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Suchen Sie nach Ihrem Platz im Leben? Oder fragen Sie sich, ob Sie am richtigen Ort angekommen sind? Auch Tomas Sjödin bewegen diese Lebensfragen und er macht sich auf die Suche nach Antworten: Er folgt der Spur seines "Zwillings", des zweifelnden Apostels Thomas. In ihm findet Sjödin einen Seelenverwandten, jemanden, den er versteht und von dem er sich verstanden weiß. Er begibt sich auf eine persönliche Spurensuche, bei der er die Stationen seines Lebens, und die seines "Zwillings" bereist. Und er macht Entdeckungen, die er am heimischen Schreibtisch nicht gemacht hätte. Hoffnungsvoll fordert das Buch Sie heraus, alles infrage zu stellen, aus dem Vertrauten aufzubrechen und den eigenen Platz und die eigene Berufung zu finden.
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Seitenzahl: 236
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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22896-0 (E-Book)ISBN 978-3-417-26817-1 (lieferbare Buchausgabe)
2. Auflage 2022
© der deutschen Ausgabe 2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]
Original edition published in Swedish under the title: Den som hittar sin plats tar ingen annans by Libris förlag, Örebro, Sweden. Copyright © Libris förlag.
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch Titelbild: Irtsya (shutterstock.com) Satz: Christoph Möller, Hattingen Datenkonvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Meinen Kollegen
Über den Autor
Ich glaube, dass es mit dem Namen anfing
Caravaggio, Thomas und ich
Auch er kam aus dem Norden
Reise mit dem Wind
»The first cut is the deepest«
Es wimmelt von Thomassen in Kerala
Hingabe ist der Schlüssel zum Leben
»Kann das hier vielleicht mein Platz werden?«
Mein Kerala heißt Haga
Wie die Sonnenblume sich ausrichtet
Glück ist ein Nebenprodukt
Auf dem Thomasweg
Mein Leben auf ein »Ja« bauen
Der Radiotest
Es beginnt mit einem Ameisenschritt
Mein Platz an Gottes Herzen
Anmerkungen
Tomas Sjödin, geboren 1959, ist ein schwedischer Schriftsteller und Pastor und in seiner Heimat durch viele Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Seine Bücher und Kolumnen sind oft autobiografisch geprägt und humorvoll. »Warum Ruhe unsere Rettung ist« war auch in Deutschland ein großer Erfolg.
Es ist Donnerstag, der 7. Juli im Sommer 2016. Ich bin an meinem Arbeitsplatz, in der Smyrna-Kirche, auf der Grenze zwischen den Stadtteilen Haga und Vasastaden, im Herzen von Göteborg. Es ist 10 Uhr 30. Noch eine halbe Stunde, dann werden wir die großen Glastüren öffnen, die auf den Hagaplatz führen, und mit der Essensausgabe anfangen, danach das gemeinsame Singen und der Abendmahlsgottesdienst. Aber schon jetzt bilden die Hilfe suchenden Menschen da draußen eine lange Schlange. Ob bei Sonnenschein oder Schneesturm, der Anblick ist immer derselbe. Wenn wir die Türen öffnen, breitet sich ein mittleres Chaos aus. Alle wollen als Erste hinein, alle wollen sicherstellen, dass sie auch eine der Lebensmitteltüten bekommen, die wir verschenken.
Meine Kollegen und ich bilden einen Kreis um den Tisch im Zimmer des Küsters und sammeln uns für den beginnenden Arbeitstag. Wir verteilen die Aufgaben, erinnern einander daran, was unser Auftrag ist, und fragen, ob etwas Besonderes ansteht.
An diesem Donnerstag sieht unser Stab so aus: Zwei sind seit Langem krankgeschrieben, einige tragen ein Tattoo auf dem Arm – sie haben sich das Jahr stechen lassen, in dem sie einst schweren Missbrauch erlitten haben – und zwei sind Pastoren. Einer hat mit 65 Jahren gerade seine Berufslaufbahn in der Pflege beendet, um Diakon zu werden, ein Betriebswirtschaftsstudent hat zurzeit Semesterferien, ein anderer ist an der Technischen Hochschule. Drei sind schon seit Längerem Rentner. Zwei sind aus dem Iran nach Schweden gekommen, um hier einen Platz zu finden, an dem sie ein Leben führen können, das lebenswert ist. Außerdem sind da noch zwei, die an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilnehmen.
Da stehen wir im Halbdunkel und bilden einen Kreis, einen Ring. Niemand hat gesagt, dass wir uns so hinstellen sollen, es hat sich so ergeben. Als wollten wir mit unseren Körpern das ausdrücken, was wir sind: ein Ring. In diesem Moment geht mir auf, dass auch ich in diesen Ring gehöre. Dass ich hier einen Platz habe, der mich von Grund auf verändert hat. Ich habe mehr als fünfzig Jahre auf der Welt verbracht, mehr als zehn Bücher geschrieben, es geschafft, mehr als dreißig Jahre Pastor unserer Gemeinde zu sein, drei Kinder gezeugt und zwei von ihnen verloren, getrauert und gelernt, mit Trauer zu leben. Aber erst jetzt habe ich begriffen, dass Menschsein heißt, seinen Platz zu finden.
An anderen Orten höre ich, wie ich als Autor vorgestellt werde, als Kolumnist einer großen Tageszeitung oder als Stimme, die man vom Radio kennt. Hier kümmert das niemanden. Die Menschen, die wir heute treffen werden, wissen kaum etwas von uns. Sie sind einzig mit Überleben beschäftigt.
Man könnte sagen, dass ich und meine engsten Kollegen die Arbeit leiten, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir oder zumindest ich bin ein Teil dieses Rings, ein Teil von etwas Größerem. Ich brauche diesen Platz hier, und die anderen brauchen ihren Platz ebenso. So wie wir hier stehen, kämpfen wir nicht um unseren Platz – wir schaffen ihn. Und manchmal, wenn ein neuer Freiwilliger dazukommt, dann erzählen wir einander von unseren Wegen und wie wir aus ganz unterschiedlichen Hintergründen kommend hier zusammengefunden haben.
An diesem Tag, dem 7. Juli, muss ich mich kneifen, um wirklich zu kapieren, dass ich meinen Platz gefunden habe. Ich bin einer von ihnen. Meine Geschichte ist ganz anders als die der anderen, aber was ich zu erzählen habe, fügt sich zu den anderen Geschichten. Ich bin Tomas. Und dieser Name ist hier nicht unwichtig.
Ich glaube sogar, alles begann mit dem Namen. Und mit einer lang gehegten Sehnsucht: mehr über meinen Namensvetter zu erfahren, über Thomas, den am häufigsten missverstandenen Jünger Jesu. Es geht natürlich um mehr als den Namen, den wir gemeinsam haben, schließlich ist Thomas nicht gerade ein seltener Name. 84 493 Menschen in Schweden heißen mit Vornamen Tomas, 45 von ihnen schreiben sich mit einem Z am Ende. Unser Name bedeutet nicht Zweifler, wie die meisten glauben, sondern Zwilling. Als mir klar wurde, dass es dann ja einen Zwillingsbruder oder eine Zwillingsschwester des biblischen Thomas gegeben haben muss, nahm meine Suche Fahrt auf.
Wer war der andere Zwilling, der, der nie genannt wird? Oder ist genau das der springende Punkt: dass all die Millionen Menschen, die sich im Laufe der Geschichte mit Thomas verwandt fühlten, seine Zwillingsbrüder und -schwestern sind? Alle, die einfach glauben wollten, aber kämpfen mussten, um vertrauen zu können? Die wie Thomas sehen wollten, ehe sie glauben konnten – in seinem Fall die Wundmale der Kreuzigung? Ich sehe all diese Leute, als hätten sie im Laufe der Geschichte eine lange Schlange gebildet – und ich selbst stehe ganz an ihrem Ende.
Seit mein Kinderglaube zu wanken begann, habe ich meine Zuflucht bei dem Jünger Jesu gefunden, mit dem ich mich am ehesten verwandt fühlte. Für mich ist er nicht der Zweifler. Er ist Didymos, der Zwilling, der Ambivalente, der Patron der Realisten.
Was die Bibel über ihn sagt, ist äußerst knapp, dennoch ist seine Persönlichkeit deutlich ausgeleuchtet. Er selbst scheint nicht immer zu wissen, was er glaubt, aber er bleibt sich immer treu. Die wenigen Worte, die von ihm überliefert sind, geben uns genau wie seine Lebensgeschichte einen deutlichen Eindruck davon, wie vielschichtig seine Persönlichkeit ist, die Persönlichkeit eines Menschen, der Gegensätze verbindet, und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig.
Im Laufe der Jahre habe ich viele Gespräche mit Thomas geführt, habe bei ihm Schutz gesucht, wenn ich mich den Glaubensstarken unterlegen fühlte, habe mich an ihn gehalten, wenn mir vorgeworfen wurde, kleingläubig zu sein. Und vor ein paar Jahren dann hatte ich die Eingebung, der nächsten Spur zu folgen, der ich in Sachen Thomas begegnen würde, und wäre sie noch so verwischt.
Anfänglich war ich gar nicht so sehr am historischen Thomas interessiert. Und ich bin mir sicher, dass er selbst es nicht gewollt hätte, als jemand betrachtet zu werden, dem man folgen sollte – und erst recht nicht als jemand, dem man ein literarisches Denkmal setzt. Aber schon bald wurde ich von seiner Geschichte regelrecht verschluckt.
Als Zwillingsseele habe ich mich an ihn gehängt – ohne zu ahnen, wohin mich das führen würde. Ich begann mit dem Gedanken zu spielen, ich selbst wäre sein Zwilling, der andere, unbekannte, ein Zwilling im Zweifel und im Glauben. Ich ließ Thomas schließlich jemanden sein, mit dem ich mich über alles unterhalten konnte, von Ambivalenz bis Abenteuer. Und ich versuchte ein Muster in dem zu erkennen, was sich als seine Geschichte erwies: der Weg von der Ausgrenzung hin zur Aufgabe und zum Dienst an etwas, das weit größer war als alles, was er hätte ahnen können.
Dass das historische Material so dürftig ist, wie es nun mal ist, betrachte ich nicht als Nachteil. Ich sehe darin eher die Möglichkeit, verschiedene Deutungen und gedankliche Wege auszuprobieren. Es lässt auch dem Gedanken an den anderen Zwilling mehr Platz. Und: Ich kann meine eigene Geschichte in die Lücken hineinschreiben.
Die meisten glauben, der Name des Thomas sei von Anfang an sowohl ein Titel als auch ein Rufname gewesen. Mit dieser Bezeichnung ging man auf Nummer sicher. Da Zwillinge ja von vielen verwechselt werden – etwas, womit vor allem eineiige Zwillinge zu leben lernen müssen –, ist es das Sicherste, man sagt einfach nur »der Zwilling«, wenn man einen der beiden meint.
Einige glauben, dass Thomas der Zwillingsbruder von Jesus war, was den theologischen Begriff des divine double prägte. Ich selbst halte den Gedanken für abwegig. Wenn es so gewesen wäre, hätten die Berichte, die die Evangelien von Jesu Geburt in Bethlehem geben, es erwähnt.
Was aber lockt mich da? Was mich anzieht, ist ein Gefühl, für das Thomas steht: vom innersten Kreis der Jünger ausgegrenzt zu sein. Mit anderen Worten das Gefühl, nicht gut genug zu sein für die »geistlichen Eliten«. Was mich anzieht, ist auch die freimütige Art, in der er den Gottessohn anspricht. Was mich anzieht, ist sein Mut, grundehrlich zu sein, lästig zu werden und sich das Recht herauszunehmen, zu zweifeln und Dinge infrage zu stellen, auch wenn niemand sonst das zu tun scheint. Was mich anzieht, ist aber auch sein Mut, sich überzeugen zu lassen, wenn neue Fakten auftauchen, dass er so schnell von einer Haltung des Zweifels zu einer Haltung des Anbetens zu wechseln wagt. Im Zeitalter des Suchens ist es wichtig anzumerken, dass es nicht verwerflich ist, tatsächlich zu finden, was man gesucht hat.
Mich überkam eine maßlose Neugierde, was Thomas’ große Seereise nach Indien angeht. Denn wenn man seinen Fußspuren folgt, landet man zuletzt immer dort. Vieles spricht dafür, dass der Jünger Jesu, der am ehesten als »Wackelkandidat« betrachtet wurde, am Ursprung einer Kirche steht, die heute zirka sieben Millionen Gläubige zählt und durch die Jahrhunderte von einem trotzigen Glauben bestimmt war. Eine Kirche, ähnlich zwiegespalten wie Thomas’ Gefühle oder, wenn man will: eine Kirche mit vielen verschiedenen Erscheinungsformen.
In einem meiner Bücher – Reservkraft (Kraftreserve)1 – habe ich über das Wort »Gemeinschaft« geschrieben, ein Schlüsselwort unseres Lebens. Das Buch erschien 2004. Seitdem hat sich in unserer Familie, wie ich sie dort beschrieben habe, viel verändert. Zwei unserer Söhne, Karl-Petter und Ludvig, sind uns im Alter von 15 und 14 Jahren genommen worden. In der Leere, die die beiden Jungen zurückgelassen haben, leuchtet das Wort Gemeinschaft nur noch heller.
Ich beschließe, eine besondere Gemeinschaft zu suchen und mich für eine Zeit in die Gesellschaft des Jüngers, Apostels und Missionars Thomas zu begeben. Es ist eine Entscheidung, die mich zu einer langen Reise führt, einer Reise, bei der sich herausstellen wird, dass es um mich selbst geht und um uns alle, die wir unseren Platz im Leben suchen.
In den Wochen, bevor ich mich nach Deutschland aufmachte, verging die Zeit im Sauseschritt. Unsere karitative Arbeit explodierte förmlich, die Not wurde immer bedrückender und unsere Kirche hatte das Glück, zu einem Ort zu werden, den viele aufsuchten, um Hilfe zu finden.
Bei so etwas dabei zu sein und die wachsende Schar Freiwilliger anzuleiten, ist zutiefst befriedigend. Zusehen zu dürfen, wie sie die kleinen Dinge tun, die möglich sind, das ist, als beobachte man ein loderndes Feuer der Hoffnung, welches gegen alles steht, was unmöglich erscheint. Aber es ist auch ermüdend. Die Not ist real, und es ist schwer, nach Hause zu gehen und Dinge zu genießen, die vergleichsweise luxuriös sind, während andere Menschen sich für das Lebensnotwendige abmühen.
Auf dem Weg zu einer Lesung in der Nähe von Heidelberg leiste ich mir einen zusätzlichen Tag in Potsdam. Es ist eine Art Ironie des Schicksals, dass Michelangelo Merisi da Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas ausgerechnet in einem Schloss mit dem Namen Sanssouci hängt, was doch »ohne Sorge« heißt. Ich reise dorthin, um das Bild »in echt« zu sehen.
Es fühlt sich an, als würde ich von einer vollen Autobahn auf eine stille Dorfstraße abbiegen. Ich gelange an den vielleicht stillsten Ort, den ich je besucht habe. Dabei ist das Schloss keinesfalls menschenleer, aber es herrscht jene Sonntagsstille, nach der ich mich gesehnt habe.
Ich glaube fest daran, dass man seinen Impulsen folgen soll, und ich habe mein Leben lang dieser Überzeugung entsprechend gehandelt. Mit den Jahren habe ich es sogar noch häufiger getan, habe auf die schwachen Signale zu hören gewagt und dann tatsächlich umgesetzt, was ich für richtig hielt. Von Interesse und Sehnsucht geleitet, bin ich auch schwer begreiflichen Impulsen gefolgt.
Wenn man etwas Wertvolles finden möchte, muss man genau hinschauen. Wenn man sich damit begnügt, nur die Oberfläche der Dinge zu scannen, muss man nehmen, was man findet. Eine oberflächliche Allgemeinbildung ist im Vergleich zu vertieftem Wissen breit und leicht, aber die Vertiefung kann per Definition nur in einem kleinen Bereich geschehen. Wenn man unter die Oberfläche gelangen möchte, muss man Grenzen ziehen, sich mit dem beschäftigen, was einen neugierig macht, und anderes beiseitelassen. Es gibt vieles, was man nicht muss.
Mein plötzlich aufflammendes Interesse für Kirchenglocken führte mich durch die Slowakei und später zu einer zweitägigen Glockenkonferenz auf dem englischen Land. (Ich habe darüber in meinem Buch Ett brustet halleluja – Ein gebrochenes Halleluja2 geschrieben.) Johannes vom Kreuz lockte mich auf eine Pilgerreise nach Andalusien, und mein Wunsch, Jean Vanier, den Gründer der Arche-Kommunität, kennenzulernen, hat mich dazu gebracht, mich für eine fünftägige französischsprachige Retraite in Trosly wenige Kilometer nördlich von Paris anzumelden – mich, der nur ein paar Brocken Französisch spricht.
Jetzt bin ich am südwestlichen Rand von Berlin, um mir ein Gemälde anzuschauen. Als ich meiner Frau von meinem Vorhaben erzählte, glaubte sie, sie hätte mich nicht richtig verstanden …
Der Schlosspark von Sanssouci ist großartig: Blumenrabatte, Weinbauterrassen, Gewächshaus, Lustgarten, Teehaus, Wasserspiele, Skulpturen und mehr als dreitausend Obstbäume … Man kann, wenn man will, viele Kilometer auf Kieswegen wandeln, ohne auch nur einmal an dieselbe Stelle zu kommen. Auf dem höchsten Punkt einer Erhebung liegt der Palast, den Friedrich der Große sich als Sommerresidenz erbauen ließ.
Der Weg, auf dem ich mich dem Palast nähere, gibt mir eher das Gefühl, einen Weinberg hochzuwandern als einen Hügel. Es ist ein kunstvolles System von sechs Terrassen, zu denen jeweils Gewächshäuser gehören. Mehr als hundert verglaste Nischen müssen es sein, wenn ich richtig gezählt habe. Je nach Robustheit wachsen die verschiedenen Rebsorten hinter Glas oder im Freien. Diese Weinbergterrassen geben dem Park seinen einzigartigen Charakter. Und ganz oben, in einem Seitenflügel des Schlosses, befindet sich das Kunstmuseum, in dem das Original von Caravaggios Gemälde hängt.
Ich beziehe ein Hotelzimmer in der Nähe und wechsle den ganzen Nachmittag zwischen Schloss und Park hin und her. Am Abend bin ich wieder im Schloss, und auch am folgenden Morgen bin ich dort einer der Ersten. Draußen im großen Park spazieren und joggen Leute, manche haben Decken ausgebreitet und picknicken. Ein fröhliches Bild.
Ich dagegen möchte einfach allein sein, ich, der ich doch sonst durch und durch ein »Herdentier« bin. Ich will dieses Erlebnis für mich allein haben. Hier sollen jetzt nur ich sein, Caravaggio, Jesus, Thomas und die zwei namenlosen Begleiter, die zu dem Geschehen auf dem Gemälde gehören.
Die Erzählung von Thomas ist vielleicht die Geschichte im Neuen Testament, die mir für meinen Glauben am meisten bedeutet. Ich habe mich mehr als dreißig Jahre lang mit ihr beschäftigt, sie in Predigten angesprochen, in Texten und Büchern, und mich immer als der andere Zwilling verstanden, als der ungenannte Bruder. Und ich habe immer wieder Menschen getroffen, die Lebensgeschichten erzählten, die der des Thomas glichen, ob ihnen das bewusst war oder nicht. Wie jemand nicht richtig dazugehörte, wie jemand unerwartet eine zweite Chance bekam, wie jemand von Einsamkeit zum Glauben gelangte. Denn darum geht es bei Thomas.
Die Geschichte, wie sie im Johannesevangelium aufgezeichnet ist, erzählt nicht viel vom Hintergrund und den Ursachen dessen, was geschieht. Kurz gefasst: Es kommt zu einer ersten Begegnung zwischen dem Auferstandenen und seinen niedergeschlagenen Jüngern, die bis dahin geglaubt haben, er sei tot. Bei dieser ersten Begegnung ist Thomas nicht dabei, sondern an irgendeinem anderen Ort.
»Einer der Jünger, Thomas, der auch ›Zwilling‹ genannt wurde, war nicht dabei gewesen, als Jesus kam«, heißt es bei Johannes. Dieser kurze Satz erzählt eine lange Geschichte.
Eine Woche später kommt es zu einer zweiten Begegnung. Jetzt ist Thomas dabei. Zwischen diesen zwei Ereignissen gibt es einen leeren Raum, der hochinteressant ist. Warum war Thomas beim ersten Mal nicht dabei? Was hat er in dieser Woche getan? Brauchte er diese Extrazeit, um dann schließlich doch den Platz einnehmen zu können, der schon immer seiner war?
Der Weg bis zu dem Moment, an dem man seinen Platz im Leben und im Glauben einnimmt, ist für die meisten Menschen eine sehr einsame Wanderung durch tiefe Zweifel und Selbstzweifel. Etwas in dieser Geschichte sagt mir, dass man dieser einsamen Wanderung, dieser trostlosen Landschaft nicht ausweichen, aber sie doch so schnell wie möglich hinter sich bringen soll. Wenn man sich auf dem Weg niederlässt, erlöscht das eigene Feuer. Wie Thomas handelt, erzählt nicht davon, wie wichtig das Zweifeln ist, es erzählt davon, wie der Glaube bewahrt wird. Das ist ein himmelhoher und höllentiefer Unterschied.
Genau hier wird Thomas zum Zwilling. Thomas zweifelt auf eine konstruktive Weise, da ist eine Bewegung in seinem Kampf, eine Richtung. Er will glauben. Caravaggios Gemälde heißt auf Englisch The Incredulity of Saint Thomas, wobei man incredulity wohl am besten mit Kleinglaube oder Skepsis übersetzt.
Zu zweifeln ist schick geworden. Aber der Zweifel ist nichts, was man suchen sollte. Der Glaube ist die große Gabe, die wir in diesem Leben empfangen können. Deshalb bin ich aufrichtig skeptisch, wenn heute dem Zweifel gehuldigt wird. Es macht sich gut, ein Zweifler zu sein, denn – so bekommt man es erklärt – der Zweifler ist noch nicht fertig, er ist in Bewegung. Aber stimmt das? Der Zweifel ist nützlich, denn er hilft uns zu erkennen, was echt ist und was wir wirklich wollen. Davon abgesehen ähnelt der Zweifel aber eher dem Leid, das keinen Wert an sich hat, sondern ein Werkzeug ist, dessen Gebrauch manchmal notwendig ist, um unseren Glauben zu formen.
Das griechische Wort für zweifeln ist distazein, und es beschreibt das Schwanken zwischen zwei Möglichkeiten. Das lateinische dubitare und das verwandte englische to doubt verweisen auf eine ähnliche Zweideutigkeit. Da gibt es etwas, das es schwer macht zu wählen. Man schwankt zwischen den Alternativen, man ist unschlüssig.
Den konstruktiven Zweifel erkennt man an seinem Bestreben, das Gute zu wählen. Der norwegische Theologe Åste Dokka schrieb in der Zeitschrift Vårt Land (Unser Land), dass der Zweifel lähmen und in die Passivität führen kann, dass er manchmal zum Vorwand wird, um der Welt mit ihrem Alltag, ihren Festen und Dramen auszuweichen. Er beschreibt den Zweifel als eine Weigerung, sich zu entscheiden. Wer glaubt, ist alles andere als fertig, und er steht auch nicht still. Gerade wer glaubt, ist in Bewegung und noch im Werden begriffen. Der Glaube ist eine lebenslange Reise, die zu immer neuen Entdeckungen und Herausforderungen führt.
Dokkas Beobachtungen haben etwas. Thomas selbst wird das im Laufe seines Lebens klar, und Millionen von Märtyrern werden seine Erfahrung im Laufe der Geschichte teilen. Der Zweifel kann dagegen zu einer Versuchung werden: zu der Versuchung, nicht Stellung zu beziehen, nicht zu wählen oder zu verwerfen, den Kopf einzuziehen und bei seinen Netzen am See Genezareth sitzen zu bleiben, obwohl man im Innersten weiß, dass es das nicht mehr ist und dass man zu etwas anderem bestimmt ist, dass ein größeres Wasser ruft.
Ich gehe langsam, fast andächtig durch die zweihundert Meter lange Magnolienallee, die gerade jetzt in voller Blüte steht, hoch zur Kunstgalerie, einem Gebäude mit schlichtem Äußeren, aber prunkvollem Inneren. Alles strotzt vor Gold und italienischem Marmor. Der Kontrast zu dem Ambiente, das Caravaggio malt, könnte nicht größer sein. Sein Bild ist nicht groß, es misst etwa einen mal anderthalb Meter, aber es birgt das Schicksal von Millionen Menschen in sich, auch meines.
Es gibt viele Bilder vom Apostel Thomas. Die meisten zeigen ihn als »den großen Apostel«, auf vielen wird er mit einer Lanze gezeigt, denn der Legende nach ist er mit einem Lanzenstich in den Rücken ermordet worden. In Indien findet sich sein Bild auf Briefmarken – ich bezweifle, dass er das gut gefunden hätte.
Das Bild des italienischen Malers unterscheidet sich auf viele Weisen von den anderen. Ich weiß nicht, wie lange ich das Gemälde mit Thomas und seinen Begleitern betrachte. Es fällt mir schwer, mich aus dem Raum zu verabschieden, als es Zeit wird. Vielleicht liegt es gar nicht an genau diesem Bild, sondern daran, dass das Dargestellte so einen zentralen Punkt in meinem eigenen Leben berührt. Ich bin nicht der Erste, der das so empfindet, und sicher auch nicht der Letzte. Nur einer in einer langen Kette von Menschen, die mir seelenverwandt sind.
Caravaggio (1571–1610) brach mit den damals herrschenden Konventionen und entwickelte einen naturalistischen Stil, den er zur Vollendung führte. Seine eigene Geschichte ist schillernd und eher düster. In seiner Heimatstadt Mailand hieß es schon früh, er sei streitsüchtig und gewalttätig. Oft verwickelte er sich in Schlägereien oder es kam zum Duell. Bei einem der Duelle starb sein Gegner. Caravaggio wurde zum Tode verurteilt, aber es gelang ihm, von Rom, wo er damals lebte und arbeitete, zu fliehen. Lange Zeit versteckte er sich, mal in Neapel, mal auf Malta – und überall verursachte er Schwierigkeiten. Als er eines Tages hörte, er solle eventuell begnadigt werden, machte er sich sofort auf den Weg nach Rom. Unterwegs wurde er jedoch aufgehalten, er erkrankte und starb drei Tage, bevor die Nachricht von seiner Begnadigung ihn erreichen konnte. Viele seiner Gemälde mit religiösen Motiven sind unsterblich geworden, und seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte zum Trotz ist er für viele ein Verkünder der Gnade geworden.
Während ich in Sanssouci sitze, gibt es einige Dinge, die mir wichtig werden an diesem Kunstwerk, das ich so oft gesehen habe und vor dessen Original ich jetzt endlich verharren darf, mehr als vierhundert Jahre nachdem es gemalt wurde. Ich weiß, dass ich dazu neige, allzu weitgehende Schlüsse zu ziehen und in ein Bild zu viel hineinzulesen. Aber gehört es nicht zu jeder Kunst, dass sie im Auge des Betrachters etwas anderes und mehr ist?
Caravaggio hat sowohl Thomas wie auch seine Begleiter als schon ziemlich alte Männer gemalt – etwas, das ich als befreiend empfinde. Ich habe sie mir immer viel jünger vorgestellt, vielleicht in ihren Zwanzigern, und mir heimlich gewünscht, Jesus möge nicht auf unverantwortliche Weise solche jungen Männer von ihren Familien weggelockt haben, damit sie ihm folgten.
Ich verlasse Sanssouci für eine Weile und esse in der Brandenburger Straße zu Mittag. Der kleine Markt liegt im Schatten des Brandenburger Tors – nicht zu verwechseln mit dem weit größeren Tor in Berlin, das denselben Namen trägt. Das Erstaunliche an diesem Tor ist, dass seine beiden Seiten von zwei verschiedenen Architekten entworfen wurden, sodass man zwei ganz verschiedene Eindrücke von ihm bekommt, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet.
»Man findet, was man sucht«, heißt es. Das stimmt nicht immer, aber doch sehr oft. So auch hier. Das Thema der Zwei begegnet mir heute überall: das Zweigeteilte; eine Sache von zwei Seiten betrachten, was ja die Natur des Zweifels ist.
Manchmal muss man von sich selbst Abstand gewinnen, um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Das ist oft ein schmerzlicher Prozess. Wie bei einem schweren Verlust oder der Konfrontation mit einer ernsten Diagnose, wenn das Leben plötzlich den Kurs ändert und man sich in einem Land vorfindet, in dem man noch nie war und von dem man geglaubt hatte, es nie zu betreten, wenn alle Hoffnung und alles Vertrauen verschwunden scheinen.
Und Gott? Man kennt sich selbst nicht mehr wieder in dieser Welt, in der man sich nun vorfindet. Gerade hier scheint die Zeit unerhört langsam zu vergehen, so gut wie gar nicht. Und doch tut die Zeit ihre Arbeit. Sie heilt keine Wunden, aber sie öffnet uns die Augen für Dinge, die wir vorher nicht sehen konnten. Denn auch wenn man noch nie so wenig festen Boden unter den Füßen hatte, beginnen einzelne Nebelschwaden sich aufzulösen und man beginnt auf neue Weise zu sehen. Vielleicht ist das ganze Leben ja eine kreisförmige Bewegung: Nicht selten findet der glaubende Mensch gegen Ende seines Lebens zu seinem vertrauensvollen Kinderglauben zurück, aber nun bekommt der ein ganz anderes Gewicht, das Gewicht eines ganzen Lebens mit all seinen Erfahrungen. Dasselbe Tor, von einer anderen Seite betrachtet.
Ich gehe den langen Weg zurück, vorbei am Neuen Palais, das mich erstaunlich an Downton Abbey erinnert, bis zur Gemäldegalerie. Mir gefällt es, dass Caravaggio Thomas nicht einsamer macht, als er war; die anderen Personen auf dem Bild wirken genauso konzentriert wie er. Sein Kampf ist auch ihrer. Thomas ist kein trödelnder Nachzügler. Er ist einer, der vorangeht in der Welt des Glaubens. Er setzt sich an die Spitze, und die anderen hängen sich an ihn. So kommt man voran. Beim nächsten Mal kann es ja genau umgekehrt sein.
Ich mag auch, dass der dargestellte Raum so dunkel ist. Viele Kunstkritiker haben das besonders betont. In diesen Raum bricht ein sonderbares Licht ein. Das Licht fällt auf die Jünger, nicht auf Jesus. Jetzt geht es um sie, nicht um ihn. Er hat das Seine getan, ist durch den Tod zum Leben gegangen; von nun an und bis in alle Zukunft geht es um das Vertrauen.
Mir gefällt außerdem, dass dieser Begegnung jeder Rahmen fehlt. Um die vier Männer herum ist nichts. Was dort geschieht, kann sich an einem beliebigen Ort zutragen – auch bei uns. Mir gefällt das Intime dieses Bildes: Wer die Wahrheit sucht, findet auf seinem Weg andere, eine Gemeinschaft. Man kann ruhig zweifeln, Hauptsache, man ist dabei nicht einsam. Zweifel ist eine Gemeinschaftsaufgabe, keine Prüfung, nichts, das man im eigenen Kämmerchen kultivieren sollte. In einer allzu individualisierten Welt vergisst man das leicht.
Das Museum schließt früh. In der Nacht schlafe ich unruhig. Ich wache vor Tau und Tag auf und schaue auf die Brandenburger Straße, die noch im Dunkel liegt. Ich bleibe im Bett, mit dem Laptop auf dem Schoß, und versuche zusammenzufassen, was ich bis hierhin verstanden habe. Ich habe mir einen Druck des Gemäldes gekauft und nehme ihn jetzt zur Hand. Dabei fällt mir ein weiteres Detail auf, das mir schon früher hätte auffallen können: wie behutsam Jesus die Hand von Thomas zur Wunde führt. Als ob die gesprochene Einladung nicht reichte, als wäre etwas konkret Spürbares nötig.
Ich lese den kurzen Text im Johannesevangelium noch einmal und sehe, dass sich dort, was Jesus betrifft, nicht die geringste Spur einer Zurechtweisung oder eines Zögerns findet. Thomas ist willkommen – mit seinen Fragen und mit seiner Unschlüssigkeit. Thomas wird angesprochen, um ihn und nur um ihn geht es bei dieser zweiten Erscheinung des Auferstandenen.
Dass Thomas nicht glücklich war, als die anderen Jünger ihm erzählten, der Auferstandene sei ihnen begegnet, ist leicht nachzuvollziehen. Dramatische Wundererzählungen verstärken bei denen, die nicht dabei waren, das Gefühl, außen vor zu sein. Manchmal schafft man es nicht, am Glück der anderen teilzuhaben; was nicht heißt, dass man es ihnen missgönnt.
In den Jahren, in denen wir am intensivsten um das Leben unserer Söhne kämpften, den Jahren, in denen es ihnen gesundheitlich schlechter und immer nur schlechter ging, wir Gott um Linderung baten und keine Linderung eintrat – in jenen Jahren gab ich mir selbst die Erlaubnis, mich von Wunderberichten nicht erbauen lassen zu müssen. Ich gab mir sogar das Recht, ihnen nicht zu glauben. Einfach um meine und unsere Einsamkeit nicht noch stärker zu spüren. Könnte das vielleicht der Grund dafür sein, dass wir in unserem Glauben bewahrt blieben?
Thomas’ Zweifel dürften wohl kaum religiöse Grübeleien gewesen sein. Sie berühren etwas viel Allgemeineres. Thomas ist ein Mensch, der trauert. Er hat vor Kurzem erlebt, wie sein Freund einen qualvollen und erniedrigenden Tod starb. Der Zwilling aller Zweifler ist ein junger Mann, dessen Lebenstraum soeben durchstochen und gekreuzigt worden ist. Der Aufbruch – mit all dem, was er gekostet hat – war, wenn man alle Fakten auf den Tisch legt, die Fehlentscheidung seines Lebens.