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Mit „wurzelland.wo“ schlägt Henry-Martin Klemt das Buch seiner eigenen Geschichte auf. Der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Lyriker spannt in seinem achten Gedichtband auf mehr als 200 Seiten den Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart. Er begegnet der Madonna auf dem Treck, der nach Westen zieht, seinem Vater auf der Flucht aus der Kriegsgefangenschaft und seiner Mutter beim illegalen Plakatekleben in ihrem Neuköllner Kiez. In volksliedhaften Strophen, im Sonett und im dramatischen Stakkato freirhythmischer Verse zeichnet er Jahre der Kindheit in Schwerin und Berlin nach, beschreibt Lehrjahre und Armeezeit, erste Liebe und erstes Land. Den Epochenbruch als Ende des Stalinismus und ungebremste Entfaltung des Turbokapitalismus entdeckt er in dem, was mit den Menschen geschieht. Er beschreibt Prinzenerwartung und Desillusionierung, aber auch, was die Kontinuität menschlicher Beziehungen über Systemwechsel hinaus möglich und nötig macht. Ein zuweilen sarkastischer Humor geht in den Gedichten des Mittfünfzigers einher mit der historischen Gelassenheit eines Mannes, dem es besser scheint, Eulen nach Athen zu tragen, als mit den Wölfen zu heulen. Dabei bedeutet Dichtung ihm nicht nur Verdichtung der Sprache, über die er souverän und mit stilistischem Reichtum verfügt, sondern auch Erfindung als Ausdruck verdichteter Wahrheit: Gott besucht mit dem Teufel den gewendeten Teil Deutschlands, die Rentnergang überfällt gemeinsam mit dem ehemaligen Abschnittsbevollmächtigten den ALDI im Kiez, und manches, was Klemt über die Landschaft und ihre Bewohner berichtet, ist keineswegs ausgedacht, auch wenn es so scheint. Lustvoll setzt der Dichter seine Segel als Süßwasserpirat, wagt den Blick in eine erschütterte Welt, erinnert an Wahlverwandte, Freunde und Weggefährten, aber auch an die namenlosen Flüchtlinge auf endlosen Straßen und tödlichen Meeren. In sinnlichen und gleichzeitig ausgreifenden Metaphern beschreibt er sein brandenburgisches Zuhause und blickt mit Ironie auf seine Stadt Frankfurt (Oder). In der Liebe, die seine Frau und ihn verbindet, fühlt er sich auch nach Jahrzehnten geborgen. Er hört das Ticken des Jahrtausends und weiß: An dessen Ende werden wir erneut so wie am Ausgang einer Höhle stehen. Und wie jetzt wird dem Menschen zuallererst die Hoffnung ein Zuhause sein.
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Seitenzahl: 121
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Für Vera und Johannes
Unzeit
Madonna
Ballade von der Heimkehr meines Vaters aus dem Krieg / Für Johannes und Vera
Ballade von der nächtlichen Flugblattaktion meiner Mutter in Berlin Neukölln, die 1951 unter der Losung stand: Weg mit der EVG – Her mit dem Friedensvertrag / Für Johannes und Vera
Pankower Lied / Für Vera und Johannes
Schweriner Tag / Für Papa
Schweriner Fuge
Genug
Kaulbarschsuppe
Schweriner Lied
Kreiselndes Lied
Weißenseer Lied
Vielleicht muss man
Onkel Nino
Köpenicker Lied
Ballade vom Riesenrad
Lehrjahre Lied / Born in the GDR IV
Birgit A. / Born in the GDR III
Weg nach Haus / Für Johannes
F96 Lied
Zugiges Lied
Diarium
Altes Tagebuch
Höhlen Lied
Vera Lied
Was es war
Letzte Rede des Josef Wissarionowitsch Dshugashwili aus einem Riss in der Kremlmauer
Wintermärchen Lied
Mauer Liedchen
Dem Oberhaupte zugeeignet
Revolution
Geschäftliches Lied
Deutsches Sonett
Verschwiegenes Lied
Allerlei Auferstehung
Zuschauendes Lied
Gespenstisches Sonett
Wölfe und Eulen
Suff
Postkommunistisches Sonett
Feiern
Evolutionäres Sonett
Fortschritt
Kleist-Denkmal im Gertraudenpark
September
Nachtstück
Elementares Lied
Morgen in Frankfurt
November bei Wulkow
Sonett oder Warum der Kommunist Fritz Krause die Kirche St. Marien nicht sprengen wollte, sich darüber mit seinem Genossen Erich Mückenberger zerstritt, trotzdem Oberbürgermeister in Frankfurt (Oder) wurde und es ein viertel Jahrhundert lang blieb
Glocken Lied
Regen Lied
Landunter / An Hölderlin
Trepliner Lied
Schmöckwitz
Für Maik
Mailied 2010
Sehräuber Lied / Für Maik
Odyssee
Altes Seestück
Aal Lied / Für Maik
Madeira / Für Rita
Sommer in Wien / Für Christian
Algerisches Lied / Ghardaia 1987
Zweites Algerisches Lied
Helden Lied
Lied am Grab von Wyssozki
Bahnhof für zwei / Für Eldar Rjasanow
Es heißt ja nur
Treffen am Tonsee / Für Johannes
Countdown / Für Gundi
Für Gundermann / Zum 60. Geburtstag
Street Fighting Man
Sommer Lied
Obama
Neunelf
Europa
Kindervers / 21. Jahrhundert
Volks Lied
Manifest der Mitte / Für Eduardo Galeano
Weiter. Weiter. Weiter. VI
Gläubiges Lied
Hoffendes Lied
Flüchtiges Lied
Namenlos
Para La Guerra Nada
Sommervers
Höllen Lied
Wir betten die Toten
Mama Lied
Whisky / Für Maik
6.3.14 / Für KD
Abschied I / Für Eva und KD
Abschied II / Für Eva
Abschied III / Für Kai, der nur drei Tage leben durfte
Abschied IV / Für KD
Füllhorn / Abschied V – Für Eva und KD
Camouflage / Abschied VI
Abschied VII / Für KD
Abschied VIII / Für Eva, KD und die anderen
Als wir 18 waren / Für KD
Abschied IX / Für Eva und KD
Abschied X / Für Eva und KD
Grund / Abschied XI – Für KD
Abschied XII / Für KD
Fels in der Brandung / Für Eva
Auf der Kippe / Für Eva
Evas Gedichte
Das Leben sucht
Eva in Torgau
Scheiß Lied
Vogelfänger Lied / Für Maik
Edding Lied
Heißes Lied
Fliegendes Lied
50 Lied / Für Peter
Spiegel Lied
Kleines Abschiedslied für Johannes
55 Lied
Kullerkeks Lied
Dezember Lied
Abend Lied / Für Rita
Das Jahrtausend ist aus
Das Jahrtausend begann
Vergessliches Lied
Poetik
Der Autor
Aus meiner Welt
Verabschieden sich die Dinge
Langsam. Die Bilder
Hängen noch an den
Verschwundenen Wänden.
Januar 2015
Alles Mögliche kam da,
Aber nichts Gutes, von oben.
Den Bombern gehörte der Himmel.
Jäger beschossen den Treck.
Irgendwo zwischen Hölle und Erde
Sah sie ihn dann, wie er fiel,
Und sie zog ihren Karren
Bergauf ein Stück. Das
Kind in den Kissen
Lebte noch, schlief. Aber
Sie beugte sich nieder
Und faltete wortlos die Hände
Ihrem gefallenen Gott,
Hob ihn auf und wunderte sich,
Warum er so leicht war, dass sie
Ihn tragen konnte, allein,
An den Rand der Straße.
Das überjährige Kraut
Verbarg ihn, Sohn, Vater, Geist,
Bei den anderen Leichen. Sie ging.
März 2012
Als mein Vater glaubte, es wär Zeit,
kroch er heimlich durch den Stacheldraht.
Rigas Trümmer warn nicht mehr verschneit.
Manche Felder trugen junge Saat.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Frei von Tressen, frei von all dem Blech,
frei von Schuld, denn keinen traf sein Schuss,
rannte er und fand es nur gerecht,
weil man nach dem Krieg nach Hause muss.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Wusste, wie man von der Erde frisst,
dass man nicht aus jedem Drecksloch trinkt,
wie man liegend durch die Hose pisst
und sich tot stellt, wenn ein Fremder winkt.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
War ein Dörfchen, still und abgebrannt.
Einen Friedhof gab es, keinen Rauch.
An dem Platz, wo einst das Kirchlein stand,
lag nur Asche, Menschenasche auch.
Doppelkreuze standen schief im Wind,
wohl für einen Reichen auch ein Stein,
und mein Vater, voller Schorf und Grind,
grub sich bei den andern Toten ein.
Doch die Toten haben ihn verraten,
krochen aus dem Loch, als er geschlafen,
stapften fort und holten die Soldaten,
die ihn fast erfroren endlich trafen.
Was er spürte, war zuerst der Stich
eines Bajonetts ins rechte Knie,
dann den Kolbenschlag in sein Gesicht
und den Rotz, den einer auf ihn spie:
Lauf nur, lauf, wie du noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa.
Humpelfritz, du willst doch nicht verschnaufen?
Du kannst wählen: Kugel oder Messer!
Neunzehnneunundvierzig hält ein Zug
zwischen Trümmern einer deutschen Stadt.
Vater trägt die Stiefel, die er trug,
als der Russe ihn gefangen hatt´.
Trägt die Tschapka, die ein Russe gab,
Bücher, die ein Russe vor ihm las,
einen Rucksack, prall von Krimtabak,
für vier Jahre Arbeit – gutes Maß.
Und er rannte, wie er niemals rannte
zwischen Schöneweide und Odessa,
lief durch Straßen, die er kaum erkannte:
Das wird alles neu und schön und besser!
Was er sonst noch schleppte - Vater schwieg.
Schwieg und schwieg mit einer Mordsgeduld.
Keinen hat er umgebracht im Krieg
und trug doch an jedem Toten Schuld.
Lauf jetzt, lauf, wie du noch nie gelaufen
von Odessa bis nach Schöneweide.
Wenn du einmal stirbst, kannst du verschnaufen.
Er ist tot. Ich singe für uns beide.
Dezember 2009
Eine Göre aus dem Hinterhaus –
ihre Jugend hat der Krieg begraben –
macht sich fein und geht am Sonntag aus.
Seidenstrümpfe, die nicht alle haben,
weißes Kleid und Silbermedaillon,
echte Lederschuhe, Damentasche,
lange blonde Haare in Fasson,
Augenaufschlag, das ist ihre Masche.
Wie so viele, die nach Kerlen hecheln,
und nach Kippen, Gummis, Schokolade,
zeigt den Amis sie ihr schönstes Lächeln
und beim Strumpfbandrichten ihre Wade.
Stützt sich auf den Jeep, wie aus Versehen.
Klebt „Go home“ den Yankees auf die Türen,
und beim langsam, langsam Weitergehen
kann sie jeden Blick im Rücken spüren.
Dunkel wird es. Sie holt neue Zettel,
immer noch wie für den Ball gekleidet
und doch Glied in einer großen Kette.
Auch, weil sie bewundert und beneidet
jene, die aus Angst noch Stärke schöpfen.
Plötzlich aber hört sie harte Schritte.
Noch vor sieben Jahren rollten Köpfe.
Heute, weiß sie, gibt es Schläge, Tritte.
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
Schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Ihre Tochter braucht bald was zu essen,
kennt noch keine Bombennacht im Keller,
schreit nur, weil die Mama sie vergessen.
Wenn sie einfach losrennt, wer ist schneller?
Oder hält sie die paar Runden aus?
Wenn die Bullen schneller sind, wie lange
ist die Tochter dann allein zu Haus?
Friedenshetzer nimmt man in die Zange.
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Keiner schnappt mich, alles Quatsch mit Soße!
Keiner! Wer das glaubt, hat sich geschnitten!
Wenn ich mit den Herrn zusammenstoße,
werd ich kichernd um Verzeihung bitten.
Unter einem bunten Westernschmarren
hält sie inne, lauert auf die beiden.
Warum fahren Männer stets den Karren
in den Dreck und Kinder müssen leiden?
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Wenn ihr Mann nach Haus kommt in der Frühe,
wird er auch die Tochter sicher füttern.
Warum jeden Tag nur Kampf und Mühe?
Wäre nicht ein Schrei von allen Müttern
laut genug, die Kriege zu beenden?
Sie bleibt stehn. Jawohl, sie bleibt jetzt stehen.
Klebeschwamm und Zettel in den Händen
hört sie zitternd, wie die Kerle gehen.
Dezember 2009
*) aus der EVG (Europäische Verteidigungs Gemeinschaft) wurde – nach ihrem Scheitern – die Mitgliedschaft der wiederbewaffneten Bundesrepublik in der NATO.
Das Gras im Park ist anders weich
und Papa sagt: Wir werden reich.
Uns wird eine Welt gehören,
die die Menschen nicht zerstören,
weil sie sich vertrauen,
und die Fahnen wehen,
die roten und die blauen.
Wenn nachts im gelben Bus ich dann
mit Mama oben sitzen kann,
größer als die Gaslaternen,
schon ganz nahe bei den Sternen,
funkeln Himmelsboten.
Nur die Fahnen schlafen,
die blauen und die roten.
Fast fünfzig Jahre her ... Das war
Mein Eichhorn- und Kastanienjahr.
Farbe blättert von den Bänken.
Alle Zeit kannst du verschenken,
aber keine borgen.
Was soll aus uns werden? –
Ein Abend und ein Morgen.
Niederschönhausen, April 2013
Wie ging in die Binsen
Der Tag uns. Die Barschinsel, ja!
Wie brannte die Sonne so laut.
Ich konnte auf Papas Schultern
Die Schweißtropfen zählen. Fische
Haben niemals Durst. Wie
Schwappte das Schweigen blau
Über die Bordwand herein. Die weißen
Tiere zogen am Himmel davon. Wie
Hing uns das Glück schon am Haken,
Nahm Schnur und
Nahm Schnur und
Nahm Schnur ...
Juli 2015
Meine Wurzeln habe ich
im Sand, der mir durch die Finger rann,
als die Zeit ein Spiel war
und ein Spielzeug die Uhr.
Sie ging vor. Sie ging nach.
In der Mitte ging ich.
Laubwald. Rhabarber.
Güstrower Vierpfundbrote.
Größer war nur der See.
Vom Schloss immerhin
gehörten der Park
und die Grotten mir,
die Laubengänge und
die Küsse darin meiner Schwester,
meinem Bruder die Neugier
und – ich hab es vergessen –
was noch? Eine Leiter
über den Graben gelegt,
die Balance und die Angst
vor unendlicher Tiefe,
mit angehaltenem Atem
vorwärtstreiben den Augenblick,
Helden der Peinlichkeiten,
beinahe gekentert, beinahe gestürzt,
die Straßenbahn quietschend vor
Vergnügen. Vater kommt spät
vom Bootshaus zurück mit
schlechtem Gewissen. Einer
brachte immer die Scham
mit nach Haus. Sie füllte
Zimmer und Küche. Mir blieb
die Flucht auf den Boden,
sommerstickig und geheimnislos,
in den Keller, zum rostigen Kessel,
der klang dumpf wie ein grob
angeschlagenes Herz. Ins Freie
führten die Wege meist nur
nach der Schule, über Zäune
der Gärten hinweg, durch fremde
Hausflure mit weißen Stufen
aus Marmor, Messinggeländer.
Das Schöne ist kalt. Übern Pfaffenteich
trug mich die Fähre. Fünf Pfennig schwer
war ich. Die Enten nahmen Reißaus
vor meiner heimlichen Wut. Wenn
das Böse nicht sein darf, hör auf,
es zu sehen. Wenn die Obhut versagt,
wenn die Schläge dich treffen,
wenn deiner Mutter niemand
beisteht als du. Ein guter Pionier,
ein Vorbild mit Klassenbewusstsein,
hör auf, es zu sehen. Es darf
nicht sein und du bist zu feige,
es auszulöschen. Du gehst
mit Latschen zum Unterricht.
Während du nachdenkst, braut
über dir sich zusammen der Spott.
Die Welt aus den Fugen und du
sitzt auf der Brücke
vorm Schloss. Die Kaulbarsche
gehn an die Angel. Es gibt
keine größeren Fische. Sechs Tausend
Unterschriften für Theodorakis. Eines
der Zimmer lässt sich noch heizen, hat
Mutter geschrieben in einem Brief,
den ich las nach ihrem Tod. Hör auf,
es zu sehen. Das weiße Kaninchen
auf ihrem Arm, ans Hoftor
genagelt, der Appetit
ist dir vergangen. Zu schrumpfen
beginnt die Stadt, als du sie verlässt,
ohne Geschwister, die bleiben. Zurück
kommst du nach woanders und sie
triffst du wie Fremde, die dich
lieben, du weißt nicht, warum.
Ein Brunnen hinter dem Haus,
moosbewachsen, ein Tisch, die Platte
aus Stein mit seltsamen Zeichen,
ein Pfirsichbaum, ein Weinstock,
ein Dreiecksbeet: Schnittlauch und
Petersilie, ein Stück Wiese und immer
etwas zu tun für den emsigen Vater.
Eine Stadt, die erst vor der Haustür
beginnt, in Uniform, Anzügen,
gestärkten Hemden. Ein Dom,
ein Marstall, ein Werder, ein Boot.
Deine Schwester lenkt es vor den Bug
der weißen Vasa und schweigt. Hör
auf, es zu sehen. Die Schwester ist tot,
tot ist der Bruder. Vater und Mutter
sind tot. Weichgezeichnet die frühen
Fotografien. Das Labor geschlossen.
Das Experiment zu den Akten gelegt.
Auf dem Deckel steht: Glück – erster
und einziger Versuch, beim Anstehen
in den Warteschlangen, unter Fahnen,
im großen Backsteinhaus am
Bahnhof, im fauchenden Dampf,
in der Stille endlich der gehörlosen Frau
und ihrer Ermahnungen. Nachts
der Blick auf den Knast, das Bellen
der Hunde an rasselnder Leine,
tags auf dem Schulhof, am Zaun
zum Russenlazarett Abzeichen
tauschen. Ein Lager, denkst du,
und: niemals krank sein. Versottenes
Nest mit Kino und Kugeleis, Wegen,
die sich alle zu Fuß gehen lassen
an einem Nachmittag bis zum
Galgenberg in den Lankower Bergen,
bis nach Zippendorf zum Fernsehturm.
Von der Eisenbahn zerschnitten
die Stadt und die Ehe. In beidem
lebt Mutter wie im Exil. Hör auf,