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Mehr als 40 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen leiden unter Ängsten, und es werden immer mehr. Während Angststörungen von vielen Ärzten als reine "Kopfsache" angesehen werden – verursacht durch ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern oder durch seelische Traumata, die neurologische Spuren im Gehirn hinterlassen haben – zeigen immer mehr Untersuchungen, dass die Ursachen von Ängsten an anderer Stelle im Körper zu finden sind. Mit "Woher kommt meine Angst?" leitet die ganzheitlich arbeitende Psychiaterin Ellen Vora einen Paradigmenwechsel ein und erklärt, warum Angststörungen eine Krankheit sind, die im ganzen Körper entsteht, nicht nur im Kopf. Durch die Arbeit mit zahlreichen Patienten weiß sie, dass Ängste sich auf ein physiologisches Ungleichgewicht zurückführen lassen: Die seelischen und körperlichen Beschwerden, die mit Ängsten einhergehen, etwa Schlaflosigkeit, ein benebeltes Gehirn, Magenschmerzen oder Zittern, sind tatsächlich "nur" auf biologische Reaktionsmuster zurückzuführen. Verursacht werden diese beispielsweise durch Unverträglichkeiten und Ernährungsfehler, chronische Entzündungen oder die Dauernutzung von elektronischen Geräten, deren blaues Licht uns buchstäblich den Schlaf raubt. Doch es gibt gute Nachrichten: Diese durch biologische Reaktionsmuster ausgelöste Angst – Dr. Vora spricht hier auch von "falscher Angst" – lässt sich erfolgreich behandeln. Sind die körperlichen Bedürfnisse erfüllt, bleiben nur wenige "echte Ängste" zurück, die dann ein deutlicher Hinweis darauf sind, was genau in seelischer Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten ist, im Leben, in Beziehungen, in der Welt. Und diese Ängste haben eine gute Seite, denn sie sind eine Art innerer Kompass, der uns hilft, uns neu zu orientieren, wenn wir den Überblick verloren haben. Die praktischen Anleitungen geben die Richtung vor für einen Weg, auf dem wir gesund werden und wachsen können.
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Seitenzahl: 415
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Ellen Vora
WOHER KOMMTMEINE ANGST?
Echte Angstreaktionen von biologischen Musterndes Körpers unterscheiden und überwinden
Aus dem Englischen übersetztvon Imke Brodersen
VAK Verlags GmbHKirchzarten bei Freiburg
Titel der Originalausgabe: The Anatomy of Anxiety, erschienen bei Harper Wave, an Imprint of Harper Collins Publishers
ISBN der Originalausgabe: 978-0-06307509-2
Copyright © 2022 Ellen Vora
Hinweise des Verlags
Verlag und Übersetzerin haben sich um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht. Die englische Sprache kennt keine weiblichen und männlichen Formen von Substantiven, für den deutschen Text mussten daher Anpassungen vorgenommen werden.
Dieses Buch dient der Information über Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge. Wer sie anwendet, tut dies in eigener Verantwortung. Autorin und Verlag beabsichtigen nicht, Diagnosen zu stellen oder Therapieempfehlungen zu geben. Die hier vorgestellten Vorgehensweisen sind nicht als Ersatz für professionelle Behandlung bei ernsthaften Beschwerden zu verstehen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
VAK Verlags GmbH
Eschbachstraße 5
79199 Kirchzarten
Deutschland
www.vakverlag.de
© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2022
Übersetzung: Imke Brodersen
Lektorat: Nadine Britsch
Layout: Richard Kiefer
Umschlag: Kathrin Steigerwald, Hamburg, unter Verwendung
eines Motivs von © aqib / Adobe Stock
Satz & Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Printed in Germany
ISBN: 978-3-86731-236-3 (Paperback)
ISBN: 978-3-95484-440-1 (ePub)
ISBN: 978-3-95484-441-8 (PDF)
Für meine Mutter
Einleitung
TEIL 1Das ist nicht alles Einbildung
Kapitel 1 | Das Zeitalter der Angst
Kapitel 2 | Vermeidbare Angst
Kapitel 3 | Sinnvolle Angst
TEIL 2Unechte Angst
Kapitel 4 | Die Angst des modernen Lebens
Kapitel 5 | Ein müdes Nervenbündel
Kapitel 6 | Die digitalisierte Gesellschaft
Kapitel 7 | Nervennahrung
Kapitel 8 | Schwelende Entzündungen
Kapitel 9 | Weiblicher Hormonstatus und Angst
Kapitel 10 | Die lautlose Epidemie
Kapitel 11 | Stressabbau und bewusste Entspannung
TEIL 3Echte Angst
Kapitel 12 | Hinhören und nachspüren
Kapitel 13 | Warum Sie nicht mehr singen
Kapitel 14 | Bindung beruhigt
Kapitel 15 | Festhalten und loslassen
Danksagung
Anhang
Quellen
Über die Autorin
Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt zu Fragen der psychischen Gesundheit. In den letzten Jahrzehnten haben neue Fachrichtungen – wie integrative Medizin, Funktionsmedizin und Ernährungspsychiatrie – und selbst psychedelisch wirkende Therapeutika neue Wege zu besserer psychischer Gesundheit erschlossen. Diese Disziplinen belegen, dass Schwierigkeiten, die lange als rein psychiatrisch galten, eher als Ergebnis eines komplexen, aber sehr folgenreichen Wechselspiels zwischen Körper, Geist und Psyche zu werten sind.
Als Psychiaterin mit ganzheitlichem Ansatz beziehe ich alle Aspekte des Lebens meiner Patienten mit ein, von Ernährung und Schlaf über die Beziehungsqualität bis hin zu persönlichen Zielen, Sinnfragen und Zufluchtsmöglichkeiten. Dabei habe ich festgestellt, dass die Angst, die so vielen Menschen zu schaffen macht, zunehmend durch die Gewohnheiten des modernen Lebens erzeugt wird – chronischer Schlafmangel, Fehlernährung oder abendliches Doomscrolling negativer Schlagzeilen in den sozialen Medien. Spontan mögen solche Elemente zu harmlos erscheinen, um der Psyche nachhaltig zu schaden. Allerdings sind sie in der Lage, im Körper eine Stressreaktion auszulösen, die zur Freisetzung von Kortisol und Adrenalin führt. Dies wiederum versetzt das Gehirn in erhöhte Alarmbereitschaft, und prompt verspüren wir Angst. Mit anderen Worten: körperliche Gesundheit ist psychische Gesundheit. Und Angst – jenes Gefühl der Hypervigilanz, das uns prompt den Eindruck von Katastrophe und Verhängnis vermittelt – ist im Körper ebenso verankert wie in unserer Psyche.
Dieser Paradigmenwechsel ist meiner Ansicht nach so revolutionär wie die Zulassung der selektiven Serotonin-Wideraufnahme-hemmer (SSRI; eine Wirkstoffgruppe der Antidepressiva) vor einigen Jahrzehnten. Als diese Mittel zur Standardbehandlung von Depressionen und Ängsten avancierten, präsentierte man zugleich ein klares medizinisches Modell für psychiatrische Erkrankungen, was in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für psychische Gesundheit erhöhte. Nach jahrhundertelanger Stigmatisierung und Scham war die Erleichterung enorm, denn nun zeigte sich, dass unser Ringen um psychische Gesundheit nicht auf persönliches Versagen zurückgeht, sondern in hohem Maße auf chemischen Prozessen im Gehirn basiert. Doch je mehr wir über die engen Verflechtungen von Gehirn und Körper herausfinden, desto mehr Wege zur Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit tun sich auch abseits von Medikamenten auf. Und seit wir wissen, dass unsere Stimmungslage nicht nur vom Gehirn, sondern auch vom Körper beeinflusst wird, wird auch zunehmend klarer, dass wir unserer Angst weitaus besser vorbeugen können, als man früher dachte. Schon durch relativ einfache Anpassungen von Ernährung und Lebensstil lassen sich unnötige Stressreaktionen verhindern, was der Angst frühzeitig den Wind aus den Segeln nimmt.
Darüber hinaus existiert natürlich auch eine tiefersitzende Angst jenseits der physiologischen Reaktion, und dieses Gefühl der Unsicherheit und Unruhe ist weniger leicht zugänglich. Allerdings habe ich festgestellt, dass dieses weitreichendere Problem besser behandelbar ist, wenn ich mit meinen Patientinnen und Patienten zunächst an der „obersten“ Schicht der körperlichen Angstreaktion arbeite. Sobald sie in der Lage sind, die Botschaft dieser tiefsitzenden Angst zu erkennen, stellen sie vielfach fest, dass ihre innere Weisheit ihnen einen deutlichen Hinweis gibt, dass etwas in ihrem Leben nicht passt – seien es ihre Beziehungen oder die Arbeitsstelle oder die Welt als solche. Mal geht es um Entfremdung von den Menschen um uns herum oder von der Natur, mal eher um mangelnde Selbstakzeptanz oder ein schmerzhaftes Bewusstwerden der massiven Ungerechtigkeiten in unserem Umfeld. Dieser Angst nachzugehen, gestattet uns, unseren ganz persönlichen Wahrheiten ins Auge zu blicken. Und sehr häufig steckt in solchen Erkenntnissen sowohl eine Handlungsaufforderung als auch die Chance, ein Gefühl nagender Unruhe in etwas Sinnvolles zu verwandeln.
Ob es also um eine Folge unserer Gewohnheiten oder um ein Signal aus den Tiefen unserer Psyche geht – die Angst ist damit nicht die eigentliche Diagnose, sondern vielmehr der Beginn unseres Nachforschens. Nicht die Angst ist das, was mit Ihnen nicht stimmt – es geht darum, dass Körper und Geist Ihnen mit Nachdruck mitteilen, dass etwas anderes falsch läuft. Die Angst zeigt, dass etwas in Ihrem Körper, Ihrem Denken und Fühlen, Ihrem Leben oder Ihrer Umgebung aus dem Gleichgewicht geraten ist. Mit Neugier und Experimentieren können Sie daran arbeiten, diese Elemente wieder in Einklang zu bringen. Dieser Weg beginnt mit der Identifizierung der eigentlichen Ursache, ob diese nun auf einer reinen Gewohnheit beruhen mag oder auf tiefer Unruhe oder beidem.
Diese Erkenntnis habe ich mir hart erarbeitet. Meine Studienjahre an der Columbia University und meine spätere Facharztweiterbildung am Mount Sinai Hospital waren kein Zuckerschlecken, denn neben der anstrengenden Ausbildung hatte ich eigene gesundheitliche Probleme zu bewältigen. Neben der Psyche machten mir auch die Verdauung, Hormone und eine Entzündungsneigung zu schaffen, lauter Schwachpunkte, bei denen die klassische Medizin mit ihren Methoden schwer weiterkommt.
Es hat Jahre gedauert, bis ich körperlich wieder im Gleichgewicht war und mein Leben im Lot. Im letzten Jahr meiner Ausbildung zur Psychiaterin begann ich schließlich, mich neben meinen Diensten in der Klinik mit alternativen Ansätzen zu beschäftigen, weil ich meiner Arbeit mehr Sinn geben und auch endlich mich selbst heilen wollte. Wenn ich nicht gerade Nachtdienst hatte, besuchte ich Akupunkturkurse und behandelte Suchtkranke in einer Fachklinik in der Bronx. Die Wahlpflichtabschnitte nutzte ich für eine Zusatzausbildung in Integrativer Medizin am Andrew Weil’s Center der University of Arizona und fand dann in New York ein Mentoringprogramm für Integrative Psychiatrie. Ich erlernte die Grundlagen der Hypnotherapie und unterzog mich einer intensiven Ausbildung für Yogalehrer in Bali, wo ich auch mit Ayurveda in Berührung kam. All dies führte dazu, dass ich mich schließlich mit funktioneller Medizin sowie psychedelisch wirkenden Therapeutika auseinandersetzte und deren möglicher Bedeutung für Patientinnen und Patienten in psychiatrischer Behandlung.
Hätte ich mir nicht diesen einzigartigen Weg erkämpft, so hätte ich von all diesen Heilmethoden nie erfahren. In den neun Jahren meines Medizinstudiums samt Forschungstätigkeit und Facharztausbildung wurden die Modalitäten anderer Kulturen und Traditionen in keiner einzigen Vorlesung aufgegriffen. Als ich mich jedoch auf meine alternativen Ausbildungen einließ, hatte ich das Gefühl, meine medizinische Perspektive auf entscheidende Weise zu erweitern. Nachdem ich diese Praktiken in mein eigenes Leben integriert hatte, sah ich einen Weg, um meinen Patienten zu einem besseren Leben zu verhelfen, war aber auch körperlich gesünder als in meinem ganzen vorherigen Erwachsenenleben. Diese Fortschritte schienen alle Verbesserungen, die eine Vielzahl konventioneller Verfahren mit sich gebracht hatten, zu übertreffen. Am Ende verschmolzen sie zu dem facettenreichen, ganzheitlichen Weg zu besserer psychischer Gesundheit, den ich in meiner Praxis anbiete und der in diesem Buch auf jeder Seite durchschimmert.
In den letzten zehn Jahren habe ich Patientinnen und Patienten aus ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und mit verschiedenen Graden an Angst behandelt. Die meisten konnten ihre Psyche erfolgreich stabilisieren, indem sie zunächst ihre Gewohnheiten unter die Lupe nahmen, um sich dann bei Bedarf gründlicher mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen. Mit einigen von ihnen habe ich nur kurz gearbeitet. Ein Beispiel war eine 25-jährige Angstpatientin, die auch unter Verdauungsproblemen und einem rätselhaften Ausschlag litt. Wir gingen ihre Ernährung durch und strichen bestimmte entzündungsfördernde Speisen von ihrem Speiseplan. Innerhalb von nur einem Monat war ihre Verdauung wieder hergestellt, der Ausschlag verschwunden, und die Angst war abgeklungen. Am anderen Ende des Spektrums steht eine Frau, die ich hier Janelle nennen möchte und mit der ich mehrere Jahre arbeitete. Zu Beginn der Behandlung war sie Mitte Dreißig und hatte einen unfreiwilligen Klinikaufenthalt wegen einer manischen Episode hinter sich. Wegen der bei ihr diagnostizierten bipolaren Störung nahm sie starke Medikamente. Janelle und ich fanden heraus, dass bei ihr eine Hashimoto-Thyreoiditis vorlag, bei der das Immunsystem die eigene Schilddrüse angreift. Ein Wechsel zwischen Depression und aktivierter Angst kann Teil des Krankheitsbildes sein, das dann einer bipolaren Störung ähnelt. Wir erarbeiteten gemeinsam eine Umstellung von Ernährung und Lebensstil, um nicht nur ihr Schilddrüsenproblem zu lösen, sondern sie auch allmählich von ihren stimmungsstabilisierenden Arzneimitteln zu entwöhnen. Janelles Angst ist deutlich zurückgegangen, und sie hatte seither keine einzige manische Episode mehr. Ich behandele auch einen jungen Mann, der in der Therapie ursprünglich traumatische Kindheitserfahrungen aufarbeiten wollte. Dabei entdeckten wir allerdings auch sein großes Einfühlungsvermögen, und inzwischen hat er sich beruflich umorientiert und hilft anderen, ihre Traumata zu verarbeiten. Wenn meine Patienten lernen, zwischen der Angst körperlichen Ursprungs und der Angst, die uns zum Leitstern wird, zu unterscheiden, können sie sich weiterentwickeln und mehr aus ihrem Leben machen.
Dieses Buch stellt praktische, umsetzbare Schritte vor, um Ängste zu entschärfen. Angesichts des schwierigen und kostspieligen Zugangs zur psychologischen oder psychiatrischen Gesundheitsversorgung gebe ich mir große Mühe, realistische Möglichkeiten aufzuzeigen. Auch wenn ich unbedingt dazu rate, sich bei ernsten psychischen Erkrankungen ärztliche Unterstützung zu sichern, lassen sich viele der von mir hier geschilderten Ansätze kostengünstig und eigenständig umsetzen – bei Bedarf natürlich stets mit fachlicher Begleitung. Dass es so viele Dinge gibt, die Sie tun können, bedeutet dabei nicht, dass Sie all dies auch tun müssen. Ich stelle Methoden vor, die sich in meiner Praxis als besonders wirksam und nachhaltig erwiesen haben. Dabei sollten Sie die Strategien wählen, die sich für Sie persönlich richtig anfühlen. Was erscheint Ihnen machbar und entspricht Ihren Bedürfnissen? Wenn Ihnen ein Abschnitt zu anstrengend erscheint, können Sie ihn gern überspringen. Vielleicht möchten Sie später noch darauf zurückkommen. Beginnen Sie mit etwas, dass vielleicht nicht leicht, aber zumindest machbar klingt. Mit jeder Veränderung, die Sie umsetzen, wird sich die Angst ein kleines Stückchen legen, womit die nächste Anpassung leichter fällt. Ich lade Sie ein, dieses Buch als Buffet zu betrachten: Wählen Sie das, was Sie anspricht. Damit machen Sie nichts falsch.
In erster Linie möchte ich Sie dazu ermuntern, Angst als eine Einladung zu betrachten, um herauszufinden, was in Ihrem Körper und in Ihrem Leben aus dem Gleichgewicht geraten sein mag. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass Sie besser wahrnehmen können, was Ihre Angst Ihnen zu sagen versucht. Ich behaupte nicht, dass dies einfach wird. Körper und Leben sind komplex und Veränderungen mitunter schwierig. Aber es gibt heute mehr Möglichkeiten denn je, psychische Gesundheitsprobleme zu lindern, und ich hoffe, dass auch für Sie eine Methode dabei ist, mit der es Ihnen besser und irgendwann auch wieder gut geht.
Bei Problemen, die ständig ungelöst bleiben, sollte man immer den Verdacht haben, dass die Frage falsch gestellt worden ist.
Alan Watts: Die Illusion des Ich
Was die psychische Gesundheit betrifft, befinden wir uns in einer nie dagewesenen globalen Krise. Schätzungen zufolge ist jeder neunte Mensch psychisch krank – das wären weltweit 800 Millionen Menschen –, und das häufigste Problem ist Angst. Weltweit haben knapp 300 Millionen Menschen mit einer Angststörung zu kämpfen.1 Und die Vereinigten Staaten zählen zu den ängstlichsten Ländern überhaupt: Im Laufe ihres Lebens sind bis zu 33,7 Prozent der US-Bürger von einer Angststörung betroffen.2 Die Fallzahl der amerikanischen Betroffenen ist von 2008 bis 2018 um 30 Prozent angestiegen, unter den 18- bis 25-Jährigen sogar um unfassbare 84 Prozent.3 In jüngster Zeit hat die COVID-19-Pandemie diese ohnehin erschütternde Situation noch einmal deutlich verschärft. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Kaiser Family Foundation kam zu dem Ergebnis, dass die Anzahl derer, die Symptome von Angst oder Depression angaben, im Vergleich der Jahre 2019 und 2021 um 270 Prozent in die Höhe schnellte.4
Einerseits malen diese Statistiken ein düsteres Bild, andererseits geben sie Anlass zur Hoffnung. Diese Zahlen wären nicht so massiv angestiegen, wenn solche Erkrankungen in erster Linie genetisch bedingt wären – was in den letzten Jahrzehnten die vorherrschende Meinung war. Unsere Gene können sich nicht schnell genug verändern, um uns derart in die Angst zu katapultieren. Damit drängt sich die Überlegung auf, dass der zunehmende Druck und die Anforderungen des modernen Lebens uns immer ängstlicher machen – Dauerstress, Entzündungen und soziale Isolation. So merkwürdig es auch klingt: Diese aktuelle Zuspitzung ist in Wahrheit eine gute Nachricht. Denn sie bedeutet, dass einige Veränderungen, die wir vornehmen können, auf der Hand liegen: Ernährungsumstellung, andere Schlafgewohnheiten, veränderter Umgang mit dem Smartphone. Das hätte großen Einfluss auf die kollektive Stimmungslage. Wenn wir unseren Blick nicht nur auf die Aspekte der Angst richten, die im Gehirn wurzeln, sondern sie um andere Aspekte erweitern, die ihren Ursprung im Körper haben, können wir der enormen psychischen Belastung der Gegenwart wirkungsvoller entgegentreten.
Der Begriff der Angst war schon im Jahr 45 vor Beginn unserer Zeitrechnung bekannt, als der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero seine Tusculanae Disputationes verfasste. Dort schrieb er sinngemäß: „Wahnsinn, Kummer und Angst werden als Krankheiten bezeichnet, weil ein verwirrter Geist ebenso wenig gesund ist wie ein kranker Körper.“5 Es ist interessant, dass Cicero den Körper erwähnte, wurde doch die Angst im Verlauf der Geschichte später vornehmlich als geistig-seelisches Problem verstanden. Erst jetzt, 20 Jahrhunderte später, kehren wir zu der Auffassung zurück, dass der Körper für die psychische Gesundheit eine entscheidende Rolle spielt. Das Wort Angst beruht auf dem lateinischen Wort angor. Das zugehörige Verb angere bedeutet unter anderem „würgen“. Schon in der Bibel klagt Hiob „Ich will reden in der Angst meines Herzens“ (Hiob 7:11). Mit der Zeit verstand man unter Angst zunehmend das Gefühl eines bevorstehenden Verhängnisses oder, wie der französische Psychiater Joseph Lévy-Valensi es beschrieb, „ein düsteres und beunruhigendes Gefühl der Erwartung.“6 Diese Definition blieb in der neueren Geschichte weitgehend unverändert, wobei die Beschreibung immer klinischer wurde, nachdem die Störung in das 1952 erstveröffentlichte amerikanische Standardwerk DSM-1 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen wurde. In seiner neuesten Fassung, dem DSM-5, wird Angst weiterhin als „Erwartung künftiger Bedrohung“ definiert, aber zugleich unterteilt in Klassifizierungen wie Generalisierte Angststörung, Soziale Phobie und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).7 Die moderne Psychiatrie setzt diese Gruppen zur Therapiesteuerung ein.
In meiner Praxis nutze ich solche konkreten Kategorien nicht, um die Ängste meiner Patienten zu benennen. Obwohl es mitunter heißt, dass das Konzept „Angst“ verwässert oder zu allumfassend ausgelegt wurde – in dem Sinne, dass es fast jegliches unangenehme Gefühl einbezieht –, bin ich der Ansicht, dass eine zu breite Verwendung nicht möglich ist. Falls Sie sich also fragen: „Habe ich Angst im klinischen Sinne?“, gehe ich davon aus, dass Sie unter entsprechendem Leidensdruck stehen. Mir ist es wichtiger, dass Sie Ihrer subjektiven Erfahrung der Beunruhigung trauen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob Ihr Befinden für eine Diagnose taugt oder nicht. Über die Jahre hinweg habe ich bei den von mir Behandelten unzählige Ausdrucksformen der Angst erlebt. Deshalb akzeptiere ich, dass Angst mit einer breiten Palette an Symptomen einhergehen kann, die beständig im Wandel sind. Manche Patienten sagen mir, dass ihr Leben eigentlich gut ist. Sie sind glücklich und gesund und haben lebendige Beziehungen, die ihnen Rückhalt geben. Dennoch fühlen sie sich wie gelähmt, wenn sie beruflich unter Druck geraten. Für sie ist Angst – ob sie sich nun als Hochstapler-Syndrom bemerkbar macht oder als sich überschlagende Gedanken – ein Hindernis, sich konzentriert an die Arbeit zu machen. Andere erleben Angst ausschließlich im sozialen Kontext, wieder andere kennen keine Entspannung, sondern sind unablässig am Grübeln. Es gibt Menschen, die aus heiterem Himmel Panikattacken erleiden, und Menschen, die nur die körperlichen Symptome wahrnehmen, zum Beispiel Schwindel, Verwirrtheit, ein Engegefühl in der Brust oder erhöhte Muskelspannung. All diese Gefühle zählen zu den Ausdrucksformen von Angst.
Es gibt jedoch noch einen weiteren wichtigen Grund, weshalb ich bei meiner Arbeit nicht die Diagnose in den Vordergrund stelle. Ich habe nämlich festgestellt, dass das Etikett einer Diagnose zwar spontan Erleichterung verschafft, weil man einen ziemlich unangenehmen Zustand endlich einordnen kann, sich aber schnell als Zwangsjacke entpuppt, die Menschen zu eingeschränkt definiert und starken Einfluss auf ihr Lebensnarrativ hat. Mitunter passen Patienten ihre Geschichte der Diagnose an und machen sich damit kleiner, anstatt sich den Lebensmöglichkeiten zu öffnen, die sich ihnen bieten. Im Endeffekt ist es mir also weniger wichtig, ob eine Person eine Panikstörung mit Agoraphobie oder eine Zwangsstörung oder eine Generalisierte Angststörung hat. Mich interessiert das Ausloten des individuellen Lebens und der Gewohnheiten, um von diesem Punkt aus einen Weg zur Besserung einzuleiten.
Eine Unterscheidung möchte ich beim Thema Angst dennoch machen, die zur Klärung beiträgt, ob das, was Ihr Körper Ihnen mitteilt, gerade echte oder unechte Angst ist. Dabei handelt es sich nicht um eine Diagnose, sondern eher um eine Form der Interpretation, die meinen Patienten erfahrungsgemäß hilft, den Ursprung ihrer Unruhe zu erkennen und schneller die nötigen Schritte zu mehr Glück und Ausgeglichenheit zu ergreifen. Ein Augenöffner hierzu war für mich das Buch Was die Seele essen will: Die Mood Cure von Julia Ross, einer Pionierin auf dem Gebiet der Ernährungstherapie. Ross ist der Auffassung, dass wir „echte“ und „unechte“ Emotionen haben können. Echte Emotionen treten auf, wenn etwas geschieht, das erhebliche Auswirkungen auf uns hat: Der Tod eines Familienangehörigen und die damit verbundene Trauer, Kündigung und Jobverlust samt dem entsprechenden Stress oder eine Trennung einschließlich Liebeskummer. „Diese echten, authentischen Reaktionen auf reale Schwierigkeiten, mit denen wir im Leben konfrontiert werden, sind bisweilen nur schwer auszuhalten“, schreibt Ross. „Diese Emotionen können jedoch auch enorm wichtig sein.“8 Eine unechte Emotion hingegen gleicht eher einem „emotionalen Betrüger“, wie Ross es ausdrückt, weil wir eher mit dem falschen Bein aufgestanden sind oder scheinbar aus dem Nichts reizbar, traurig, wütend oder ängstlich auf Dinge reagieren, mit denen wir normalerweise gut fertig werden würden. In solchen Fällen ist unser Gehirn dankbar für jede Erklärung. Also funkt es: „Vielleicht habe ich Angst, weil die distanzierte E-Mail meiner Chefin den Eindruck erweckt, ich würde mein Arbeitssoll nicht erfüllen“, oder „Irgendetwas an der SMS von meinem alten Kumpel passt nicht richtig.“ Das menschliche Gehirn sucht nach einer Bedeutung. Ein Bild mit zwei Punkten und einem Strich deutet es als Gesicht. Mit einem Kater und kaltem Kaffee statt Frühstück befürchten wir, es gäbe Ärger auf der Arbeit, die Beziehung wäre am Bröckeln oder die Welt stünde kurz vor dem Untergang. Denn der Verstand erzählt gerne Geschichten, die körperliche Empfindungen erklären. Vieles von all dem, was uns Sorgen macht, ist exakt das: Der Verstand versucht, eine Stressreaktion des Körpers nachträglich zu legitimieren.
Auch auf Angst lässt sich das Konzept von Ross perfekt übertragen. Unechte Angst liegt vor, wenn der Körper ein physiologisches Ungleichgewicht meldet, das für gewöhnlich auf einer Stressreaktion beruht. Echte Angst hingegen besteht, wenn der Körper eine sehr wichtige Botschaft über unser Leben kommuniziert. Bei unechter Angst vermittelt die Stressreaktion dem Gehirn Signale mit der Aussage: „Etwas ist verkehrt.“ Und unser Gehirn bietet prompt eine Erklärung an, warum wir uns unwohl fühlen. Es behauptet, unsere Angst beruhe auf unserer Arbeit, unserer Gesundheit oder dem Zustand der Welt. Tatsächlich allerdings gibt es immer etwas, das ein ungutes Gefühl erzeugen kann. Und der Grund dafür, dass wir gerade in diesem Moment Angst empfinden, hat in Wahrheit nichts mit dem Arbeitsplatz zu tun, sondern ausschließlich mit einem physiologischen Ungleichgewicht im Körper – es kann einfach ein rasanter Blutzuckerabfall dahinterstecken oder aber ein akut entzündeter Darm. Insofern hat unsere Angst vielfach überhaupt nichts mit den Ursachen zu tun, die wir diesem Gefühl zuschreiben.
Eines möchte ich dabei ausdrücklich klarstellen: Dass ich diese Empfindungen als „unechte Angst“ bezeichne, bedeutet nicht, dass die Schmerzen und das Leiden weniger real wären. Auch eine Emotion, die unmittelbar auf eine physiologische, also gerade im Körper ablaufende Stressreaktion zurückgeht, kann höllisch weh tun. Der Begriff soll das persönliche Erleben dieser Emotion nicht abwerten. Ich halte es jedoch für wichtig, derartige Emotionen als „unecht“ zu benennen, weil diese Unterscheidung einen unmittelbaren, klaren Ausweg ermöglicht. Solche Erscheinungsformen der Angst vermitteln einem Menschen nichts Bedeutsames über das wahre Selbst, sondern sind eine wichtige Botschaft zum körperlichen Befinden. Und wenn wir erkennen, dass wir Angst empfinden, kurz nachdem eine physiologische Stressreaktion aufgetreten ist, können wir das Problem auf körperlicher Ebene lösen – indem wir uns anders ernähren, mehr Sonnenlicht tanken oder unseren Schlafrhythmus anpassen. Zusammengefasst: Unechte Angst ist verbreitet, sie erzeugt enormen Leidensdruck, und sie ist größtenteils vermeidbar.
Sobald wir in der Lage sind, solche physiologischen Ursachen unseres Empfindens gezielt anzugehen, können wir uns besser unseren tiefer verwurzelten Ängsten widmen – der echten Angst –, die entstehen, wenn jemand sich von einem wesentlichen Gefühl für den Sinn und Zweck des Lebens entfernt. Diese Angst hängt eng damit zusammen, was uns als Menschen ausmacht: Dem Wissen, dass wir auf unserem Lebensweg verwundbar sind, dass wir Menschen, die wir lieben, verlieren können, und dass auch wir eines Tages sterben. Der dänische Existenzphilosoph und Theologe Søren Kierkegaard bezeichnete dies im 19. Jahrhundert als „Schwindel der Freiheit“. Gleichzeitig gewährleistet die Angst in gewissem Sinne auch unsere Sicherheit. Immerhin sind wir alle hier, weil unsere Vorfahren wachsam genug waren, um zu überleben. Diese Form der Angst ist Antrieb, sich selbst zu schützen und im Leben in Bewegung zu bleiben. Häufig geht sie jedoch auch mit einer Botschaft einher, die einer Intuition und Weisheit aus unserem tiefsten Inneren entstammt und uns mitteilt, was wir tun müssen, um unser Leben besser auf unsere individuellen Fähigkeiten und Vorstellungen abzustimmen. Damit ist sie im Grunde eine Leitschnur, wie wir das Leben so vollständig wie nur möglich gestalten können.
Die Frage, ob Verzweiflung mitunter nicht nur niedriger Blutzucker und Erschöpfung ist, ist kein mangelnder Respekt vor der Komplexität unseres Daseins.
Alain de Botton
Wenn wir Angst haben, fühlt es sich manchmal so an, als hätte sich alles gegen uns verschworen: Die Beziehung ist kompliziert, die Arbeit ist Druck und Ansporn zugleich, die ganze Welt scheint unaufhaltsam auf die sichere Katastrophe zuzusteuern. Aber viele der schrecklichen Gedanken und Gefühle, die wir als Angst bezeichnen, sind lediglich eine Interpretation des Gehirns für den relativ geradlinigen, physiologischen Prozess der Stressreaktion. Dennoch lernen Psychiater in ihrer Ausbildung, psychische Probleme in erster Linie im Gehirn zu verorten, um sie dann mit Arzneimitteln zur Veränderung der Hirnchemie zu behandeln und Denk- und Verhaltensmuster therapeutisch anzugehen. Implizit lernen Psychiater dabei auch, nicht die Grenzen ihres Fachs zu überschreiten und den Rest des Körpers auszublenden. Meiner Ansicht nach schränkt dieser Ansatz meine Fachrichtung und die psychiatrischen Behandlungsoptionen unnötig ein. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, Geist und Psyche über den Körper zu behandeln.
Mit dem Aufkommen von Integrativer und Funktionsmedizin (und dem neuerschlossenen Gebiet der ganzheitlichen Psychiatrie) wächst ein neues Verständnis für psychische Erkrankungen. Neben wachsender Nachfrage durch Patientinnen und Patienten gibt es zunehmend Studien, die für eine ganzheitlichere Sicht auf die psychische Gesundheit sprechen. Ein Beispiel hierfür ist die SMILES-Studie aus dem Jahr 2017. SMILES ist ein Akronym für Supporting the Modification of Lifestyle In Lowered Emotional States („Unterstützung von Lebensstilanpassungen bei gedrückter Stimmungslage“). Geleitet wurde diese Studie von Felice Jacka, Professorin für Ernährungspsychiatrie und epidemiologische Psychiatrie an der Deakin University in Australien. Die SMILES-Studie verglich die Wirkung einer verbesserten Ernährung mit der Wirkung von sozialer Unterstützung bei Menschen mit mittelgradigen bis schweren Depressionen, deren Ernährung durchweg vornehmlich aus industriell gefertigten Lebensmitteln bestand. Dabei stellte sich heraus, dass 32 Prozent derer, die eine Ernährungsunterstützung erhielten, eine Remission erlebten – im Gegensatz zu nur acht Prozent jener, die soziale Unterstützung bekamen.1 Ähnliche Ergebnisse erbrachten verschiedene Studien zum Einsatz des Gewürzes Kurkuma, das in der ayurvedischen Medizin, dem alten Heilsystem des indischen Subkontinents, seit Jahrhunderten genutzt wird. Kurkuma erwies sich als entzündungshemmend und konnte somit die Konzentration von Neurotransmittern modulieren, die an der Pathophysiologie von Depressionen und Angst beteiligt sind.2 (Entzündungen treten auf, wenn das Immunsystem „anspringt“, um eine Gefahr zu beseitigen, zum Beispiel bei einer Verletzung oder einer Infektion, und sie können das Signal auslösen, dass der Körper sich gerade wehren muss – und das erzeugt Angst.) Während Gehirnchemie und Denkmuster bei Angst also durchaus eine Rolle spielen, möchte ich festhalten, dass vielfach auch das Gegenteil der Fall ist: Häufig verändert sich die Gehirnchemie infolge eines Ungleichgewichts im Körper. Unechte Angst beruht somit in Wahrheit auf einem körperlichen Problem und sollte auf dieser Ebene behandelt werden.
In der Psychiatrie herrscht vielfach die Vorstellung, dass Angst in erster Linie durch ein genetisch bedingtes chemisches Ungleichgewicht im Gehirn entsteht. Allerdings besteht abgesehen von der Fokussierung auf den Neurotransmitter Serotonin kein Konsens darüber, welche Mechanismen Angst erzeugen. Dabei gibt es einen zweiten Neurotransmitter, GABA (Gamma-Aminobuttersäure), der als primär inhibitorischer Botenstoff des zentralen Nervensystems dient und bei der Besänftigung der Nerven ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Meiner Ansicht nach wird GABA unterbewertet, zumindest was den öffentlichen Diskurs angeht. Dabei ist es im Kampf gegen die Angst ein wichtiges natürliches Mittel. Dieser Neurotransmitter erzeugt in uns ein Gefühl der Gelassenheit und Ruhe, und damit ist er in der Lage, eine Angstspirale zu hemmen. Sobald wir anfangen, uns all die Schreckensszenarien auszumalen, die uns zustoßen könnten, kann GABA uns zuflüstern: „Schsch, ganz ruhig, das ist unwahrscheinlich. Wird schon alles gut gehen.“ Die klassische Psychiatrie geht bei Patienten mit Angstproblematik daher gerne davon aus, dass entweder die Serotonin- oder die GABA-Signalkette nicht richtig funktioniert und von diesen Neurotransmittern somit zu wenig Sicherheitssignale gefunkt werden. Ich hingegen glaube, dass unechte Angst weniger genetisch bedingt ist, sondern eher auf Elementen unserer modernen Lebensweise berührt – von Antibiotikabehandlungen bis hin zum gnadenlosen Dauerstress, dem so viele Menschen heute ausgesetzt sind. Diese ständigen Attacken auf den Körper lassen die GABA-Produktion zurückgehen (darauf komme ich später genauer zu sprechen), doch es gibt noch weitere Signalwege, über die der Körper dem Gehirn mitteilt, dass etwas nicht stimmt. Zu den zwei wichtigsten physiologischen Prozessen, die Angst auslösen, zählen die Stressreaktion (die Reaktion des Nervensystems auf eine wahrgenommene Bedrohung) und systemische Entzündungen, die vom Darm ausgehen.
Unter einer Stressreaktion verstehen wir normalerweise eine automatische Reaktion auf Geschehnisse im Außen – schlechte Nachrichten oder eine körperliche Bedrohung. Sie kann aber auch auf innere Faktoren zurückzuführen sein, die den Körper aus dem Gleichgewicht geraten lassen, darunter Schlafmangel3 oder auch bloß ein starker Kaffee (der den Körper animiert, das wichtigste Stresshormon Kortisol auszuschütten4). Diese Erkenntnis könnte ernüchternd erscheinen, wenn sie nicht eine derart gute Nachricht wäre: Damit sind solche körperlichen Auslöser für Stress und Angst nämlich vermeidbar. Jahrmillionen der Evolution haben die Stressreaktion im Körper fest verankert, um uns aus lebensgefährlichen Situationen zu retten, zum Beispiel vor Raubtieren, die einst zum Alltag gehörten. Diese Reaktion beginnt mit einer Hormonkaskade, die heute gemeinhin als Kampf-oder-Flucht-Reaktion bekannt ist. Der Körper geht davon aus, dass er im nächsten Moment angreifen oder weglaufen muss. Zu diesem Zweck lenkt er die Durchblutung vom Magen-Darm-Trakt und den Genitalien weg und sorgt stattdessen für eine bessere Versorgung von Muskeln, Herz, Lunge, Augen und Gehirn, damit wir erbitterter kämpfen, schneller rennen und besser sehen können und klüger sind als alles, was uns gefährdet. Das gelingt der Stressreaktion, indem sie massenweise Hormone wie Epinephrin (also Adrenalin) und Norepinephrin ausschüttet, die unsere Pupillen und die Blutgefäße in der Muskulatur erweitern und gleichzeitig Blutgefäße im Verdauungstrakt und in der Haut zusammenziehen. Hinzu kommt das Hormon Kortisol, das uns hellwach macht und Energie bereitstellt, indem es den Blutzucker mobilisiert. Parallel dazu springt die Amygdala an, die zum limbischen System gehört (das ist der Teil des Gehirns, der an der Verarbeitung von überlebenswichtigen Emotionen, Erinnerungen und Verhaltensweisen beteiligt ist) und unsere Umgebung prompt noch bedrohlicher erscheinen lässt.
Während unsere physiologischen Fähigkeiten, auf Stress zu reagieren, unverändert sind, hat sich die Welt, auf die wir reagieren, stark gewandelt. Anstelle von akuten Situationen, in denen es um Leben oder Tod geht, haben wir es mit chronischen niederschwelligen Stressfaktoren wie entzündungsfördernden Speisen und Getränken, Schlafmangel und einem unaufhörlichen Nachrichtenstrom zu tun, der uns über E-Mails, Textbotschaften oder Arbeitsplattformen erreicht. Solche Faktoren sind zwar ungefährlicher als ein Leopard, setzen aber dennoch die Stressreaktion in Gang. Die wahrgenommene Gefahr kann groß oder klein sein, der Körper tut einfach, was er schon immer tut, indem er uns auf eine Bedrohung einstimmt. Dank moderner Ernährungs- und Lebensgewohnheiten, die im Körper häufig Stressreaktionen in Gang setzen, lässt die Anspannung bei vielen Menschen kaum noch nach. Sie essen Süßigkeiten und etwas später folgt das Blutzuckertief? Der Körper sieht darin ein gewisses Risiko fürs Überleben. Sie sind wegen Doomscrolling zu lange wachgeblieben? Der Körper glaubt, von akuter Gefahr umgeben zu sein. Schlafmangel, chronische Entzündungen durch den Verzehr von Lebensmitteln, die Ihnen nicht guttun, und die Kommentarspalte auf Twitter – aus körperlicher Sicht sind all dies Indikatoren dafür, dass die aktuelle Umgebung kein sicherer Ort ist. Also gibt der Körper Stresshormone ins Blut ab, und diese unsichtbare Kaskade an Botenstoffen manifestiert sich in Form von Gefühlen und Empfindungen als unechte Angst.
Eine solche Reaktion ist nicht nur weitgehend vermeidbar, sondern es gibt auch Möglichkeiten, das Adrenalin, das nach der Stressreaktion im Blut kursiert, abzubauen und wieder zur Ruhe zu kommen. Einfach ausgedrückt erreichen wir dies, indem wir den „Stressreaktionszyklus“ beenden, ein Konzept, das in jüngerer Zeit durch die Schwestern Emily Nagoski, PhD, und Amelia Nagoski, DMA, in ihrem Buch Stress: Warum Frauen leichter ausbrennen und was sie für sich tun können genauer beleuchtet wurde. Die Nagoski-Schwestern propagieren darin, dass wir eine körperliche Aktivität brauchen, die dem Gehirn signalisiert, „dass du die Bedrohung überlebt hast und in deinem Körper sicher bist.“5 Solche Aktivitäten erfordern bestimmte Bewegungsweisen und eine Möglichkeit zum Selbstausdruck. Sobald wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie man eine Stressreaktion und die mit ihr einhergehende unechte Angst verhindern kann, befassen wir uns in Teil II mit bestimmten Techniken, um bei unvermeidbarem Stress wieder aus dem Teufelskreis auszusteigen.
Die Fragen auf dieser Liste mögen auf den ersten Blick lapidar erscheinen, doch meine Patienten sagen, dass diese Liste für sie bei der Bewältigung ihrer Angst zu den besten Hilfsmitteln überhaupt zählt. Wer trotz aller Aufregung eine kurze Pause macht und die nachfolgende Checkliste durchgeht, kann einem eventuellen spezifischen Auslöser der unechten Angst auf die Spur kommen. Und auch der passenden Lösung. Gleichzeitig hilft diese Vorgehensweise dabei, der Angst die Spitze zu nehmen, besonders wenn sich eine konkrete Ursache ermitteln lässt. Meinen Patienten empfehle ich, die Liste zu Hause an den Kühlschrank zu hängen.
Ich habe Angst, weiß aber nicht warum. Ist das …
–Hunger? (Bitte etwas essen.)
–ein Zuckertief oder eine Reaktion auf eine chemische Substanz? (Habe ich etwas Süßes gegessen, etwas industriell Gefertigtes oder etwas mit viel Lebensmittelfarbe oder Konservierungsmitteln? Jetzt eine Kleinigkeit essen und sich nächstes Mal anders entscheiden.)
–zu viel Koffein? (Unruhe und Angst können darauf hinweisen, dass Sie überempfindlich auf Koffein reagieren. Am besten morgen weniger Koffein trinken.)
–zu wenig Koffein? (Heute habe ich deutlich weniger Kaffee als sonst getrunken, also nachholen und künftig auf eine gleichmäßige Koffeinzufuhr achten.)
–Müdigkeit? (Kurz hinlegen und am Abend früher schlafen gehen.)
–Dehydrierung? (Wasser trinken.)
–Trägheit? (Eine Runde um den Block marschieren oder tanzen.)
–Informationsüberflutung? Habe ich mich gerade im Internet oder in den sozialen Medien verloren? (Tanzen oder ins Freie gehen, um das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen.)
–Alkohol oder ein Kater? (Abspeichern und künftig klüger mit Alkohol umgehen.)
–Oder brauche ich meine Psychopharmaka? (Kurz vor der nächsten Dosis bin ich pharmakologisch am Tiefpunkt; der Spiegel des Medikaments im Blut ist besonders niedrig. Das kann auf die Stimmung schlagen. Zeit für die nächste Medikamenteneinnahme!)
Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten zehn Jahre kamen zu dem Ergebnis, dass die Funktion des Darms und seines Mikrobioms, das sich aus Billionen von Mikroorganismen zusammensetzt, über die reine Verdauung und Aufnahme von Nährstoffen weit hinausgeht. Erstens ist der Darm der Hauptsitz unseres Immunsystems: In der Darmwand sitzen mehr als 70 Prozent unserer Immunzellen.6 Zweitens ist der Darm über Hormone, die Appetit, Stoffwechsel und Sexualsystem regulieren, eng mit dem endokrinen System verknüpft. Und drittens ist im Darm unser enterisches Nervensystem angesiedelt, das zunehmend als das „zweite Gehirn“ gilt und mehr als 30 Neurotransmitter produziert, verwendet und moduliert. Tatsächlich erzeugt und speichert dieses zweite Gehirn 95 Prozent des Serotonins im Körper; nur fünf Prozent unseres Serotonins sind im Gehirn zu finden.7
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Darmgesundheit, der noch immer stark unterschätzt wird, ist die wechselseitige Kommunikation zwischen Darm und Gehirn. Einseitige Befehlsketten können die meisten nachvollziehen. Wenn wir Angst haben, kann die Verdauung aus dem Takt geraten. Denken Sie beispielsweise an das flaue Gefühl im Magen, wenn Sie verliebt sind, oder aber an den plötzlichen Durchfall vor einer wichtigen Präsentation. Das liegt daran, dass unser Körper angesichts von starkem Stress den Darm entleeren möchte, damit der Darminhalt uns während eines Kampfes weniger belastet und weniger Blut für die Verdauung benötigt wird. So steht mehr davon für die Versorgung der Muskeln, der Augen und des Herzens zur Verfügung. Aber genauso wie das Gehirn mit dem Darm kommuniziert, sendet auch dieser Informationen zurück an das Gehirn. Ist der Darm gesund und zufrieden, so funkt er „Alles klar“ an das Gehirn und verhilft uns damit zu innerer Ruhe. Geraten jedoch die Mikroben aus dem Gleichgewicht oder haben wir etwas gegessen, was wir nicht vertragen, so ändert sich diese Botschaft. In solchen Fällen kann der Darm dem Gehirn mitteilen: Nicht gut, hab Angst.
Diese Kommunikation erfolgt in erster Linie über den Vagusnerv, also den längsten Hirnnerven im Körper, der durch Brustkorb und Bauchraum läuft. Der Vagusnerv besteht zu rund 80 Prozent aus afferenten Fasern, die Informationen über den Status der inneren Organe (wie Darm, Leber, Herz und Lunge) registrieren und an das Gehirn weiterleiten.8 Das heißt, der Darm hat über den Vagusnerv eine Direktleitung ins Gehirn, wodurch er es jederzeit über den Stand der Dinge informieren kann. Wenn der Darm nicht gesund ist, fühlen wir uns unwohl.
Dieses bessere Verständnis für den Darm und seine Kommunikation mit dem Gehirn macht nachvollziehbar, wie eine Dysbiose (eine unausgewogene Darmflora, die zum Beispiel durch Antibiotika-Einnahme, den Verzehr stark verarbeiteter Lebensmittel oder Dauerstress zustande kommen kann) unmittelbaren Einfluss auf das Angstlevel hat. Es gibt sogar Belege dafür, dass bestimmte Bacteroides-Stämme im Darm, die unter anderen durch Ernährungsfehler und Stress in Mitleidenschaft gezogen werden, an der Synthese des wichtigen Neurotransmitters GABA beteiligt sind.9,10 In meinen Augen ließe sich GABA aufgrund unseres Lebensstils sozusagen als vom Aussterben bedrohte Substanz betrachten.
Doch der Darm hat noch weitere Möglichkeiten, SOS zu funken, wenn er in Bedrängnis gerät. Ist er gereizt und entzündet, so kann er eine Verteilung von entzündungsfördernden Molekülen, zum Beispiel Zytokinen, im ganzen Körper in Gang setzen und eine breite systemische Entzündungsreaktion hervorrufen, was wiederum ein Alarmsignal an das Gehirn sendet. So etwas geschieht beispielsweise, wenn Endotoxine mit dem Namen Lipopolysaccharide (LPS) durch eine übermäßig durchlässige Darmwand ins Blut übergehen, man spricht vom sogenannten Leaky-Gut-Syndrom. Im gesunden Darm sind diese Moleküle normale Nebenprodukte. Durchdringen sie allerdings die Darmwand und gelangen ins Blut, kommt es zur Endotoxämie. Das Immunsystem schlägt Alarm, dass ein Eindringling vorhanden ist, fährt seine Aktivität hoch und sorgt für Entzündungen in Körper und Gehirn.
Die Endotoxämie ist keineswegs der einzige Signalweg, über den der Darm Entzündungsaktivität und Angst beeinflusst. Der Verdauungstrakt ist auch entscheidend an der Beruhigung des Immunsystems beteiligt, was erforderlich ist, um Entzündungen im Gehirn einzudämmen.11 Ein gesundes, gelassenes Immunsystem benötigt ein vielfältiges Ökosystem aus Darmmikroben. Das Gewimmel der dort erwünschten Bakterien, Pilze, Viren und sogar Parasiten12 liefert dem Immunsystem Informationen darüber, was akzeptabel ist und was kritisch werden könnte, und damit auch, wann es herunterfahren darf und wann es aktiv werden sollte. So lernt das Immunsystem vom Darm, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Leben im Darm jedoch zu wenig erwünschte Mikroben oder vermehren sich die pathogenen Keime übermäßig, fehlen dem Immunsystem diese grundlegenden Informationen. Und damit beginnen die Fehlschüsse. Ein derart überreiztes Immunsystem kann sogar Entzündungsprozesse im Gehirn auslösen, weil die Entzündungsmoleküle über das sogenannte glymphatische System (ein Netzwerk aus Gefäßen) ins Gehirn gelangen und dort das Signal geben, dass etwas nicht stimmt. Ein ausgeprägtes Entzündungsgeschehen kann also dazu führen, dass wir unter körperlichen Schwierigkeiten wie Fatigue, Schmerzen, Benommenheit oder allgemeiner Unpässlichkeit leiden – und es kann Angst hervorrufen.
Ernährung und Lebensstil tragen maßgeblich zur psychischen Gesundheit bei, weil sie großen Einfluss auf den Darmzustand und das Immunsystem haben. Natürlich sind unsere Gene und auch unsere Gedanken von großer Bedeutung für unsere Stimmungslage. Aber für einen Großteil unserer Angst sind tatsächlich unsere Alltagsgewohnheiten verantwortlich. Je mehr wir also tun können, um die Stressreaktion im Körper und das Entzündungsgeschehen im Darm einzudämmen, desto besser stehen die Chancen auf eine gesündere Grundstimmung. In Teil II gehen wir Strategien zur Eliminierung der unechten Angst systematisch durch, darunter die Stabilisierung des Blutzuckers, die Vermeidung unnötiger Stressreaktionen und die Heilung von Darmentzündungen.
Eines möchte ich klarstellen: Ich bin dankbar, dass es Antidepressiva und andere Arzneimittel zur Behandlung psychischer Erkrankungen gibt. Vielen Menschen, auch einem Teil meiner Patienten, verschaffen sie dringend benötigte Erleichterung, und es gibt zweifellos Umstände, in denen Medikamente notwendig und wirksam sind. In meiner zehnjährigen Praxis habe ich allerdings gelernt, dass die Wirkung von Psychopharmaka viele Formen annehmen kann. Manche Menschen profitieren enorm davon, bei anderen lässt die Wirkung im Laufe der Zeit nach, bei wieder anderen bleibt sie völlig aus, und ein Entzug gelingt mitunter nur unter höllischen Qualen. Angesichts dieser weitreichenden Szenarien bin ich auch froh, dass unser gegenwärtiges Verständnis von Angst und die zunehmenden Belege, dass diese häufig körperlicher Natur ist, mir gestatten, meine Behandlung so anzupassen, dass ich vielen meiner Patienten über Lebensstilanpassungen zu einem besseren Gleichgewicht und mehr Wohlbefinden verhelfen kann.
Die klassische Psychiatrie steht diesem Modell noch etwas skeptisch gegenüber und behandelt Angst nach wie vor so, als wäre sie in erster Linie ein Ergebnis unserer Gedanken und eines genetisch bestimmten chemischen Ungleichgewichts im Gehirn. Damit ignoriert sie, dass Angst vielfach auf ein physiologisches Ungleichgewicht zurückgeht. Dummerweise können Psychopharmaka – die in der Regel auf einen einzelnen Neurotransmitter, nämlich Serotonin oder GABA abzielen – unechte Angst nicht an der Wurzel packen; bestenfalls dämpfen sie die Symptome. Unechte Angst beschreibe ich mitunter als die „Motor-prüfen-Warnleuchte“ des Körpers. Eine solche Warnung sollte man nicht ignorieren oder mit Medikamenten verdecken, sondern immer nach ihrer Ursache fahnden. Außerdem habe ich festgestellt, dass eine Intervention auf körperlicher Ebene häufig schneller, weniger kostspielig und dabei jedoch wirksamer ist, falls die Angst körperliche Ursachen hat.
In Teil II werden wir uns auch Psychopharmaka und ihre komplexen Eigenschaften näher ansehen. An dieser Stelle möchte ich vorerst betonen, dass es keinen Grund gibt, Ihre persönliche Medikation zu hinterfragen, wenn diese Ihnen bislang hilft. Schätzen Sie sich glücklich und nehmen Sie Ihre Medikamente! Und falls Sie gerade einen medikamentösen Therapieversuch starten, sich umfassend informiert haben und ärztlich gut betreut werden, dann ziehen Sie das durch. Die Strategien, die in diesem Buch angesprochen werden, können angstlösende Medikamente unterstützen. Wenn ich also alternative Therapieverfahren anspreche, geht es mir um Hilfe für all jene, denen Arzneimittel bisher nicht helfen konnten. Wenn Ihre Medikation Ihnen hilft, sollten Sie dies nicht hinterfragen. Wer allerdings in die Kategorie derer fällt, bei denen Medikamente nicht anschlagen oder unerwünschte Wirkungen auftreten, oder wer seine Medikation aus anderen Gründen reduzieren oder einfach einen neuen Behandlungsansatz verfolgen will, kann sich von diesem Buch durch das breite Spektrum heute verfügbarer Behandlungsoptionen gegen Angst führen lassen.
Eine breitere Palette an Behandlungsoptionen macht Ihnen nicht weniger Angst, sondern mehr? Dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie beruhigt sein dürfen: Ihr Körper will, dass es Ihnen besser geht. Dieses Buch soll Menschen auch in die Lage versetzen, besser darauf zu hören, was der Körper von ihnen fordert, um wieder friedlich und ausgeglichen zu sein.
In einem bekannten Meme sitzt ein Arzt an seinem Tisch und sagt selbstgefällig: „Verwechseln Sie Ihr Google-Wissen nicht mit meinem Medizinstudium“, worauf die Patientin erwidert: „Verwechseln Sie Ihre einstündige Vorlesung zu meiner Erkrankung nicht mit all den Jahren, die ich schon mit ihr lebe.“ Die Psychiatrie hält lebensrettende Maßnahmen und hilfreiche Unterstützung bereit, aber der Mensch, der am meisten über seine psychische Gesundheit weiß, sind natürlich Sie selbst. Sie können sich selbst am besten heilen. Das ist eine hohe Verantwortung, aber zugleich auch eine Erleichterung.
Ich möchte Ihnen Mut machen, der Weisheit und Resilienz Ihres Körpers zu vertrauen – und Ihrer Selbsterkenntnis. Was wir als unangenehme Symptome erleben, sind oft genug Signale dafür, dass der Körper versucht, wieder in die Homöostase zurück zu gelangen, das natürliche Gleichgewicht im Körper. Anstatt dagegen anzukämpfen, sollten wir uns bemühen, wechselseitiges Verständnis und Vertrauen aufzubauen.
Einmal sprach ich mit einer Patientin über ihre jahrelangen Kämpfe mit ihrer Essstörung, und sie sagte: „Ich komme mir vor, als ginge ich mit meinem Körper zur Paarberatung.“ Ich finde, das ist eine passende Metapher für meine Behandlungsphilosophie, und ich hoffe, dass mein Therapieansatz – und dieses Buch – eine Art Paartherapie für Sie und Ihren Körper sein kann. Es geht um eine Beziehung, in der bei vielen von uns Kommunikation und Respekt verlorengegangen sind. Stattdessen herrschen Trotz, Frustration, Misstrauen und zahllose Missverständnisse vor. Lassen Sie uns daher einen Grundsatz der Paartherapie übernehmen: Wir müssen dem Körper zuhören, um zu verstehen, was er braucht und was wir tun können, um wieder miteinander in Einklang zu kommen. Dazu müssen wir zuerst die körperliche Angst identifizieren und behandeln, also die Emotionen, die wir spüren, weil der natürliche Zustand des Körpers durch eine unausgewogene Physiologie, zu wenig Schlaf oder Ernährungsfehler aus dem Takt geraten ist.
Erst wenn wir wissen, wie man diese unnötige Angst vermeidet, können wir uns der tiefersitzenden, echten Angst zuwenden, die dann noch übrig ist. Und weil diese Emotionen weniger leicht zu beeinflussen sind, können sie uns besser den Weg weisen und uns so führen, dass wir Erfüllung und wahren Lebenssinn finden.
Egal, wie sehr wir es zu ignorieren versuchen, unsere Seele kennt die Wahrheit und sehnt sich nach Klarheit.
Toni Morrison, Gott, hilf dem Kind (Booker)
Eine meiner Patientinnen, So-young, suchte mich auf, weil sie sich vor lauter Angst kaum noch bei der Arbeit konzentrieren konnte, nachts keine Ruhe fand und nicht einmal Freude an ihren Kindern hatte. Aufgewachsen war So-young als Tochter von Einwanderern aus Südkorea im New Yorker Stadtteil Queens. Ihre Eltern hatten in Amerika bei null angefangen und legten daher großen Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Sie hatte das Gefühl, immer nur unter der Bedingung geliebt zu werden, dass sie so aussah und sich so verhielt, wie es ihnen zusagte und ihr Umfeld beeindruckte.
In ihren Zwanzigern heiratete So-young einen schwierigen Mann mit narzisstischen Zügen, der ein Spiegelbild dieser Eigenschaften ihrer Eltern war. Dadurch hatte So-young als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern fast unablässig mit Angst zu kämpfen.
Bei unserem ersten Termin nahm sie bereits Paroxetin ein, einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Ich hatte den Eindruck, dass sie einen Teil ihrer Angst in das Bedürfnis umleitete, andere zu beruhigen, als sei sie dafür verantwortlich, dass es allen Anwesenden gut ginge. Bei solchen Patienten muss ich gut aufpassen. Sie sind sehr angenehme Zeitgenossen, in deren Gegenwart ich meine Arbeit als ein Kinderspiel empfinden kann, aber gerade weil sie es gerne allen recht machen möchten, steigt für sie das Risiko, nicht in dem Maße von der Therapie profitieren zu können, wie sie es eigentlich bräuchten.
Wir fingen an, uns gründlicher mit So-youngs Vergangenheit, aber auch mit ihrer Beziehung zu ihrem Mann auseinanderzusetzen, um die Wurzeln ihrer Unruhe zu entdecken. So-young vertrat eine Meinung, die ich von vielen meiner Patientinnen und Patienten kenne: Sie glaubte, sie hätte eben eine genetische Veranlagung dafür, Angst zu entwickeln. Ihre beiden Schwestern nahmen ebenfalls Psychopharmaka, und auch ihre Mutter neigte zu Ängsten (war jedoch nicht bereit, sich behandeln zu lassen). Eine von So-youngs Schwestern hatte zu ihr gesagt: „Wir haben diesbezüglich keine Wahl. Wir werden immer Medikamente brauchen. So sind wir eben.“
Zwar glaube ich auf Anhieb, dass So-youngs Familie eine genetische Prädisposition hat, aber ich mag die Redewendung: „Die Gene laden das Gewehr, die Umwelt betätigt den Abzug.“ Ich ging davon aus, dass So-young und ich die tieferen Gründe für ihre Angst identifizieren und klären könnten. Nachdem wir einige Monate miteinander gearbeitet hatten, sagte So-young, sie würde das Paroxetin gerne ausschleichen. Der Grund dafür war nicht etwa die philosophische Einsicht, dass sie ihrer Angst lieber auf den Grund gehen wollte, sondern sie hatte gemerkt, dass Paroxetin zur Gewichtszunahme führen konnte. Also wollte sie es nicht mehr nehmen. Während sie die Dosis langsam senkte, registrierte So-young, dass ihr Gefühlsspektrum breiter wurde. Ihren Worten zufolge fühlte sie sich „lebendiger“, und diese unerwartete, frühe Veränderung faszinierte sie. Im Laufe der folgenden Monate beschrieb So-young ihre Ehe mit wachsender Empörung und begriff, dass das Verhalten ihres Mannes inakzeptabel war und sich wahrscheinlich nicht ändern würde. Ein Wendepunkt in der Therapie trat ein, als sie überlegte, ob sie ihren Mann verlassen und ihre Kinder allein großziehen wollte. Der Teil ihrer Persönlichkeit, der es allen recht machen wollte, wurde merklich schwächer. Sie war kein wandelnder Seismograph mehr, sondern ließ sich von ihren inneren Überzeugungen und Stärken leiten. Mich besorgte zwar, wie schwierig es in ihrer Ehe zuging, aber insgesamt betrachtete ich die Veränderungen bei So-young als ein positives Zeichen für ihr Ringen mit einem echten Problem, das in erster Linie daraus bestand, dass sie „am Steuer eingeschlafen“ war, wie sie es ausdrückte, weil sie ihre Bedürfnisse oft unterdrückte und sich kleiner machte, um ihrem Mann mehr Raum zu geben. Als ihr jedoch dämmerte, dass sie ihre Medikamente in Wahrheit gebraucht hatte, um diesen Mann überhaupt ertragen zu können, beschloss sie angesichts von zwei kleinen Kindern, die Dosis lieber wieder zu erhöhen, als den harten Weg zu beschreiten.
Dennoch war die Saat ausgebracht. Etwa ein Jahr später startete So-young auf die passive Art einen weiteren Entzugsversuch, indem sie ihre Paroxetin-Verordnung einfach nicht erneuerte. (Eine Vorgehensweise, die ich ausdrücklich nicht empfehle!) Wieder hatte sie einige Zeit später das Gefühl aufzuwachen, aber dieses Mal ließ sie sich bewusst auf diesen Prozess ein. „Ich habe das Gefühl, wieder ich zu sein“, sagte sie bei unseren Sitzungen häufig, als wäre sie überrascht und begeistert, erneut auf ihre „wahres Selbst“ gestoßen zu sein. Allerdings erkannte sie auch wieder die Wahrheit über ihren Mann: Dass er eine kraftvolle, fordernde Persönlichkeit hatte und glaubte, ein Recht auf eine nachgiebige Frau zu haben. Diesmal entschied sich So-young, ihm die Stirn zu bieten und ihre Interessen zu vertreten. Sie fuhr nicht mit, wenn er mit seinen Freunden etwas plante, sondern blieb lieber zu Hause, um besser zur Ruhe zu kommen. Wenn sie keine Lust auf Sex hatte, machte sie nicht mit. Und sie plante häufiger Dinge mit ihren eigenen Freundinnen. „Was ist denn in dich gefahren?“, fragte dann ihr Mann. Er rebellierte gegen ihre überraschenden neuen Grenzen, und So-young erklärte ihm, worum es ihr ging und welche Veränderungen sie sich in der Beziehung erhoffte. Allmählich und nicht ohne einige schwierige Gespräche begann ihr Mann, anders — besser! — mit ihr umzugehen und mehr auf ihre Bedürfnisse zu achten. Indem sie für sich selbst einstand und anerkannte, dass sie es wert war, respektvoller behandelt zu werden, sicherte sie sich erfolgreich eine angemessene Unterstützung durch ihren Mann. Ihr Weg verlief nicht schnurgerade, aber es lag etwas Lebensbejahendes darin, wie So-young sich mehr ausleben und zudem ihre Ehe zum Besseren verändern konnte. In ihrer Arbeit mit mir entdeckt sie immer noch Stärken und Selbstwert, die über die Erfüllung der Bedürfnisse aller anderen hinausgehen. Ihr ist klar geworden, dass sie nicht für das Glück der anderen verantwortlich ist, und sie arbeitet weiter an ihrem Selbstwertgefühl. Vor allem aber hat sie weniger Angst, obwohl sie keine Medikamente mehr einnimmt. Ich weiß nicht, ob ihre Ehe ihr nicht doch irgendwann zu eng wird, während sie sich weiterhin verändert und wächst. Was ich jedoch weiß – und was insbesondere sie weiß –, ist, dass sie in der Lage sein wird, sich von einem beständigen, authentischen Gefühl für ihre Bedürfnisse leiten zu lassen und von dem Bewusstsein, dass sie es wert ist, dass diese Bedürfnisse auch erfüllt werden.
Selbst wenn wir den Kaffee streichen und den Darm heilen lassen, bleibt ein gewisses Maß an Angst. Diese Angst speist sich aus der inhärenten Zerbrechlichkeit des Lebens, sie hat aber auch die Stärke unserer Überzeugungen zu bieten. Das heißt, wenn unser Leben nicht mit unseren Werten oder Fähigkeiten übereinstimmt, können wir Angst empfinden, aber diese Angst kann zugleich ein wichtiger Indikator dafür sein, dass wir eine Kurskorrektur brauchen. Vielleicht sehen Sie wie So-young über ein Ungleichgewicht in der Partnerschaft geflissentlich hinweg. Oder Sie haben einen Job, der in einer früheren Lebensphase gut zu Ihnen passte, doch jetzt fühlt es sich so an, als wären Sie irgendwann falsch abgebogen. Oder Sie können und wollen nicht mehr tatenlos zusehen, wie der Planet sich weiter aufheizt und die Meeresspiegel steigen. Was auch immer es ist, der Körper teilt uns dadurch mit: Bitte, schau dir das an