ohne ihr südländisches Temperament eingebüßt zu haben, in die norddeutsche Mentalität hineingewachsen war. Franziska war jeden Tag froh, eine so verlässliche und fähige Mitarbeiterin zu haben. Wenn sie morgens das Büro betrat, war Eliza meistens schon da und hatte ihren wundervollen Mokamo Dolce aufgesetzt, einen herrlichen Kaffee, der ein bisschen nach frischen Walnüssen und vor allem nach Schokolade schmeckte. Sie bekam ihn regelmäßig von ihrer Familie zugeschickt.
Eliza Mendes war in den frühen siebziger Jahren nach Deutschland gekommen, der Liebe wegen, wie sie immer betonte. Sie hatte ihren Mann Piet in San Juan, ihrer Heimatstadt, kennengelernt. Damals hatten Seemänner noch Gelegenheit gehabt, an Land zu gehen, weil die Schiffe nicht gleich wieder den Hafen verließen, sobald die Ladung gelöscht war. Piet, ein gebürtiger Kleefelder, hatte damals für eine Handelsgesellschaft angeheuert, die Geschäfte mit Kaffee und Früchten machte. Nun war Piet schon längst im Ruhestand, nachdem er viele Jahre im Hafen von Kleefeld für den Zoll gearbeitet hatte. Manchmal holte er seine Frau mittags ab oder trank einen Kaffee im Büro mit ihr. Dann gesellte sich Franziska zu ihnen, sie mochte Piet Harms. Er revidierte für sie immer das Bild des engstirnigen Marschbewohners. Zwar war auch er kein Mann der großen Worte, aber er war warmherzig und humorvoll.
Eliza Mendes, eigentlich hieß sie Mendes-Harms, war eine kluge Frau, die sich von nichts und niemandem blenden ließ, und so zählte sie auch nicht gerade zu den Freundinnen von Adam Caspèr, dem Historiker des JMK. Caspèr, den sie stets nur »den Kasper« nannte, obwohl er viel Aufwand betrieben hatte, um offiziell einen Accent grave auf dem »e« zu tragen, gehörte fast schon zum Inventar des Museums, als Franziska die Leitung übernahm. Einfach war es nicht mit ihm, hatte er sich doch ebenfalls für diese Position beworben und das Institut immerhin fast ein Jahr kommissarisch geleitet. Und nun stand diese weltgewandte und selbstbewusste junge Wissenschaftlerin vor ihm. Franziska erkannte schnell, dass Caspèr kein wissenschaftliches Format hatte, er redete gern und viel, machte sich beim Publikum beliebt, glänzte aber vor allem durch Unzuverlässigkeit. Aber wenn man ihm konkrete Aufgaben erteilte, funktionierte er recht gut, so glaubte sie zumindest.
Eine weitere Schaltstelle im Team, die der Sekretärin, war mit Frau Hufe besetzt. Caroline Hufe war schon sehr lange als städtische Angestellte tätig und vor ein paar Jahren aus dem Vorzimmer des Bürgermeisters ins JMK versetzt worden. Es hatte damals einen Vorfall gegeben, der zwar nicht zur Entlassung von Frau Hufe geführt hatte, aber eben zu ihrer unwiderruflichen Versetzung vom Rathaus ins Museum, was für sie damals eine Demütigung, für die Mitarbeiter der Verwaltungsleitung hingegen eine Entlastung darstellte. Offenbar hatte sie interne Informationen zu ihrem eigenen Vorteil an Dritte weitergeleitet.
Dem Bürgermeister war schon länger aufgefallen, dass es eine undichte Stelle in seiner Belegschaft geben musste, deshalb stellte er ihr eine Falle. Er deutete in Frau Hufes Beisein während eines vermeintlichen Telefonats mit einem Magistratsmitglied an, dass die schon sicher gewähnte Bezuschussung des neuen Patrouillenbootes für das Wasser- und Schifffahrtsamt gestrichen werden würde. Es war stadtbekannt, dass Frau Hufe, wenn auch bisher erfolglos, sich um den Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamts, Jacob Menninga, bemühte. Es dauerte kaum einen Tag, bis Menninga empört beim Bürgermeister anrief. Die Falle war zugeschnappt, und Frau Hufe wurde versetzt.
Aber die Hufe hatte durchaus ihre Qualitäten, sie arbeitete schnell und zuverlässig, war erfinderisch und hatte ein phänomenales Gedächtnis. Suchte Franziska etwas in den Magazinen des Museums oder im Archiv, Frau Hufe hatte alles im Handumdrehen aus den Tiefen der Bestände hervorgeholt. Franziska konnte Frau Hufe zu Beginn nur schwer einschätzen, und dass sie ihr auf den ersten Blick sympathisch gewesen wäre, konnte sie nun wirklich nicht behaupten. Sie hatte ein kühles, fast abweisendes Wesen. Aber mit der Zeit änderte sich das. Die Hufe fand, nachdem sie den Rausschmiss aus dem Bürgermeisterbüro verschmerzt hatte, ihr Metier im JMK, und Franziska ging offen auf sie zu.
Es gab aber auch irritierende Situationen, wie einmal bei einem gemeinsamen Mittagessen im »Grünen Heinrich«, dem Lieblingslokal Franziskas, direkt am Marktplatz. Sie mochte es aus zweierlei Gründen: Das Essen war hervorragend, und die Eigentümerin, Johanna Requate, war eine ausgesprochen liebenswürdige Person. Nicht selten setzte sie sich gegen Ende der Mittagszeit zu ihren Gästen, um ein Weilchen zu plaudern. An dem betreffenden Tag war auch Eliza Mendes mitgekommen, am Tisch ging es um einen ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des JMK, der angeblich Objekte aus dem Sammlungsbestand des Museums hatte mitgehen lassen.
Eliza erzählte, dass der Kollege, als er noch im Dienst gewesen war, gern bis in den Abend hinein arbeitete und in einem Kämmerchen saß, das sich unterm Dach ganz in der Nähe der Magazinräume befand. Dort pflegte er auch zu rauchen. Noch heute, so Eliza, stecke in manchen Kostümen und historischen Trachten, die in dem direkt angrenzenden Raum aufbewahrt wurden, der Geruch des schwarzen Krautes, das der Kollege rauchte.
»Aber wir konnten ihm nie etwas nachweisen, was jammerschade ist, denn wir wissen mittlerweile, dass doch einiges in den Silberbeständen fehlt. Damals war hier noch vieles im Argen, es herrschte nicht die Ordnung, die wir heute haben. Wir werden wohl keines von den verlorenen Objekten wiedersehen.«
Frau Hufes Miene hatte sich bereits verdüstert, wie immer, wenn jemand auf dieses Thema zu sprechen kam. Sie hasste es, wenn die Dinge nicht an ihrem angestammten Platz waren, vielleicht fühlte sie sich aber auch persönlich verantwortlich.
»Das wollen wir doch erst einmal sehen. Irgendwann kriegen wir ihn!« Frau Hufe hatte ihre kleinen Augen, deren Farbe unbestimmbar war, zusammengekniffen, sodass sich eine tiefe Zornesfalte auf ihrer Stirn bildete. Sie sah aus wie ein Adler, der im Begriff war, auf seine Beute herabzustürzen. Dieser Blick hatte Franziska für einen Moment erschaudern lassen.
Es war Jacob Menninga gewesen, der Franziska von der unrühmlichen Karriere ihrer Sekretärin in Kenntnis gesetzt hatte. Im Zuge der Vorbereitungen der Ausstellungstrilogie arbeitete sie sehr viel mit ihm zusammen. Dem überzeugten Junggesellen waren die Avancen der Hufe lästig. Er entstammte einer angesehenen Kleefelder Familie, die auf eine lange Tradition zurückblickte und im politischen wie kulturellen Leben der Stadt eine große Rolle spielte. Er verfügte über gute Kontakte zu sämtlichen Gremien und war über alles immer bestens informiert. Und er mochte Franziska, obwohl ihm zunächst nicht einsichtig gewesen war, dass sich ausgerechnet eine attraktive junge Frau für Stromkilometer, Wind-Wellen-Kanäle und Küstenschutz interessieren sollte. Aber er erkannte schnell ihre Kompetenz und Ernsthaftigkeit. Als Franziska ihre neuen Kolleginnen und Kollegen zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag in den Garten des Jensen-Museums zu einem kleinen Empfang eingeladen hatte, überreichte Menninga ihr einen Karton mit blauer Schleife, darin ein Paar gelbe Gummistiefel.
»Für die nächste Flut«, hatte er gesagt.
»Ich denke, dass der Wind-Wellen-Kanal als Herzstück dieser Ausstellung sehr viel Fachpublikum ins Haus bringen wird. Dass diese Apparatur heute hier in Kleefeld zu besichtigen ist, verdanken wir der engagierten Arbeit von Frau Dr. de Beer.«
Während Professor Fahrenholz die Zusammenarbeit mit Franziska und dem Jensen-Museum in seiner Rede lobend erwähnte, standen am Ende des bis zum letzten Platz besetzten Saals an die Wand gelehnt Caspèr und die Hufe: Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt.
Eliza Mendes, die sie beobachtete, warf einen vielsagenden Blick zu Menninga hinüber. Beide hatten sich am seitlichen Ausgang platziert und sowohl die Redner wie auch den gesamten Saal im Blick.
Adam Caspèr und Caroline Hufe bildeten ein seltsames Gespann. Sie war eine große, hagere Person mit eher herben Gesichtszügen und einer stets korrekt sitzenden Prinz-Eisenherz-Frisur, die blauschwarz schimmerte. Er war eher klein geraten, leicht untersetzt, und sein rotes Kraushaar, das im Nacken lang herunterhing, lichtete sich schon merklich. Heute hatte er einen seiner beigefarbenen Cordanzüge an, dazu ein weinrotes, klein gemustertes Plastron. Er besaß für jedes Outfit ein passendes Tuch. Eigentlich war er eine sympathische Erscheinung. Um seine geringe Körpergröße ein wenig zu kaschieren, trug er meist feine Budapester Herrenschuhe mit einem kleinen Absatz.
»Großartig, sie lässt sich mal wieder feiern, unsere Franziska«, flüsterte er seiner Kollegin ins Ohr.
»Meine Damen und Herren, ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg, und ich würde mich sehr freuen, mit dem einen oder anderen bei einem Glas Wein über unser Thema zu diskutieren.«
»Lieber Rainer Fahrenholz, herzlichen Dank für deine außerordentlich freundlichen und fesselnden Worte.« Franziska de Beer war wieder ans Rednerpult getreten.
»Nun möchten wir Ihnen eine erste Kostprobe unseres neuen Wind-Wellen-Kanals geben. Ich möchte Sie bitten, uns in den Saal der Gezeiten zu folgen. Mein Kollege Adam Caspèr wird Ihnen die verschiedenen Betriebsarten des Wellensimulators vorführen.«
Franziska blickte zu ihrem Kollegen hinüber, der immer noch neben der Hufe am anderen Ende des Vortragssaales stand und plötzlich einen hochroten Kopf bekam. In seinen Taschen steckte nichts, und ganz bestimmt nicht die Fernbedienung, die er nun benötigte, um den Kanal in Betrieb zu setzen. Wo hatte er die schon wieder gelassen? Er hob die rechte Hand und zeigte drei Finger, was wohl bedeuten sollte: Ich bin in drei Minuten wieder da.
In der Zwischenzeit bewegte sich die Zuhörerschaft in Richtung Wind-Wellen-Kanal. Viele nahmen das Angebot der dort bereitstehenden Klapphocker in Anspruch und sicherten sich einen guten Platz mit Blick auf den Wellenkanal, aber dort tat sich nichts, das Wasser bildete eine glatte Oberfläche, immerhin leuchtete es grün wie in einem riesigen Aquarium. Allmählich breitete sich Unruhe aus, der Geräuschpegel im Saal stieg an.
Die Direktorin trat vor ihre Gäste: »Meine Damen und Herren, es gibt immer viele technische Schwierigkeiten zu überwinden, wenn neue Installationen in Betrieb genommen werden, der altbekannte Vorführeffekt.« Franziska lachte ins Publikum, doch innerlich kochte sie. Typisch, dachte sie, der Kasper zeigte sich mal wieder von seiner unzuverlässigen Seite. Von ihrem Unmut ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
Wieder ans Publikum gewandt, sagte sie: »Herr Caspèr hat das Problem ganz gewiss in wenigen Minuten bewältigt.«
Wie auf ein Stichwort erschien dieser nun sichtlich abgehetzt mit der Fernbedienung in der Hand wieder auf der Bildfläche. Dann betätigte er den Startknopf. Die Beleuchtung im Wind-Wellen-Kanal veränderte ihre Farbstellung von Grün über Dunkelblau zu Blauviolett, mit einem tiefen Grollen und aufheulendem Wind stieg das Wasser langsam an, formierte sich zu einer großen Welle, die nach zwei Dritteln ihrer Wegstrecke zu einer Brechung gelangte, bevor sie auf dem künstlichen Strand auslief.
Das Publikum hatte den Atem angehalten, so schien es, aber nun applaudierte es kräftig.
Franziska ergriff noch einmal das Wort: »Meine Damen und Herren, die Ausstellung ist eröffnet. Bitte stoßen Sie mit uns an.«
Frau Hufe trat auf ihre Chefin und deren Ehrengast zu, ausgerüstet mit einem Tablett voller Sektgläser.
»Meinen herzlichen Glückwunsch, Frau Dr. de Beer, Herr Professor Fahrenholz, zum Wohl.«
***
Caroline Hufe, deren Söhne beide erwachsen und aus dem Haus waren, lebte in einem Bungalow mit begrüntem Innenhof in Kleefeld-Neuendeich, einem direkt hinter dem Deich entstandenen Neubaugebiet der neunziger Jahre. Einen Herrn Hufe hatte es einst gegeben, aber das war schon lange her. Man sagte sich, dass sie dort seltene Orchideen züchtete. Ging man abends durch diesen Stadtteil, so hatte man das Gefühl, in einer Geisterstadt zu sein, so sparsam waren die Straßen beleuchtet, und noch sparsamer beleuchtet waren die Häuser. Entweder verdeckten lichtundurchlässige Jalousien die Fenster, oder es war einfach dunkel, weil sich die Bewohner in den Räumen zur straßenabgewandten Seite aufhielten, nach vorn hin kein einziges Licht. Manche Häuser schienen auch unbewohnt zu sein. Das Ganze wirkte ziemlich unheimlich.
Wenn Caroline Hufe sich nicht um ihre Orchideen kümmerte, verbrachte sie ihre Freizeit mit den Mitgliedern von Sentinels International Kleefeld, kurz SIK genannt, ihren Freundinnen. Sentinels stand für Wächterinnen, für einen Club von Frauen, die sich für die Rechte und die Gleichstellung von Mädchen und Frauen weltweit einsetzten. In Kleefeld wurden vielerlei Projekte auf die Beine gestellt. Kinderspielplätze, eine Beratungsstelle für junge Berufseinsteigerinnen, eine provisorische Schule für Flüchtlingskinder, und im Rahmen des großen Wasserthemas am Jensen-Museum waren die Sentinels ebenfalls aktiv.
Franziska de Beer hatte sich darüber zunächst gefreut, sie war für jede Unterstützung dankbar, doch die Aktion der SIK-Frauen hatte sich dann letztlich als eher fragwürdig erwiesen. Der Dachverband der Sentinels International hatte fast zur selben Zeit, als der erste Teil der Ausstellungstrilogie »Der Strom des Lebens« eröffnet wurde, ein Projekt mit dem Titel »Wasser für die ganze Welt« ins Leben gerufen. Die Kleefelder Frauen waren natürlich dabei. Frau Hufe, die zu dieser Zeit gerade Präsidentin des hiesigen Clubs war, hatte bereits in den Mittwochsbesprechungen begeistert davon berichtet. Sie schwärmte von der guten Zusammenarbeit mit dem Leiter der Kleefelder Stadtwerke, Herrn Seeberger. Auch Franziska hatte Rudolf Seeberger für das JMK als Kulturpartner und Förderer gewinnen können und schätzte ihn sehr, darum hielt sie sich damals mit Kritik zurück.
Im Mai 2011 war in der Kleefelder Rundschau Folgendes zu lesen: »Am kommenden Mittwoch sollen die Bürger von Kleefeld baden, duschen, Blumen gießen, Rasen wässern und Wäsche waschen, dass die Maschinen heiß laufen. Das ist der Wunsch von Caroline Hufe und Dr. Siglinde Eichenberg. Die Kleefelder Stadtwerke spenden 18 Cent pro verbrauchtem Kubikmeter Frischwasser.« Natürlich starben unvorstellbar viele Menschen, darunter zahlreiche Kinder, an Wassermangel, aber durfte man zur Verschwendung einer so kostbaren Ressource aufrufen, um anderswo auf der Welt Brunnen und Zisternen zu finanzieren? Franziska war der Ansicht, dass hier eine selbstgefällige Doppelmoral waltete.
Ramona Weiß erreichte das Hotel Neptun im Ostseebad Warnemünde pünktlich. Ihr Zimmer war schon bezugsfertig, obwohl es noch nicht einmal zwölf Uhr war. Sie ließ ihren Koffer vom Hotelpagen hinaufbringen, drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand und ging auf die Glasfront zu. Sie zog die Gardinen zur Seite, öffnete die Fensterflügel und trat auf den Balkon. Vor ihren Augen breitete sich der herrliche Strand aus, und im Westen stieg die markante Steilküste an. An der Seebrücke legte gerade ein Ausflugsdampfer an, auf dessen Ankunft bereits eine Traube von Menschen wartete. Ein Hund flitzte über die lange Brücke in Richtung Anleger, Ramona konnte sein Bellen in der Ferne hören.
Sie hatte noch Zeit. Gern wäre sie hinunter an den Strand gegangen, um barfuß durch den Sand zu spazieren. Aber sie hatte strikte Anweisungen, zunächst die »Vertrauliche Verschlusssache« abzuwickeln, bevor sie sich wieder aus dem Hotel entfernte. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zu warten. Aber sie freute sich auch auf Manfred, doch vor dreizehn Uhr dreißig war nicht mit ihm zu rechnen. Sie machte es sich in einem der Sessel bequem und dachte an Manfred, an seinen blonden lockigen Wuschelkopf, an seine fast türkisblauen Augen. Sie lag so gern in seinen Armen. Mit ihm fühlte sie sich frei, ein Gefühl, das ihr zuvor völlig fremd gewesen war, das sie sogar ein bisschen geängstigt hatte.
Mit dem Bau des Neptun hatte man 1969 begonnen, ein achtzehn Stockwerke hoher, mächtiger Betonklotz, der im rechten Winkel auf den Strand ausgerichtet war und somit von allen Zimmern aus einen Blick aufs Meer gewährte. Der damals in Rostock wirkende SED-Bezirkssekretär Harry Tisch hatte dieses Bauprojekt gemeinsam mit Lotte und Walter Ulbricht angestoßen, das Neptun sollte ein Luxushotel der ganz besonderen Art werden, vor allem aber sollte es den Standards im Westen in nichts nachstehen. So würde es für das Ministerium für Staatssicherheit eine ideale Operationsbasis abgeben. Im Sommer 1971 reisten die ersten Gäste an. Im Neptun stiegen hochrangige Parteifunktionäre ab, aber auch namhafte Politiker aus der Bundesrepublik, unter ihnen keine Geringeren als Willy Brandt, Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher.
Die Innenausstattung war eine Meisterleistung des Designs der sechziger Jahre. Vor allem imponierten Ramona die runden Betten, sie fühlte sich darin wie in einem Raumschiff. Als sie ankam, ragten die Kopfkissen wie zwei spitze Berge daraus hervor. Die Wände waren mit goldenen Brokattapeten bespannt, und neben dem Bett befand sich eine Stehlampe mit schwerem Messingfuß und plüschbezogenem Lampenschirm, passend zu den cremefarbenen Lackoberflächen der Möbel. Auf dem kleinen runden Tischchen stand ein Blumenstrauß in einer weinroten Rauchglasvase, gelbe Rosen und blaue Freesien. Und es gab einen Fernseher, groß und mit Zugang zu den Kanälen des Westens.
All das hatte gar nichts mehr von dem Stil der Ostseebäder des 19. Jahrhunderts. Ramona fand das eigentlich schade, sie hatte etwas für die alten Zeiten übrig, obwohl sie den Luxus, den ihr dieses Hotel bot, sehr liebte. Ebenso liebte sie den abenteuerlichen Teil ihrer Reisen, die heimlichen Zusammenkünfte mit Manfred. Ach, wäre er doch nur schon da.
Da klingelte das Telefon auf dem halbrunden Sideboard hinter dem Kopfende des Bettes. Ramona ließ sich in die Kissen fallen, dass die akkurat nach oben zeigenden Zipfel in sich zusammenfielen, streckte einen Arm nach dem Hörer aus und hob ab.
»Hallo?« Sie erkannte seine Stimme sofort.
»Ist dort ›Kleine Wolke 1724‹?« Das Kennwort musste zunächst erfragt werden.
»Wer sonst?« Sie trafen sich immer in demselben Zimmer, aber Manfred konnte es nicht lassen, den Sicherheitscode abzufragen. »Kleine Wolke«, das war der Deckname ihres Auftrags und 1724 die Zimmernummer.
Manfred war ein lieber Kerl, vielleicht etwas naiv und einige Jahre jünger als Ramona. Ihr Verbindungsoffizier hatte ihr ans Herz gelegt, ihn möglichst eng an sich zu binden, das hatte sie nur zu gern getan, aber sie war sich über die Belastbarkeit ihres Partners noch nicht im Klaren.
Sie arbeiteten nun schon ein knappes Jahr zusammen, meistens in geheimer Mission, und das Hotel Neptun in Warnemünde war zu einem vertrauten Ort geworden. Sie gaben das verliebte Paar, zunächst war das nur eine auferlegte Rolle gewesen, aber mit der Zeit hatte sich zwischen den beiden eine Beziehung entwickelt. Manfred Berghof hatte sich in seine Kollegin verliebt, er bewunderte sie.
Ramona Weiß, so ihr Deckname, stammte aus dem Eichsfeld, genauer aus Leinefelde. Nun lebte und arbeitete sie in Ostberlin. Offiziell war sie beim Reisebüro der DDR angestellt, der staatlichen Organisation, die alle Reisen des Landes ausrichtete. Nur der FDGB, der Gewerkschaftsbund der DDR, zuständig für Erholungsreisen im Inland, hatte eigene Ferienangebote.
Das Haus des Reisens befand sich am Alexanderplatz in einem der neuen Hochhäuser und erstreckte sich über zwei Etagen. Der mit einem mächtigen Vordach überfangene Eingangsbereich war mit einem Kunstwerk des Sozialistischen Realismus ausgestattet: einem gigantischen, über zwanzig Meter langen Kupferrelief mit dem verheißungsvollen Titel »Der Mensch überwindet Zeit und Raum«, ein Werk des Künstlers Walter Womacka, der eine wichtige Position im Kunstsystem der DDR bekleidete. Das Relief, das Menschen zeigte, die sich heroisch den Gewalten der Elemente entgegenstellten, alle Grenzen sprengend, mutete angesichts der begrenzten Reisemöglichkeiten der DDR-Bürger zynisch an.
Ramona Weiß war für die Auslandsreisen der besonderen Art zuständig, die nicht jedem DDR-Bürger zuteilwurden. Urlaubsreisen nach Kuba oder an die jugoslawische Adria zum Beispiel. In diese sogenannten halb sozialistischen Länder durften nur wenige Auserwählte reisen. War Ramona nicht damit beschäftigt, dieses seltene Ferienglück zu vermitteln, fungierte sie als rechte Hand des Generalsekretärs. Diese Position verlangte häufiges Reisen im Dienst des Arbeitgebers und erklärte somit ihre regelmäßigen Abwesenheiten, in denen sie offiziell für die Leitung des Reisebüros unterwegs war, inoffiziell aber für die Staatssicherheit operierte.
Ramona schätzte sich glücklich, als sie damals nach Beendigung ihrer Lehre vom Reisebüro der DDR übernommen wurde. Sie wollte so viel wie möglich von der Welt sehen oder doch zumindest in Gedanken durch ihre Arbeit in ferne Länder gelangen. Und sie liebte es, in Berlin zu leben. Nur nicht zurück ins Eichsfeld. Das war den Spitzeln der Stasi nicht verborgen geblieben.
Anfang der achtziger Jahre, sie hatte gerade ihre Lehre beendet, war sie zum Chef gerufen worden. Zwei seriöse Herren in schlecht sitzenden Anzügen wollten sie sprechen. Ramona wusste sofort, wer sie waren, Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Man wollte sie zunächst als IM, als inoffizielle Mitarbeiterin, gewinnen. Eine ganze Zeit lang konnte sie die Bemühungen der Führungsoffiziere abwehren, mit Ausreden, sie sei viel zu geschwätzig für diesen Job, würde sich bestimmt ständig verplappern und könne sich sowieso nichts merken. Aber das Ministerium ließ nicht locker. Sie holten selbstverständlich auch bei ihrem Arbeitgeber Erkundigungen über sie ein, und die Aussagen ihres Chefs stimmten nicht im Entferntesten mit ihrer Selbsteinschätzung überein. Ramona Weiß war weder geschwätzig noch unkonzentriert, im Gegenteil, sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, hatte die gesamten Reisedaten der Pauschalreisen ihres Ressorts im Kopf und wickelte alles mit äußerster Präzision ab. Seit sie für das Haus des Reisens arbeitete, gab es keine Klagen.
Es war ihr letztlich nichts anderes übrig geblieben, als einzuwilligen. Sie knüpfte ihre Bereitschaftserklärung allerdings an eine Bedingung, sie wollte auf keinen Fall ihre Eltern ausspitzeln. Die Bedingung wurde angenommen. Ihre Eltern hielten nicht viel vom DDR-System, sie hatten ihre Tochter christlich erzogen. Ramona hatte lange dafür kämpfen müssen, bevor sie ihr erlaubten, bei der FDJ mitzumachen. Ihr Großvater hingegen war ein hochrangiger Offizier der Staatssicherheit gewesen. Noch heute, da er fast achtzig war, verstand sie sich besser mit ihm als mit ihren Eltern, immer gab es Streit um Politik.
Ihre Mutter arbeitete als Erzieherin in einem Kinderhort, der zur katholischen Kirchengemeinde gehörte, und ihr Vater war Redakteur für Sport bei der Lokalzeitung. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte ihn längst auf dem Kieker, und er war sicher nur noch auf seinem Posten, weil Ramonas Großvater immer noch sehr viel Einfluss geltend machen konnte.
Nun arbeitete sie schon fast zwei Jahre für die Staatssicherheit. Aus ihrer Position als IM war sie zu einer vielseitig einsetzbaren Stasiagentin aufgestiegen. Zu ihren Aufgaben gehörte das Ausspionieren von Gästen, die aus nicht sozialistischen Ländern in den noblen Interhotels abstiegen: Politiker, Geschäftsleute, Devisenhändler. Offiziell stattete sie den Hotels, die wegen ihrer Exklusivangebote von Interesse waren, Kontaktbesuche ab. Die Abende verbrachte sie in den Hotelbars, sie war eine Art weiblicher Romeo.
Bei der Staatssicherheit bildete man ganz gezielt Romeos aus, meistens junge, gut aussehende Männer, die vorzugsweise im britischen oder amerikanischen Sektor Berlins beschäftigt waren. Als ideale Opfer galten alleinstehende oder geschiedene Frauen um die fünfundvierzig, die innerhalb der Behörden der westlichen Besatzungsmächte Schlüsselpositionen im Bereich der Informationsauswertung innehatten. Ramona also war das weibliche Äquivalent, mit ihrer selbstbewussten Art übte sie eine besondere Anziehungskraft auf verheiratete Männer aus. Sie gab ihnen das Gefühl, plötzlich wieder unabhängig und begehrenswert zu sein.
Ramona war regelmäßig im Hotel Cecilienhof in Potsdam im Einsatz, da dieses Hotel dem Reisebüro der DDR gehörte. Kaiser Wilhelm II. hatte das Anwesen im englischen Landhausstil für seinen Sohn, Kronprinz Wilhelm, und dessen Gemahlin Cecilie ab 1913 erbauen lassen. So entstand der letzte Schlossbau der Hohenzollern und der Ort, an dem das Ende des Deutschen Reiches besiegelt wurde. Denn 1945 tagten hier die alliierten Siegermächte Großbritannien, Amerika und die Sowjetunion, um Deutschland gewissermaßen unter sich aufzuteilen.
Obwohl Ramona sich nicht sonderlich für Politik interessierte, war sie jedes Mal wieder beeindruckt, wenn sie die riesige Halle mit der mächtigen Holzbalkendecke durchschritt. Hier hatten die drei Großen – der englische Premier Winston Churchill, Generalissimus Josef Stalin und der amerikanische Präsident Harry Truman – sich die Köpfe heißgeredet, manchmal glaubte sie, dass der Zigarrengeruch der Politikerrunde noch an den Wänden haftete. Nun ging sie durch diese Räume und genoss deren herrschaftliche Anmutung, manchmal vergaß sie ganz, in welcher Mission sie eigentlich unterwegs war.
Wann immer Ramona sich dort aufhielt, versuchte sie sich vorzustellen, wie wohl das Kronprinzenpaar gelebt hatte. Einen der Privaträume hatte sich Cecilie als Schiffskajüte einrichten lassen. Ein kleiner Raum mit Schiffsfenstern und gewölbter Decke. Maritimes Blau und helle frische Farben verstärkten die Assoziation, auf hoher See zu sein. Ramona gefiel der romantische Zug der Prinzessin. Stand das mächtige »englische« Jagdschloss für Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit, so sprachen Weltoffenheit und Fernweh aus dieser Zimmereinrichtung, Fernweh, das auch sie immer verspürte.
Es klopfte dreimal kurz, das musste Manfred sein. Ramona schloss das Buch, in dem sie gelesen hatte, und öffnete die Tür.
»Hallo, Schatz, wie geht’s?« Manfred strahlte sie mit seinem leicht spitzbübischen Lächeln an, nahm sie in die Arme und küsste sie.
Ramona, die diesen Augenblick schon so lange herbeigesehnt hatte, erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich und sagte etwas vorwurfsvoll: »Wo warst du so lange? Ich bin schon beinahe über meinem Buch eingeschlafen.«
»Ich hatte noch eine Besprechung mit dem obersten Parteisekretär in Rostock.«
»Was wollte er von dir?« Ramona wechselte sofort in ihre professionelle Rolle.
»Nur eine allgemeine Lagebesprechung.«
Aber Manfred machte auf sie einen verwirrten Eindruck. Er schaute sie schräg von der Seite an und drehte das in den Fernseher integrierte Radio auf, laute Musik ertönte, er umarmte sie erneut, sie landeten in der Arena des Bettes, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Lass dir bitte nichts anmerken, sie hören alles mit, wir transportieren extrem gefährliches Material, wir müssen vorsichtig sein, später am Strand.«
Manfred hatte geahnt, dass das berüchtigte Zimmer 1718 – schräg gegenüber – besetzt war. Von hier aus überwachte das Ministerium für Staatssicherheit die umliegenden Zimmer, die offenbar reichlich verwanzt waren. Es gab von Zimmer 1718 eine direkte Telefonleitung zur Direktion der Staatssicherheit in Rostock. So war auch das Zimmer von Ramona und Manfred gläsern.
Jeden Mittwoch um zehn Uhr berief Franziska de Beer das Team des Jensen-Museums zur großen Dienstbesprechung ein. Frau Hufe, die in erster Linie den Publikumsverkehr organisierte, berichtete.
»Für Donnerstag, den 1. Mai steht die Gruppe von Kernphysikern zu einer Führung durch die Sonderausstellung auf dem Plan, Ankunft circa siebzehn Uhr, im Anschluss ist ein Sektempfang gewünscht. Die Gruppe kommt aus Dresden, aus dem Nuklearforschungszentrum Rossendorf. Die Herrschaften, ich glaube, es ist keine Frau dabei, sind bei Zapf im ›Feenschloss‹ untergebracht. Auf ihrem Besichtigungsprogramm steht, soweit ich informiert bin, auch unser hiesiges AKW Lichtenwerder. Herr Caspèr hat sich bereit erklärt, die Führung durch die Sonderausstellung zu übernehmen.«
Franziska zog ihre rechte Augenbraue hoch, was sie immer tat, wenn ihr etwas missfiel oder sie sich auf etwas stark konzentrierte.
»Das ist sehr freundlich, Adam, aber der Wellenkanal ist Chefsache. Die Delegation aus Dresden empfange ich selbst.« Franziska de Beer und Adam Caspèr hatten sich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit auf das »Hamburger Du« geeinigt: Man behielt das »Sie« als Anrede bei, benutzte aber die Vornamen.
»Ich würde Sie dennoch bitten, bei der Führung anwesend zu sein und mit den Gästen, die daran Interesse haben, im Anschluss einen Rundgang durch die Dauerausstellung zu machen.«
Wie üblich ging auch diese Mittwochsbesprechung gut strukturiert und reibungslos über die Bühne. Ihre beiden Kolleginnen waren verlässliche Größen. Wie bei allen ihren Tätigkeitsbereichen war Frau Hufe auch bei der Vorbereitung solcher Veranstaltungen äußerst präzise: Die Gläser wurden in akkuraten Formationen aufgestellt, die Farbe der Tischdecke passte immer genau zur Tischdekoration. Frau Mendes kümmerte sich um die Bestückung der Pressemappen, die in demselben Rot gestaltet waren wie die Hausflyer, die Außenbeschilderung des Gebäudes und das Briefpapier, sie nannte es das Hausrot, und sie hatte ein gutes Gespür für Trends. Das zeigte sich vor allem bei der Einrichtung und dem Sortiment des neuen Museumsshops.
Als Franziska ans JMK kam, konnte man ein paar Bücher und einen Kaffeebecher mit dem Konterfei des Museumsgründers Jens Jensen kaufen. Caspèr hatte die Becher in einem Copyshop nach einer etwas karikaturistisch wirkenden Vorlage einer hiesigen Künstlerin anfertigen lassen. Nun gab es einen feinen kleinen Shop mit einem attraktiven Angebot von Waren. Frau Mendes hatte den alteingesessenen Stadtbäcker dafür gewinnen können, Objekte aus Marzipan für den Verkauf zu produzieren – eine Figurine in der Hochzeitstracht der Marschen, ein Tauflöffel, der kleine silberne Gildevogel und natürlich der berühmte Kleefelder Skrei – die Besucher liebten solche Mitbringsel.
Im Fall der Detangling Mouse, des absoluten Hits im Shop, hatte Frau Mendes äußerste Beharrlichkeit bewiesen. Franziska hatte dieses phantastische Zwitterding aus Haarbürste und Computermaus von einer ihrer New-York-Reisen mitgebracht. Ein kompaktes pink-schwarzes Objekt, geformt wie ein sich leicht im Wind bewegendes Blatt mit den Qualitäten eines Handschmeichlers. Nahm man die Kappe von der Unterseite ab, so hatte man eine Haarbürste, mit der man garantiert alle Knoten aus den Haaren entfernen konnte, was bei Franziskas langen Haaren besonders wichtig war. Hinter dem kleinen Kläppchen an der Seite verbarg sich der USB-Chip für die Funkverbindung zwischen Maus und Computer, und betätigte man den Schiebeschalter daneben, so fing die Detangling Mouse rundum zu blinken an.
Franziska hatte sie stets in ihrer Handtasche, denn nicht nur waren ihre Haare ständig verfilzt – kein Wunder bei der meist starken Brise in den Marschen –, auch die lästigen Kabel von Computermäusen hingen immer irgendwo fest und waren zu kurz. Eliza Mendes war auf Anhieb von diesem kuriosen Objekt begeistert gewesen, und so hatte sie den Hersteller in den USA ausfindig gemacht und es tatsächlich geschafft, für den Shop Sonderkonditionen auszuhandeln, kleine Auflagen mit unterschiedlichen Dekoren, die von Sammlungsgegenständen inspiriert waren.
Es gab einen Detangler mit Porzellandekor, der ostfriesischen Rose, einen mit Brokatstickerei und einen mit dem Abbild einer kunstvoll gearbeiteten Filigranbrosche. Frau Mendes hatte die jeweilige Detangling Mouse zu den Ausstellungsstücken dekoriert. Franziska ließ sie gewähren, obwohl sie eigentlich eine solche Vermischung von seriöser Ausstellung und kommerziellen Absichten nicht mochte; es sah aber in den Vitrinen sehr schön aus, und es war verkaufsfördernd.
Am Ende der Besprechung bat Franziska Adam Caspèr, noch einen Moment zu bleiben.