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Teenager einfühlsam und gelassen durch die Pubertät begleiten
Türenknallen, genervtes Augenrollen, Zimmer, die im Chaos versinken, zermürbende Diskussionen über Bildschirmzeiten – die Pubertät bietet viel, woran Eltern verzweifeln können. Dabei brauchen Teenager ihre Eltern genauso sehr wie vorher, sie haben nur andere Bedürfnisse. Wie alle gemeinsam durch diese turbulente Zeit kommen und dabei gut in Verbindung bleiben, zeigt Psychologin und Familientherapeutin Romy Winter. Sie liefert spannende Einblicke in die pubertäre Entwicklung und teilt mit viel Herz einen großen Schatz an hilfreichem Wissen für Eltern. Neben Stimmen von Jugendlichen selbst kommen auch Experten zu Wort wie Familiencoachin Mira, Musiker Gabriel Kelly, Handball-Cheftrainer Florian Kehrmann, Sexpertin Birte Fulde und Bildungsaktivist Bob Blume. Ein wertvoller Wegweiser für die vielleicht bedeutendste Autonomiephase unserer Kinder.
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Seitenzahl: 304
Teenager einfühlsam und gelassen durch die Pubertät begleiten – Türenknallen, genervtes Augenrollen, Zimmer, die im Chaos versinken, zermürbende Diskussionen über Bildschirmzeiten – die Pubertät bietet viel, woran Eltern verzweifeln können. Dabei brauchen Teenager ihre Eltern genauso sehr wie vorher, sie haben nur andere Bedürfnisse. Wie alle gemeinsam durch diese turbulente Zeit kommen und dabei gut in Verbindung bleiben, zeigt Psychologin und Familientherapeutin Romy Winter. Sie liefert spannende Einblicke in die pubertäre Entwicklung und teilt mit viel Herz einen großen Schatz an hilfreichem Wissen für Eltern. Neben Stimmen von Jugendlichen selbst kommen auch Experten zu Wort wie Familiencoachin Mira, Musiker Gabriel Kelly, Handball-Cheftrainer Florian Kehrmann, Sexpertin Birte Fulde und Bildungsaktivist Bob Blume. Ein wertvoller Wegweiser für die vielleicht bedeutendste Autonomiephase unserer Kinder.
Romy Winter hat Psychologie studiert, ist systemische Paar- und Familientherapeutin sowie Gründerin des Familienz® Konzeptes, Supervisorin und Autorin. Sie ist auf Themen rund um Elternschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Resilienz spezialisiert und arbeitet seit vielen Jahren erfolgreich mit Einzelpersonen, Kindern, Paaren, Familien und Teams. Auf ihrem Instagram-Account @slowmothering teilt sie Wissenswertes rund um ihre Kernthemen. Romy Winter ist selbst Mutter von zwei Teenagern und lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern an der Ostsee.
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Romy Winter
WurzelnFlügelWLAN?
Was Teenager wirklich brauchen – bedürfnisorientiert durch die Pubertät
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Copyright © 2024 Kösel-Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Katharina Theml
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: lemono/iStock.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-31376-0V001
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Inhalt
Einleitung: Kaffeeklatsch und Wutanfall
Die Pubertät – besser als ihr Ruf
Hintergrundwissen für Fortgeschrittene
Kapitel 1: Wenn alles plötzlich anders ist
Körperliche Veränderungen
Neurobiologische Veränderungen
Psychische Veränderungen
Emotionale Veränderungen
Veränderung des Selbstwertgefühls
Identitätsfindung und soziale Veränderungen
Veränderungen im Stresserleben
Veränderung der Bedürfnisse
Kapitel 2: Wurzeln
Bindung goes Teenager
Gut in Beziehung
Kommunikation – Lass mal reden!
Kapitel 3: Flügel
Konflikte als Entwicklungshelfer
Flughilfe: Freigeben statt Loslassen
Selbstverantwortung fördern
Wie viel elterliche Führung brauchen Teenager?
Kapitel 4:WLAN, Sex und Schule
Die Bürde der Digital Natives
Medienkompetenz versus Medienmündigkeit
Let’s talk about Sex, Teenie
Schule ist vieles, aber bestimmt nicht alles
Kapitel 5: Ein Kapitel nur für dich
Om. Oder auch: Chill ma, Wilma
Hurra, sie wachsen!
Danksagung
Anmerkungen
EinleitungKaffeeklatsch und Wutanfall
»Du kannst mich mal!« ist das Letzte, was ich höre, bevor ein paar wütende Füße die Treppe hoch stampfen und eine Tür unmissverständlich zugeknallt wird.
Es könnte schlimmer sein, denke ich und gehe in Gedanken alle Schimpfwörter durch, die meines Wissens gerade angesagt sind. »Schlimmer geht’s nicht!«, denkt vermutlich das Publikum unseres improvisierten heimischen Theaterstücks. Heute für Sie im Programm: »Kaffeeklatsch und Wutanfall«. In der oscarverdächtigen Hauptrolle: die Pubertät.
Es ist Sonntagnachmittag, die Familie ist zu Besuch. Vor ungefähr zwanzig Sekunden erinnerte ich unseren Sohn beiläufig, und (ich meine) freundlich, an die bevorstehende Französischklassenarbeit. Vor fünfzehn Sekunden wurde ihm bewusst, dass Mama damit seiner Verdrängungstaktik ein Ende gesetzt und die Buddy-Sonntagspläne zerstört hat, was dazu führte, dass er wütend in sein Zimmer stapfte. Seit etwa zehn Sekunden sind alle Blicke am Tisch erwartungsvoll auf mich gerichtet. Nur das Schmatzen meiner vierjährigen Tochter, die unbeeindruckt ihre Zimtschnecke weiter isst, stört die peinlich betretene Stille.
Ich weiß noch genau, was ich in diesem Moment dachte. Erstens: Warum schaut niemand den Vater so schockiert/erwartungsvoll an? Zweitens: Was ist hier gerade passiert? Und was mache ich jetzt?
Die erste Frage war gedanklich schnell beantwortet: Im Gegensatz zu meinem Mann saß ich nicht nur als Elternteil an diesem Tisch. Ich saß auch nicht nur als Tochter und Schwester von Lehrer*innen hier. Nein, ich saß dort ebenso als Familientherapeutin. Kein Wunder also, dass jeder im Raum darauf brannte zu erfahren, was wohl im zweiten Akt des Theaterstückes passieren wird.
Und hey, ich wäre auch verdammt neugierig, was eine Anwältin tut, wenn sie verklagt wird. Und vielleicht würde ich mich auch fragen, ob man es als Anwältin nicht eventuell hätte kommen sehen und verhindern können. Natürlich habe ich die Pubertät kommen sehen. Sie hat sich schließlich zwölf Jahre langsam, aber entschlossen im Rückspiegel genähert. Und ich habe mich sogar auf ihr Eintreffen und diese besondere Zeit gefreut. Aber an dem Tag, als mir bewusst wurde, dass sie mir gerade mit Karacho hinten reingefahren und nun ganz sicher da ist, traf es mich trotzdem ähnlich unvorbereitet wie die meisten Eltern – was mich direkt zur zweiten Frage führt: »Was mache ich jetzt?«
Jedem dürfte klar sein, dass die Pubertät nichts ist, was von einem Tag auf den anderen »geschieht«. Weder kommt sie noch geht sie über Nacht. Aber es kann vorkommen, dass es das ein oder andere Schlüsselerlebnis gibt, das auch die letzten Zweifel endgültig beiseiteschiebt, dir freundlich die Hand schüttelt und mit einem schelmischen Lächeln sagt: »Hallo, mein Name ist Puber. (Ach süß, wie Pu der Bär, ja?) Nein, mein Name ist Pu-ber, Puber Tät. Und ich wohne jetzt auch hier.«
Es ist nicht so, dass wir vorher nie Streit hatten oder bis dahin keine Türen geknallt wurden. Das kam vor. Natürlich! Aber nach der Autonomiephase im Kleinkindalter und der Wackelzahnpubertät (irgendwas ist ja immer), als die Anwesenheit eines Publikums beim Ausleben von Emotionen ebenfalls völlig egal war, folgte eine Phase der Diskretion beziehungsweise Unterscheidung: Frustschübe und Wutausbrüche waren in Anwesenheit anderer Menschen, wie der Familie am Geburtstagskaffeetisch, deutlich gedämpft.
Mit zehn schmeißen sich die wenigsten Kinder in der Kassen- aka Quengelzone des Supermarktes noch auf den Boden, weil sie das Überraschungsei, die Hubba Bubba oder den Doppelkorn nicht haben dürfen. Was natürlich damit zu begründen ist, dass Kinder sich im Laufe ihrer Entwicklung die Fähigkeit der Impulskontrolle aneignen, aber auch daran liegt, dass Kinder kraft ihrer Impulskontrolle und Reflexionsfähigkeit lernen, ihr Verhalten umgebungs-, situations- und personenbedingt anzupassen.
Kinder wollen geliebt und angenommen werden, sie wollen kooperieren – weshalb sie Meister der Anpassung sind. Am Ende eines Kita- oder Schultages ist der Kooperationsrucksack dann oft leer, und zu Hause kommt der große Showdown. Die Familie wird zum Schrottplatz für alle unangenehmen Gefühle und Emotionen. Und auch wenn das für Eltern (und auch die Kinder) oft sehr anstrengend ist, so ist es doch ein gutes Zeichen. Denn dort, wo Kinder aufhören, sich »zusammenzureißen«, fühlen sie sich sicher gebunden und angenommen. Zu Hause ist im Optimalfall der Ort, an dem ein Kind einfach sein kann, wie es ist. Weil es weiß, dass Mama und Papa da sind, um es in den Arm zu nehmen, wenn es traurig ist. Und weil es weiß, dass Mama und Papa nicht wirklich böse sind, wenn es mal lauter oder wilder wird. Insofern war es für uns nicht ungewöhnlich, dass unser Sohn in unserer Anwesenheit seinen Emotionen freien Lauf lässt – im Gegenteil, uns war immer wichtig, dass er genau das bei uns kann, obgleich wir immer über persönliche Grenzen und Respekt im Austausch waren und darauf geachtet haben, dass die Integrität aller gewahrt wurde.
Aber dass mir unser Sohn vor der versammelten Familie ein »Du kannst mich mal!« um die Ohren haut, traf mich unvorbereitet – und ja, es war mir unangenehm. Was hauptsächlich an der Empörung aller Anwesenden lag. Die Botschaften der Blicke waren durchmischt: von Entsetzen darüber, wie wenig wir diesen Jungen im Griff zu haben scheinen, über Mitgefühl für die Bürde, ein pubertierendes Kind begleiten zu müssen, bis hin zu Ratlosigkeit und Sorge, über die heftige (womöglich unnormale) Emotionalität des Kindes. Ich meine außerdem so etwas wie Schadenfreude oder Genugtuung bei denen erkannt zu haben, die mich 25 Jahre zuvor an meine schulischen Verpflichtungen erinnern mussten und vermutlich ähnlich positives Feedback bekommen haben.
Schon klar, dass man von mir allein aufgrund meines Berufes eine adäquate und professionelle Reaktion erwartete, das Ding ist nur: Ich bin keine professionelle Mutter. Auch für mich war die Begegnung mit der Pubertät in dieser Rolle neu. Was ich mir damals in dieser Situation gewünscht hätte, war jemand, der uns allen sagt: »Macht euch keinen Kopf, es ist alles wunderbar. Keiner hier hat etwas falsch gemacht, im Gegenteil: Jeder der Beteiligten tut, wozu er/sie entwicklungsbedingt gerade berufen ist. (Und das ist eben nicht unbedingt Französisch.) Bleibt offen, neugierig und im Vertrauen. Und bitte vergesst all die Vorurteile und Schreckensgeschichten über die Pubertät. Diese Zeit wird herausfordernd, aber auch faszinierend.« Ach, wie gerne wäre ich schon damals einfach selbst dieser Jemand gewesen. Stattdessen sagte ich nur: »Möchte noch jemand Kaffee? Oder Popcorn?«
Die Pubertät – besser als ihr Ruf
Was ich damals am eigenen Leibe erfahren habe, kannte ich bereits aus meiner Arbeit mit vielen Familien: Eltern haben Respekt, wenn nicht sogar Angst vor der Pubertät oder – und das ist noch viel schlimmer – belächeln diese Zeit und alles, was ihre Kinder währenddessen erleben. Respekt vor dieser besonderen Zeit darf natürlich sein und ist völlig nachvollziehbar. Aber ihr Image als Schreckgespenst und Endgegner der Elternschaft muss die Pubertät dringend loswerden. Es wird ihr einfach nicht gerecht und verkompliziert die ganze Sache nur. Nicht die Pubertät selbst ist das Problem, vielmehr ist es das, was wir über sie denken und wissen – oder eben nicht wissen.
Ich erinnere mich noch ganz genau an den allerersten Elternratgeber, den ich mir auf Empfehlung meiner Hebamme 2009 kaufte: Oje, ich wachse geschrieben von den drei niederländischen Autoren Hetty van de Rijt, Xaviera Plooij und Frans X. Plooij. Untertitel: Von den acht »Sprüngen« in der mentalen Entwicklung Ihres Kindes während der ersten vierzehn Monate und wie Sie damit umgehen können.
Der Titel mag etwas sperrig klingen, aber man weiß genau, worum es geht und was man bekommt – obgleich ich als dreifache Mutter und Therapeutin der Meinung bin, dass dieser Ratgeber mit einer gewissen Skepsis gelesen werden sollte.
Was ich ihm zugutehalte ist, dass er die wohlmeinende Intention hat, Eltern Wissen über die Entwicklung ihrer Kinder zu vermitteln, und dass viele Eltern in eben diesem »Wissen« Trost und Orientierung finden. Denn er erklärt ihnen, warum ihre Babys manchmal besonders anhänglich, weinerlich oder unzufrieden sind – und das wiederum nimmt Eltern einen Teil ihrer Unsicherheit und gibt ihnen das Gefühl: Alles in Ordnung, du hast nichts falsch gemacht! Dein Baby hat gerade einfach eine schwierige Phase.
Was mich an dem Buch allerdings stört, sind vier Dinge: Die unzulängliche wissenschaftliche Basis der im Buch postulierten Sprünge, die fehlende Berücksichtigung der Individualität eines jeden Kindes, die teils fragwürdigen Tipps zum Umgang mit schwierigen Phasen und die Botschaft des Titels.
Oje, ich wachse ist ein Buch, das Kinder in Schubladen steckt und nicht ausreichend berücksichtigt, dass (auch kleine) Menschen sich völlig unterschiedlich entwickeln. Lernen alle Kinder am selben Tag laufen? Bekommen alle Kinder zur selben Zeit ihren ersten Zahn? Fangen sie zeitgleich an zu sprechen? Nein, natürlich nicht. Ebenso wenig fangen sie in derselben Woche an, karierte Muster zu erkennen oder kommen punktgenau an ihrem zwölften Geburtstag in die Pubertät.
Ich möchte nicht behaupten, dass Kinder nicht in Schüben wachsen und ähnliche Entwicklungsverläufe haben, nur sind all die Entwicklungsphasen eben höchst individuell. Sie lassen sich nicht per Glaskugel oder Kalender vorhersagen, so wie es dieser Ratgeber tut. Selbst wenn es in unseren Kindern solche universellen, evolutionsbiologisch veranlagten Phasen gäbe, würden die individuellen kindlichen Einflüsse und Prägungen sie so stark überlagern, dass eine tage- oder wochengenaue Vorhersage einfach nicht möglich oder sinnvoll ist. Um eine solche biologische Variabilität der Entwicklung zu untersuchen, müsste man außerdem Tausende von Familien mit objektiven Methoden und in unterschiedlichen Lebenskontexten begleiten. Die Studien, auf die sich die Autor*innen des Buches beziehen, waren jedoch von so geringer Stichprobengröße, dass das Buch diesbezüglich immer wieder in die Kritik geraten ist.
Wer nur nach dem Oje, ich wachse-Kalender lebt, verpasst womöglich die wahre Persönlichkeit und die tatsächliche Entwicklung seines Kindes und bringt sich damit um die Möglichkeit, auf die Bedürfnisse einzugehen, die das Kind tatsächlich zu äußern versucht. Nicht jede Auffälligkeit eines Kindes lässt sich mit einem Entwicklungssprung, den Nachwehen eines Entwicklungssprungs oder den Vorläufern eines Entwicklungssprungs begründen. Und das gilt ebenso für die Pubertät. Es ist schlichtweg ignorant und arrogant, Jugendliche auf ihre Hormone zu reduzieren und alle Wallungen als pubertäre Allüren zu klassifizieren.
Was mich aber am meisten stört ist die Botschaft des Titels, die sich durchaus auch in unserer Gesellschaft widerspiegelt, wenn es um das Heranwachsen unserer Kinder geht: Oje, ich wachse. Laut Duden handelt es sich bei »Oje« um einen »Ausruf der Bestürzung oder des Erschreckens«.
Oje! Kaum sind unsere Babys auf dieser Welt, wird uns suggeriert, dass wir uns von nun an auf eine mittelschwere Katastrophe gefasst machen können: Unsere Kinder wachsen. Ist das Wortklauberei? Vielleicht. Aber eins ist Fakt: »oje« kündigt für gewöhnlich nichts Gutes an: Oje, du bist krank? Oje, der Hamster ist tot. Oje, wir haben einen Rohrbruch. Oje, alle sauberen Schlüpfer sind in der Wäsche. Einverstanden, das scheint angemessen. Aber: Oje, das Kind wächst?
Ja, manchmal benutzen wir »Oje« auch als Ausdruck von Mitgefühl und Empathie. Und keine Frage: Wachsen ist anstrengend. Es ist nicht einfach, ein wachsendes Kind zu sein oder zu begleiten. Aber müsste es nicht dennoch heißen »Hurra, ich wachse«? Müssten wir nicht trotz all der Herausforderungen und Wachstumsschmerzen Freude an der Entwicklung unserer Kinder haben? Wachsen ist schließlich die Bestimmung unserer Kinder und keine unliebsame Begleiterscheinung der Elternschaft. Es ist unausweichlich und faszinierend.
Ich kann aus Erfahrung sagen, dass das Leben mit großen Kindern eine wundervolle Sache ist. Zu sehen, wie diese einst so kleinen Menschen heranwachsen, welche Interessen und Meinungen sie entwickeln, empfinde ich als großes Privileg. Zwar punkten unsere älteren Kinder nicht mehr mit Niedlichkeit, aber dafür gewinnt die Beziehung zu ihnen an Gegenseitigkeit. Plötzlich bringen sie dir Tee an dein Krankenbett, kochen sich selbst Nudeln oder erklären dir voller Überzeugung, warum die Alternative für Deutschland eben doch keine politische Alternative ist. Und dann ist es wieder da: das Gefühl von Stolz, so wie damals, wenn das mit dem Pipi auf dem Töpfchen geklappt hat. Nur größer. Bedeutsamer.
Es ist nicht so, dass ich die Angst vor dem Heranwachsen der eigenen Kinder nicht verstehen kann. Ich selbst ertappe mich oft genug dabei, wie ich im melancholischen Meer baden gehe und mir danach noch eine Algenpackung Erinnerungen gönne. Denn es stimmt: Sie werden so schnell groß. Auch wenn die Tage manchmal unerträglich lang sind, so sind die Jahre kurz.
Umso wichtiger ist es doch, dass wir die intensiven Jahre, die wir mit unseren Kindern haben, nutzen. Und auch, wenn unsere Kinder mit vierzehn Jahren nicht mehr so anhänglich und abhängig (und auch nicht mehr so süß) sind, wie sie es mal waren, so brauchen sie uns, unsere Liebe und unsere elterliche Führung noch immer – auch wenn sie uns das manchmal auf sehr paradoxe Weise zeigen. Jede Entwicklungsphase hat ihre eigenen Vulnerabilitäten und Hürden, aber eben auch einen ganz eigenen Charme und eigene Chancen – besonders die Pubertät. Wir müssen diese Entwicklungsphase allerdings besser verstehen lernen.
Die meisten Schwangeren verfolgen die Entwicklung ihrer Babys sehr genau. Sie wissen, welchem Obst der Fötus gerade entspricht (Blaubeere, Zitrone, Avocado oder Melone), sie wissen, welche Gliedmaßen gerade wachsen, welche Sinne sich wann entwickeln und wie sie die Melone möglichst schmerzarm zur Welt bringen können. Diese Zeit hat einen ganz besonderen Zauber, wie ich finde. Denn auch wenn sie meist von einer gewissen Unsicherheit und Ehrfurcht geprägt ist, so steckt sie doch voller Vorfreude und Möglichkeiten. Zu diesem Zeitpunkt der Elternschaft löst die Vorstellung eines wachsenden Kindes nichts als Dankbarkeit und Freude aus: Hurra, es wächst!
Ist das Baby geboren, informieren sich die meisten Eltern vollumfänglich weiter. Insbesondere in meiner Generation und/oder Blase, wo Wert auf eine bedürfnisorientierte Begleitung von Kindern gelegt wird. Denn eine intensive Auseinandersetzung mit der Entwicklung eines Kindes ist quasi das Fundament einer kindgerechten, bedürfnisorientierten Erziehung und Pädagogik.
Exkurs: Was bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung?
Bedürfnisorientierte Erziehung (BO) ist ein Ansatz, der sich darauf konzentriert, die Bedürfnisse und Gefühle in den Mittelpunkt der Erziehung zu stellen, statt verallgemeinerte Vorstellungen von Moral und Verhalten durchzusetzen. Bedürfnisorientierte Erziehung, auch Bindungs- oder Beziehungsorientierung genannt, baut auf eine positive und unterstützende Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Dieser Ansatz basiert auf dem humanistischen Verständnis, dass Kinder von Natur aus neugierig, einfallsreich und lernbegierig sind und dass ihre Bedürfnisse nach Liebe, Sicherheit, Respekt und Autonomie respektiert und erfüllt werden sollten. BO schaut also auf das Bedürfnis hinter dem Verhalten, statt nur das Verhalten zu korrigieren. Es geht darum, eine einfühlsame und verständnisvolle Beziehung zu seinen Kindern aufzubauen, die auf Vertrauen, Respekt und gegenseitiger Wertschätzung beruht. Eltern nehmen die Perspektive ihrer Kinder ein und bemühen sich, ihre Bedürfnisse zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Entgegen einigen Vorurteilen geht es dabei aber nicht nur um die Bedürfnisse der Kinder, sondern alle Familienmitglieder. BO stellt die Frage: »Wer braucht was?« ins Zentrum des Miteinanders.
Ein wichtiger Grundsatz der bedürfnisorientierten Erziehung ist es, Kindern eine sichere und unterstützende Umgebung zu bieten, in der sie sich frei entfalten und entwickeln können. Dies bedeutet, dass Eltern ihren Kindern genügend Freiraum und Autonomie geben, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Interessen zu verfolgen, während sie gleichzeitig eine angemessene Anleitung und Unterstützung bieten. Das macht BO zu einem super Ansatz für die Begleitung von Jugendlichen! Anstatt auf Bestrafung oder Autorität zurückzugreifen, suchen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern nach konstruktiven Lösungen, die die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen.
Es geht bei BO nicht um ein klassisches Erziehungsziel, sondern um den gemeinsamen Prozess. Wir BO-Eltern streben eine liebevolle, unterstützende und respektvolle Beziehung zu den Kindern an, die es ihnen ermöglicht, sich zu selbstbewussten, einfühlsamen und eigenverantwortlichen Menschen zu entwickeln. Es ist ein Prozess, der Geduld, Verständnis und Empathie erfordert, aber langfristig zu einer starken und vertrauensvollen Bindung zwischen Eltern und Kindern führen kann. Auch – wenn nicht sogar gerade – während der Pubertät.
In den Anfängen der Elternschaft ist es vergleichsweise einfach, eine bedürfnisorientierte Haltung in konkrete Handlungen zu übersetzen, denn das Konzept des Attachment Parenting war ursprünglich für Babys und Kleinkinder bis circa zwei Jahre gedacht. Darum wird eine bedürfnisorientierte Erziehung auch oft mit »Praktiken« wie Tragen, Stillen, Familienbett, Windelfreiheit und reizarmem Holzspielzeug assoziiert – kein Wunder also, dass die Vorstellung, einen Teenager bedürfnisorientiert zu begleiten, erst einmal seltsame Vorstellungen und Bilder hervorruft beziehungsweise Fragen aufwirft.
Aber Kinder wachsen, hurra! Und ihre Bedürfnisse wachsen mit. Gerade noch saßen sie mit ihrem süßen kleinen Windelpopos (oder windelfreien Popos) auf unserem Schoß, verschmierten Kartoffelbrei auf dem Esstisch oder in ihren Haaren, planschten in dem kleinen Keramikwaschbecken vorm Küchenfenster, malten die Wände mit Kugelschreiber an, aßen mit der Katze aus einem Napf und schliefen mit diesem Ausdruck von perfektionierter, engelsgleicher Unschuld auf unserem Arm ein, sodass man den gesamten Mittagsschlaf mit eingeschlafenen kribbelnden Gliedmaßen auf der Couch sitzen blieb, weil der Anblick so schön und die Gefahr des Aufwachens beim Ablegen so groß war. Nur einen gefühlten Wimpernschlag später knallen sie mit Türen oder Worten und malen nicht mehr die heimische Wand, sondern die Schultoilette an. Und plötzlich kommt einem die kleinkindliche Trotzphase in der Retrospektive nahezu einfach und harmlos vor …
Und so wirkt es fast schon paradox, dass wir nach den rechercheintensiven Anfängen der Elternschaft irgendwann aufhören, uns so gewissenhaft über die aktuelle Entwicklungsphase und den nächsten Sprung unseres Kindes zu informieren.
Wie können wir unsere Kinder optimal begleiten, wenn wir nicht wissen, welche Entwicklung sie in der Pubertät durchlaufen? Wie sollen wir erkennen, welche Bedürfnisse sie uns mit ihrem Verhalten anzeigen, wenn wir die Hintergründe nicht verstehen? Wie sollen wir unterscheiden, ob etwas besorgniserregend oder einfach »nur« pubertär ist, wenn wir uns nie damit beschäftigt haben?
Natürlich haben wir einen Erfahrungsvorsprung, weil wir die Pubertät bereits hinter uns haben. Doch vermutlich erinnern wir uns auch alle noch sehr gut daran, dass wir uns ja selbst manchmal nicht verstanden haben. Und in der Elternrolle ist sowieso noch einmal alles anders.
Für die Begleitung von Jugendlichen fehlt uns also oft nicht nur die Erfahrung, sondern auch das Hintergrundwissen. Die Kinder, die einst ins Küchenwaschbecken passten und mit deren Bedürfnissen wir uns im Laufe der Zeit vertraut machen konnten, werden größer. Wir brauchen neues Wissen, neue Ansätze, neue Gedanken und neue Ideen. Der Ansatz der Bedürfnisorientierung muss mitwachsen, sonst wachsen unsere Kinder aus ihm heraus.
Natürlich braucht es auch weiterhin vor allem eins: Liebe. Nur dürfen wir Liebe nicht mit Freundschaft verwechseln. Ich meine damit nicht, dass wir uns nicht um eine freundschaftliche Beziehung zu unseren (erwachsenen) Kindern bemühen dürfen, nur ist eine freundschaftliche Beziehung zu unseren Kindern einfach nicht dasselbe wie eine völlig gleichgestellte Freundschaft. Wir schulden unseren Kindern mehr als unsere Freundschaft. Denn zwischen Eltern und Kindern existieren auch in der Pubertät weiterhin andere Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten als unter Freunden.
Es wird Situationen geben, in denen wir uns entscheiden müssen, ob wir unsere Kinder lieben wollen – mit allen Pflichten und unbequemen Entscheidungen, die diese Liebe erfordern kann – oder ob wir beliebt sein wollen. Jugendliche sind suchende und sehr verletzliche Wesen. Sie brauchen einerseits unser Vertrauen und ausreichend Freiraum, andererseits Halt und Orientierung. Liebe allein ist manchmal nicht genug.
Hintergrundwissen für Fortgeschrittene
Hast du schon einmal etwas von Jugendegozentrismus, Schlafmusterveränderungen, Peer-Konformität, Menarche, Spermarche, adoleszenter Delinquenz, neurologischer Reifung oder PDRS (Post-Digitale Regulations-Störung) gehört? Dahinter verstecken sich Phänomene und Veränderungsprozesse, die typischerweise während der Pubertät auftreten, aber vielen Eltern unbekannt sind. Dabei können sie einige skurrile Verhaltensweisen unserer Teenies ganz wunderbar erklären und normalisieren.
Deshalb widmet sich das erste Kapitel dieses Buches der aufschlussreichen Beschreibung der physiologischen und psychologischen Veränderungsprozesse während der Pubertät. Denn wenn wir erst einmal verstanden haben, was aktuell in unseren Kindern vorgeht, wird es gleich viel leichter zu erahnen, was sie brauchen. Und darum soll es in diesem Buch schließlich gehen: Was Jugendliche wirklich brauchen.
»Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.« Dieser Satz stammt nicht etwa von einer Millennial-Kuschelpädagogik-Aktivistin, wie Kritiker des bedürfnisorientierten Ansatzes eventuell vermuten könnten, sondern von Johann Wolfgang von Goethe – was bedeutet, dass dieses Zitat bereits zweihundert Jahre alt und immer noch höchst aktuell ist.
Kinder kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Bindung zur Welt, ohne das sie schlichtweg nicht in der Lage wären, zu überleben. Selbstverständlich verändert sich das Bedürfnis nach Nähe und Verbindung mit den Jahren – Hoppereiter mit einem Fünfzehnjährigen auf dem Schoß? Undenkbar. Aber daran, dass es bei der Eltern-Kind-Interaktion im Grunde nur auf eine Sache ankommt, ändert sich nichts: Es geht immer um Beziehung. Obgleich sich das Verhältnis natürlich verändert, weil die Pubertät vor allem ein Ablösungsprozess vom Elternhaus ist und eine zunehmende Orientierung an der Gleichaltrigengruppe mit sich zieht, bleibt die Beziehung zu den Eltern essenziell. Und das wirft Fragen auf, denen wir uns vor allem im zweiten Kapitel des Buches widmen werden: Wie können wir Beziehungsorientierung mit Jugendlichen leben? Wie können wir Bindung auch im Teenie-Alter fördern? Wie können wir gut in Verbindung und Kontakt bleiben? Wie können wir die Kommunikation altersgerecht und bindungsorientiert gestalten? Wie viel Nähe braucht ein Kind in der Pubertät? Wie viel Autonomie ist angemessen? Wie viel Mitbestimmung, wie viel Freiheit und wie viel elterliche Führung brauchen unsere Kinder in diesem Alter? Und welche Entwicklungsaufgaben und Bedürfnisse haben sie darüber hinaus?
Viele Eltern sind verunsichert von den Bedürfnissen ihrer jugendlichen Kinder. Zumindest wissen sie ihr Verhalten nicht immer richtig zu deuten. Sie bekommen während der Pubertät ihrer Kinder plötzlich das Gefühl, dass sie in den ersten Erziehungsjahren vieles falsch gemacht haben. Die vermeintliche Rebellion des »Pubertieres« scheint der Beweis dafür zu sein, dass die bisherige Erziehung ins Leere gelaufen ist. Also schalten sie den Turbogang ein und versuchen sich an einer Art »Last-Minute-Erziehung«. In der Regel ohne Erfolg – denn unsere jugendlichen Kinder streben mehr denn je nach Eigenständigkeit.
Im dritten Kapitel des Buches wird es daher darum gehen, wie wir unsere Kinder dabei unterstützen können, ihre Flügel auszubreiten. Es wird darum gehen, sie fliegen zu lassen. Dabei stolpern fast alle Eltern über typische Themen, weshalb wir uns im vierten Kapitel nicht nur den Umgang mit Medien anschauen werden, sondern auch über Sexualität und Schule sprechen.
Nicht nur unsere Kinder müssen sich während der Pubertät neu finden, auch wir Eltern müssen das. Wir müssen hineinwachsen in unsere neue Rolle im Familiensystem und die damit verbundenen Aufgaben. Mein Wunsch ist es, dass dieses Buch Eltern dabei eine Hilfe ist. Eine Art Kompass, der eine Richtung zeigt, aber keinen Weg vorgibt.
Deshalb wirst du in diesem Buch auch keine Anleitung zur Lösung klassischer Konflikte oder rezeptähnliche Erziehungsmethoden finden. Denn es gibt nicht die eine Art und Weise, wie ihr Familie ab jetzt leben müsst, damit ihr alle gut durch die Pubertät kommt – es gibt so viele Wege wie Familien. Der Prozess, den ihr miteinander und gemeinsam gestaltet, ist viel wichtiger als das Ergebnis.
Die Verantwortung für diesen Prozess tragen aber nicht unsere Kinder, sondern wir Eltern. Und wir können uns diese Position sehr erleichtern, indem wir uns ein kleines bisschen auf das Abenteuer namens Pubertät vorbereiten. So wie wir es ja auch tun, wenn wir einen neuen Job beginnen, ein exotisches Hobby starten oder ein fremdes Land bereisen. Und tatsächlich ist die Pubertät einem fremden Land gar nicht so unähnlich: Andere Sitten, andere Bräuche und Traditionen, eine andere Sprache und Kultur, andere Kleidung, anderes Essen, andere Gerüche, anderes Klima und manchmal sogar eine andere Zeitzone.
Viele Eltern haben Angst vor diesem unbekannten Terrain. Was unter anderem daran liegen könnte, dass sie noch genau wissen, wie sie selbst als Teenager waren. Das Image der Pubertät ist schlecht, und tatsächlich ist es ein Alter voller Vulnerabilität. Jugendliche sind anfällig für so ziemlich alles, was Eltern Schnappatmung kriegen lässt: Kriminalität, Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Mediensucht, ungewollte Schwangerschaft, Schulabbruch, psychische Erkrankungen etc. Was wir dabei oft vergessen: Die Mehrheit der Jugendlichen entwickelt sich ohne diese Extreme, wohingegen kleine Fehltritte und Experimente einfach zum Erwachsenwerden dazugehören.
Was Eltern außerdem fürchten, ist der Verlust von Kontrolle und Bedeutsamkeit. So viele Jahre standen sie im Zentrum des Lebens ihrer Kinder, und nun sollen sie loslassen. Aber wer lässt schon gern los, was er weiterhin lieben und schützen will? Punkt drei auf der Pubertäts-Angst-Hitlist: die gegenseitige Angleichung und Unabhängigkeit unserer Kinder.
All diese Ängste sind nachvollziehbar. Die Sache ist nur die: Selbst wenn wir es nicht wollen, werden wir eines schönen Morgens (oder Sonntagnachmittags am Kaffeetisch inmitten der lieben Familie) in Teenesien aufwachen. Es ist unausweichlich. Also sollten wir uns vorbereiten, indem wir verstehen …
… was in der Pubertät geschieht,… welche Bedürfnisse Jugendliche haben,… wie diese erfüllt werden können,… worin unsere Rolle dabei besteht… und was unsere Kinder dazu sagen.Letzteres hat für mich besonderen Wert, denn eins ist doch paradox: Zwar betonen viele Blogs und Bücher die Wichtigkeit der Mitbestimmung unserer Kinder, aber zu Wort kommen sie dort selten bis nie.
In den letzten Jahren hatte ich viele inspirierende Gespräche, die ich in dieses Buch einfließen lasse: Die meisten davon im Alltag mit Eltern und anderen Therapeut*innen und Expert*innen. Darüber hinaus habe ich mit mehreren tollen Persönlichkeiten, die fast alle selbst jugendliche Kinder haben, Interviews geführt und freue mich sehr darauf, sie in diesem Buch nun zu veröffentlichen: Familiencoachin und Musikerin Mira, Musiker Gabriel Kelly, Handball-Cheftrainer Florian Kehrmann, Sexpertin Birte Fulde und Bildungsaktivist Bob Blume. Mindestens genauso beeindruckend waren für mich die vielen Gespräche mit Jugendlichen, wie meinem Sohn (fünfzehn), meiner Tochter (zwölf), deren Freund*innen und meinen jugendlichen Klient*innen sowie Menschen, die bereits am Ende ihrer Adoleszenz angekommen waren – und einen ganz besonders »freshen« Blick auf die Zeit der Pubertät hatten, so wie Gabriel Kelly. Deshalb war für mich von Anfang an klar: Wenn ich ein Buch über die Pubertät schreibe, dann spreche ich nicht nur über Jugendliche, ich spreche auch mit ihnen und lasse diese Erkenntnisse hier ebenso einfließen wie die Wissenschaft.
Als erwachsene Leser dieses Buches haben wir alle eine Sache gemeinsam: Wir waren selbst einmal jugendlich und pubertierend. Viele Erfahrungen aus dieser Zeit haben wir vergessen oder weggeschoben, dabei sind unsere eigenen Erinnerungen die perfekte Brücke zwischen uns und unseren jugendlichen Kindern. Deswegen möchte ich dich im Folgenden zu einer Reise in deine Vergangenheit einladen.
Übung: Reise zurück
Schließe deine Augen und atme tief ein, während du dich auf die ruhige und entspannte Atmosphäre um dich herum konzentrierst. Nimm ein paar tiefe Atemzüge und blende für ein paar Minuten alles andere aus. Lass alle Anspannungen und Sorgen des Alltags los und öffne dich für deine Vergangenheit.
Stell dir nun vor, wie du dich frei durch die Zeit und dein Leben bewegst. Stell dir vor, du drehst die Zeit zurück, Jahr für Jahr, bis du in der Zeit deiner eigenen Pubertät ankommst. Erinnere dich zurück. Fühl dich ein. Spüre die Aufregung und die Unsicherheit, die dich begleiten, aber auch die unendlichen Möglichkeiten und das Gefühl von Abenteuer tief in dir.
Erinnere dich an all die kleinen Details deines Lebens in dieser Zeit. Die Geräusche, die Gerüche, die Gefühle. Erinnere dich an die Herausforderungen, die du erlebt hast, die Freuden, die Erfolge, die Träume und die Ängste. Was hast du damals über dich und die Welt gedacht? Mit wem warst du zusammen? Wer hat dich geprägt? Bei wem fühltest du dich geborgen?
Nun richte deine Aufmerksamkeit auf dein jüngeres Selbst. Sieh dich selbst in deinem Geist vor dir, wie du damals warst – mit all deinen Ecken und Kanten, deinen Stärken und Schwächen, deinen Hoffnungen und Träumen. Und wenn du magst, dann schicke deinem jüngeren Selbst Liebe, Mitgefühl und Verständnis. Frag dein jüngeres Selbst aber auch, was es sonst noch von dir braucht.
Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um in dieser Begegnung zu verweilen und dich mit deinem jüngeren Selbst zu verbinden. Fühle die Verbundenheit, den Trost und die Weisheit, die du hieraus schöpfen kannst. Lass alle Erinnerungen noch einmal lebendig werden.
Atme tief ein und spüre, wie sich dein Herz mit Dankbarkeit und Zufriedenheit füllt für die Reise, die du bisher gemacht hast, und für die unendlichen Möglichkeiten, die noch vor dir liegen. Kehre nun langsam in deine Gegenwart zurück – aber nimm das Gefühl gern mit. Es wird dir helfen, dein jugendliches Kind besser zu verstehen und zu begleiten.
Kapitel 1Wenn alles plötzlich anders ist
»Pubertät: Warum Jugendliche durchdrehen« lautet die Überschrift eines Artikels, der in meiner Ergebnisliste auftaucht, nachdem ich das Wort Pubertät gegoogelt habe. Ich verstehe, dass die Schlagzeile brisant ist und neugierig macht. Mir ist auch klar, dass viele Eltern (verständlicherweise) genau darauf eine Antwort suchen, weil sie das Verhalten ihrer Kinder tatsächlich so erleben. Die Sache ist nur die: Jugendliche drehen nicht durch. Sie werden nicht verrückt im pathologischen Sinne. Sondern: Sie verabschieden sich von ihrer Kindheit.
Mit diesem Abschied sind unzählige physische und psychische Veränderungen verbunden, mit denen unsere Kinder nicht selten selbst völlig überfordert sind. Diese Veränderungen kommen, ohne zu fragen, sind aber weitestgehend für jeden sichtbar. Das Ausmaß an Unwohlsein und Scham, was damit einhergehen kann, scheinen ehemalige Pubertierende mit der Zeit leider zu vergessen. Anders kann ich mir zumindest nicht erklären, dass der Umgang mit diesen Veränderungen in Familien und Schulen oft so unsensibel ist. Manchmal sind diese Veränderungen furchtbar lästig, manchmal sehnlichst herbeigewünscht, um endlich auch dazuzugehören. Und so habe ich es leider schon oft erlebt, dass Jugendliche für ihren einsetzenden Stimmbruch, ihre unreine Haut oder ihr einsetzendes (oder ausbleibendes) Brustwachstum belächelt oder verspottet wurden. Ich habe nichts gegen Humor – im Gegenteil, er kann auch in Zeiten der Pubertät herrlich entwaffnend und verbindend sein –, aber Spott und Humor sind zwei Paar Schuhe.
Im Durchschnitt beginnt die Pubertät bei Mädchen im Alter von etwa elf Jahren und bei Jungen im Alter von dreizehn Jahren – und ja, damit sind die Jugendlichen heute früher dran als ihre Vorfahren. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bekamen Mädchen ihre erste Regelblutung (Menarche) noch mit ungefähr siebzehn Jahren. Und dieser sogenannte säkulare Trend scheint sich weiter fortzusetzen. Eine dänische Studie von 2018 zeigt, dass das Eintrittsalter in die Pubertät bei beiden Geschlechtern immer weiter sinkt. Verglichen haben die Forscher unter anderem das Einsetzen der Regelblutung bei Müttern und ihren Töchtern. Sie stellten fest, dass Mütter zu ihrer Zeit ungefähr vier Monate älter waren als ihre Töchter – und das nur innerhalb einer Generation. Auch bei den Jungen konnte ein früheres Einsetzen der Pubertät beobachtet werden.
Vergleicht man die Ergebnisse zweier Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Jugendsexualität aus den Jahren 1980 und 2022, so wird deutlich, dass der Anteil der Jungen, die vor ihrem dreizehnten Geburtstag ihren ersten Samenerguss haben, innerhalb dieses Zeitraumes von 7 auf 36 Prozent gestiegen ist.1 Zudem kommen Jungen heute bereits mit zwölf oder dreizehn Jahren in den Stimmbruch.
Dass die Pubertät bei Kindern immer früher einsetzt, erklären Experten vor allem mit der Ernährung, mit Hygiene und einem besseren Gesundheitsstatus im Allgemeinen. Aber auch die Rolle von psychischem Stress, Chemikalien und Hormonen wird diskutiert und erforscht.
Eine britische Langzeitstudie belegte beispielsweise einen direkten Zusammenhang zwischen der vorzeitigen Geschlechtsreife und einem hohen Fleischkonsum – insbesondere bei Mädchen. Dies liegt zum einem an dem erhöhten Proteinverzehr und zum anderen an Nährstoffen wie Eisen und Zink, die dem Körper die Bereitschaft für eine Schwangerschaft signalisieren. Was allerdings nicht bedeutet, dass deswegen auch mehr Mädchen ungewollt schwanger werden. Das Risiko ist in Deutschland im internationalen Vergleich nicht nur gering, sondern seit der letzten Jahrtausendwende auch rückläufig.2 Das gesundheitliche Risiko einer solch verfrüht einsetzenden Geschlechtsreife liegt daher vielmehr in der erhöhten Anfälligkeit für Herzerkrankungen, Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes sowie Brust- und Eierstockkrebs bei Mädchen und Hodenkrebs bei Jungen.3
Außerdem haben früh pubertierende Jungen und Mädchen häufiger Kontakt zu älteren Peers, weshalb einige von ihnen früher Alkohol und/oder Drogen konsumieren und eher straffällig werden. Vor allem Mädchen zeigen darüber hinaus auch noch andere, weniger deutliche Symptome, die sich in negativer Stimmung, Selbstwertproblemen und einem negativen Körperbild äußern können. Bei Jungen hingegen sind genau diese Symptome oft das Ergebnis einer verspätet einsetzenden Pubertät.
Nun können wir uns natürlich nicht aussuchen, wann unsere Kinder in die Pubertät kommen – aber sobald wir uns dieser Risiken bewusst sind, haben wir die Möglichkeit, unsere Kinder bei der Bewältigung ihrer Sorgen zu unterstützen. Ein erster wichtiger Schritt ist die Anerkennung und Würdigung der Verwirrung und Verletzlichkeit, die ein Jugendlicher angesichts seiner einsetzenden Pubertät verspüren kann.
Mal abgesehen davon, dass sich der Zeitpunkt des Einsetzens der Pubertät in den letzten Jahrzehnten verfrüht hat und weiterhin verfrüht, hat sich aber nicht viel verändert. Auch damals hagelte es schon Beschwerden über die unvernünftige und aufmüpfige »Jugend von heute«, und auch damals waren dieselben physischen und psychischen Veränderungen für diese Einschätzung verantwortlich. Ein zeitloser Klassiker also.
Körperliche Veränderungen
Den Startschuss für die Pubertät gibt ein Botenstoff namens Neurokinin B. Er löst eine ganze Kaskade von Veränderungen aus, die man treffend als Hormon-Domino bezeichnen könnte. Er wird vor allem in den Nervenzellen des Hypothalamus gebildet und regt dort in Folge die Bildung von GnRH an. Dieses Hormon sorgt wiederum für die Freisetzung von Hormonen in der Hypophyse, was schlussendlich dazu führt, dass in den Hoden beziehungsweise Eierstöcken unserer jugendlichen Kinder die Sexualhormone Testosteron und Östrogen gebildet werden. Durch die hormonellen Umstellungen beginnen sich die primären Geschlechtsmerkmale (Vulva, Vagina, Ovarien, Uterus, Hoden, Nebenhoden, Samenwege und Penis) und die sekundären Geschlechtsmerkmale (Brüste, Bart, Körperbehaarung, Muskeln, Stimme) zu verändern. Zudem verändern sich Proportionen und Körperformen, weg vom kindlichen Körper, hin zu Kurven und Polstern. Es gibt Teenies, die diese Veränderung herbeisehnen und sich darauf freuen, rein körperlich zur Frau oder zum Mann heranzureifen. Es kommt aber auch vor, dass Jugendliche sich für diese unkontrollierbaren Veränderungen schämen oder sich in ihren »neuen« Körpern unwohl fühlen. Die Veränderungen während der Pubertät können sich zum Leidwesen vieler Teenager auch durch fettiger werdende Haut und Pickel zeigen – in manchen Fällen bis hin zur Akne.
Darüber hinaus werden während der Pubertät auch Drüsen aktiv, die dafür sorgen, dass man stärker schwitzt und anders riecht – anders bedeutet in diesem Fall aber nicht unbedingt besser. Plötzlich sind also auch die Anforderungen an die eigene Körperhygiene neu, und hierbei dürfen wir unsere Kinder durchaus unterstützen. Natürlich ist Körperhygiene gewissermaßen Privatsache, und wir können und sollten niemanden zum Duschen zwingen. Allerdings sollten wir bedenken, dass sich unsere Kinder vielleicht gar nicht darüber bewusst sind, dass man sie im Dunkeln auch mit einem Stinktier verwechseln könnte und dass das eigene Zimmer an eine Mischung aus Gehege im Zoo, Sporthallenumkleidekabine, Kompost und Parfümerie erinnert. Wenn wir unsere Kinder nicht liebevoll darauf aufmerksam machen, dann werden es andere tun – und das wird ihnen wesentlich unangenehmer sein. Ich habe mir von meinen Kindern zunächst die Erlaubnis abgeholt, indem ich sie fragte: Möchtet ihr, dass ich es euch sage, wenn ich den Eindruck habe, dass die Dusche euch gern wiedersehen würde? (Ja, ist okay!)