Wunder - Kurt Erlemann - E-Book

Wunder E-Book

Kurt Erlemann

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Beschreibung

Das Buch zum wissenschaftlichen Umgang mit biblischen Wundererzählungen gibt einen Überblick über die Wunderforschung seit der Antike. Thesen und Begriffsklärungen erleichtern den Einstieg ins Thema. Weitere Schwerpunkte sind die Theologie der Wundererzählungen, die Auslegungsmethodik sowie die Wunderhermeneutik. Musterexegesen und exemplarische Unterrichtsskizzen runden das Konzept ab.

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Seitenzahl: 624

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Wunder

Theorie – Auslegung – Didaktik

Kurt Erlemann

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: © Adobe Stock / Josef Rapek

 

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: pagina GmbH, Tübingen

 

utb-Nr. 5657

ISBN 978-3-8385-5657-4 (Print)

ISBN 978-3-8463-5657-9 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einführung1.1 Die Intention des Buches1.2 Erste Fragen und Antworten1.2.1 Hat Jesus Wunder getan?1.2.2 Was ist die ‚Wahrheit‘ der Wundertexte?1.2.3 Kann man noch an Wunder glauben?1.2.4 Wozu sind Wundertexte gut?1.2.5 Welche Themen sind mitzudenken?1.3 Vorgehensweise1.4 Einführende Thesen1.5 Was sind eigentlich Wunder?1.5.1 Biblische Wunderterminologie1.5.2 ‚Weiche Fakten‘1.5.3 Profan-ästhetischer Wunderbegriff1.5.4 Kontingent-liberativer Wunderbegriff1.5.5 Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff1.5.6 Fazit: Provokation der menschlichen ratio1.5.7 Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik1.6 Antike Wundergattungen1.6.1 Heilungswunder/Therapien1.6.2 Exorzismen1.6.3 Totenerweckungen1.6.4 Geschenkwunder1.6.5 Natur- und Rettungswunder1.6.6 Normenwunder1.6.7 Strafwunder1.6.8 Epiphanien1.6.9 Weitere Wunderformen1.6.10 Wundersummarien1.6.11 Wunder im Neuen Testament – Textgrundlage1.7 Wunderspezifische Termini1.7.1 Charisma1.7.2 Dämonen1.7.3 Magie und Zauberei1.7.4 Schamanismus1.7.5 Mythos1.7.6 Rationalismus1.7.7 Spiritualität1.7.8 Mystik1.7.9 Weiche Fakten1.7.10 Faktualität/Fiktionalität2 Historische Fragestellungen2.1 Welt- und Menschenbild2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit2.1.2 Monotomisches Menschenbild2.1.3 Wunderglaube und Wunderkritik2.1.4 Nebeneinander von Mythos und ratio2.2 Antike Heilkunst2.2.1 Asklepios: Tempelmedizin2.2.2 Hippokrates: ‚Schulmedizin‘2.2.3 Wunderheiler u.a.: Volksmedizin2.2.4 Krankheit und Sünde2.2.5 Exkurs: Krankheitsbilder im Neuen Testament2.3 Jesus und andere Wundertäter2.3.1 Alttestamentliche Wunderpropheten2.3.2 Frühjüdische Wundertäter2.3.3 Wundertäter im hellenistischen Raum2.3.4 Magier, Zauberer und Schamanen2.3.5 Fazit: Die Außenwahrnehmung Jesu2.4 Genese des Christusglaubens2.4.1 Das Charisma des erinnerten Jesus2.4.2 Begegnungen mit dem Auferstandenen2.4.3 Konsequenzen für den Wunderglauben2.4.4 Fazit: Von Begegnungen zum Glauben2.5 Zwischen Glauben und Ablehnung2.5.1 Die polarisierende Wirkung der Wunder2.5.2 Vollmachtsfrage und Zeichenforderungen2.5.3 Das Problem der Schweigegebote2.5.4 Kult- und sozialkritischer Sprengstoff2.5.5 Fazit: Eschatologisch-kritische Funktion2.6 Ergebnis: Die historische Plausibilität der Wunder Jesu3 Grundlinien der Wunderforschung3.1 Wunderdeutung bis zur Neuzeit3.1.1 Biblische und altkirchliche Deutung3.1.2 Wunder in der Reformationszeit3.1.3 Fazit: Allegorisch-spirituelle Deutung3.2 Wunderdeutung in der Neuzeit3.2.1 Ausgangspunkt/Grundlagen3.2.2 Rationalistische Wunderdeutung3.2.3 Mythische Wunderdeutung3.2.4 Albert Schweitzers Fazit3.3 Wunderforschung im 20. Jahrhundert3.3.1 Religions- und formgeschichtliche Deutung3.3.2 Existenziale Wunderdeutung3.3.3 Tiefenpsychologische Deutung3.3.4 Psychosoziale Deutung3.3.5 Sozial- und kultkritische Deutung3.3.6 Weitere Deutungsmuster3.3.7 Fazit: Der lange Schatten des Rationalismus3.4 Neueste Trends3.4.1 Revision des Wahrheitsbegriffs3.4.2 Human- und kulturwissenschaftliche Ansätze3.4.3 Die Frage bleibender Relevanz3.4.4 Der unerklärbare Rest3.4.5 Fazit: Grenzen des Verstehens3.5 Auswertung und Kritik3.5.1 Harte Fakten vs. fromme Fiktion3.5.2 Historische vs. unhistorische Wunder3.5.3 Rationale vs. supranaturale Erklärung3.5.4 Wörtliches vs. übertragenes Verstehen3.5.5 Form vs. Inhalt?3.5.6 Wundergeschehen vs. Wundererzählung3.5.7 Rationale Verstehbarkeit vs. provokative Unverständlichkeit3.5.8 Die Frage nach Jesus3.5.9 Fazit: Der Output der Wunderforschung3.5.10 Exkurs: Die historische Wunderfrage im Wandel3.6 Weiterführende Überlegungen3.6.1 Die Frage theologischer Relevanz3.6.2 Der Wahrheitsbegriff der Wundertexte3.6.3 Die Logik der Wunder3.6.4 Sinnebenen und theologische Aspekte3.6.5 Grundfunktionen und Textgruppen3.6.6 Definition Wunder und Wundererzählung3.6.7 Fazit: Plädoyer für eine emanzipierte Wunderforschung3.6.8 Exkurs: Wundertexte und Gleichnisse4 Inhaltliche Aspekte4.1 Sinnebenen4.1.1 Physisch-leibliche Sinnebene4.1.2 Spirituelle Sinnebene4.1.3 (Tiefen-)Psychische Sinnebene4.1.4 Sozial-und kultkritische Sinnebene4.1.5 Mythisch-kosmische Sinnebene4.1.6 Kommunikative Sinnebene4.1.7 Diakonisch-missionarische Sinnebene4.1.8 Theologische Sinnebene4.1.9 Fazit: Vielschichtige Befreiungstexte4.2 Klassische Themenfelder4.2.1 Theo-logische Aspekte4.2.2 Christologische Aspekte4.2.3 Pneumatologische Aspekte4.2.4 Kosmologische Aspekte4.2.5 Anthropologische Aspekte4.2.6 Ekklesiologische Aspekte4.2.7 Ethische Aspekte4.2.8 Soteriologische Aspekte4.2.9 Eschatologische Aspekte4.2.10 Fazit: Heilvolle Wirkungen der Zuwendung Gottes4.3 Weitere Themen4.3.1 Wunder und Glaube4.3.2 Wunder und Sündenvergebung4.3.3 Wunder und Nachfolge4.3.4 Wunder und Reich Gottes4.3.5 Wunder und Theodizee4.4 Einzelne Wunderprofile4.4.1 Markusevangelium4.4.2 Matthäusevangelium4.4.3 Lukanisches Doppelwerk4.4.4 Johannesevangelium4.4.5 Corpus Paulinum4.4.6 Weitere Schriften4.5 Ergebnis5 Exegetische Musterbeispiele5.1 Fürsorge-Wundertexte5.1.1 Speisungswunder (Mk 6,30–44parr.)5.1.2 Bewahrung des Jesuskindes (Mt 2,13–23)5.2 Erkenntnis-Wundertexte5.2.1 Die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.)5.2.2 Der Jüngling zu Nain (Lk 7,11–17)5.3 Missions-Wundertexte5.3.1 Der blinde Bartimäus (Mk 10,46–52parr.)5.3.2 Strafwunder an Barjesus (Apg 13,6–12)5.4 Konflikt-Wundertexte5.4.1 Beelzebulfrage (Mt 12,22–30parr.)5.4.2 Der Wassersüchtige (Lk 14,1–6)6 Didaktische Impulse6.1 Hermeneutische Vorbemerkungen6.1.1 Voraussetzungen des Wunderverstehens6.1.2 Lebensweltliche Brücken zum Wunderbaren6.1.3 Sinnebenen und theologische Themenfelder6.1.4 Unverzichtbare Befreiungsgeschichten6.2 Pädagogische Überlegungen6.2.1 Die Debatte um Wunder im Unterricht6.2.2 Entwicklungspsychologische Aspekte6.3 Von der Exegese zum Unterricht6.4 Wunder-Textauswahl und Curricula6.4.1 Vorgaben der Kerncurricula6.4.2 Einordnung der Mustertexte6.5 Didaktische Möglichkeiten6.5.1 Wundertheorie und Methoden6.5.2 Textunabhängige Methoden6.6 Musterbeispiele6.6.1 GS (1./2. Klasse): Bewahrung des Jesuskindes (Mt 2,13–23)6.6.2 GS (3./4. Klasse): Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46–52)6.6.3 Sek I (5.+6. Klasse): Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44)6.6.4 Sek I (7.–10. Klasse): Sturmstillung (Mk 4,35–41)6.6.5 Sek II (10./11. Klasse): Jüngling zu Nain (Lk 7,11–17)6.6.6 Sek II (GK, LK): Exorzismus und Beelzebulfrage (Mt 12,22–30)6.6.7 BK I: Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat (Lk 14,1–6)6.6.8 BK II: Strafwunder an Barjesus-Elymas (Apg 13,6–12)7 ServiceteilS 1 AbkürzungenS 2 GlossarS 3 Schlagwörter (in Auswahl)S 4 Textstellen (in Auswahl)Altes TestamentAtl. ApokryphenFrühjüd. SchriftenNeues TestamentNtl. Apokryphen:Sonstige Autoren:S 5 Übersicht: Ntl. WundertexteS 5.1 Fürsorge-WundertexteS 5.2 Erkenntnis-WundertexteS 5.3 Missions-WundertexteS 5.4 Konflikt-WundertexteS 6 Literaturangaben1. Primärliteratur

Vorwort

Wunder und Wundertexte gehören zu den umstrittensten und zugleich faszinierendsten Genres der Bibel. In ihnen wird der Glaube an den Schöpfergott Israels sichtbar und spürbar. Ohne Wundertexte wäre dieser Glaube seiner Spitze beraubt. Die Evangelisten zeichnen Jesus als charismatischen Wundertäter. Schon seit den Anfängen der Kirche waren seine Wunder und die der Apostel Gegenstand intellektueller Kritik. Seit dem Zeitalter des Rationalismus wird die Glaubwürdigkeit der Bibel vorzugsweise an der Wunderfrage festgemacht. Bis heute dauert die Kontroverse um ein sachgemäßes Verständnis der biblischen Wundertexte an. Trotz aller Umstrittenheit sind sie noch immer ein fester Bestandteil der Lehrpläne für den Evangelischen Religionsunterricht.

Der UTB-Band ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit den biblischen Wundertexten und dem Phänomen des Wunderbaren in Forschung und Lehre. Das Buch vereinigt Impulse der Wunderforschung, exegetische Fragestellungen sowie Aspekte der Wunderhermeneutik und -didaktik. Das Buch ist Fach- und Lehrbuch zugleich: Erstens, es bietet einen leichten Einstieg in Grundbegrifflichkeiten. Zweitens, es beleuchtet eingehend historische Aspekte der Wunderfrage. Drittens, es bietet einen Überblick über Wunderdeutung und -forschung seit den Anfängen bis heute und spinnt die Fäden weiter. Viertens, es erschließt zahlreiche theologische Aspekte der Wundertexte. Fünftens, es setzt die Wundertheorie in Musterexegesen praktisch um und sechstens, es bietet Impulse für eine moderne Wunderdidaktik anhand praktischer Unterrichtsskizzen. Grafiken, Tabellen, Beispieltexte und ein Serviceteil runden das Konzept des Buches ab.

Mein ausdrücklicher Dank gilt den Menschen, welche die Entstehung des Buches begleiteten und bereicherten: Gunther vom Stein und Simon Dietz trugen wertvolle didaktisch-methodische Impulse bei. Sophia Diddens leistete akribische Korrekturarbeit. Daniel Schmitz und Thomas Wagner hielten mir einmal mehr den Rücken frei. Gunter Narr und seinem Team danke ich für die Realisierung des Buches auf Verlagsseite. Vor allem aber danke ich meiner Frau Steffi Springer für ihre große Geduld und liebevolle Unterstützung zu jeder Zeit! Gewidmet ist das Buch meiner langjährigen Mitarbeiterin Astrid Padberg als Dankeschön für die jederzeit wunderbare und professionelle Zusammenarbeit über die Jahrzehnte!

 

Kurt Erlemann, Neviges, Pfingsten 2021

1Einführung

Wunder und Wundertexte sind faszinierende, aber auch umstrittene Genres der Bibel. Zu fragen ist nach ihrer historischen Wahrheit, ihrer Relevanz und ihrer Vermittelbarkeit: Ist von wunderhaften Ereignissen zur Zeit Jesu und der Apostel auszugehen? Wie lassen sich Wundertexte adäquat verstehen? Hat der Wunderglaube noch theologische Relevanz oder ist er Teil eines überholten Weltbildes? Das Buch wendet die Ergebnisse der Wunderforschung auf exegetische, hermeneutische und didaktische Fragestellungen an.

1.1Die Intention des Buches

Das Buch lehnt sich in Format und Zuschnitt an den 2020 erschienenen UTB-Band Gleichnisse. Theorie – Auslegung – Didaktik (utb 5494) an. Die inhaltliche Vorlage ist mein populärwissenschaftlich angelegter Band Kaum zu glauben. Wunder im Neuen Testament (2016). Das vorliegende Buch spinnt den dort entwickelten Faden weiter, diskutiert ihn mit anderen wundertheoretischen Ansätzen und baut ihn im Sinne eines Lehrbuches aus. Besonderes Augenmerk gilt dem Verhältnis zwischen Wundertaten und Wundertexten, deren Bedeutung und Funktion, der historischen Wunderfrage und dem Wahrheitsanspruch der Texte. Dieser wird mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriff der Aufklärung ins Verhältnis gesetzt. Leitend ist die Grundüberzeugung, dass der Wunderglaube theologisch unverzichtbar ist. Der Glaube an den Schöpfergott, der selbst aus dem Tod neues Leben schaffen kann und den Menschen Erlösung von Leiden und Vergänglichkeit zugesagt hat, ist ohne den Gedanken an seine Wunderkraft stumpf.

1.2Erste Fragen und Antworten

1.2.1Hat Jesus Wunder getan?

Das historische Geschehen hinter den Wundertexten liegt im Dunkeln. Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern Glaubenszeugnisse. Gleichwohl ist die Annahme einer Wundertätigkeit Jesu plausibel: Sie erklärt stimmig die daraus entstandene Wirkungsgeschichte inklusive Christus- und Wunderglauben, Jüngerschaft und Kirche. Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reduktion historisch ‚wahrscheinlicher‘ Wundertaten auf rational erklärbare Heilungen und Exorzismen ist kein Lösungsweg für diese Frage und wird dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 2.4; 3.6.2).

1.2.2Was ist die ‚Wahrheit‘ der Wundertexte?

Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch fromme Märchen oder Mythen; ihr Wahrheitsgehalt liegt dazwischen. Er erschließt sich aus der heilvollen Wirkung der Wunder und aus der Vielzahl an Sinnebenen, welche die Texte transportieren. Ein Wunder, so lässt sich vorab sagen, ist ein umfassendes, die physische, psychische, soziale und religiös-moralische Dimension des Menschseins betreffendes, Geschehen, welches auf übernatürliche, göttliche Weise menschliche Not heilvoll verändert. In der Symphonie der Sinnebenen und der theologischen Aspekte liegt die bleibende Wahrheit und Relevanz der Wundertexte.

1.2.3Kann man noch an Wunder glauben?

„Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich glaube an Letzteres.“1

Intensive Wundererfahrungen sind der Anfangszeit des Christentums vorbehalten. Die Zeit seither ist wunderarm. Berichten über heutige wunderhafte Vorgänge begegnen wir verständlicherweise mit großem Vorbehalt. Das liegt nicht nur an unserer naturwissenschaftlich-rationalen Prägung, sondern auch daran, dass sich wunderhafte Ereignisse ‚wunderbar‘ vermarkten lassen und der Begriff Wunder inflationär und in profanisierter Weise verwendet wird. Gleichwohl lassen sich sporadisch wunderhafte Ereignisse konstatieren oder zumindest als Wunder deuten (Lourdes, Wunder von Lengede u.a.). – Wundererfahrungen setzen eine Offenheit für wunderhaftes Geschehen voraus. Das ist nur jenseits nüchtern-analytischer Weltdeutung, etwa in einer religiös-mystischen Optik auf die Wirklichkeit, möglich. Die in den Wundertexten angelegte Wunderlogik zeigt konkret, was Wundererfahrungen möglich macht: ein intensives Zusammenspiel bzw. Einswerden von Hoffnung, Glauben und Gebet einerseits und liebend-barmherziger Zuwendung des göttlichen Wundertäters andererseits (→ 1.5; 3.6.2f.).

1.2.4Wozu sind Wundertexte gut?

Wunder und Wundertexte sind aus mehreren Gründen theologisch unverzichtbar: Erstens, sie transportieren den Glauben an den allmächtigen Schöpfergott, der sich fürsorglich um die Welt und das Leben darin kümmert und selbst aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann. Zweitens, an den Wundern macht sich die eschatologische Hoffnung auf umfassende Erlösung von Leiden, Angst und Vergänglichkeit fest. Drittens, die Wundertexte wirken bis heute als Hoffnungs-, Ermutigungs- und Befreiungstexte. Sie zeigen, dass natürliche, soziale und religiös-moralische Grenzen durch Gottes heilvolle Schöpfermacht aufgebrochen werden können. Sie weiten damit den Horizont dessen, was möglich erscheint, und setzen Handlungsimpulse frei, um die Welt schon jetzt heilvoll zu verändern.

1.2.5Welche Themen sind mitzudenken?

Tangiert ist mit der Wunderthematik die Frage des Verhältnisses von Theologie und Glauben einerseits und Naturwissenschaft und Vernunft andererseits. Mithin geht es um die Frage des ntl. Weltbilds im Vergleich zum heutigen. Zu betrachten sind weiterhin das antike Medizinwesen, die Außenwahrnehmung Jesu, sein Verhältnis zu anderen Wundertätern sowie die Wunderforschung mit ihren Leitfragen und Ansätzen. Die Frage der Vermittlung von Wundertexten, sprich: Wunderhermeneutik und Wunderdidaktik, runden das Fragetableau ab.

1.3Vorgehensweise

Das Buch startet mit einführenden Thesen, einer ersten Annäherung an das Phänomen Wunder, einem Überblick über Wundergattungen und der Klärung wichtiger Begriffe (Kapitel 1). Kapitel 2 behandelt historische Fragestellungen (Welt- und Menschenbild, antike Heilkunst, Außenwahrnehmung Jesu, Genese des Wunderglaubens, Wirkung der Wunder Jesu). Kapitel 3 führt in die Wunderforschung von den Anfängen bis heute ein, stellt weiterführende Überlegungen an und bietet eine daraus resultierende Wunderdefinition. Kapitel 4 entfaltet den Inhalt der Wundertexte (Sinnebenen, theologische Aspekte) und entwickelt einzelne Wunderprofile. Kapitel 5 konkretisiert die wundertheoretischen Überlegungen dieses Buches anhand von acht Musterexegesen. Kapitel 6 enthält Überlegungen zur Wunderhermeneutik und -didaktik sowie acht zu den Musterexegesen passende Unterrichtsentwürfe. – Der Serviceteil bietet ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar, ein Schlagwort- und Textstellenregister, eine Übersicht über die ntl. Wundertexte sowie Literaturangaben.

1.4Einführende Thesen

Kurze Thesen bündeln vorab die wichtigsten Erkenntnisse des Buches; das eigentliche Wunderkonzept wird in → 3.6 und → Kapitel 4 entfaltet.

These 1: Wundererzählungen bieten authentische Jesuserinnerung

Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch reine Mythen oder Märchen. Sie erheben den Anspruch, historisches Geschehen wiederzugeben und Jesu Bedeutung zutreffend zu umschreiben. Sie sind authentische Wiedergabe historischer Begegnungen und Erfahrungen mit Jesus von Nazareth (→ 2.4; 3.5.6).

These 2: Jesu Wunder begründen plausibel den Christusglauben

Historisch plausible Ursache für den ntl. Christusglauben sind wunderhafte Erfahrungen von Bewahrung und Befreiung aus aussichtslosen Situationen. Vor- und nachösterliche Begegnungen erzeugten bei vielen Menschen die Gewissheit, Jesus sei der Messias Israels, der in göttlicher Vollmacht die alten prophetischen Verheißungen erfüllt. Ihm waren alle denkbaren Wundertaten zuzutrauen! Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht sagen (→ 2.4).

These 3: Wunder sind nicht Relikte eines überholten Weltbildes

Im mythisch geprägten Weltbild der ntl. Zeit hatten göttliche Eingriffe ins Weltgeschehen einen festen Platz. Im modernen Weltbild gelten sie als rational nicht erklärbar und damit als unglaubwürdig. Doch gab es rationale Wunderkritik von Anfang an, mythisches Denken gibt es auch heute noch. Damals wie heute gibt es unterschiedliche, einander ergänzende Optiken auf dieselbe Wirklichkeit, die einen Wunderglauben entweder zulassen oder nicht (→ 3.6.2d).

These 4: Wunder folgen einer eigenen, rationalen Wunderlogik

Wunder sind rational nicht erklärbar, sie sind aber nicht irrational1. Sie folgen vielmehr eigenen, rational beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten. Die Wunderlogik lautet: Wunder sind das Ergebnis intensiven Einswerdens von Glauben, Hoffnung und Gebet einerseits und barmherzig-liebevoller Zuwendung des Wundertäters andererseits. Wo dies zustande kommt, werden Wunder möglich (→ 3.6.3).

These 5: Wunder sind spirituell erfahrbare,weiche Fakten

Wunder sind weiche Fakten, die sich wissenschaftlich-rationaler Beweisbarkeit entziehen. Im Bereich spiritueller Erfahrung haben Wunder eine eigene Evidenz. Die Bewertung von Ereignissen als Wunder ist dementsprechend eine Frage subjektiver Deutung und Überzeugung (→ 1.7.9; 3.6.2c).

These 6: Wundertexte provozieren bewusst menschlicheratio

Die Wundererzählungen provozieren den Konflikt mit menschlicher ratio. Sie konfrontieren mit dem (angeblich) Unmöglichen, weiten das Spektrum des Möglichen aus und zeigen, wie das Unmögliche möglich werden kann. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen nehmen den Wundern das Wunderhafte. Nur der Verzicht darauf lässt das Faszinierende des Wunders bestehen (→ 1.5.4; 3.6.2).

These 7: Wundertexte führen ins Zentrum des biblischen Gottesglaubens

Die Konfrontation mit dem Unmöglichen ist zugleich die Konfrontation mit dem biblischen Gottesglauben. Dieser manifestiert sich quer durch die Bibel in göttlichen Wundertaten. Gott sprengt weltliche Grenzen, um seinen heilvollen Plan durchzusetzen. Der Glaube an Gottes Allmacht zieht den Wunderglauben nach sich. Biblische Theologie ist ohne Wunder und Wundertexte unvollständig. – Jesus ist Träger der göttlichen Schöpfermacht; die Wundertexte setzen diese christologische Überzeugung narrativ in Szene. Ohne die Wundertexte verlöre die Botschaft Jesu ihre leiblich-physische Dimension (→ 3.6.1).

These 8: Wundererzählungen enthalten mehrere Sinnebenen

Wundertexte enthalten mehrere Sinnebenen, welche die umfassende Zuwendung Gottes zu den Notleidenden markieren. Zu ihnen zählen die physisch-leibliche, spirituelle, (tiefen-)psychische, sozialkritische, mythisch-kosmische, diakonisch-missionarische, kommunikative und die theologische Ebene. Die Sinnebenen ergänzen einander zu einem umfassenden Textverständnis. Eine Reduktion auf einzelne Sinnebenen wird den Texten nicht gerecht (→ 4.1).

These 9: Wundererzählungen sind theologisch vielschichtig

Wundertexte sind auch theologisch vielschichtig. Sie berühren Themenfelder wie Theo-logie, Christologie, Pneumatologie, Kosmologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Ethik, Soteriologie, Eschatologie sowie Einzelthemen wie Glaube, Nachfolge, Vergebung, Reich Gottes und die Theodizeefrage (→ 4.2; 4.3).

These 10: Wundertexte lassen sich textpragmatisch gruppieren

Die Wundertexte lassen vier Reaktionstypen und Grundeinsichten erkennen: Staunen (Der Wundertäter hilft!), Erkenntnis (Der Wundertäter hat göttliche Vollmacht!), Glaube und Nachfolge (Der Wundertäter verändert das Leben!) sowie Widerstand und Ablehnung (Der Wundertäter darf das!). Diesen Reaktionen und Grundeinsichten lassen sich vier Grundfunktionen zuordnen: Inszenierung göttlicher Fürsorge, Klärung göttlicher Identität, Konstitution von Gemeinschaft und Polarisierung im Sinne endzeitlicher krísis. Dies lässt eine heuristische Einteilung in Fürsorge-, Erkenntnis-, Missions- und Konfliktwundertexte zu (→ 3.6.5).

These 11: Wundererzählungen führen zu denbasicsgelingenden Lebens

Wunder befreien von dem, was das Leben einengt, und stellen die Grundlagen des Lebens wieder her. Die Texte zeigen, was menschliche Not beendet: spontanes, beherztes Eingreifen, gegebenenfalls unter Durchbrechung etablierter Ordnungen, kurz: engagiertes, tatkräftiges Erbarmen. Wo Gleichgültigkeit, Trägheit und Eigensinn überwunden werden, wird neues Leben möglich (→ 3.6.3).

These 12: Wundererzählungen sind wirkkräftige Befreiungsgeschichten

Die Durchbrechung natürlicher, sozialer und religiös-moralischer Ordnungen befreit von den Grenzen des Alltags. Die Wundertexte weisen auf Gott hin, der das Weltgeschehen heilvoll unterbrechen und aufsprengen kann. Die Wundertaten Jesu signalisieren die globale Befreiung aus Leid und Vergänglichkeit. Die Wundertexte setzen Hoffnung auf umfassende Erlösung in die Welt und ermutigen dazu, die Grenzen des Faktischen zu sprengen und die Welt heilvoll zu verändern. Die Wundertexte inspirieren dazu, die Erwartungen an das Leben maximal nach oben hin zu korrigieren. In alledem liegt ihre dauerhafte Relevanz (→ 3.6.1).

1.5Was sind eigentlich Wunder?

Der Abschnitt liefert eine erste Annäherung an den Wunderbegriff. Die Wunderdefinition dieses Buches wird unter → 3.6.6 vorgestellt.

Wunder erregen Staunen, denn sie zeigen, was alles möglich ist, und sie wirken heilvoll. Wunder sind wissenschaftlich-rational nicht beweisbare, unverfügbare weiche Fakten. Die Feststellung von Wundern ist Sache subjektiver Deutung. Zu unterscheiden sind ein profan-ästhetischer, ein kontingent-liberativer und ein biblisch-konfessorischer Wunderbegriff. Die semantisch orientierte Definition des Religionswissenschaftlers Ulrich Nanko fängt die Bandbreite des Begriffs ein:

„Das dt. Wort ‚Wunder‘ bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von einem ‚Unerwarteten‘ bis zu der ‚Norm-Überschreitung‘. Die Reaktion auf dieses Ereignis kann einerseits zu Staunen und Bewunderung, andererseits zu Schrecken, Furcht und Angst führen.“1

1.5.1Biblische Wunderterminologie

Die gr. Sprache kennt unterschiedliche Termini für wunderhafte Vorgänge:

 

a) Thauma: Der Terminus bezeichnet eine staunenswerte Sehenswürdigkeit oder eine spektakuläre Wundertat. Der Begriff findet im NT keine Verwendung.

b) Areté meint ursprünglich Tugend, kann aber auch besondere Tüchtigkeit oder eine Heldentat umschreiben. Auch dieser Begriff fehlt im NT.

c) Thaumásion beschreibt etwas Staunenswertes oder Wunderbares. Der Terminus ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Mt 21,15).

d) Parádoxon: Etymologisch zielt der Begriff auf etwas, das gegen die Erfahrung steht, und benennt ein unerwartetes, unglaublich scheinendes Ereignis. Auch dieses Nomen ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Lk 5,26).

e) Dýnamis: Das Nomen dýnamis bezeichnet eine besondere Kraft- oder Machttat, genauer die göttliche Kraft, die ein Wunder bewirkt (vgl. Mk 6,2; Mt 11,20f.).

f) Semeíon: Der Terminus kennzeichnet vorzugsweise im JohEv Wundertaten als Zeichen, die auf Gottes Handeln hinweisen (vgl. Mk 8,12; Joh 2,11; 20,30).

g) Téras: Das Nomen umschreibt eine außergewöhnliche Erscheinung bzw. ein göttliches (Vor-)Zeichen. Es umschreibt besonders in der Apg in Kombination mit semeíon die Vielfalt wunderhafter Taten und Ereignisse.1

h) Érgon: Das Nomen gehört mit téras und semeíon zu den ntl. Hauptbegriffen der Wundertaten und deutet diese als göttliche Werke (vgl. Mt 11,2; Joh 9,3).

 

Fazit: Es gibt keine einheitliche ntl. Wunderterminologie; Wunder sind nicht Gegenstand eines theoretischen Diskurses, sondern von Erzählungen.2 Eine Durchbrechung von Naturgesetzen ist mit keinem Begriff impliziert. Das Wort adýnaton ist kein ntl. Wunderterminus; für Gott gibt es aus biblischer Sicht nichts Unmögliches.3

1.5.2‚Weiche Fakten‘

Die rationalistische Wunderdeutung deutete im 18. und 19. Jh. die Wunder Jesu als erklärbare harte Fakten und nahm ihnen damit das Wunderhafte; der wissenschaftlich-rationale Wahrheitsbegriff wird ihnen jedoch nicht gerecht. Als weiche Fakten folgen die Wunder einer eigenen, rational beschreibbaren Logik. Sie erschließen sich am ehesten einer religiös-mystischen Weltsicht (→ 1.7.9; 3.2.2; 3.6.2f.).

a)Wissenschaftlich unerklärbare Vorgänge

Für die wissenschaftliche Vernunft sind Wunder eine unmögliche Möglichkeit und daher als Falschbehauptung, Märchen, Mythos, Sinnestäuschung oder Unwahrheit zu werten. Die rationale Erklärung macht die Wundertexte zwar glaubwürdig, nimmt ihnen aber das Wunderhafte bzw. führt zu ihrer Ent-Wunderung.

Beispiele: Die unerklärliche Gesundung von eigentlich unheilbarer Krankheit gilt als ‚Spontanheilung‘.1 Die Etikettierung macht deutlich, dass der Vorgang medizinisch nicht erklärbar ist. – Krankheitsbilder, für die es (bislang noch) keine erklärbare Ursache gibt, gelten als ‚idiopathisch‘ (wörtlich: ohne erkennbare Ursache, selbstständig), was ebenfalls Rätselhaftigkeit andeutet.

b)Ereignisse mit eigener Kausalität

Wunder sprengen mit ihrer unverfügbaren Kontingenz die Logik naturwissenschaftlich-rationaler Kausalität. Die religiös-mystische Logik und Kausalität der Wunder besagt, dass nachhaltiger Glaube, intensives Gebet und konzentrierte Hoffnung im Zusammenspiel mit göttlicher, liebend-barmherziger Zuwendung Wunder bewirken können. Mystisch daran ist, dass menschliche Verfasstheit und Gestimmtheit mit göttlicher Verfasstheit und Gestimmtheit eins werden.

Beispiele: Blutflüssige Frau (Mk 5,25–34parr.), blinder Bartimäus (Mk 10,46–52parr.) und Lazarus (Joh 11) sind Beispiele für die beschriebene Wunderlogik. Laut Mk 2,5; 5,34; 10,52 u.a. ist der Glaube die wunderwirkende Kraft. – Mt 17,20 spricht selbst unscheinbarem Glauben Wunderkraft zu. – Ein modernes Beispiel ist das ‚Wunder von Lengede‘ 1963: Die Rettung von elf Kumpels aus einem überfluteten Stollen lässt sich als Zusammenwirken intensiver Gebete, nachhaltiger Rettungsbemühungen und einem göttlichen Wunder werten.

Wunder können aber auch spontan geschehen. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Wundern ist die Offenheit für eine religiös-mystische Weltsicht; dem nüchtern-analytischen Blick bleiben Wunder verborgen (→ 3.6.2d).

c)Wunder oder doch eher Zufall?

„Wenn alle Lose einer Lotterie verkauft sind, wird ein Hauptgewinner dabei sein. Für denjenigen, den es trifft, wird es ein Leben lang ein Wunder bleiben […]. Aber die Tatsache, dass es einen Gewinner gibt, ist bei einer fairen Lotterie kein Wunder.“1

Die Feststellung eines Wunders hängt von der persönlichen Wahrnehmung ab. Was in nüchtern-analytischer Optik eine Verkettung glücklicher Umstände, ein Zufall, ist, ist in religiös-mystischer Optik eine heilvolle, wunderhafte Fügung.

Beispiel: Das zitierte ‚Wunder von Lengede‘ ist als Wunder und als glücklicher Zufall zugleich bewertbar. Ob man ein göttliches, rettendes Eingreifen annimmt oder einen Riesenzufall: In beiden Fällen kommt die Unverfügbarkeit des Geschehens zum Ausdruck. Wie es letztlich zu deuten ist, ist objektiv nicht zu entscheiden; für die Betroffenen ist es jedoch ein Fakt – so oder so.

1.5.3Profan-ästhetischer Wunderbegriff

Dieser weite Wunderbegriff bezieht sich auf staunenswerte Phänomene im nicht-religiösen, allgemein kulturellen Kontext. Ungewöhnlich beeindruckende Naturphänomene, Kunstwerke und technische Errungenschaften, aber auch ‚Wunderkinder‘, die ‚sieben Weltwunder‘ oder die Mondlandung erregen Staunen. Auch rational erklärbare, wiederkehrende Ereignisse, wie z.B. die Geburt eines Kindes, die ‚große Liebe‘, das neu aufblühende Leben im Frühjahr oder eine reiche Ernte, lassen sich als ‚Wunder‘ deuten. Der gr. Terminus thaumásion (Staunenswertes) trifft diesen Wunderbegriff. Die Wirkung profan-ästhetischer Wunder besteht in Staunen, Verwunderung und in der Bereicherung des Weltbildes. Eine religiöse Deutung kann, muss aber nicht erfolgen.1

1.5.4Kontingent-liberativer Wunderbegriff

Dieser Wunderbegriff betrifft einmalige, überraschende, unverfügbare Ereignisse, die das Leben heilvoll und nachhaltig verändern (Befreiung, Erlösung, lat. liberatio). Wunder im kontingent-liberativen Sinne sind nicht gegen Naturgesetze gerichtet, sondern sprengen den Rahmen des Normalen, Gewöhnlichen, allgemeiner Lebenserfahrung oder statistischer Wahrscheinlichkeit.1 Auf sie passt der gr. Terminus parádoxon. Solche Ereignisse lassen sich als göttliche Fügung oder als Zufall deuten, das heißt, sie sind kontingent.2 Typische Reaktionen sind Staunen, Verwunderung, Dankbarkeit, Freude, Erleichterung und Hoffnung.

Beispiele: Wer aus schwerer Krankheit glücklich heraus und wieder ins Leben findet, kann das als Wunder ansehen. Wer unbeschadet an einem Verkehrsunfall vorbeikommt, vielleicht wegen einer ungewollten Verzögerung bei der Abfahrt, kann das Geschehen ebenfalls als glückliche Fügung deuten. Dass ein verloren geglaubter Sohn nach Jahren wieder auftaucht und Kontakt sucht, ist für jemanden, der nicht mehr damit gerechnet hat, erstaunlich und erfreulich zugleich; die glücklichen Eltern deuten es möglicherweise als Wunder.

Kontingent-liberative Wunder sind unverfügbare Heilsereignisse.3 Sie sind weder planbar noch machbar. Sie haben Geschenkcharakter, sind in der Regel einmalig und lassen sich nicht im Reagenzglas reproduzieren. Damit sind sie im wissenschaftlich-technischen Sinne nicht beweisbar.

1.5.5Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff

Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff setzt eine religiös-mystische Weltwahrnehmung voraus. Sie erkennt in allem, was geschieht, einen höheren Sinn, ein Ziel und eine glückliche, gottgewirkte Fügung. Wer so denkt, glaubt nicht an Zufälle und hat prinzipiell Hoffnung, dass selbst aussichtslose Situationen eine wunderbare Wendung zum Guten nehmen könnten. Selbst Naturgesetze erscheinen überwindbar. – Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff hat fünf Merkmale: Erstens, er weist auf ein göttliches Eingreifen ins Weltgeschehen hin; zweitens, er impliziert die Durchbrechung vielfältiger Ordnungen; drittens, er führt zu religiös-mystischer Erkenntnis; viertens, er setzt nachhaltige Hoffnung frei; fünftens, er kollidiert mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild.

 

ad 1) Hinweis auf ein göttliches Eingreifen: Biblische Wunder sind Zeichen der heilvollen Zuwendung des Schöpfergottes zur Welt. Als solche sind sie gleichsam die Spitze des biblischen Gottesglaubens und damit theologisch unverzichtbar.

Beispiel: Das JohEv nennt die Wunder Jesu wiederholt Zeichen (gr. semeía). Was Jesus tut, hat Hinweischarakter. Seine Wundertaten offenbaren die ‚Werke Gottes‘ und seine Schöpfermacht. Für den glaubenden Menschen gibt es allenfalls einen graduellen Unterschied zwischen subtilen Fügungen und spektakulären Wundern. Entscheidend ist, dass überhaupt mit göttlichen, wunderhaften Wendungen zum Guten gerechnet werden kann.

ad 2) Durchbrechung vielfältiger Ordnungen: Der biblische Wunderbegriff impliziert die Sprengung festgefügter Grenzen.1 Die Durchbrechung von Naturgesetzen ist dabei nur ein Aspekt; gleichgewichtig ist die Durchbrechung sozialer und religiös-moralischer Regeln. In deren heilvoller Durchbrechung zeigen sich Gottes Schöpferkraft und seine kompromisslose, liebende Zuwendung zum Menschen. In ihrer Gesamtheit weisen die Regelverstöße auf einen ganzheitlichen, den Menschen in all seinen Bezügen einbeziehenden, Wundervorgang hin.

Beispiele: ‚Normenwunder‘ durchbrechen soziale Regeln und religiös-moralische Werthaltungen. Naturwunder, Geschenkwunder und Totenerweckungen sprengen Naturgesetze: Ein Sturm lässt sich nicht durch Bedrohung stillen, fünftausend Menschen werden nicht von fünf Broten und zwei Fischen satt, ein Toter kommt nicht zurück ins Leben. An solchen Wundertexten macht sich die wissenschaftliche Grundsatzkritik am biblischen Weltbild fest (→ 3.2.1).

ad 3) Provokation religiös-mystischer Erkenntnis: Biblisch-konfessorische Wunder provozieren eine göttliche Erkenntnis bzw. ein Bekenntnis (lat. confessio). Typische Reaktionen sind, neben Staunen und Verwunderung, Bewunderung, Dank und Bekenntnis oder Furcht und Entsetzen angesichts der beklemmenden Präsenz Gottes. Darüber hinaus provozieren diese Wunder oftmals eine Kontroverse über die Vollmacht des Wundertäters (eschatologisch-kritische Funktion → 3.6.5g).

ad 4) Wirkung nachhaltiger Hoffnung: Die heilvolle, wunderbare Durchbrechung des ‚Normalen‘ führt zu einer nachhaltig veränderten Weltsicht: Der Blick weitet sich; was zuvor unmöglich schien, scheint auf einmal möglich. Wunder begründen die Hoffnung auf Erlösung von Leid, Vergänglichkeit und Tod. Wunder „sind der letzte Ankerpunkt der Hoffnung da, wo es, nüchtern-rational betrachtet, nichts mehr zu hoffen gibt“2 (‚da hilft nur noch ein Wunder!‘).

Wer an Wunder glaubt, für den gibt es keine Grenzen des Möglichen. Gottes Fürsorglichkeit, die sich oft in subtiler Führung im Alltag zeigt (kontingent-liberativer Wunderbegriff), und Gottes Schöpferkraft, die in biblischen Erzählungen aufscheint, sind nicht voneinander zu trennen. Derselbe Gott, der mich durch den Alltag führt, kann mich auch in aussichtslosen Situationen bewahren und zu neuem Leben führen – selbst dann, wenn andere mich auf Grundlage empirischer Statistik oder Lebenserfahrung schon aufgegeben haben.

ad 5) Konflikt mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild: Die biblischen Wunder durchkreuzen die Lebenserfahrung und sprengen festgefügte Grenzen. Während soziale und religiös-moralische Grenzüberschreitungen rational ‚unverdächtig‘ sind, stellt die Durchbrechung natürlicher Ordnungen, wissenschaftlich-rational betrachtet, eine unmögliche Möglichkeit (gr. adýnaton) dar. Doch die Wundertexte lassen keinen Zweifel daran, dass auch Naturgesetze durchbrochen werden; sie konfrontieren die menschliche ratio mit der Wirklichkeit des naturhaft Unmöglichen, mit der Befreiung aus festgefügten sozialen Strukturen und mit der Durchbrechung religiös-moralischer Werthaltungen.3

1.5.6Fazit: Provokation der menschlichen ratio

Biblisch-konfessorische Wunder provozieren Staunen, Entsetzen, Lobpreis und göttliche Erkenntnis, denn sie überschreiten die Grenzen des mit menschlicher ratio Erwartbaren und Erklärbaren. Sie legen gleichsam den Finger in die Wunde eines sich selbst absolut setzenden, naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs. Der Wunderglaube impliziert eine unsichtbare Wirklichkeit jenseits empirisch beschreibbarer, naturwissenschaftlich erforschbarer und mathematisch berechenbarer Wirklichkeit. Wunder verweisen auf Geschehnisse zwischen Himmel und Erde, die mit nüchtern-analytischem Blick nicht zu erfassen sind.

„Die neutestamentlichen Wundergeschichten sind nicht irrational, paranormal oder schamanisch, sondern friktional zu verstehen. Sie sind Ausdruck einer alternativen Wirklichkeitserschließung, die sich ihren Blick nicht durch die Sachzwänge von Normierungen und Normalisierungen verstellen lässt.“1

Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die Wundertaten und Wundertexte von der Messlatte aufgeklärter Vernunft zu befreien und ihnen den Stellenwert in Wirklichkeit und Theologie zurückzugeben, der ihnen angemessen ist.

Wunderbegriffe

 

profan-ästhet. Wunderbegriff

kontingent-liberativer W.-begriff

bibl.-konfessorischer W.-Begriff

gr. Terminus

thaumásion

parádoxon

adýnaton

Messlatte

das Gewöhnliche

das Wahrscheinliche

das Mögliche/feste Ordnungen

Gegenstand

ästhetische Objekte (Natur, Kultur, Technik)

heilvolle, kontingente Ereignisse

heilvolles, Normen sprengendes Eingreifen Gottes

Ursache/Wertung

rational erklärbar; ‚kein Wunder‘

göttliche Fügung oder Zufall?

göttliche Wundertäter, rational nicht erklärbar

Reaktionen

Staunen, Verwunderung, Erweiterung des Weltbildes

Dankbarkeit, Glück, Freude, Erleichterung, Hoffnung

Furcht, Entsetzen, Lobpreis, Bekenntnis, Glaube, Nachfolge, Hoffnung, Widerstand

Differenzierung der Wunderbegriffe

Abstufungen des Begriffs ‚Wunder‘

1.5.7Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik

Die bahnbrechenden Entdeckungen Albert Einsteins (1900), Max Plancks (1905), Werner Heisenbergs (1925/27) und anderer Quantenphysiker waren eine grundsätzliche Anfrage an das bis dato herrschende Verständnis der Naturgesetze als unveränderliche Elemente eines deterministischen Weltbildes.1 Die veränderte Einschätzung erweckt den Eindruck, als seien naturwissenschaftliche ratio und Wunderglaube doch vereinbar.2 Wunderhermeneutisch ändern die Erkenntnisse allerdings nichts, da die Texte den unmöglichen Charakter des wunderhaften Geschehens ausdrücklich betonen und die ratio gezielt provozieren. Eine wissenschaftlich-rationale Wunderdeutung wird auch unter verändertem Vorzeichen dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 3.4.4; 3.5.7).

1.6Antike Wundergattungen

Auf Grundlage der von Gerd Theißen formkritisch entwickelten Wundertypen zeigt der Abschnitt das Spektrum antiker und biblischer Wundertexte auf.1 Eine Einteilung in textpragmatisch begründete Textgruppen erfolgt unter → 3.6.5.

1.6.1Heilungswunder/Therapien

Die verbreitetste Form antiker und biblischer Wunderberichte sind Heilungswunder (Therapien). Sie beschreiben die Heilung eines physischen Gebrechens, einer Behinderung oder psychogenen Störung. Regelmäßige Bestandteile solcher Wundertexte sind die Beschreibung der Not (ohne medizinische Präzisierung), die Begegnung des Kranken mit dem Wundertäter, der Wundervollzug und Reaktionen darauf. Die Krankheitsursache spielt nur eine marginale Rolle. – Der Babylonische Talmud bietet als Beispiel für eine Therapie ein Wunder Chanina ben Dosas:

„Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels, und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Hanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Da sprachen sie zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: weder bin ich ein Prophet noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen, wenn nicht, so weiß ich, daß es gewirrt wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Beim Kult, weder habt ihr vermindert noch vermehrt; genau dann geschah es, in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken.“1

Das Krankheitsspektrum reicht von Lähmungen (Mk 2,1–12 u.a.) über Leiden der Sinnesorgane (Blindheit, Taubheit, Taubstummheit) bis hin zu psychogenen Erkrankungen wie Blutfluss und Besessenheit. Die Wunderinitiative geht meistens vom Patienten aus (anders Joh 5,1–9; 9,1–7). Die einzelnen Erzählteile können unterschiedlich lang und pluriform ausfallen. Manche Heilungen dienen als Anlass für einen Normenkonflikt (z.B. Sabbatheilungen; ‚Normenwunder‘), bei Fernheilungen kommt es zu einer kontaktlosen Heilung über Distanz.

1.6.2Exorzismen

Dämonenaustreibungen gelten in den Evangelien und im religionsgeschichtlichen Umfeld als eigenständige Wunderform.1 Das gr. Wort exhorkízein bezeichnet den Vorgang der Beschwörung.2 Magische Papyri bieten Exorzismus-Formulare (2.–6. Jh. n. Chr.), was die Nähe zwischen Exorzismus und Magie belegt.3 Ntl. Exorzismen sind Teil eines kosmischen Kampfes gegen satanische Mächte und der Etablierung der basileía Gottes auf Erden (expressis verbis in Mt 12,28). Typisch sind die dramatische Schilderung der Not und der eigentlichen Austreibung. Heftige Dialoge zwischen Dämon(en) und Wundertäter unterstreichen den kosmischen Charakter: Die Dämonen wehren sich, schreien Jesu Identität heraus, weisen auf den unpassenden Zeitpunkt hin. Jesus spricht eine Bannformel (Mk 1,25; 9,25 u.a.) und vertreibt den Dämon, der ein neues Zuhause sucht (Mt 12,43–45; Mk 5,1–20). Auch die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.) trägt exorzistische Züge. – Ein Beispiel exorzistischer Technik eines hell. Magiers bietet PGMIV,1239ff.:

„‚Ich beschwöre dich, Dämon, wer du auch immer seist, bei diesem Gott (Zauberworte): komm heraus, Dämon, wer du auch immer seist, und verlasse den N.N. jetzt, jetzt, sofort, sofort. Komm heraus, Dämon, da ich dich fessele mit stählernen, unlöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos der Hölle.‘ Handlung: Nimm 7 Ölzweige und binde 6 an Ende und Spitze [des Besessenen], jeden für sich, mit dem einen übrigen aber schlage unter Beschwörung. Halt es geheim; es ist schon erprobt. Nach dem Austreiben hänge dem N.N. als Amulett, das der Leidende also nach dem Austreiben des Dämons umzieht, auf einem Zinnblättchen mit folgenden Worten um: ‚(Zauberworte), schütze den N.N.‘“4

1.6.3Totenerweckungen

Totenerweckungen sind gesteigerte Therapien; der Patient wird vom Wundertäter ins Leben zurückgeholt. Totenerweckungen finden sich im AT (1 Kön 17,9–24; 2 Kön 4,8–37), in den Evangelien und in der Apg.1 Die Erzählungen sind seit jeher ein Stein des Anstoßes (vgl. 1 Kor 15,12–19!). – Philostrat, VitApoll 4,45, äußert Skepsis gegenüber einer angeblichen Totenerweckung des Apollonius:

„Auch jenes war ein Wunder des Apollonius: Ein Mädchen schien in der Stunde der Hochzeit gestorben zu sein, und der Bräutigam folgte der Bahre und rief aus, was man bei einer unerfüllten Hochzeit erwartet. Und mit ihm trauerte auch Rom, denn das Mädchen gehörte zu einer konsularischen Familie. Apollonius begegnete ihrer Trauer (sc. dem Trauerzug) und sagte: ‚Setzt die Bahre nieder! Denn ich werde eure Tränen über das Mädchen aufhören lassen.‘ Und zugleich fragte er, welches ihr Name sei. Die meisten glaubten nun, daß er eine Rede halten werde nach der Art, wie sie zu den Trostreden gehören und die Trauer aufrichten. Er aber tat nichts, als sie zu berühren und heimlich etwas zu ihr zu sagen, und er weckte das Mädchen von ihrem scheinbaren Tod auf. Und das Kind äußerte ein Wort und ging in das Haus des Vaters wie Alkestis, als sie von Herakles ins Leben zurückgebracht wurde. Und die Verwandten des Mädchens gaben ihm 150000 Sesterzen, er aber sagte, sie sollen diese dem Mädchen als Mitgift mitgeben. – Und ob er in ihr einen Funken der Seele gefunden, der denen, die sie pflegten, verborgen geblieben war – denn man sagt, daß, obwohl es regnete, ein Dampf von ihrem Gesicht gegangen sei – oder ob das Leben erloschen war und er es durch die Wärme seiner Berührung wiederherstellte, das ist ein geheimnisvolles Problem, das weder ich noch die, die dabei waren, entscheiden konnten.“2

Typisch sind die Darstellung der Trauer – zum Teil auch als Klage gegen den vermeintlich zu spät agierenden Wundertäter (Joh 11,21.32) –, die Deutung des Geschehens durch den Wundertäter (Mk 5,39; Joh 11,11) und die Schilderung des Erweckungsvorgangs. Zum Teil wird die Möglichkeit physischer Totenerweckungen diskutiert (Mk 5,40; Joh 11,23f.37; 1 Kor 15,12–19; VitApoll 4,45).

1.6.4Geschenkwunder

Geschenkwunder stellen die lebensspendende Gabe in den Mittelpunkt. Das AT kennt einige Geschenkwunder.1 Populär sind die Speisung der Fünf- bzw. Viertausend (Mk 6,30–44parr.; Mk 8,1–9par.) und das Weinwunder von Kana (Joh 2,1–11). Die Beschreibung der Notlage, die Bitte um die Beseitigung der Not, die Anweisungen für den Wundervollzug und die Bestätigung des wunderhaften Vorgangs sind feste Motive. – Textbeispiel ist ein Geschenkwunder Chanina ben Dosas:

„Es pflegte seine (Hanina b. Dosas) Frau, den Ofen zu heizen an jedem Vorabend des Sabbats und pflegte Rauchwerk hinein zu werfen wegen der Beschämung (d.h., weil sie sich vor den Leuten schämte). Sie hatte jene böse Nachbarin. Sie (diese Nachbarin) sagte: dies ist doch merkwürdig, da ich doch weiß, daß sie nichts haben, und zwar gar nichts. Was soll all dies? Sie (die Nachbarin) ging hin und klopfte an die Tür (des Hauses des Hanina). Da schämte sie (die Frau des Hanina) sich und ging hinein in das Zimmer. Da geschah ihr (der Frau des Hanina) ein Wunder; denn sie sah den Ofen voll von Brot und die Mulde voll von Teig. Da sagte sie (die Nachbarin) zu ihr: (Du) N.N. bringe eine Schaufel; denn deine Brote brennen an. Da sagte sie (die Frau des Hanina) zu ihr: auch ich ging zu diesem Zweck hinein.“2

1.6.5Natur- und Rettungswunder

Im Fokus steht hier die unerwartete Rettung aus einer aussichtslos scheinenden Situation. Natur- und Rettungswunder durchbrechen in der Regel Naturgesetze. Die Beschreibung der aussichtlosen Ausgangssituation, der Hilferuf an den göttlichen Retter, ein spektakulärer Wundervollzug, Angst und ungläubiges Staunen als Reaktion der Geretteten bzw. der Augenzeugen sind regelmäßige Erzählelemente. Die Evangelien und die Apg enthalten mehrere Natur- und Rettungswunder.1 – Als gr. Textbeispiel dient ein Seenot-Rettungswunder von Homer:

„Sie (sc. die Dioskuren) wurden Retter der Menschen auf Erden und Retter der sausenden Schiffe. Wenn Orkane sich türmen im unerbittlichen Meere, ruft die Söhne des großen Zeus mit Gebeten das Schiffsvolk, schreitet zum Bug des Decks, um weiße Lämmer zu opfern. Schon ist das Schiff vom mächtigen Wind, von den Wogen des Meeres tief ins Wasser gedrückt. Da! – welche Erscheinung! – sie stürmen hoch vom Äther auf fahlen Schwingen plötzlich hernieder, bannen sofort den Wirbel der furchtbaren Winde und breiten Glätte über die See im Geflute des leuchtenden Salzschaums: gute Zeichen den Schiffern, daß nicht ihre Mühe vergebens. Freude gibt ihnen der Anblick, zu Ende sind Jammer und Müh.“2

1.6.6Normenwunder

Diese Wundergattung thematisiert eine umstrittene Norm, deren Geltung bzw. Nicht-Geltung durch das Wundergeschehen festgestellt wird. Klassisches Beispiel sind Jesu Sabbatheilungen, die einen Normenkonflikt auslösen. Sie bezeugen Jesu Vollmacht, die Tora auszulegen, und markieren einen Paradigmenwechsel: Anstelle eines restriktiven gilt bei Jesus ein an der menschlichen Not orientiertes Toraverständnis.1 – Der Legitimierung liberaler Auslegung von Reinheitsgeboten dient folgender Text aus dem Jerusalemer Talmud:

„Sie wollten den über R. Eliezer ausgesprochenen Bann mitteilen. Sie sagten: ‚Wer soll gehen und ihn mitteilen?‘ R. Akiba sagte: ‚Ich werde gehen und ihn mitteilen‘. Er ging zu ihm und sagte: ‚Meister, deine Genossen exkommunizieren dich.‘ Er (R. Eliezer) nahm ihn nach draußen und sagte: ‚Johannisbrotbaum, o Johannisbrotbaum, wenn die Halacha so ist, wie sie sagen, so sei entwurzelt.‘ Und er wurde nicht entwurzelt. (Darauf) sagte er: ‚Wenn die Halacha so ist, wie ich sage, so sei entwurzelt.‘ Und er wurde entwurzelt. (Er sagte): ‚Wenn die Halacha so ist, wie sie sagen, so soll der Baum zurückkehren.‘ Er kehrte nicht zurück. (Da sagte er:) ‚Wenn die Halacha so ist, wie ich sage, soll er zurückkehren.‘ Und er kehrte zurück.“2

1.6.7Strafwunder

Im AT sind Strafwunder breit bezeugt. Sie markieren den Willen Gottes, das Heil seines Volkes Israel durchzusetzen bzw. Verstöße gegen seine (Schöpfungs-)Ordnung zu sanktionieren.1 Auch die Apg und die Apk nennen mehrere Strafwunder.2 In den Evangelien fehlen Strafwunder; Jesus tut ausschließlich Wunder, um Menschen in Not zu helfen.3 – Ein hell. Textbeispiel bietet Plutarch (1. Jh. n. Chr.), Über den späteren Vollzug der göttlichen Strafe § 22:

(Thespesios v. Soli führt einen schimpflichen Lebenswandel und fragt das Orakel von Amphilochos) „… ob er den Rest des Lebens besser leben könne. Er aber erhielt zur Antwort, daß er besser leben werde, wenn er gestorben sei. Und auf eine besondere Weise ereignete sich dieses kurze Zeit später für ihn. Denn er fiel von einer Höhe herunter auf das Genick, erlitt keine Verwundung, sondern nur den Schlag und war wie tot. Und nach drei Tagen, als man sich schon um sein Begräbnis (kümmerte), lebte er wieder auf. Schnell gekräftigt und zu sich gekommen, ließ er eine unglaubliche Veränderung der Lebensführung erkennen.“4

1.6.8Epiphanien

Epiphanien sind plötzliche Auftritte einer Gottheit unter Menschen in direkter Begegnung, in Ekstase oder Traumvisionen. Die Gottheit bleibt unverfügbar, entzieht sich menschlichem Zugriff. Sie präsentiert sich mit Formeln wie „Ich bin XY“ und baut durch Ansagen wie „Fürchte dich nicht!“ Vertrauen auf. Am Ende steht oft sprachloses Staunen. Epiphanien werden mitunter von wunderhaften Ereignissen begleitet (Erdbeben, Öffnung des Himmels bei Jesu Taufe, Ohnmacht der Grabwächter am Ostermorgen u.a.). – Unterscheiden lassen sich Gottes- (Theophanien), Engel- (Angelophanien), Christus- (Christophanien) und Geisterscheinungen (Pneumatophanien).

a)Theophanien

Göttliche Erscheinungen sind ein verbreitetes Phänomen der antiken Religionsgeschichte. In den Mythen erscheint die Gottheit oftmals in Maskerade; der Auftritt zieht wunderhafte Folgen nach sich. Atl. Beispiele sind die Theophanie in Gestalt dreier Männer vor Abraham (Gen 18,2), der Kampf Jakobs mit dem Fremden am Jabboq (Gen 32,23–33) und die Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch vor Mose (Ex 3,2). Die Besuchten erhalten Kenntnis über ein bevorstehendes Ereignis (Abraham), Gottes persönlichen Segen (Jakob) oder einen besonderen Auftrag (Mose). Im NT dominieren Angelo- und Christophanien. – Als Beispiel einer hell. Theophanie sei Hippokratesbrief 15 (1. Jh. v. Chr.) zitiert:

„In jener Nacht … hatte ich einen Traum, aus dem, wie ich glaubte, nichts Gefährliches entstehen würde. Erschreckt aber wachte ich auf. Denn ich meinte, Asklepios selbst zu sehen, und er erschien nahe bei mir … Asklepios aber erschien nicht so anzusehen, wie er auf den Bildern gewöhnlich ist: leicht und sanft, sondern bewegt in seinen Gebärden und ziemlich schrecklich anzusehen. Es folgten ihm Drachen … der Gott aber reichte mir die Hand, und ich nahm sie freudig und bat ihn, mir beim Heilen zu helfen und mich nicht zu verlassen. Er aber (sagte): ‚Im Augenblick bedarfst du meiner nicht, sondern diese Göttin … wird dich führen …‘ Ich aber wandte mich um und sah eine schöne große Frau, mit einfachem Haarschmuck, glänzend gekleidet. Ihre Augäpfel strahlten reines Licht aus, sie glichen Blitzen von Sternen. Und der Gott entfernte sich, jene Frau aber ergriff meine Hand … als sie sich schon umwandte, sagte ich: ‚Ich bitte dich, wer bist du und wie soll ich dich nennen?‘ Sie aber sagte: ‚Wahrheit‘ … die du aber hinzukommen siehst: ‚Schein‘ …‘“1

b)Angelophanien

Engel treten vornehmlich zu Beginn und am Ende des Lebens Jesu auf. Sie erscheinen in Traumvisionen oder direkt.1 Sie überbringen wichtige Botschaften Gottes und schützen den neugeborenen Messias vor dem Zugriff des Herodes (Mt 2,12.13–23). In der Apg befreien Engel die Apostel aus Lebensgefahr (Apg 5,17–25; 12,3–19; 27). In apkl. Kontexten übersetzen Engel göttliche Offenbarungen (angelus interpres; Sach 1–6; Dan 7–12; Apk 19,9f.; 22,8f.).

c)Christophanien

Christophanien offenbaren die transzendent-göttliche Identität Jesu. Beispiele sind der Seewandel (Wahrnehmung Jesu als ‚Gespenst‘, gr. phántasma, Mk 6,45–52), die Verklärung (Jesus im Dialog mit Mose und Elia; Mk 9,2–13parr.), die Ostervisionen1 sowie die Himmelfahrt (Lk 24,50–53par. Apg 1,9–11). Dreimal erzählt die Apg die Christophanie des Paulus (Apg 9,1–9; 22,3–21; 26,4–23).

d)Pneumatophanien

Der Heilige Geist erscheint bei der Taufe Jesu und beim Pfingstwunder (Mk 1,9–11parr.; Apg 2,1–4). Hier manifestiert er sich sichtbar als Taube (Taufe Jesu) bzw. als Feuerzungen (Pfingstwunder). Die Pneumatophanien stehen am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu bzw. der Apostel. Im weiteren Verlauf der Apg wird der Heilige Geist nicht mehr öffentlich sichtbar, sondern in vielen Wirkungen wie etwa in besonderen Gaben und Fähigkeiten (Charismen) erfahrbar.

1.6.9Weitere Wunderformen

Weitere Wunderformen sind Metamorphosen, Entrückungen, kosmisch-apkl. Zeichen, Schadenzauber, Führungswunder und prophetische Zeichenhandlungen.

a)Metamorphosen

Verwandlungen von Göttern und Menschen sind in der antiken Religionsgeschichte verbreitet. Göttervater Zeus verwandelt sich meisterhaft, um inkognito seine Pläne zu verwirklichen, etwa als Schwan bei Leda oder als Stier bei Europa. Ovid und Apuleius bieten Metamorphosen-Sammlungen. Paulus spricht in 1 Kor 15,51 von der Metamorphose des psychischen in den pneumatischen Körper. Mk 9,2 nennt die Verklärung Jesu eine Metamorphose. – Ein hell. Textbeispiel findet sich bei Apuleius (2. Jh. n. Chr.), Metamorphosen (Der goldene Esel), Buch 3:

„Allererst zieht sich Pamphile fasernackt aus. Nachher schließt sie eine Lade auf, woraus sie verschiedene Büchschen nimmt. Eines von diesen Büchschen öffnet sie und holt daraus eine Salbe, die sie so lange zwischen beiden Händen reibt, bis sie völlig zergangen ist, alsdann beschmiert sie sich damit von der Ferse bis zum Scheitel. […] In einem Augenblick sind auch starke Schwungfedern gewachsen, hornicht und krumm ist die Nase; die Füße sind in Krallen zusammengezogen. Da steht Pamphile als Uhu! Sie erhebt ein gräßliches Gekrächze und hüpft zum Versuche am Boden hin. Endlich hebt sie sich auf ihren Flügeln in die Höhe und in vollem Fluge hinaus zum Erker! Also ward Pamphile vorsätzlicherweise durch ihre magische Wissenschaft verwandelt […].“1

b)Führungswunder

Führungswunder versetzen Menschen urplötzlich an von der Gottheit vorbestimmte Orte und auf Wege. Klassisches Beispiel ist Odysseus, der über lange, göttlich gesteuerte Irrfahrten an sein vorbestimmtes Ziel gelangt. Auch der Exodus Israels aus Ägypten, die anschließende Wüstenwanderung und die Landnahme-Erzählung lesen sich als fortgesetzes Führungswunder.1 Der Heilige Geist erweist sich durch überraschende ‚Umleitungen‘ der Apostel als Lenker der Weltmission (Apg 8,26–29.39f.; 10; 16,6–10 u.a.).

c)Entrückungen

Entrückungen an ferne oder himmlische Orte sind eine Möglichkeit göttlicher, wunderhafter Führung. Jesu Himmelfahrt ist eine Entrückung in der Tradition Elias (Lk 24,50–53par. Apg 1,9–11; vgl. 2 Kön 2); Henoch wird in den Himmel entrückt (Gen 5,24), ähnlich, wie Herakles im gr. Mythos unter die Götter versetzt wird. Der Heilige Geist entrückt Philippus zum nächsten Einsatzort (Apg 8,39f.). Entrückungen in den Himmel dienen in apkl. Texten der Kundgabe göttlichen Wissens.1 Dieses ist nach der Rückkehr des Visionärs den Menschen kundzutun. – Über die Entrückung des Herakles schreibt Diodorus Siculus (1. Jh. v. Chr.):

(Herakles ist dem Sterben nahe) „Der Gott aber gab das Orakel, Herakles solle mit der Kriegsrüstung auf den Öta gebracht werden und man solle in seiner Nähe einen großen Scheiterhaufen errichten; um die übrigen Dinge aber, sagte er, werde sich Zeus kümmern. Als die Leute um Jolaos das Angeordnete getan hatten und als sie aus einer Entfernung das, was geschehen würde, erwartungsvoll beobachteten, gab Herakles die Hoffnung für sich auf, bestieg den Scheiterhaufen und ermahnte jeden, der hinzukam, den Scheiterhaufen anzuzünden. Da aber keiner zu folgen wagte, ließ sich allein Philoktet überreden. Er empfing als Dank für den Dienst die Pfeile als Geschenk und zündete den Scheiterhaufen an. Sogleich fielen Blitze vom Himmel herab, und der ganze Scheiterhaufen loderte auf. Danach kamen aber die Leute um Jolaos zur Sammlung der Gebeine. Und sie fanden überhaupt keinen einzigen Knochen und nahmen daher an, daß Herakles den Orakeln gemäß aus den Menschen zu den Göttern versetzt worden sei.“2

d)Kosmisch-apokalyptische Zeichen

Kosmisch-apkl. Zeichen kündigen endzeitliche Großereignisse, wie die allgemeine Totenauferstehung und die Parusie Christi, an.1 – Jesus selbst verweigert kosmische Zeichen als Beweis seiner Vollmacht (Mk 8,11; Mt 12,38–40). – Der jüdische Targum Pseudo-Jonathan (1.–3. Jh. n. Chr.) zu Num 11,26 schildert kosmische Zeichen im Kontext des apkl. Endzeitdramas:

„Siehe, ein König wird ausgehen vom Land Magog am Ende der Tage. Er wird versammeln Könige, die Kronen tragen, und Befehlshaber, die Rüstung tragen, und alle Völker werden ihm gehorchen. Sie werden eine Schlacht anzetteln im Lande Israel gegen die Kinder der Zerstreuung, aber der Herr wird bereit sein, für sie auszubrennen den Atem des Lebens aus ihnen mit der Feuerflamme, die hervorkommt neben dem Thron der Herrlichkeit. Ihre toten Leiber fallen auf die Berge des Landes Israel, und die wilden Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels werden kommen und sie vertilgen. Danach werden alle Toten Israels auferweckt werden und werden genießen die guten Dinge, die geheim für sie bereitgehalten worden sind seit Anbeginn, und sie werden empfangen die Vergeltung ihrer Arbeit/Mühe.“2

e)Schadenzauber

Fluchformeln und Gebete der ‚schwarzen Magie‘ sollten die Götter dazu bewegen, bestimmten Menschen Schaden zuzufügen. Wunderhaft ist die unerwartete und unabwendbar scheinende Wirkung dieser Praktiken. 1 Sam 28 lehnt Schadenzauber strikt ab und stellt ihn unter göttliche Strafe (Totenbeschwörung der ‚Hexe‘ von Endor → 1.7.4).1 – Plinius der Ältere (1. Jh. n. Chr.), nat. 28,29, berichtet über die Wirkmacht von Schadenzauber:

Plinius behauptet, „dass es niemanden gäbe, der sich nicht fürchte, durch irgendwelche schaurigen Beschwörungen […] verflucht zu werden […]. Wo besteht die Gefahr? Überall. Es drohen gesundheitliche Schäden, mangelnde Konzentrationsfähigkeit in intellektuellen Berufen […], wirtschaftlicher Misserfolg, Liebeszwang zu einer Person hin, Frigidität gegenüber anderen […].“2

Eine Fluchtafel mit einem Rachegebet aus Groß-Gerau beinhaltet die Bitte um Verfluchung der Verräterin Priscilla:

„Größter aller Götter, Atthis, Herr, Gesamtheit der zwölf Götter (des Pantheons)! Ich überantworte den Göttinnen mein ungerechtes Schicksal, auf daß ihr mich an Priscilla, Tochter des Carantus, rächt, die den großen Fehler beging zu heiraten. Bei Eurer Großen Göttermutter, rächt die altererbten Geheimnisse (oder: die Geheimnisse des Paternus). Priscilla soll zugrunde gehen! Bei der großen Göttermutter, rächt Eure große Göttlichkeit bald, innerhalb von hundert(?) Tagen, an Priscilla, die meine Geheimnisse verrät! Priscilla erachte ich als absolut null und nichtig. Sie hat einen Nichtsnutz(?) geheiratet, weil Priscilla (ebenso) geil wie irre ist.“3

f)Prophetische Zeichenhandlungen

Staunenswerte Zeichenhandlungen sind das Markenzeichen von Hosea und Ezechiel. Sie bilden das kommende Unglück Israels ab.1 Auch Jes 20,3 und Jer 28 bieten Zeichenhandlungen. Die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20parr.) ist kein Strafwunder, sondern ein Hinweis auf die Macht des Gebets. Das Fischwunder Lk 5,1–11 läuft auf das Menschenfischer-Wort V. 10f. zu und ist damit auch als Zeichenhandlung verstehbar.

1.6.10Wundersummarien

Wundersummarien fassen die Heilungs- und Exorzismustätigkeit Jesu oder der Apostel zusammen.1 Die Frage des Täufers nach Jesu Identität beantwortet dieser mit dem Hinweis auf zahlreiche Wundertaten als Erfüllung prophetischer Verheißung (Mt 11,5par. Lk 7,21f.; vgl. Lk 4,18–21).

1.6.11Wunder im Neuen Testament – Textgrundlage

Grundlage der weiteren Ausführungen sind nicht nur Wundertexte im formkritischen Sinne, sondern auch Wunder an Jesus und den Aposteln, kurze Erwähnungen von Wundern, Wunder anderer Wundertäter sowie wunderhafte Geschehnisse wie Epiphanien, Metamorphosen und kosmische Zeichen.1

a)Wunder Jesu

Die Evangelien bieten ca. 35 Wundererzählungen Jesu (ohne Parallelüberlieferungen). Hinzu kommen Wundersummarien. Abgesehen von Strafwundern und Schadenzauber, sind alle Wundergattungen vertreten.

Heilungswunder/Therapien: Abgesehen von Exorzismen und Normenwundern, enthält das MkEv sieben Therapien: (1) Mk 1,29–31parr. Mt 8,14f.; Lk 4,38f. (Schwiegermutter des Petrus; in Lk 4,38f. als Exorzismus stilisiert); (2) Mk 1,40–45parr. Mt 8,2–4; Lk 5,12–16 (Aussätziger); (3) Mk 2,1–12parr. Mt 9,1–8; Lk 5,17–26; EvNik 6 (Gelähmter); (4) Mk 5,25–34parr. Mt 9,20–22; Lk 8,42–48 (Blutflüssige); (5) Mk 7,31–37 (Tauber); (6) Mk 8,22–26 (Blinder); (7) Mk 10,46–52parr. Mt 20,29–34; Lk 18,35–43 (Bartimäus). – Matthäus und Lukas kennen darüber hinaus folgende Therapien: Mt 8,5–13parr. Lk 7,1–10; Joh 4,46–54 (Hauptmann von Kapernaum); Mt 9,27–31 (zwei Blinde); Lk 17,11–19 (zehn Aussätzige); Lk 22,50f. (Ohr des Soldaten).

Exorzismen fehlen im JohEv. Markus bietet vier Texte: Mk 1,23–28par. Lk 4,33–36 (Kapernaum); Mk 5,1–20parr. Mt 8,28–34; Lk 8,26–39 (Gerasener); Mk 7,24–30par. Mt 15,21–28 (Frau aus Syrophönizien); Mk 9,14–29parr. Mt 17,14–20; Lk 9,37–43a (Mondsüchtiger bzw. taubstummer Junge). Auch die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.) hat exorzistische Züge (Mk 4,29parr.). – Über Markus hinaus enthalten das MtEv und das LkEv folgende Texte: Mt 9,32–34parr. Mt 12,22–24; Lk 11,14f. (Blinder bzw. Stummer); Lk 4,38f. (Schwiegermutter des Petrus) und Lk 8,2 (Maria Magdalena).

Totenerweckungen finden sich in allen Evangelien (Tochter des Jairus1, Jüngling zu Nain [Lk 7,11–17] und Lazarus [Joh 11,1–45]). Die Evangelisten gehen sparsam mit solchen Berichten um; nur Lk nennt zwei Erweckungen.

Geschenkwunder: Die Speisung der Fünf- bzw. Viertausend2, das Staterwunder (Mt 17,24–27), das Fischwunder (Lk 5,1–11par. Joh 21,1–14) und das Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11) repräsentieren diese Wundergattung.3

Normenwunder begegnen in Mk 3,1–6parr. Mt 12,9–14; Lk 6,6–11 (verdorrte Hand), Lk 13,10–17 (verkrümmte Frau), Lk 14,1–6 (Wassersüchtiger), Joh 5,1–18 (Gelähmter, vgl. V. 16) und Joh 9,1–7 (Blindgeborener, vgl. V. 14). Auch die Therapie Mk 2,1–12parr. (Gelähmter) ist als Normenwunder zu sehen (Frage der Sündenvergebung). Wunder Jesu, in denen ‚Unreine‘ und Nichtjuden geheilt werden, lassen sich ebenfalls dieser Kategorie zuordnen.

Natur- und Rettungswunder: Markus kolportiert die Sturmstillung4 und den Seewandel.5 Letzteren ergänzt Matthäus um den Seewandel des Petrus (Mt 14,28–31) und Johannes um eine Entrückung (Joh 6,21).

Christophanien: Ostervisionen klären die Identität des Auferstandenen und dienen der Jüngerbelehrung. Osterwunder bieten Mt 28,9–20parr. und Joh 20,11–21,25. Paulus hat vor Damaskus eine Christophanie (Apg 9,1–9parr.). Die Parusie ist die letzte Christophanie (Mk 13,24–27parr. u.a.).

Prophetische Zeichenhandlungen: Das Fischwunder Lk 5,1–11 ist auch als prophetische Zeichenhandlung zu deuten (vgl. die Prophetie V. 10f.).6 Die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20–25par. Mt 21,18–22) weist auf die Kraft von Gebet und Fluch hin. Das Staterwunder (Mt 17,24–27) ist einerseits ein Geschenkwunder, andererseits eine prophetische Zeichenhandlung, denn der Text weist auf Gottes Fürsorge um die Mittellosen hin.

b)Wunder anderer Wundertäter

Jünger und Apostel: Jesus überträgt den Jüngern Wundervollmacht (Mt 10,8; vgl. Mt 16,17f.). Lk 10,17–20 stellt ihre Wunderkraft ausdrücklich fest. Sie scheitern nur an Dämonen (Mk 9,18.28f.). – Solange der Glaube trägt, kann Petrus über das Wasser gehen (Mt 14,28–31). Überhaupt kann der Glaube bei allen Menschen Wunder wirken (Mk 9,23; 11,23f.; Lk 17,5f.). – Die Apostel vollziehen laut der Apg Therapien, Erweckungen und Strafwunder; Naturwunder fehlen. – In Röm 15,18f. nennt sich Paulus ein charismatisches Medium der Wunderkraft Christi. Heilkraft, Wunderkraft und prophetische Rede gehören nach 1 Kor 12,9f. zu den Charismen (vgl. Jak 5,14–16).

Fremde Wundertäter: Das Wirken des fremden Exorzisten wird in Mk 9,38–40 gutgeheißen, da er im Namen Jesu handle. Kritischer liest sich Mt 7,22: Wer im Namen Jesu Wunder tut, aber Gottes Willen missachtet, wird nicht ins Himmelreich kommen. Die Söhne der Pharisäer können laut Mt 12,27par. Lk 11,19 wie Jesus exorzieren und tun es wie er in göttlicher Vollmacht.1 An einem Exorzismus scheitern dagegen die sieben magisch begabten Skeuassöhne und werden mit einem Strafwunder belegt (Apg 19,13–17).

Von Satan und satanischen Mächten werden Wunder kolportiert, die denen Jesu und der Apostel zum Verwechseln ähnlich sehen. Zu diesen Mächten gehören Pseudochristusse und -messiasse (Mk 13,6.22parr.), der röm. Kaiser und der Statthalter von Kleinasien (2 Thess 2,9; Apk 13,4.12–14).

c)Wunder an Jesus und den Aposteln

Das NT berichtet auch von Wundern, die an Jesus und den Aposteln vollzogen werden. Die Berichte stellen ihre besondere Bedeutung heraus oder verdeutlichen, unter wessen Schutz sie stehen. Die Wunderformen sind Angelophanien, Metamorphosen, Führungs- und Rettungswunder sowie Totenerweckungen.

Epiphanien finden sich insbesondere zu Beginn und am Ende des Lebens Jesu. Engel kündigen die Geburt Jesu und des Täufers an (Mt 1,19–25par. Lk 1,11–17.26–38; Lk 2,8–20)1, schützen Jesus und seine Familie vor dem Zugriff des Herodes (Mt 2,13–23). Eine Theo- und Pneumatophanie offenbart bei der Taufe Jesu dessen Gottessohnschaft (Mk 1,9–11parr.). Engel erscheinen den Frauen und Jüngern an Jesu Grab (Mk 16,1–8parr.). – Joh 1,1–18 kennzeichnet das gesamte Wirken Jesu, des Schöpfungs-Logos, als Epiphanie Gottes.

Mk 9,2–13 schildert die Verklärung als Metamorphose (V. 2: metemorphóthe). Sie ist eine halböffentliche Offenbarung Jesu als Gottessohn (V. 7). Die Verklärung bereitet die nachösterlichen Christophanien vor.

Mehrere Führungswunder bietet Mt 2,1–23 (Magier aus dem Orient; Bewahrung des Jesuskindes). Auch die Reise der Familie Jesu nach Bethlehem lässt sich als stille göttliche Führung verstehen (Lk 2,1–7).

Entrückungen begegnen in Joh 6,21b (Entrückung am Ende des Seewandels), in Apg 8,39f. (Philippus), in 2 Kor 12,1–4 (Paulus) und in Apk 4ff. (Thronvision des Sehers Johannes). Bei Lk beschließt eine Entrückung (Himmelfahrt Jesu) die Ostervisionen (Lk 24,50–53; Apg 1,9–11; vgl. Mk 16,19).

Natur- und Rettungswunder: Das Osterwunder lässt sich als Befreiung aus dem Grab interpretieren (Mk 16,1–8parr.). Mt 28,2 erwähnt ein Erdbeben als begleitendes kosmisches Zeichen. Apg 5,17–25, 12,3–17 und 16,23–40 berichten von der Befreiung der Apostel aus Gefängnissen, zum Teil in Kombination mit kosmisch-apokalyptischen Zeichen (Apg 16,26).2

Kosmisch-apokalyptische Zeichen begleiten Tod und Auferstehung Jesu (Mt 27,45–28,2)3 und werden für die Parusie angekündigt (Mk 13,24–27parr.).

d)Wunder in den Apokryphen

Apokryphe Wundertexte sind oftmals fragmentarisch und haben legendarischen oder erbaulichen Charakter.1 Berichtet wird vom Jesuskind, das in kindlicher Unreife Therapien und Strafwunder wirkt; magisch muten Überlieferungen an, denen zufolge selbst Jesu Windeln und sein Badewasser Heilkraft hatten.2 Das Jesuskind wird von Tieren und Götterbildern angebetet.3 Wundertaten des erwachsenen Jesus fehlen jedoch weitestgehend. Man spürt den Texten eine Freude am unterhaltsamen, illustrierenden Erzählen ab; historische Glaubwürdigkeit oder theologische Reflexion sind nicht von Interesse. – Ein Textbeispiel ist die Erweckung eines verunglückten Spielkameraden (Junge auf dem Dach):

(1) Wiederum spielte Jesus nach vielen Tagen auch mit anderen Kindern auf dem Söller eines Hauses. Eins der Kinder jedoch stürzte hinab und starb. Als das die anderen Kinder sahen, gingen sie nach Hause. Sie ließen Jesus als einzigen zurück. (2) Und die Eltern des Toten kamen, machten Jesus Vorwürfe und sprachen: „Du hast unser Kind hinabgeworfen!“ Jesus aber antwortete: „Ich habe das Kind nicht hinabgeworfen!“ (3) Während jene tobten und schrieen, stieg Jesus vom Dach hinunter, stellte sich zum Leichnam und rief mit lauter Stimme: „Zenon, Zenon (denn so hieß er), stehe auf und sage, ob ich dich hinabgeworfen habe!“ Und der stand auf und sprach: „Nein, Herr!“ Und als sie es sahen, staunten sie. Und Jesus sprach abermals zu ihm: „Lege dich wieder zur Ruhe!“ Und die Eltern priesen Gott und beteten das Jesuskind an.4

Das Petrusevangelium (EvPetr 9,35–11,45; ca. 1. Hälfte 2. Jh. n. Chr.) schildert, anders als die ntl. Evangelien, den eigentlichen Wundervorgang:

(9,35) In der Nacht, in der der Herrentag anbrach, als die Soldaten jeweils zu zweit Wache hielten, erscholl eine laute Stimme im Himmel. (36) Und sie sahen, wie die Himmel geöffnet wurden und zwei strahlend leuchtende Männer von dort herabkamen und sich dem Grab näherten. (37) Jener Stein aber, der vor der Tür lag, zog sich von selbst rollend teilweise zurück und das Grab öffnete sich und beide jungen Männer gingen hinein. (10,38