3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Eine neue Mom! Nichts wünschen sich die sechsjährigen Zwillinge Zeke und Zack sehnlicher zum Fest. Die blonde Nell wäre genau die Richtige für diesen Job. Doch was wird Vater Mac dazu sagen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 160
Nora Roberts
Wünsche werden wahr
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Heike Warth
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
1. KAPITEL
Taylor’s Grove hatte zweitausenddreihundertundvierzig Einwohner. Mittlerweile einen mehr, dachte Nell, als sie die Aula der Highschool betrat. Sie lebte erst seit zwei Monaten hier, aber sie fühlte sich in der kleinen Stadt mit ihren hübschen Vorgärten und kleinen Läden bereits heimisch. Vor allem genoss sie die gemächliche Lebensart, die freundlichen Schwätzchen mit den Nachbarn, liebte die Schaukeln auf der Veranda, die holprigen Gehsteige.
Wenn ihr jemand vor einem Jahr prophezeit hätte, dass sie Manhattan gegen einen winzigen Flecken im westlichen Maryland eintauschen würde, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Und jetzt war sie die neue Musiklehrerin in Taylor’s Grove und fühlte sich pudelwohl in ihrer Rolle.
Sie hatte den Ortswechsel dringend nötig gehabt. Im letzten Jahr hatte ihre Mitbewohnerin geheiratet, und da sie sich die Miete allein nicht leisten konnte, hatte sie eine Nachfolgerin gesucht. Aber ihre neue Wohnungsgenossin war nicht lange geblieben und hatte bei ihrem Auszug alles mitgenommen, was auch nur den geringsten Wert besaß. Und das hatte dann letztlich den Anstoß dazu gegeben, dass sie mit Bob brach. Er hatte ihrer Naivität und Dummheit die Schuld an dem Desaster gegeben, und das war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Sie hatte Bob kaum den Laufpass gegeben, als die Schule, in der sie seit drei Jahren unterrichtete, ihren Stab »verschlankte«, wie man die Maßnahme schönfärberisch nannte: Nell wurde entlassen, die Stelle der Musiklehrerin gestrichen.
Von ihrem Leben waren eine leer geräumte Wohnung, die sie sich nicht mehr leisten konnte, ein ehemaliger Verlobter, der ihr die Schuld an allem gab, und die Aussicht auf Arbeitslosigkeit übrig geblieben. Da beschloss sie, New York den Rücken zu kehren.
Nachdem die Entscheidung einmal gefallen war, ging alles sehr schnell. Sie beschloss, in eine Kleinstadt zu gehen, wenn sie auch den Grund dafür nicht so recht benennen konnte. Aber ihr Gefühl hatte sie richtig geleitet. Nach diesen zwei Monaten war ihr, als hätte sie schon ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht.
Sie wohnte in einem renovierten alten Haus, und die Miete war so günstig, dass sie nicht auf eine Mitbewohnerin angewiesen war. Das Schulgelände mit Grund- und weiterführender Schule bis hin zur Highschool war zu Fuß erreichbar.
Sie unterrichtete seit zwei Wochen, und die erste Nervosität war längst von ihr abgefallen. Jetzt freute sie sich auf den ersten Chortermin mit ihren Schülern, entschlossen, ein Programm auf die Beine zu stellen, das die Zuhörer zu Begeisterungsstürmen hinreißen würde.
Das alte Klavier stand mitten auf der Bühne, und Nell setzte sich davor. Die kleinen Sänger würden bald eintrudeln, bis dahin hatte sie noch ein paar Augenblicke für sich.
Sie ließ die Finger über die Tasten gleiten und stimmte einen Blues an. Auf alten verkratzten Klavieren musste man einfach Blues spielen.
»Mensch, total cool«, sagte Holly zu ihrer Freundin Kim, als sie die Tür zur Aula öffnete.
»Ja, echt.« Kim hatte den Arm um ihre beiden kleinen Cousins gelegt. »Mr. Striker hat nie solche Sachen gespielt.«
»Und was sie trägt, ist auch absolute Spitze.« Bei Holly mischte sich Bewunderung mit ein wenig Neid, als sie Nells enge Hose und das lange Hemd mit der gestreiften Weste darüber begutachtete. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum jemand aus New York ausgerechnet zu uns kommt. Hast du ihre Ohrringe gesehen? Die hat sie bestimmt aus einem tollen Laden in der Fifth Avenue.«
Nells Schmuck war in der kurzen Zeit, die sie jetzt hier war, unter ihren Schülerinnen bereits legendär geworden. Sie trug nur ausgefallene und einzigartige Stücke. Ihr fast schulterlanges dunkles Goldhaar war immer wie unabsichtlich ein wenig zerzaust, ihr etwas heiseres Lachen und ihre natürliche Art hatten ihr vom ersten Augenblick an die Zuneigung der Kinder eingebracht.
»Sie ist echt super.« Kim war im Augenblick mehr von der Musik als von Nells äußerer Erscheinung beeindruckt. »Wenn ich doch auch so spielen könnte.«
»Und ich würde gern so toll aussehen wie sie«, seufzte Holly.
Nell sah sich um und lachte. »Kommt, Mädchen. Ich gebe ein kostenloses Konzert.«
»Es klingt ganz toll, Miss Davis.« Kim hatte ihre beiden Schützlinge fest im Griff, als sie jetzt auf die Bühne zusteuerte. »Was ist das?«
»Muddy Waters. Ich glaube, ich werde den Lehrplan um ein paar Bluesstücke erweitern.« Nell betrachtete die Jungen an Kims Seite. »Hallo, ihr zwei.«
Die beiden lächelten, und dabei bildeten sich bei beiden identische Grübchen auf der linken Wange. »Können Sie auch ›Chopsticks‹ spielen?«, fragte der Junge an Kims rechter Seite.
Bevor Kim sich noch einmischen konnte, legte Nell schon los. »Na, wie war das?«, erkundigte sie sich, als der letzte Ton verklungen war.
»Spitze.«
»Entschuldigen Sie, Miss Davis. Ich muss die zwei eine Stunde hüten. Das sind Zeke und Zach Taylor.«
»Die Taylors von Taylor’s Grove«, meinte Nell und drehte sich zu den Kindern um. »Ich wette, ihr seid Brüder. Ich kann da eine kleine Familienähnlichkeit entdecken.«
Die beiden Jungen kicherten. »Wir sind Zwillinge«, erklärte Zach.
»Tatsächlich? Und jetzt soll ich wahrscheinlich raten, wer wer ist.« Nell kam an den Bühnenrand, setzte sich und sah die beiden prüfend an. Beiden fehlte der linke obere Schneidezahn. Sie grinsten.
»Zeke«, sagte Nell und wies mit dem Finger auf einen Zwilling. »Und Zach.«
Die beiden nickten erfreut. »Woran haben Sie das gemerkt?«
Sie hatte es einfach nur geraten. Immerhin standen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Aber das würde die Kinder nur enttäuschen. »Zauberei«, behauptete sie. »Singt ihr gern?«
»Na ja.«
»Dann könnt ihr heute zuhören. Ihr setzt euch in die erste Reihe und seid unser Testpublikum.«
»Danke, Miss Davis«, sagte Kim und schob die Zwillinge zur vorderen Sitzreihe. »Und da bleibt ihr sitzen«, befahl sie mit der Autorität der älteren Cousine.
Nell zwinkerte den beiden zu, stand auf und winkte dann die anderen Kinder, die sich allmählich eingefunden hatten, nach vorne. »Kommt. Fangen wir an.«
Die Zwillinge schienen die Vorgänge auf der Bühne eher zu langweilen. Zuerst wurde hauptsächlich geredet, dann wurden die Noten verteilt und die Jungen und Mädchen nach ihren Stimmen eingeteilt.
Zach beobachtete Nell. Sie hatte schöne Haare und große braune Augen. Wie mein Hund Zark, dachte er angetan. Ihre Stimme war zwar ein bisschen komisch, irgendwie kratzig und ziemlich tief, aber doch nett. Immer wieder sah sie zu ihm herüber und lächelte ihn an. Und dann schlug sein Herz immer ein bisschen schneller, als wäre er gerade gerannt.
Jetzt sang sie den Kindern auf der Bühne etwas vor. Es war ein Weihnachtslied. Zach wusste zwar nicht genau, wie es hieß, aber er hatte es seinen Vater schon spielen hören.
»Das ist sie«, zischte er und gab Zeke einen Stoß in die Rippen.
»Wer?«
»Die Mom, die wir uns gewünscht haben.«
Zeke unterbrach das Spiel mit seiner Plastikfigur und sah auf die Bühne, wo Nell angefangen hatte, die Altstimmen zu dirigieren. »Kims Lehrerin?«
»Ganz bestimmt.« Zach war schrecklich aufgeregt. »Der Weihnachtsmann hat unseren Brief inzwischen bestimmt bekommen«, flüsterte er. »Und sie sieht genauso aus, wie wir sie uns gewünscht haben. Und außerdem ist sie nett und mag uns.«
»Meinst du ehrlich?« Zeke war noch nicht ganz überzeugt. Aber hübsch war Nell schon, und sie lachte viel, auch wenn die großen Kinder einen Fehler machten. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie Hunde mochte oder Plätzchen backen konnte.
Zach sah Zeke an. Sein Bruder war manchmal wirklich schwer von Begriff. »Aber sie hat genau gewusst, wer von uns wer ist. Zauberei, hat sie gesagt. Sie ist es bestimmt.«
»Zauberei«, wiederholte Zeke und betrachtete Nell mit großen Augen. »Glaubst du, wir müssen bis Weihnachten warten, bis wir sie kriegen?«
»Ich glaube schon.« Genau wusste er es zwar nicht, aber das bekam er schon noch heraus.
Mac Taylor stellte seinen Kombi vor der Highschool ab und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er musste sich überlegen, was er den Kindern zum Abendessen kochen sollte, wie er das Problem mit dem Boden in der Meadow Street lösen wollte und wann er am besten ins Einkaufszentrum fuhr und Unterwäsche für die Jungen kaufte. Als er letztes Mal die Wäsche zusammengelegt hatte, war ihm aufgefallen, dass sie dringend der Erneuerung bedurfte. Morgen früh würde er sich gleich um die Holzlieferung kümmern, und heute Abend musste er unbedingt noch den Papierkram erledigen.
Dazu kam noch, dass Zeke in ein paar Tagen sein erstes Prüfungsdiktat schrieb und sehr aufgeregt war.
Mac steckte die Wagenschlüssel in die Hosentasche. Er hatte heute mehrere Stunden den Hammer geschwungen, und seine Schultern schmerzten. Aber das störte ihn nicht weiter. Er war zwar körperlich müde, aber es war eine gute Müdigkeit. Sie bedeutete, dass er etwas geschafft hatte. Die Renovierungsarbeiten an seinem Haus in der Meadow Street liefen ganz nach Plan, auch mit dem Geld kam er hin. Wenn er fertig war, musste er sich überlegen, ob er das Haus verkaufen oder vermieten wollte. Natürlich hatte sein Steuerberater da ein Wort mitzureden, aber die letzte Entscheidung lag bei ihm selbst.
Als er gemächlich vom Parkplatz zur Schule schlenderte, sah er sich aus alter Gewohnheit um. Sein Ururgroßvater hatte die Stadt gegründet. Damals war sie ein winziges Dorf am Ufer des Taylor’s Creek gewesen, heute erstreckte sie sich über die Hügel bis hin zu Taylor’s Meadow.
Er selbst lebte nach zwölfjähriger Abwesenheit schon seit sechs Jahren wieder in Taylor’s Grove, aber immer wieder konnte er sich an der herrlichen Umgebung mit den hohen Bergen in der Ferne freuen. Das würde sich wahrscheinlich nie ändern.
Der Wind war kühl geworden. Aber noch hatten sie keinen Frost gehabt, und das Laub an den Bäumen war noch so grün wie im Sommer. Das gute Wetter machte das Leben leichter für ihn. So konnte er die Außenarbeiten am Haus unter angenehmen Bedingungen vollenden, und die Jungen konnten nachmittags im Garten spielen.
Ein Anflug von schlechtem Gewissen stieg in ihm hoch, als er jetzt die schwere Schultür aufstieß. Seine Arbeit hatte ihn länger aufgehalten als vorgesehen, und seine Schwester war selbst zu beschäftigt gewesen, als dass er ihr die Kinder hätte aufhalsen wollen. Also war Kim eingesprungen und hatte die Zwillinge mit zur Chorprobe genommen. Natürlich hätten sie auch einmal allein zu Hause bleiben können, aber er wollte nicht, dass aus seinen Söhnen Schlüsselkinder wurden. Jetzt war er hier, um sie und Kim abzuholen. Das ersparte seiner Schwester die Fahrt.
In ein paar Monaten machte Kim selbst den Führerschein. Sie sprach jetzt schon kaum noch von etwas anderem. Allerdings konnte er sich nur schwer vorstellen, dass er seine beiden Jungen seiner sechzehnjährigen Nichte anvertrauen würde, so gern er sie auch hatte und so vernünftig sie auch sein mochte.
Seine Schwester warf ihm ständig vor, dass er die Jungen viel zu sehr verzärtelte. Er konnte ihnen die Mutter nicht ersetzen, er wusste es ja selbst. »Wenn du dir keine Frau suchen willst, dann ist das deine Sache. Aber du musst lernen, die Kinder loszulassen.« Er hörte die Stimme seiner Schwester förmlich. Aber es fiel ihm im Traum nicht ein, noch einmal zu heiraten!
Als er sich der Aula näherte, hörte er die jungen Stimmen und musste lächeln. Weihnachtslieder, von Kindern gesungen, hatten etwas so Anheimelndes.
Er öffnete die Tür, trat geräuschlos ein und blieb stehen, um zuzuhören. Ein Mädchen saß am Klavier. Hübsches kleines Ding, dachte er.
Gelegentlich sah das Mädchen auf und nickte, als wolle es die anderen Kinder zu noch größerer Leistung ermuntern. Wo mochte die Musiklehrerin sein?
Mac entdeckte seine Söhne in der ersten Zuschauerreihe und ging leise zu ihnen. Als Kim ihn entdeckte, hob er grüßend die Hand. Er setzte sich hinter die Jungen und beugte sich zu ihnen vor.
»Sie singen schön, finde ich.«
»Dad!« Zach drehte sich aufgeregt um. »Das sind Weihnachtslieder.«
»Genauso klingt es. Singt Kim gut?«
»Ganz toll.« Zeke war stolz auf seine neu erworbenen musikalischen Kenntnisse. »Sie kriegt ein Solo.«
»Ist das wahr?«
»Ehrenwort. Sie ist ganz rot geworden, als Miss Davis gesagt hat, sie soll ihr etwas vorsingen, aber dann hat sie es doch getan.« Zeke war im Augenblick viel mehr an Nell interessiert. »Ist sie nicht hübsch?«
Diese Bemerkung erstaunte Mac ein wenig. Die Zwillinge mochten Kim zwar, aber mit Komplimenten hatten sie sich bisher nicht aufgehalten. Er nickte. »Ja, finde ich auch. Sie ist das hübscheste Mädchen der Schule.«
»Wir könnten sie doch einmal zum Essen einladen«, schlug Zach verschwörerisch vor.
Mac fuhr seinem Sohn liebevoll durchs Haar. »Aber Kim kann doch immer zu uns kommen, wenn sie will«, meinte er ein wenig verwundert.
»Aber doch nicht Kim.« Zach verdrehte die Augen. »Miss Davis!«
»Und wer ist Miss Davis?«
»Die M…« Zeke verstummte abrupt, als er den Ellbogen seines Bruders an den Rippen spürte.
»Die Lehrerin«, sagte Zach und warf Zeke einen warnenden Blick zu. »Die hübsche da.« Er wies mit dem Finger auf Nell.
»Das ist die Lehrerin?« Bevor Mac sich noch von seiner Überraschung erholt hatte, verklang die Musik, und Nell stand auf.
»Das habt ihr wirklich gut gemacht für die erste Probe«, lobte sie und schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Aber wir haben trotzdem noch viel Arbeit vor uns. Ich würde die nächste Probe gern für Montag nach der Schule ansetzen. Drei Uhr fünfundvierzig.«
Eine ziemlich große Unruhe war aufgekommen, und Nell musste ihre Stimme erheben, um auch den Rest ihrer Anweisungen loszuwerden. Dann drehte sie sich mit einem zufriedenen Lächeln zu den beiden kleinen Zuhörern in der ersten Reihe um und fand sich unerwartet einer erheblich älteren und sehr viel verwirrenderen Ausgabe der Zwillinge gegenüber. Verwirrt hielt sie inne.
Das war eindeutig der Vater, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Er hatte das gleiche dunkle lockige Haar, die gleichen blauen Augen, eingerahmt von dunklen Wimpern. Sein Gesicht war ausgeprägter als das der Jungen, natürlich, aber darum nur umso attraktiver. Er war groß und sehnig und wirkte kräftig, ohne muskulös zu sein, und er war braun gebrannt und ziemlich schmutzig. Ob er wohl auch ein Grübchen in der linken Wange bekam, wenn er lächelte?
»Mr. Taylor.« Sie hüpfte von der Bühne, ohne den Umweg über die Stufen zu nehmen, und streckte ihm die ringgeschmückte Hand hin.
»Miss Davis.« Er nahm ihre Hand und dachte erst zu spät daran, dass seine nicht besonders sauber war. »Ich hoffe, die Kinder haben Sie bei der Probe nicht gestört.«
»Im Gegenteil. Ich arbeite immer besser, wenn ich Publikum habe.« Sie sah auf die Zwillinge hinunter. »Na, wie hat es euch gefallen?«
»Super«, erklärte Zeke. »Weihnachtslieder mögen wir am allerliebsten.«
»Ich auch.«
Kim gesellte sich zu ihnen. »Hallo, Onkel Mac.«
Mac wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Diese Miss Davis sah für eine Lehrerin viel zu jung aus. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie so zierlich war und eine so zarte makellose Haut besaß. Sie war attraktiv, zweifellos.
»Ihre Nichte ist sehr begabt.« Nell legte den Arm um Kim. »Sie hat eine wunderschöne Stimme und viel Gefühl für Musik. Ich bin sehr froh darüber, dass ich sie in meinem Chor habe.«
»Wir haben sie auch gern in der Familie«, sagte Mac mit einem Lächeln, und Kim errötete.
Zach wurde unruhig. Mussten sie jetzt unbedingt über Kim reden? Als gäbe es nichts Wichtigeres. »Wollen Sie uns nicht einmal besuchen, Miss Davis?«, fragte er zuvorkommend. »Wir wohnen in dem großen braunen Haus an der Mountain View Road.«
»Das werde ich bestimmt einmal tun.« Nell stellte fest, dass sein Vater über die Einladung offenbar nicht in große Begeisterung geriet. »Und ihr zwei dürft jederzeit wieder zur Chorprobe kommen, wenn ihr Lust dazu habt. Kim, du arbeitest bitte an deinem Solo.«
»Ja, Miss Davis. Danke.«
»Ich freue mich, dass ich Sie kennengelernt habe, Mr. Taylor«, sagte Nell, und als sie nur ein Brummen als Antwort erhielt, kletterte sie auf die Bühne zurück, um ihre Noten zu holen.
Schade, dass der Vater nicht den Charme seiner Söhne hat, dachte sie.
2. KAPITEL
Für Nell gab es kaum etwas Schöneres, als an einem milden Herbstnachmittag übers Land zu fahren. In New York war sie samstags immer zum Einkaufen gegangen oder hatte vielleicht einmal einen Spaziergang im Park gemacht. Vom Joggen hielt sie nichts, wenn man in gemächlicherem Tempo ebenso ans Ziel kam.
Und am meisten genoss sie das Autofahren. Sie hatte gar nicht gewusst, wie schön es war, nicht nur ein Auto zu besitzen, sondern mit geöffneten Fenstern bei Musik in voller Lautstärke über enge, kurvige Landstraßen zu düsen.
Die Blätter hatten angefangen, sich zu verfärben, und das Grün hatte bereits bunte Flecken. Nell war spontan in eine Straße abgebogen, über der sich die Kronen riesiger Bäume wölbten. Sie fühlte sich wie in einem lichtdurchflirrten Tunnel. »Mountain View« stand auf einem Straßenschild.
Ein großes braunes Haus, hatte Zach gesagt. Es gab nicht so viele Häuser hier draußen, drei Kilometer vor der Stadt, und die wenigen verbargen sich hinter hohen dichten Bäumen und schimmerten nur zwischen den Stämmen durch. Rötliche, weiße, blaue Häuser, manche direkt am Wasser, andere auf Hügeln mit schmalen Auffahrten.
Es muss schön sein, hier zu wohnen, dachte Nell. Gerade auch, wenn man Kinder hat. Und so steif und wortkarg Mac Taylor auch sein mochte: Seine kleinen Söhne waren gut geraten.
Nell wusste, dass er sie allein erzog. In kleinen Städten erfuhr man so etwas sehr schnell: hier eine Bemerkung, da eine scheinbar nebensächliche Frage, und schon hatte sie die komplette Lebensgeschichte der Taylors in Erfahrung gebracht.
Mac Taylor war vor zwölf Jahren mit seinen Eltern aus dem Ort nach Washington gezogen und vor sechs Jahren mit den Zwillingen zurückgekommen. Seine Schwester hatte ihn offenbar dazu überredet, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte.
»Die armen kleinen Würmchen hatten nur den Vater«, hatte Mrs. Hollis Nell vor dem Brotregal im Supermarkt anvertraut. »Die Frau ist einfach weggelaufen und hat sich nie mehr gemeldet. Der junge Macauley Taylor ersetzt seinen Zwillingen seither die Mutter.«
Vielleicht, dachte Nell sarkastisch, wäre seine Frau geblieben, wenn er gelegentlich einmal das Wort an sie gerichtet hätte. Aber nein, so etwas durfte sie nicht denken. Es gab keine Entschuldigung für eine Mutter, die ihre kleinen Kinder verließ und sich dann nie wieder meldete – jedenfalls fiel ihr keine ein. Was für ein Ehemann Mac Taylor auch gewesen sein mochte, die Kinder konnten nichts dafür.