Xabi Campeón - Tim Stegmann - E-Book

Xabi Campeón E-Book

Tim Stegmann

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Beschreibung

Das Buch "Xabi Campeón" handelt von Xabi Alonsos Spielidee, der Entwicklung dieser Idee (von seiner Zeit bei der zweiten Mannschaft von Real Sociedad San Sebastián bis jetzt bei Bayer 04 Leverkusen) und vor allem von der Reise der Mannschaft von Bayer Leverkusen seit Xabis Ankunft und ihrem Weg zum ersten Mal in der Geschichte Deutscher Meister zu werden. Darüber hinaus geht es in diesem Buch nicht nur um Xabi; es ist ein Buch über Fußballtaktik, das vor allem die spanische (oder besser gesagt: "Barca"-) Perspektive auf den Fußball vermittelt, da sie im spanischen und im Welt-Fußball eine so einflussreiche Idee ist. Aus diesem Grund ist das Buch auch ein Werk zur grundlegenden Erklärung der Taktik aus dieser Perspektive. Das Buch beinhaltet: - Erläuterung des Ausdrucks "Spielmodell" / "Spielidee" unter dem Gesichtspunkt der Komplexität. - Erklärung der allgemeinen Ausdrücke und Intentionen innerhalb der spanischen Perspektive auf Fußball - Erklärung des Konzeptes des Positionsspiels - Analyse der allgemeinen Konzepte von Xabi Alonso bei Real Sociedad San Sebastián - Einblick in die Arbeitsweise der Jugendakademie von Real Sociedad San Sebastián - Analyse der Konzepte und Entwicklungen seit der Ankunft von Xabi Alonso in seiner ersten Saison - Erklärung des Konzeptes der Phasenräume - Analyse und Kontextualisierung jedes Spieles der Meistersaison - Erläuterung das Konzept der "geteilten Intentionen" - Ausblick auf die mögliche Entwicklung der Mannschaft von Bayer Leverkusen in der Zukunft - Datenanalyse und Positionsprofile - Erläuterungen der Absichten und Überlegungen zum Coaching - praktische Vorschläge für Trainingskontexte

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Für Mi,

Samuel Quique,

Isaiah João.

Kraft,

Inspiration

und Zuhause.

Danke für Alles.

„Wenn wir mit allen Sinnen auf den gegenwärtigen Moment blicken, laden wir die Welt ein, uns mit Freude zu erfüllen. Die Schmerzen der Vergangenheit liegen hinter uns. Die Zukunft muss sich erst noch entfalten. Aber das Jetzt ist voller Schönheit und wartet nur auf unsere Aufmerksamkeit.“

TARA BRACH

„Jede Mannschaft braucht einen Basken.“

JOHAN CRUYFF

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Exkurs: Was ist ein Spielmodell?

Ein taktisches Wörterbuch – Grundverständnis

Ein typisches spanisches Element – das Positionsspiel

Lehrjahre in der Heimat: Alonsos Zeit bei Real Sociedad San Sebastián

Exkurs: So arbeitet die Akademie von Real Sociedad

Ein pragmatischer Start

Exkurs: Phasenräume.

Der Meistermacher.

Exkurs: Geteilte Intentionen

Positionsprofile des Spielmodells

Ausblick

Trainingsvorschläge

Trainingsformen

Danke

Literaturverzeichnis

Prolog

Am 05.10.2022 sollte sich die Fußballwelt in Deutschland nachhaltig verändern: Xabi Alonso wurde als neuer Trainer von Bayer 04 Leverkusen ausgewählt und einen Tag später auf der Pressekonferenz vor dem 9. Spieltag gegen Schalke 04 vorgestellt. Bereits ein knappes Jahr zuvor hatte es Gerüchte um einen Wechsel nach Deutschland zu Borussia Mönchengladbach gegeben – nun entschied sich der Baske tatsächlich für seine erste Trainererfahrung in Deutschlands höchster Spielklasse. Dass Xabi Alonso nach einer sehr erfolgreichen Spielerlaufbahn nun auch als Trainer Geschichte schreiben würde, daran hatte insbesondere José Mourinho, sein ehemaliger Trainer bei Real Madrid, bereits im Jahr 2019 wenige Zweifel: „Sein Vater war ein Trainer, er ist ähnlich aufgewachsen wie ich. Dann wurde er Spieler – natürlich viel besser als ich.“ 1 Xabi habe ein herausragendes Stellungsspiel und Wissen über das Spiel und wurde von den besten Trainern seiner Zeit trainiert, sodass Mourinho schlussfolgerte: „Wenn man all das zusammennimmt, hat Xabi die besten Voraussetzungen, ein sehr guter Trainer zu sein!“ 2 Mit dieser Einschätzung war der Portugiese nicht alleine: Auch Carlo Ancelotti sagte: „Wenn ich damals auf einen Spieler gewettet hätte, der Trainer werden würde, wäre es ohne Zweifel Xabi gewesen. Einer, der im Mittelfeld gespielt hat, hat auf der Bank mehr Vorteile. Ein Mittelfeldspieler (…) muss Qualität haben, taktisch klug sein, das Spiel gut im Blick haben… Und Xabi Alonso war einer der besten Mittelfeldspieler, die ich je hatte, sehr intelligent, mit fantastischen Füßen und außerordentlicher Professionalität“.3

Für mich, der ich seit 2021 viel Zeit in Spanien, und dabei insbesondere in Barcelona und Madrid verbracht hatte, war klar, dass hier wahrscheinlich ein neues Trainerniveau in die Bundesliga kommen würde. Bereits nach den ersten Gerüchten über einen Wechsel nach Deutschland im Frühling 2021 hatte ich mich näher mit dem Trainer Xabi Alonso auseinandergesetzt. Zu jener Zeit war Alonso Trainer der zweiten Mannschaft seines Heimatvereins Real Sociedad San Sebastián und sammelte seine ersten „Profi-Erfahrungen“ als Trainer. Schnell schaffte der junge Trainer Xabi Alonso mit seiner Mannschaft Besonderes: In der Saison 2021/2022 war Sanse, wie die zweite Mannschaft von Real Sociedad San Sebastián genannt wird, die einzige Zweitvertretung in LaLiga2, der zweiten spanischen Liga. Für mich stand fest: Ich wollte nicht nur per Video Tore und Spielstil dieser Mannschaft analysieren, sondern unbedingt auch ein Spiel live erleben. So kam es, dass sich in der Zeit meines Masters in Madrid und meines Praktikums in der Nachwuchsakademie der Königlichen ein Zeitfenster für einen Besuch des Zweitliga-Spiels zwischen Fuenlabrada (einem Vorort von Madrid) und Sanse ergab. Am 07.05.2022 saß ich also mit einem Freund aus meinem Studiengang im Regionalzug von Madrid nach Fuenlabrada, um bei besten Sonnenschein am Nachmittag ein Duell aus dem Tabellenkeller (21. gegen 19.) von LaLiga2 anzuschauen. Alonsos Team zeigte von Beginn an viel Energie, Dynamik und Leidenschaft, aber auch, warum es bis dahin noch nicht soviel Punkte geholt hatte: Wie bei vielen zweiten Mannschaften spielten die Themen Erfahrung, Reife (man würde von „Abgezocktheit“ sprechen) und Effizienz eine große Rolle. Fast schien es, dass sich Xabi Alonsos Truppe, die noch realistische Chancen auf den Klassenerhalt hatte, (erneut) nicht für ein gutes Spiel belohnen würde, denn zur Halbzeit stand es 1:0 für die Hausherren aus Fuenlabrada, auch wenn diese bis dato nicht viel zum Spiel beigetragen hatten. In der zweiten Halbzeit schaffte Sanse schließlich den Ausgleich – doch es war klar, dass Real Sociedad einen Sieg brauchen würde, um noch eine realistische Chance auf den Klassenerhalt zu wahren. Noch lange bevor der Mythos von „Laterkusen“ geboren werden sollte, schaffte das Team von Xabi Alonso mit viel Herz und immer stärkerem Druck in der 95. Minute den vielumjubelten Siegtreffer. Tatsächlich war es dieser Moment, den ich per Foto (siehe Kapitelbild) festgehalten hatte, in dem die ganze Energie und alle Freude in den Jubel mündet, doch noch für den Aufwand und das gute, pro-aktive Spiel belohnt zu werden.

Als nun also Anfang Oktober 2022 Xabi Alonso als neuer Trainer bei Bayer Leverkusen vorgestellt wurde, war mein Interesse und meine Neugier erneut geweckt. Mich interessierte, wie wohl ein spanischer Trainer, der so viele herausragende Coaches in seiner Spielerkarriere kennengelernt hatte, die Bundesliga außerhalb des Kontexts von Bayern München bereichern würde. Wenn ich beispielsweise über Pep Guardiola mit einigen spanischen Trainerkollegen sprach, hieß es relativ schnell: „Ja, aber du musst auch sehen: Pep hatte immer gute Spieler. Jetzt bei City hat er sogar die besten…“. Auch wenn keiner meiner Gesprächspartner die Leistungen und insbesondere die Trainerqualität des herausragenden Katalanen mindern wollte, schwang doch immer ein gewisser Zweifel mit, ob wohl eine ähnliche Leistung auch mit anderen Spielern möglich gewesen wäre. Nun kam also ein Trainer, der unter anderem von jenem Guardiola stark geprägt wurde, in die Bundesliga und übernahm eine Mannschaft, die zu diesem Zeitpunkt alles andere als gut dastand. Von diesem Moment an verfolgte ich die Spiele zunehmend mit größerer Intensität und Aufmerksamkeit – ein Interesse, dessen Erkenntnisse nun in dieses Buch einfließen. Dabei geht es keinesfalls darum, Xabi Alonso als Trainer zu erklären oder die einzelnen Einflüsse der vielen erfolgreichen Coaches seiner Karriere (angefangen von seinem Vater Periko Alonso, über Rafael Benítez, José Mourinho, Pep Guardiola, Carlo Ancelotti) herauszufiltern. Vielmehr geht es darum, taktische Konzepte und Details, die seine Mannschaft beherrscht und die ich durch meine Master und Besuche, meinen Austausch und Gespräche mit dutzenden spanischen Coaches kennengelernt und vertieft habe, aus meiner Sicht zu erklären, da diese nicht nur einen hohen Wiedererkennungswert innerhalb des spanischen Fußballs haben, sondern auch für jeden anderen Trainer als Inspirationsquelle dienen können. Gleichzeitig stützen sich viele Dinge auf jene Perspektiven, die nicht nur den spanischen Fußball in erheblichem Maße, sondern auch den Weltfußball geprägt haben: Die Rede ist natürlich von der Methodik, der Sichtweise und Interpretation des Spiels durch den FC Barcelona.

Es geht also zu keinem Zeitpunkt um den gesamten „Wahrheitsanspruch“ in der Analyse (sofern es diesen im Fußball, noch dazu aus der externen Perspektive, geben kann), sondern um eine Bereicherung hinsichtlich unseres Verständnisses von Taktik und gemeinsam geteilter Intentionen, um unseren Mannschaften und unseren Spielern auf ein noch höheres Level zu verhelfen und Trainern eine neue Perspektive auf Fußball zu bieten. Nicht immer ist der Anspruch, dass die gezeigten Situationen eine Fülle an zuvor unbekannten Informationen aufdecken, noch mit maximal innovativem neuen Wissen aufwarten. Vielmehr liegt oftmals in stabilen Details, den heutzutage überstrapaziert als „Basics“ bezeichneten Fähigkeiten, einfache grundlegende Dinge erfolgsstabil und gut auszuführen, ein Qualitätsmerkmal, was in jedem Spiel den Unterschied machen kann.

Alle analysierten Situationen sind von den Spielern selbst herausragend gut interpretiert und umgesetzt worden; nach ihrem Gefühl passend zur entsprechenden Spielsituation. Doch wie bei allen Dingen, die „interpretiert“ werden, handelt es sich um vorhandene Konzepte oder Ideen, die, gepaart mit einem besonderen Talent (wie bei allen Spielern im Leverkusen-Kader) oder sogar einer konkreten Genialität (man denke an Florian Wirtz oder u. a. die Freistoß-Fähigkeiten eines Grimaldo) zu etwas Wunderbarem werden können und für besondere Momente im Fußball sorgen. Einige der Konzepte oder taktischen Situationen mögen für den Betrachter neu sein, andere „ein alter Schuh“. All dies zeigt nur, dass diese so erfolgreiche Leverkusener Mannschaft die gesamte Palette herausragender Verhaltensweisen auf dem Platz abdecken kann – und wie immer, bei diesem Spiel, bei dem der Zufall eine große Rolle spielt – in der Saison 2023/2024 auch auf das notwendige Spielglück zählen konnte (bzw. sich dieses hart verdiente).

Wenn wir die prägenden Stationen in Alonsos Karriere betrachten, so finden wir im Prinzip vier Säulen: Das Aufwachsen und die Entwicklung in San Sebastián, mit allem, was es heißt, Baske zu sein und für diesen Klub zu spielen; die methodische Besessenheit eines Rafael Benítez, die Verpflichtung zu gewinnen mit einem charismatischen Coach wie José Mourinho und – im Herbst seiner Karriere – den größten Vertreter des Positionsspiels der heutigen Zeit, Pep Guardiola in München (ergänzt durch den souveränen Führungsstil Carlo Ancelottis, wobei man diesen keineswegs nur auf seine Führungsqualitäten „reduzieren“ sollte). Daher ist es für das Verständnis von Alonsos Fußball essentiell, sowohl die grundsätzlich spanische Perspektive auf das Spiel, als auch insbesondere das Verständnis von Fußball und die Methodik des FC Barcelona zu berücksichtigen und sich mit dieser auseinander zu setzen, da diese wie keine zweite, die Spiel- und Trainingsmethodik in Spanien, den Spielstil der spanischen Nationalmannschaft und in der Folge auch die Herangehensweise an Fußball in der Welt geprägt hat. Hier geht es also um die Ursprünge und die konkreten Konzepte, die, wie bereits erwähnt, im spanischen (wie auch im Weltfußball) wiederkehrend sind, auch wenn diese möglicherweise unterschiedlich ausgedrückt werden. Dabei hilft uns, dass das Spanische eine sehr lebendige Sprache ist, in der es bereits möglich ist, nur durch die Wahl eines Wortes oder einer Bezeichnung eine bestimmte Intention oder ein Gefühl mitzutransportieren.

Ein besonders gutes Beispiel dafür ist mittlerweile die Vielzahl sprechender Wörter, die für das Wort „passen“ im Fußball in der spanischen Sprache verwendet werden:

jugar

spielen

„hacer“ un pase

einen Pass „machen“

„dar“ un pase

einen Pass „geben“

conectar

verbinden

entregar

zustellen (wie die Post), um sicherzugehen, dass der Ball ankommt (in den besten Konditionen)

asociar

verbinden / vereinen

relacionar (!)

verbinden / in Beziehung mit jemandem treten

interrelacionar

miteinander verbinden (stärkere Betonung auf das MITEINANDER)

comunicar

mitteilen / kommunizieren / übermitteln

interaccionar

interagieren

enlazar ventaja

mit dem Vorteil verbinden / mit dem Vorteil verknüpfen

(enlazarse heißt heiraten)

encadenar

verbinden / zusammenschließen

Spezifischer:

filtrar

„filtrieren“ – im übertragenden Sinne der Schnittstellenpass

limpiar

„säubern“ – im übertragenden Sinne „Klärung“ als Defensiv-Aktion

1 Mourinho zit. n. Bundesliga online 2024.

2 Ebd.

3 Ancelotti zit. n. Romero 2021.

Der Pass im spanischen Fußball

Das Besondere an nahezu all diesen Ausdrücken ist, das jeder Einzelne bereits eine Intention und ein Bild auszudrücken vermag, und dass jeder einzelne Ausdruck dahingehend eine (spieltaktische) Aufforderung zur Interaktion bildet. Wenn man im Deutschen das Verb „passen“ betrachtet, liegt im Grunde auch im Wortstamm versteckt die Grundidee, diesen „Pass“ auch „passend“ zu machen – der tiefere, sozio-affektive (verbindende, gemeinschaftstiftende) Sinn der Aktion bleibt jedoch im Verborgenen. Neben dem einfachen „spielen“ und dem kreierenden „machen“, ist bereits im Wort „geben“ die Grundidee impliziert, dass der Pass ein Geschenk sein soll, über das sich der Mitspieler freut. Wenn wir uns unter diesem Gesichtspunkt gespielte Pässe anschauen, gibt es bei manchen Teams nur wenige Geschenke zwischen Mitspielern. Alle weiteren Begriffe, die nicht bereits eine spezifische Aktion im Sinne der konkreten Handlung ausdrücken (wie der Schnittstellenpass, der die gegnerischen Linien „filtriert“), sind klare, verbindende, zur Interaktion und Vernetzung auffordernde Begriffe, die in der Folge ganz automatisch zu einer Synchronität verschmelzen, die es der Mannschaft erlaubt, nach denselben Gedanken und Intentionen zu spielen.

Daher ist insbesondere im spanischen Fußball (wobei dieser Gedanke fußballhistorisch sicher nicht nur auf Spanien zu begrenzen ist, sondern – wie viele weitere dieser Ideen – auch einen Ursprung in den Niederlanden hat) der Pass das Mittel, mit dem sich zwei oder mehrere Personen miteinander verbinden, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Der Pass ist die Synthese des kollektiven Spiels. Der Pass ist mehr als eine bloße technische Handlung: Er ist die Grundlage und die ultimative Spiegelung des kollektiven und assoziativen Spiels eines jeden Mannschaftsports. Dementsprechend wird der Pass auch als „Teilen des Balles unter Teamkollegen“ verstanden, durch den wir miteinander kommunizieren können und der uns die Emotion und das Vergnügen gibt, das Spiel durch den Ballbesitz zu dominieren. Die Verbindung zwischen den Spielern, die durch den Pass hergestellt wird, erfordert von beiden, dass sie sich an die Eigenschaften ihres Teamkollegen anpassen. Je mehr sich die Spieler im Team untereinander kennen, desto besser wird ihre Kommunikation durch Passspiel. Im Extremen können alle technischen Handlungen im Fußball als Pass verstanden werden: Als Pass zu sich selbst (Dribbling), als Pass zum Mitspieler, als Pass ins Netz (Abschluss). Alle variablen Bestandteile des Spiels sind in der Gesamtorganisation der Mannschaft zusammengefasst, deren Bezugspunkte der Ball und der Pass sind. Dabei geht es nicht darum, um des Passes willen einen Pass zu spielen. Pässe haben einen Zweck: Gegner eliminieren. Wenn das nicht möglich ist, behalten wir den Ball, dribbeln mit ihm und suchen Gegner, die uns angreifen, damit wir einen Pass spielen können.4

Der Pass ist die systematische, konstante und absichtliche Wiederholung von Interaktion zwischen allen Teammitgliedern, bei der der Ball verwendet wird, um das Team selbst zu organisieren, die gegnerische Mannschaft zu desorganisieren und das endgültige Ziel zu erreichen: Das Tor!

„Mit anderen Worten, wenn du einen Pass spielst bzw. den Ball abgibst, gibst du nicht nur den Ball, du gibst eine Absicht (Intention), du gibst Raum, du gibst Zeit, du gibst Energie, du gibst Freude, du gibst Vertrauen, Worte, die ein Team wirklich zu einem Team machen.“5

PACO SEIRUL·LO

„Wenn ich einen Pass mache, ist es mein Ziel, dass [mein Teamkollege] den bestmöglichen Weg hat, mit dem rechten oder linken Fuß, um einen Vorteil zu haben. (…) Natürlich muss [mein Teamkollege] in der richtigen Position sein. Das ist seine Aufgabe. Aber wenn ich zum Beispiel nach links passe, hat er vielleicht mehr Probleme, sich zu drehen, also passe ich auf seinen rechten Fuß. Das ist meine Idee: einen Pass zu spielen, der einen Vorteil bringt, und nicht, um ein Problem zu schaffen.“6

XABI ALONSO

Auf der Vorstellungspressekonferenz an jenem 06.10.2022 also hatte niemand den Eindruck, dass es sich um den Trainerwechsel bei einer Mannschaft im Abstiegsstrudel handelte. Vielmehr sprach Xabi Alonso direkt zu Beginn von der großen „Ehre“ bei diesem Verein zu sein und den großen Zielen, die der Klub habe. Keines seiner Worte wirkte künstlich oder gestellt – hier kam jemand mit großen Ambitionen und sprach diese klar an. Dennoch mochte es irritierend wirken, wenn man sich die Tabellenkonstellation vor Augen hielt: Bayer Leverkusen lag mit fünf Punkten aus acht Spielen auf dem vorletzten Tabellenplatz. Für die deutschen Medien war es allerdings direkt ein „gefundenes Fressen“, dass hier ein Trainer vorgestellt wurde, dem das deutsche Wort „Abstiegskampf“ gänzlich unbekannt war und der auch für Zweifel wenig Raum ließ: „Wenn du dich nicht traust, ins Risiko zu gehen, wirst du nichts erreichen. Im Leben ist nichts sicher und noch weniger im Fußball. Wenn du es nicht versuchst, wirst du es nie erreichen. Ich bin hier glücklich und voller Motivation, weil ich daran glaube, dass wir große Dinge erreichen können.“ 7 Die Energie, die Zuversicht und auch die Vorfreude, die dieser Trainer bei seiner Vorstellung versprühte, war in jedem Fall ansteckend und bildete einen starken Kontrast zur momentanen Tabellensituation. Eine Fügung des Fußballs war es schließlich, dass der Start – wie auch bei seinem Bundesliga-Debüt als Spieler – erneut gegen Schalke 04 erfolgte, wenngleich das Debüt als Trainer weitaus erfolgreicher laufen sollte (als Spieler lautete das Ergebnis 1:1).

4 Fernandez 2012.

5 Seirul·lo in Guasch 2024.

6 Alonso in Sports Illustrated 2016.

7 Alonso 2022 (Aufzeichnung erste Pressekonferenz); sowie Cáceres 2022.

Exkurs: Was ist ein Spielmodell?

„Das Spielmodell wird durch den Kontext bestimmt, indem Spieler, Trainer, Vereinsideologie und Umfeld ständig miteinander interagieren.“8

DANIEL GUINDOS

„Fußball ist ein kommunikatives und soziales Spiel. Es wird daher nicht empfohlen, den Spieler aus dem Kontext, der seine Leistung beeinträchtigt, zu entfernen, da die Funktionen jedes Spielers von einer gemeinsamen Funktion abhängen und das Ergebnis einer ständigen Interaktion sind.“9

ÓSCAR CANO

Um sich der Idee von Xabi Alonso zu nähern und auch, um selbst als Coach einen Zugang zum Thema der Spielidee zu bekommen, möchte ich im nachstehenden Abschnitt einen Einblick in das Thema des „Spielmodells“ geben. Dies liegt daran, dass der Begriff „Spielmodell“ oft sehr abstrakt und nur eindimensional verwendet wird, dabei aber wesentliche Elemente und Bestandteile vergessen werden, die der Coach bei der Entwicklung dessen beachten sollte und diese theoretische Grundlage das Verständnis des Folgenden vereinfacht. Auch wenn auf den kommenden Seiten der Begriff des Spielmodells mit all seinen Facetten näher beleuchtet wird, sollten wir als Trainer sicherstellen die folgenden Dinge nicht zu vergessen: „Das Spiel wird von den Spielern gespielt. (…) Es geht nicht nur um das Spiel; es geht um Menschen.“10 Die folgende theoretische Grundlage dient also eher dazu, dem Trainer dabei zu helfen, das Spiel seiner Mannschaft zu vereinfachen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das eigene Coaching-Verständnis, das Juanma Lillo, derzeitiger Co-Trainer von Pep Guardiola, vor langer Zeit für sich so definiert hat: „Ich möchte es den Spielern erleichtern, ein Bewusstsein dafür zu erlangen, was sie sind und was sie tun. (…) Es geht um alles. Nichts kann dekontextualisiert werden. Wie man lebt, was man ist, welche Bedeutung man den Beziehungen, dem Verhalten, der Interaktion beimisst... All das wirkt sich darauf aus, wie eine Mannschaft spielt.“ 11

Für das grundsätzliche Verständnis dieses Buches sind zwei Dinge elementar: Zum einen ist vollkommen klar, dass es in einer umstandsbedingten, chaotischen und unvorhersehbaren Sportart wie Fußball nicht die eine, unumstößliche, einzig wahre Ansicht oder Wahrheit gibt. Dies gilt ebenso für die Auswahl der Stilmittel, die jede Mannschaft auswählt. Deshalb lässt sich auch nicht objektiv sagen, was ein „besserer“ oder „schlechterer“ Fußball sei. Jeder Coach wählt die Art aus, mit der er oder sie glaubt, am meisten Erfolg zu haben und oft ist diese Herangehensweise abhängig von den eigenen Fähigkeiten und denen, die wir als Trainer unserer eigenen Mannschaft zutrauen. Daher geht es in diesem Buch auch nicht darum, eine bestimmte Art oder Interpretation von Fußball in ein besseres Licht zu rücken als eine andere. Denn eine Sache haben mir meine Recherchen und mein erneutes Anschauen der zahllosen Spiele einmal mehr gezeigt: Auch in einer direkteren Interpretation, wie sie phasenweise bei Union Berlin unter Urs Fischer zu sehen war oder etwa bei Union Saint-Gilloise aus Belgien mit ihrem damaligen Trainer Karel Geraerts; all diese Teams hatten eine sehr gute und klare Idee, gegen die es, wenn sie gut umgesetzt wurde, sehr schwierig ist zu spielen und als Gegner Lösungen zu finden.

Wenn in diesem Buch Fußball betrachtet wird, geschieht dies außerdem aus dem Blickwinkel und mit der Perspektive der Komplexität. Das bedeutet, dass die Dinge, die wir beobachten, oftmals komplexe Gründe haben und selten auf lineare, kausale Zusammenhänge zurückzuführen sind. Für Juanma Lillo ist dabei die Rolle des Trainers entscheidend: „Die Wissenschaft versucht, uns in Maschinen zu verwandeln. Was meine Arbeit [als Trainer] betrifft, so ist Einfühlungsvermögen entscheidend. Ein Mensch leistet in jeder Arbeitsumgebung in einer guten Atmosphäre mehr als in einer schlechten. Man muss den Spielern Dinge bewusst machen, die sie vielleicht nicht sehen können.“ 12 Im Fußball sind, aufgrund der großen Tradition des Sports, nach wie vor bestimmte, traditionelle Denkmuster fest verwurzelt, wie zum Beispiel der Glaube, mit Daten und Werten allein fußballerische Leistung zu messen. Häufig werden dann Laufdaten bemüht mit der Anzahl der Kilometer, die jedes Team abgespult hat oder aber die Anzahl der Antritte oder Sprints. Dabei wird oft genug vergessen, dass all diese Werte kontextualisiert, also umstandsbedingt, betrachtet werden müssen: Wer hat gegen wen gespielt? Wo? War es ein normales Ligaspiel oder ein Pokalspiel? In welcher Tabellenkonstellation trafen die Mannschaften aufeinander? Wie ist der Spielstil der beiden Mannschaften? In welchem Moment der Saison befinden wir uns? All diese Informationen beeinflussen die quantitativen Daten, die heutzutage beinahe in jedem Spiel der Profiligen erhoben werden. Daher lässt sich Leistung nicht auf einzelne, simple Elemente reduzieren, da dies eher dem Verständnis einer Maschine entspräche, bei der einzelne Teile, die nicht funktionieren, ausgetauscht werden können. Der spanische Trainer Juanma Lillo sagte dazu einmal, dass es beinahe so scheine, als ob das, was nicht quantifiziert werden könne, im Fußball auch nicht existiere.13 All dies führt in der Folge zu eher „roboterartigen“ Verhaltensweisen der Fußballspieler, die lediglich in begrenztem Maße agieren. Glücklicherweise zeigen uns die Besten dieses Sports nahezu Woche für Woche, dass Fußball auch anders funktionieren kann. Wie die italienische Trainerlegende Arrigo Sacchi anmerkte, wird Fußball „im Gehirn geboren und nicht im Körper“.14 Dies geht mit der Aufforderung an den Trainer einher, durch sein Training von variablen Inhalten die Plastizität des Gehirns zu stimulieren und dadurch für das Entstehen neuer Synapsen und Verbindungen im zentralen Nervensystem der Spieler zu sorgen. Wie das konkret aussehen könnte, damit werden wir uns im Kapitel der Trainingsvorschläge beschäftigen.

„Die Natur ist sehr komplex, aber die Gesetze, die sie leiten sind sehr einfach.“15

JUAN MARTÍN MALDACENA

Komplexe Systeme

Der französische Philosoph Edgar Morin definiert in seinem Buch „La mente bien ordenada“ (zu Deutsch in etwa: „Der gut sortierte Verstand“ ) ein System als etwas, was „durch eine Reihe von Elementen dargestellt [wird], die untereinander interagieren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen“.16 In seinem Buch „Complex Football“ führt der spanische Athletiktrainer Javier Mallo weiter aus: „Die Merkmale eines Systems hängen von der Art und Weise ab, wie die Komponenten konfiguriert sind, und weisen vier kategorische Eigenschaften auf: Interaktion, Gesamtheit, Komplexität und Organisation.“ 17 Die Eigenschaften eines Systems lassen sich dabei nicht durch die Betrachtung der einzelnen Teile erklären, da einerseits jede Veränderung dieser Komponenten Auswirkungen auf das Ganze hat, aber es auch auf die Verbindungen der einzelnen Teile zum gesamten Kontext ankommt.18 Ein Teil des Ganzen kann also nicht reduziert werden, um isoliert von der Gesamtheit, zu der es gehört, verstanden zu werden. An dieser Stelle können wir auf ein sehr praktisches Beispiel zurückgreifen: Ein Wissenschaftler, der etwas über die Funktionsweise des menschlichen Körpers erforschen möchte und sich zu diesem Zweck das menschliche Herz anschaut, kann, wenn er nur das Herz als einzelnes Organ aus dem Körper entnimmt, nur zu sehr rudimentären Schlussfolgerungen kommen: Er kann etwas über Form und Farbe sagen, über das Gewicht; was jedoch offen bleibt, ist, welche konkrete (und zentrale) Funktion dieses Organ im menschlichen Körper hat. Dies ist nur dann zu beobachten, wenn wir das Herz innerhalb des Körpers betrachten und uns die Funktionsweise, Prozesse und damit die Interaktion des Organs mit den anderen Organen anschauen. Es entstehen daher auch Eigenschaften, die diese Teile für sich genommen nicht haben, was Aristoteles schon vor langer Zeit mit dem Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ auf den Punkt brachte. Im Fußball äußert sich dies auf andere Weise, wie Juanma Lillo erklärt: „Es geht nicht nur darum, dass das, was mit einem Spieler funktioniert, nicht mit einem anderen funktioniert; es geht darum, dass das, was mit einem Spieler funktioniert, nicht mit demselben Spieler zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen funktioniert.“ 19 Die Professoren Natàlia Balagué und Carlota Torrents fassen die Eigenschaften von komplexen Systemen wie folgt zusammen:20

Unvorhersehbarkeit:

Das Verhalten eines komplexen Systems kann nicht über einen längeren Zeitraum vorherbestimmt werden.

Gesamtheit:

Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile.

Gegenseitige Abhängigkeit / Wechselbeziehungen:

Es existiert eine Interaktion zwischen allen Teilen.

Spontanes Erscheinen:

Die Interaktion aller Teile schafft eine neue Gesamtheit, die anders als die Summe aller Teile ist.

Zusätzlich nennen die ehemaligen Barca-Direktoren Isaac Guerrero und Xavier Damunt noch weitere Merkmale komplexer Systeme:21

Zusammenhängend:

Ein System konstituiert sich als solches in Bezug auf Unter- und Suprasysteme.

Nicht reduzierbar:

Ein System verliert trotz seiner Verwandtschaft nicht seine Einheit, Identität und Autonomie, da es eine spezifische innere Organisation besitzt.

Dynamisch:

Obwohl ein System entropisch zur Desorganisation neigt, d. h. sich auf seinen Tod und sein Verschwinden zubewegt, gelingt es ihm, sein inneres Gleichgewicht durch negentropische Prozesse (die Umkehrung des entropischen Prozesses, sodass aus Chaos wieder Ordnung wird) der Reorganisation und Anpassung zu erhalten.

Adaptiv:

Ein System reorganisiert sich unter Beibehaltung seiner inneren Organisation auf der Grundlage der Störungen, die auf es einwirken.

Veränderlich:

Da auftauchende Eigenschaften permanente Veränderungen verursachen, ist ein System nie absolut definiert oder angepasst.

Komplexe Systeme regulieren sich durch permanenten Austausch, Interaktion und entsprechendes, internes Feedback selbst, um im Gleichgewicht zu bleiben.22 Die spanischen Wissenschaftler Balagué und Torrents führen weiterhin aus, dass es weniger entscheidend sei, wie viel wir über die einzelne Komponenten lebender Organismen wissen; wenn wir nicht verstünden, wie sie interagieren und Beziehungen untereinander schaffen, lernten wir nichts über ihr Verhalten.23 Die portugiesische Trainerin Marisa Silva drückt es so aus: „Um das Team als Gesamtheit zu verstehen, müssen wir die Beziehungen zwischen den Spielern verstehen und ebenso müssen wir diese Beziehungen kennen, um die Mannschaft zu verstehen.“ 24 Für Davide Ancelotti, Co-Trainer und Sohn von Carlo Ancelotti bei Real Madrid, besteht die „wahre Herausforderung [eines Trainers] darin, unter den unzähligen Verbindungen, die zwischen ihnen [den Spielern] entstehen, diejenigen zu erkennen, die verstärkt werden müssen.“ 25

Dies unterstreicht einmal mehr die Wechselbeziehungen, die innerhalb eines komplexen Systems gelten. Es kann also jeder einzelne Spieler als ein komplexes System bezeichnet werden, der in Abhängigkeit und gemeinsam mit dem Netz an zwischenmenschlichen Beziehungen zu seinen Mitspielern durch gemeinsames Training und eine gemeinsame (taktische) Identität ein weiteres (größeres) komplexes System einer Mannschaft bildet.26 Das Kollektiv agiert dabei wie ein Ganzes, wobei permanent verschiedene Synergien und damit unterschiedliche Verhaltensweisen entstehen können.27 In ihrer Gesamtheit, nicht nur auf den Fußball bezogen, ist eine Fußballmannschaft in erster Linie ein soziales System, das „ein außerordentlich komplexes Verhalten zeigen kann, das auf den Kombinationsmöglichkeiten der zahlreichen Möglichkeiten beruht, die jede der verschiedenen Komponenten, aus denen es besteht, bietet.“ 28 Dies sollte auch in der Führung der Mannschaft neben dem Platz Berücksichtigung finden.

Um also das Phänomen „Fußball“ zu verstehen, sind neben dem Kontext insbesondere Interaktionen der Spieler untereinander und die Interaktion der Spieler mit ihrer Umgebung entscheidend. Javier Mallo drückt es in seinem Buch „Complex Football“ so aus: „Aus diesem Grund ist die Quantifizierung und Modellierung der Mannschaftsleistung anhand objektiver Daten eine unwiderstehliche Versuchung für Menschen, die im Umfeld des Sports leben, ihn aber nicht wirklich verstehen.“ Der hauptsächliche Fokus für einen Trainer im Leistungssport liege aber tatsächlich darin, die Spieler dazu zu bringen „zusammenzuarbeiten, um eine taktische Organisation zu erreichen.“ 29 Dafür ist ein ganzheitlicher Blick notwendig, wie Juanma Lillo erklärt: „Das Spiel ist eine unteilbare Einheit, es gibt keinen defensiven Moment ohne angreifenden Moment. Beide kreieren eine funktionale Einheit. (…) Die Sache ist, man muss in der Lage sein, zu reduzieren, ohne zu verarmen. Und das gilt für alles. Man kann die Dinge nicht aus ihrem Kontext herausnehmen, weil sie nicht mehr das Gleiche sind, auch wenn man dann vorhat, die Dinge wieder zusammenzufügen. Man kann nicht einen Arm von Rafa Nadal nehmen und ihn separat trainieren. Wenn Sie es getan haben, kann es beim Wiedereinsetzen zu einem Ungleichgewicht, zu einer Abstoßung des Organismus kommen. (…) Fußball ist assoziativ, kombinatorisch.“ 30

„Dumm diejenigen, die, ohne zu uns zu gehören, uns spöttisch betrachten und über unsere einzigartigen Gewohnheiten lachen. Dummköpfe, denn obwohl sie uns genau untersuchen, sehen sie nichts. Andere Experten werden uns beraten und erklären wollen, wie unser Team funktioniert. Sie werden unser Verhalten auf und neben dem Spielfeld beobachten; sie werden hunderte von Daten sammeln und alles klassifizieren, was uns passiert, und es mit anderen Benchmarks vergleichen und bewerten. Am letzten Tag werden sie uns zitieren und uns vor einer großen, hellen Tafel ihre Diagnose zeigen, was wir ändern oder verbessern müssen. Unser Team ist in tausend Teile zerlegt. Und diese Gelehrten werden glauben, unsere Geheimnisse entdeckt zu haben. Aber das Team war nie eine Summe unterschiedlicher Elemente, sondern ein gemeinsamer Sinn, der alles dominiert und wiederum verbindet. Das Team ist ein Zuhause, nicht nur ein Haus.“31

ANDREU ENRICH IN „COACHING MEDITATIONEN“

Fußball kann im Sinne „sich selbst organisierender Dynamiken“ verstanden werden.32 Dies bedeutet, dass der Verlauf des Spiels nicht durch jemand anderen „auferlegt“ oder „vorgeschrieben“ wurde. Vielmehr entsteht der Verlauf des Spiels durch die Interaktionen der Spieler in spezifischen Umweltkontextenalso durch die Informationen, die durch jede individuelle, taktische Aktion eines Spielers gegeben wird.33 Daher kann taktisches Verhalten als individuelle oder kollektive Anpassung der Spieler an die Anforderungen der Aufgabe innerhalb eines dynamischen Umfeldes verstanden werden.34 Das Thema der Anpassungsfähigkeit ist nicht nur im Fußball, sondern auch in der Evolution ganz elementar: Wenn von „survival of the fittest“ gesprochen wurde, dann ist damit nicht das Überleben des Stärksten gemeint. Tatsächlich überlebt derjenige, der am anpassungsfähigsten ist, was auch erklärt, warum der Mensch (der vermeintlich Schwächere) den Dinosaurier (der vermeintlich Stärkere) überlebt hat und nicht, wie dieser, ausgestorben ist. Die Anpassung erfolgt für gewöhnlich dadurch, dass sich funktionell vorteilhafte Synergien (im Sinne von Kooperation miteinander) entwickeln. Inwieweit dieser Prozess innerhalb des Fußballs und insbesondere des Fußballspielens vorteilhaft ist, werden wir im Einschub der „geteilten Intentionen“ weiter vertiefen. Klar ist jedoch, dass die Vielseitigkeit dem Eindimensionalen haushoch überlegen ist. Kooperation und Wettbewerb sind daher nicht nur Säulen der biologischen Evolution, sondern Grundprinzipien im Sport.35

Damit die Interaktion zwischen den Spielern nicht willkürlich erfolgt, ist das Prinzip der Organisation in diesem Sinne von entscheidender Bedeutung, da die Spieler ohne die Existenz von organisatorischen Beziehungen zwischen ihnen nur als Gruppe betrachtet werden könnten.36 In der Beobachtung einer Mannschaft lassen sich auf dem Platz oftmals bestimmte Muster wiedererkennen, die die Besonderheit der Organisation der Mannschaft widerspiegeln. In gewisser Weise kann man von Gewohnheiten sprechen, die sich allerdings aus bestimmten Beziehungsbedingungen ergeben.37

Die Beziehungen der Spieler untereinander beeinflussen und bedingen die Spielinteraktionen, die durch den Trainer beeinflusst werden müssen, damit die beabsichtigte (durch den Trainer gewünschte) kollektive Dynamik als wiederkehrendes Element von der Mannschaft während der Spiele gezeigt werden kann.38 Vitor Frade, der „Vater der Taktischen Periodisierung“ , weist außerdem darauf hin, dass sich die Art des Spielens, die eine Mannschaft erreicht, aus der Interaktion zwischen den Spielern ergibt und diese Beziehungen je nach der entstehenden Gesamtheit, eine andere Bedeutung haben können.39

Dieser Prozess erfolgt nicht sofort, da das System (bzw. in unserem Fall: die Mannschaft) „instabile Phasen durchlaufen muss, bis schließlich eine effektivere Organisation entsteht.“ 40 Dafür spielt das Training eine entscheidende Rolle, in dem entsprechende Verhaltensweisen stabilisiert werden sollten, ohne diese zu automatisieren, da im Fußball stets situative Flexibilität gefordert ist, um sich an die verschiedenen Situationen im Spiel (und deshalb auch bereits im Training) anzupassen.41 Stattdessen geht es vielmehr um eine Vereinnahmung der Spielidee durch die Spieler und ihre Sicherheit in dieser, damit sie in der Folge mit mehr Freiheit und zunehmend intuitiver agieren können.42 Dies gelingt insbesondere, wenn die Spieler sich mit der Spielidee des Trainers identifizieren können. Der spanische Trainer und Taktikanalyst Enric Soriano nennt das Beispiel von Pep Guardiola, wenn er diesen für die Implementierung des Spielmodells entscheidenden Prozess beschreibt: „Er hat es geschafft, das kollektive Spiel auf ein hervorragendes Niveau zu bringen, indem er jeden seiner Spieler dazu gebracht hat, sich selbst im Spiel zu erkennen und die anderen anzuerkennen, sodass die Sozio-Affektivität [Verbindung der Spieler untereinander, Anm. d. Autors] viel stärker ist und das Spiel harmonisch und effektiv verläuft“.43

„Die Schöpfer mögen sich selbst, die Zerstörer mögen sich selbst, aber nicht so sehr.“44

ÓSCAR CANO

Das organisierte Zusammenwirken einer Mannschaft kann also als taktische Organisation bezeichnet werden, da die Spieler in Abhängigkeit zu einem (gemeinsamen) Spielziel zusammenarbeiten. Teams mit einer guten Organisation helfen dabei dem Einzelnen, „besser“ auszusehen: Spieler erscheinen schneller, bekommen immer im genau richtigen Moment den Ball und wirken (fälschlicherweise) fitter.45 All dies geschieht auf Basis der Interaktion der Spieler, weshalb auch das Training selbst nicht aus der Wiederholung von Übungen bestehen sollte, da die Absicht bzw. die Intention einer jeden Handlung elementar ist, damit diese im Gedächtnis bleibt.46 Der Trainer ist dabei derjenige, der, in Abhängigkeit zu den Charakteristiken seiner Spieler, eine Spielidee mit verschiedenen Spielmustern entwickeln und konfigurieren muss, die die Entstehung und Umsetzung „seines Fußballs“ ermöglichen.47 Daran angelehnt definiert Xavier Tamarit die Spielidee als „taktische Kultur“ des Trainers, der sich ständig der Gestaltung und des Prozesses sowohl innerhalb des Spiels als auch innerhalb des Trainings bewusst ist.48

Ein Team beginnt mit einer vorgeschriebenen, bereits bekannten und vorbereiteten Organisation, um sich dann in jedem neuen Raum und jeder neuen Spielphase anhand bestimmter Regeln und Leitlinien neu zu organisieren, in Abhängigkeit der unvorhergesehenen Ereignisse, die auftreten können. Die Fähigkeit der Selbstorganisation erlaubt es der Mannschaft, sich an jede Spielsituation anzupassen, die per Definition einzigartig und unvergleichlich ist und unterschiedliche Aktionen als Reaktion darauf ermöglicht. Diese Anpassung an den sich ändernden Kontext ist unerlässlich und ermöglicht es dem Spieler, basierend auf seinen Fähigkeiten, Merkmalen und Charakteristiken optimale motorische Aktionen durchzuführen, unabhängig davon, ob er gerade in Ballbesitz oder dabei ist, den Ball zurückzuerobern. Für die Organisation des Teams nach Belieben ist das Verständnis bestimmter Konzepte unerlässlich. Es ist auch wichtig, zu verstehen, dass jeder Einzelne aktiv sein und als funktionale Einheit fungieren muss, um das Spiel als Team zu spielen, angesichts der Unvorhersehbarkeit und des Chaos, das das Spiel selbst mit sich bringt.

Aus der Idee der grundsätzlichen Organisation, verbunden mit der Spielidee des Trainers, erwächst der Begriff des Spielmodells, der allerdings im Fußball oftmals missverstanden wird. Häufig wird von einem Spielsystem oder Spielschema oder sogar einer Grundformation gesprochen, die jedoch eher auf die Anordnung der Spieler zu Beginn des Spiels (Grundformation) oder in verschiedenen, vorhersehbaren Spielphasen (Spieleröffnung; geordnetes Pressing) Bezug nimmt und nur für einen kurzen Moment sichtbar wird. Dies greift zwar die positionelle Organisation der Spieler und damit der Mannschaft auf, wird jedoch dem Begriff des „Spielmodells“ nicht gerecht.49 Dahingehend ist es wichtig, zwischen Struktur (im Sinne einer Grundformation) und Funktion zu unterscheiden, da die reine Struktur eine sehr starre Seite eines Systems repräsentiert, während hingegen die Funktion die Beziehungen zwischen allen Elementen berücksichtigt. Daher ist auch die Interaktion aller Spieler innerhalb eines Spielsystems wichtiger, als die Fähigkeiten eines einzelnen Spielers außerhalb des Systems.50 Gleichzeitig ist auch das System an sich nicht bedeutsam, sondern vor allem die Bedeutung, die dem System durch die Spieler gegeben wird.

Andere Autoren nehmen mit Blick auf das Spielmodell Bezug auf die Konstruktion der Ideen des Trainers, die sich aus übergeordneten Prinzipien in Verbindung mit weiteren Subprinzipien zusammensetzt, die bestimmte Verhaltensweisen für verschiedene Spielmomente artikulieren und damit für eine funktionale identitätsstiftende Organisation sorgen sollen.51 Über die Ausprägung dieses „Prinzipienbaumes“ gibt es dabei geteilte Ansichten, da manche Verfechter der Methodik der taktischen Periodisierung, insbesondere in dieser Aufspaltung und Vielzahl von Unter-Prinzipien und weiteren Unter-(unter-)Prinzipien, eine Zerkleinerung wahrnehmen, die den Grundsatz der „unteilbaren Gesamtheit“ verletzt und damit als linear, reduktionistisch und spielfremd (weil unnatürlich) einordnen. Übergeordnet kann festgehalten werden, dass Spielprinzipien der Mannschaft Orientierungspunkte und Leitplanken geben sollen und darüber das Spielmodell manifestieren. Der portugiesische Erfolgstrainer José Mourinho bekräftigt seinerseits beispielsweise, dass er durch die definierten, vorrangigen Prinzipien, die er in seiner Mannschaft eingesetzt hat, dieser eine bestimmte DNA (im Sinne von Identität) verliehen habe.52

Der portugiesische Trainer Nuno Amieiro sieht in der Identität einer Mannschaft nichts anderes, als die regelmäßige Bestätigung der Organisation, aus der sie besteht.53 Diese Organisation wird von der Mannschaft in jedem Augenblick des Spiels präsentiert und ist wiederkehrend.54 Gleichzeitig sollte diese Organisation und damit das Spielmodell als Ganzes dynamisch sein und immer wieder in Frage gestellt werden, da „die Zukunft als kausales Element des Spielverhaltens beibehalten werden muss.“ 55 Gerade die Flexibilität des Spielmodells ist essentiell, da in Abhängigkeit zu den verschiedenen Kontexten, Spielern und Spielbedingungen verschiedene Interpretationen und Notwendigkeiten zutage treten.56 Davide Ancelotti, derzeit Co-Trainer von Real Madrid, sieht in der Mannschaftsorganisation ein Mittel, durch das „eine Situation entsteht, in der eine bestimmte Verbindung dem Kollektiv zugutekommen kann.“ 57 Er sieht das Spielmodell und damit die Idee und Organisation als grundsätzliche Entscheidung des Trainers, der aus dem gesamten (bestehenden und noch zu erfindenden bzw. zu entwickelnden) Fundus „schöpfen kann, um zu entscheiden, welches Kleid er der Mannschaft anziehen will. Es muss also bekannt sein und studiert werden. Wenn ich das Wesen eines Trainers beschreibe, verwende ich gerne das Beispiel des Chamäleons, eines Tieres, das in der Lage ist, ständig die Farbe zu wechseln, um den Gefahren zu entgehen, die es umgeben, um sich an die Realität anzupassen, die es umgibt. Es ist nicht an eine Identität gebunden. Heutzutage können zwischen der ersten und der zweiten Halbzeit zwei völlig unterschiedliche Spiele stattfinden, genauso wie ein und dieselbe Mannschaft -je nach Gegner- völlig unterschiedlich auftreten kann.“ 58 Für den spanischen Autor Martí Perarnau, der im Zuge seiner Buchprojekte viel Zeit mit Pep Guardiola verbracht hat, ist die Spielidee „nicht in Stein gemeißelt, sondern wird permanent beeinflusst vom Wettbewerb, vom Gegner, von Vorfällen und Widrigkeiten im Team, von der Fitness, Technik und Befindlichkeit, sowohl der individuellen als auch der kollektiven, vom Kalender und seinen Erfordernissen. Die Spielideen sind während der ganzen Zeit flexibel und veränderbar.“ 59

Der spanische Trainer Óscar Cano nimmt mit seiner Ansicht zur Organisation der Spieler indirekt Bezug zur Idee der komplexen Systeme: „Es ist genau (…) [das] Beziehungsgeflecht, das die Dynamik der Organisation bestimmt. Sie organisiert das System und ermöglicht auch die Herstellung neuer Elemente, die Teil des Systems werden.“ 60 Darin liege der Hauptfokus für den Trainer, diese Beziehungen zu erkennen, zu stärken und durch die entstehende Synergie den maximalen Mehrwert für das eigene Team zu sichern.

Jede Idee eines Trainers steht in extremer Abhängigkeit zu den Spielern und den daraus folgenden Interaktionen und Interpretationen dieser Idee.61 Für Vítor Frade ist es elementar, dass das Spiel zunächst im Kopf der Spieler entsteht, indem ihre Eigenschaften betont und verbessert werden.62 Óscar Cano sieht in dem Spielmodell die Organisation der konzeptionellen Tendenzen, die aus der Interaktion der natürlichen Fähigkeiten der Spieler entstehen.63 Juanma Lillo, Co-Trainer von Pep Guardiola bei Manchester City, merkt dazu an: „Es geht darum, das zu wecken, was der Spieler bereits hat. Es geht nicht darum, dass sie es einbauen, wozu uns die Eitelkeit der Trainer verleitet. Der Fußballer ist eine eigene Realität für sich. Es gibt Trainer, die sich darüber ärgern, dass es heißt, die Mannschaft spiele mehr wie die Spieler und nicht wie sie selbst.“ 64

„Aber meine Assistenten sind der Tyrannei der Tafeln unterworfen und argumentieren, dass das Spiel nur dann in Ordnung ist, wenn die Aktionen den Leitprinzipien des Modells entsprechen. Ein Modell, das wie eine Schablone durch Schneiden und Falten Gestalt annimmt. Und durch seine Präzision amputiert es die Einzigartigkeit des Spielers, um ihn in ein bloßes Muster zu verwandeln.“65

ANDREU ENRICH IN „COACHING MEDITATIONEN“

Während Cano dabei die Rolle des Trainers eher als „Vereinfacher“ und „Ermöglicher“ mit Blick auf die natürlichen Talente und Fähigkeiten der einzelnen Spieler sieht und damit phasenweise einen extremen Standpunkt einnimmt, lässt sich jedoch unbestreitbar festhalten, dass das Spielmodell „die Art und Weise ist, in der die Spieler miteinander in Beziehung treten und wie sie ihre Sichtweise des Fußballs zum Ausdruck bringen.“ 66 Der ehemalige U18-Trainer von Real Madrid, Fran Beltrán, stellt klar, dass dies elementar ist: „Wenn ein Trainer eine Mannschaft führt, muss er die Natur der Spieler verstehen und die Kontexte, in denen diese Spieler den Unterschied machen können.“ 67 Daher ist auch für den portugiesischen Trainer und Professor im Master der „taktischen Periodisierung“ Miguel Lopes das Spielmodell, das, was aus den Charakteristiken der Spieler innerhalb des vom Trainer kreierten Kontextes entsteht.68 Der italienische Trainer Antonio Gagliardi sieht gerade in der Berücksichtigung der individuellen Charakteristiken der einzelnen Spieler einen weiteren, künftigen Wettbewerbsvorteil: „Diese Kombination besteht darin, Dynamik, Fluidität und größere Freiheit in starrere Systeme einzubringen und dabei die unterschiedlichen Eigenschaften der verfügbaren Spieler zu berücksichtigen.“ 69 Einer ähnlichen Herangehensweise folgt auch Óscar Cano, der den Fokus des Trainers darin sieht „die stärkenden Verbindungen zu finden, die entstehen, wenn seine Spieler ihre Eigenschaften vereinen. Anstatt ein vorgefertigtes Verfahren anzuordnen, konzentriert sich das Engagement darauf, einen Stil zu komponieren, der die (…) [natürlichen] Eigenschaften der Spieler berücksichtigt.“ 70

In jedem Fall spiegelt das Spielmodell „die Persönlichkeit der Mannschaft (…) und somit den Charakter des Trainers“ wider.71 Der spanische Autor Martí Perarnau vergleicht das Spielmodell mit einem Musikstück: „Die Musik klingt immer ähnlich, aber wenn wir das Stück, wie es am Anfang war, mit dem vergleichen, wie es am Ende ist, bemerken wir, dass sich Rhythmus, Harmonie und Interpretation stark verändert haben. (…) Ein Spielmodell ist letztlich ein fester und beweglicher Rahmen zugleich. Es ist eine Partitur, die sich täglich verändert aufgrund des Gegners, der Erfahrungen und der Evolution der Idee selbst.“72 Bei aller Betonung der Flexibilität ist der zuvor genannte Punkt der „Persönlichkeit des Trainers“ jedoch essentiell: ein Trainer wie Xabi Alonso oder aber Pep Guardiola wird aufgrund seines Charakters und seiner grundsätzlichen Einstellung und Werte stets eine bestimmte Spielidee verfolgen und umzusetzen versuchen. Die Einen agieren dahingehend aus ihrer Sicht pragmatischer und andere möglicherweise idealistischer – der Kern einer Person und eines Trainers wird sich allerdings nur in den seltensten Fällen um 180° drehen. Übergeordnet lässt sich festhalten, dass das Spielmodell durch das Agieren auf dem Platz durch die Spieler zum Ausdruck kommt. Es entsteht jedoch durch die Interaktion der Spielidee des Trainers oder Staffs in Verbindung mit den einzelnen Fähigkeiten der Spieler und kann, durch weitere Komponenten, wie beispielsweise den Klub, die Historie oder die Liga beeinflusst werden.

Mit Blick auf Xabi Alonsos Bayer Leverkusen lässt sich sogar eine gewisse Dreidimensionalität feststellen: Die Spieler nehmen innerhalb seiner Spielidee und seiner Spielsystematik immer die gleichen Rollen ein, die, unabhängig von dem einzelnen Spieler, relativ fest, verbindlich und klar sind (1. Dimension). Gleichzeitig ist die konkrete Idee, wie genau die einzelne Position gespielt werden soll, abhängig vom Gegner und den Räumen, die dieser anbietet. Es gibt also eine Strategie oder einen „Matchplan“, der Einfluss auf die Interpretation und Ausführung der Position bzw. Spielerrolle nimmt (2. Dimension). Und schließlich gibt es die persönlichen Charakteristiken eines jeden Spielers, die Einfluss auf das „Wie“ seiner Aktionen haben. Es gibt einen klaren Unterschied, ob Andrich oder Palacios als Partner neben Xhaka in der Zentrale spielen oder jener Xhaka nicht spielt. Dabei greifen weniger qualitative Unterschiede, was Xabi Alonso durch sein zahlreiches Einsetzen nahezu aller Kaderspieler in verschiedenen Situationen klar unter Beweis gestellt hat. Vielmehr geht es um die typischen Neigungen und Verhaltensweisen, die die Entscheidung des Trainers beeinflussen: Sei es die Neigung von Boniface, sich immer wieder auf den linken Flügel fallen zu lassen und damit Räume im Zentrum zu öffnen oder das entsprechende Gegenstück, wenn Patrik Schick als Neuner spielt. Die Veränderung, wenn Borja Iglesias diese Rolle einnimmt und der klare Unterschied, wenn vorne Adli, Wirtz und Tella mit maximaler Flexibilität wirbeln – all das verändert nicht die Grundsystematik, beeinflusst jedoch die grundsätzliche Herangehensweise der Mannschaft an das Spiel. Es verändern sich Nuancen aufgrund der individuellen Charakteristiken, Neigungen und Fähigkeiten der Spieler, aber auch aufgrund der Interaktionen und der unterschiedlichen Synergien, die sich zwischen ihnen bilden.

Der spanische Trainer Abel Mourelo weist insbesondere auf die Verbindung und damit die entstehende Synergie zwischen der Idee des Trainers und den Spielern hin: „Man muss nicht nur das Spiel verstehen, sondern auch seine Spieler kennen. Man muss das Spiel kennen. Die Beobachtungsgabe macht den Unterschied, wenn es darum geht, den Spieler kennen zu lernen. Wie er denkt, seine Fähigkeiten, sein Potenzial... Und dann führen wir ihn in das Spiel ein. Der Spieler soll das Spiel erkennen und sich selbst im Spiel wiedererkennen.“ 73 Hier ist der Trainer darin gefragt,

„Zusammenhänge zu schaffen, ohne seine Identität zu verlieren, ohne das Rückgrat von allem zu verlieren. (…) Er holt das Maximum aus dem Spiel heraus und befähigt seine Spieler. Er fördert verborgene Talente zutage. Er bringt sie dazu, mit den einschränkenden Glaubenssätzen der Spieler zu brechen, die sie durch frühere Lebenserfahrungen erworben haben. (…) Er erzeugt Potenziale, aber auch Grenzen. Er ist in der Lage, den Spieler zu überzeugen und zu verführen und ihm zu zeigen, dass er besser sein kann. Wie bringt er Spieler X dazu, unter Druck zu laufen? Nun, weil dieser Spieler vorher Spaß an dem hat, was er tut. Er schafft Zusammenhänge, sodass der Spieler das, was er normalerweise nicht tun würde, doch tut, weil ihm etwas vorausgeht, das ihn glücklich macht. Wenn ich den Ball habe, bin ich glücklich, wenn nicht, laufe ich schnell los.“74

Der Hinweis von Mourelo ist deshalb entscheidend, weil er zu einem zentralen Punkt Bezug nimmt, den auch Xabi Alonso immer wieder betont hat, nicht zuletzt auf seiner allerersten Pressekonferenz: „Das Wichtigste, das ich von all meinen Trainern gelernt habe, ist, dass die Spieler dir folgen müssen. Sie müssen glauben, was du sagst, und du musst sie “füttern„. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie sich durch dich verbessern. Sie müssen wissen, dass du da bist, um ihnen zu helfen mit deinem Wissen, deiner Führung, deiner Motivation. Als Erstes geht es darum, die Gruppe zu führen und dann kommt die Taktik und die Strategie.“ 75 Mourelo verbindet nun beide Ebenen, die Ebene der Führung der Gruppe und der inhaltlichen Weiterentwicklung, des individuellen „Anpackens“ des Einzelnen in Verbindung mit der konkreten, inhaltlichen Umsetzung der eigenen Idee. Er zeigt außerdem, wie wichtig es ist, dass die Spieler selbst von der inhaltlichen Grundidee des Trainers überzeugt sind, in dieser aufgehen oder zumindest mit großer Spiellust diese ausführen, damit auch die vermeintlich unangenehmen, intensiveren Aspekte der Idee mit Freude umgesetzt werden – ein Umstand, der womöglich im Kontext einer anderen Idee nicht gegeben war. Xabi Alonso selbst definiert Fußball auch als „eine Frage von emotionalen Zuständen.“ Es gebe, je nach Mannschaft, einen unterschiedlichen Umgang mit Zweifeln und Rückschlägen: „Es gibt Mannschaften, die verdauen so etwas auf natürliche Weise; anderen fällt es schwerer, sich da zurechtzufinden, und sie müssen erst lernen, dass es manchmal richtig wehtut, wenn man erfolgreich sein will.“ 76

Dies und der vorherige Punkt der aus den Interaktionen der Spieler resultierenden Synergien bringt uns zu einem anderen spannenden Thema innerhalb des großen Abschnitts des Spielmodells: Den Spielerrollen. Der italienische Trainer Antonio Gagliardi hat in einem sehr interessanten Artikel festgestellt, dass nach dem Perspektivwechsel von der Position zur Funktion nun eine weitere Entwicklung stattgefunden habe und „die 'Rolle' (…) nicht mehr eine (mehr oder weniger spezifische) Funktion [ist], sondern die Interpretation eines Individuums innerhalb einer ‚Beziehung‘ – es ist die ständige und konstante Bewegung des Balls, der Mitspieler und der Gegner, die die Freiräume um den Spieler in Ballbesitz bestimmt.“ 77

Gerade der Begriff der „Beziehungen“ der Spieler untereinander, der momentan auch unter dem Stichwort des „Relationism“ mit Hingabe diskutiert wird, nimmt im aktuellen Fußball eine zunehmende Bedeutung ein. Wie wir allerdings schon mit Blick auf die spanischen Formulierungen für einen Pass gesehen haben, besteht die Intention des „Vernetzens“ und damit der sozio-affektive Aspekt der technischen Handlung innerhalb des spanischen Fußballs schon länger, ohne dass zuvor von einem „Beziehungsspiel“ die Rede war. Vielmehr war und ist es im Fußball immer hilfreich, ein gutes (Spiel-)Verständnis innerhalb des Teams von den Tendenzen und typischen Verhaltensweisen seiner Mitspieler zu haben, wie wir im Kapitel der geteilten Intentionen noch vertiefen werden. Gagliardi versucht diesen Begriff jedoch weiter abzugrenzen:

„Es ist klar, dass das gesamte Fußballspiel voller Beziehungen ist, und jedes Spielmodell beinhaltet Beziehungen. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass sich im Positionsspiel die potenziellen Beziehungen aus den Positionen entwickeln, während sich im Beziehungsspiel die potenziellen Positionen aus den Beziehungen entwickeln. Das scheint ein philosophischer Unterschied zu sein, ist es aber nicht. Ganz einfach, im Positionsspiel ist das wichtigste Element die Position der Spieler. Die defensive Struktur einer Mannschaft wird vorher geplant (d. h. die Positionierung), und im Allgemeinen gilt das Gleiche für die offensive Struktur. Der Schwerpunkt im Positionsspiel liegt also weiterhin auf den Positionen; von hier aus entwickeln sich die Bewegungen und Beziehungen. [Wir können jedoch feststellen, dass] (…) der Aufbau einer flüssigeren und dynamischeren Mannschaft mit mehr Freiheiten für die Spieler und einer stärkeren Konzentration auf den Einzelnen bessere Ergebnisse bringt und bringen wird. Im Beziehungsfußball liegt der Schwerpunkt auf den Eigenschaften der Spieler und ihren Beziehungen untereinander. Dies ebnet den Weg für neue Positionen, die die Spieler auf dem Spielfeld einnehmen.“78

Als aktuell bestes Beispiel für diese Art Fußball in der Welt kann Fluminense (Brasilien) von Trainer Fernando Diniz gelten, aber auch in Europa gibt es einige, sich unabhängig davon entwickelnde Beispiele, wie z. B. Thiago Mottas Bologna in Italien, Henrik Rydströms Malmö in Schweden oder sogar phasenweise die ungarische Nationalmannschaft mit Trainer Marco Rossi. Auch im Fußball von Bayer Leverkusen unter Xabi Alonso lassen sich diese Tendenzen erkennen. Allerdings sollte man die Schritte innerhalb des Entwicklungsprozesses respektieren und verstehen: Damit eine Idee zunehmend flexibilisiert und in sich ändernden Kontexten umgesetzt werden kann, ist zunächst ein stabiles Fundament notwendig, was nicht bedeutet, dass dieses einengend gesetzt werden muss. Xabi Alonso selbst drückt es so aus: „Auf dem Spielfeld wurde ich ermutigt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das ist etwas, das ich unbedingt entwickeln möchte und das ich den Spielern immer wieder sage. Sie sind keine Roboter.“ 79 „Sie haben das Wissen, was passieren kann, und ihre Qualitäten, um zu entscheiden. Und wenn sie eine schlechte Entscheidung treffen, werden wir versuchen, es besser zu machen“ , erläutert Alonso und sieht sich dabei als Unterstützer der Spieler. Entscheidend sei das Bewusstsein der Spieler, dass sie „ihr eigenes Urteilsvermögen auf dem Spielfeld“ haben.80

Auch in der Evolution der Spielidee von Xabi Alonso, die sich bis hierhin beobachten lässt, ist nach dem stabilen Fundament und der damit einhergehenden Sicherheit der Mannschaft nun eine Veränderung zu mehr Flexibilität und intuitivem Spiel sichtbar. Das dies jedoch ein Prozess ist und als eine natürliche Evolution erfolgt, ist entscheidend, denn in der komplizierten Situation, in der sich Bayer Leverkusen im Herbst 2022 bei seiner Amtsübernahme befand, wäre wohl nur wenigen Spielern mit Begriffen wie „Freiheit“ und „Beziehung“ geholfen gewesen – unabhängig davon, ob Xabi Alonso diese Begriffe heute tatsächlich benutzt oder (wahrscheinlich eher) nicht.

Die Beziehung und das klare Zusammenwirken ist jedoch schon früh ein Schlüssel in seinem Spiel, wie wir in den späteren Kapiteln beleuchten werden. Gagliardi fokussiert den Begriff der „Beziehung“ weiter und zwar in einer Weise, die uns hilft, die Herangehensweise von Xabi Alonso bzw. die Interpretation und Umsetzung seiner Spieler klarer zu verstehen: „Es ist also die ‚Beziehung‘ zum Ball, zu den Mitspielern, zu den Gegnern – die Beziehung zur Umgebung-, die die Bewegungen, die Entscheidungen, das Spiel eines jeden Spielers bestimmt und beeinflusst.“81 Xabi Alonso selbst sagte in einem Interview, dass sie weniger über einzelne Formationen oder Spielsysteme sprechen würden. Stattdessen ginge der Fokus eher auf die Dinge, die vermutlich im Spiel passieren würden und wo der Vorteil liegen werde.82 Dabei liege der Fokus klar auf den Qualitäten der eigenen Spieler. Alonso weiter: „Je mehr Pässe wir spielen, je mehr davon in ihrer Hälfte, desto besser sind wir für das Gegenpressing positioniert. Wenn wir zu schnell und zu weit in die andere Hälfte spielen, wird es unmöglich sein ins Gegenpressing zu gehen.“ 83 Daher organisiert nur die Beziehung zum Ball in jeder Hinsicht das Spiel – sei es räumlich oder in Interaktion mit den Mitspielern. Antonio Gagliardi gelingt im Folgenden eine fantastische Beschreibung des Spiels der Mannschaft von Xabi Alonso, wenn auch ungewollt und ohne es zu wissen:

„Diese Art des Fußballs ist in der Lage, die Qualitäten, Eigenschaften und Emotionen der Spieler, insbesondere der technisch versierteren, hervorzuheben, auch weil die Verbindung der Spieler untereinander alle ein wenig glücklicher macht. Diese Art des Fußballs scheut sich nicht, eine asymmetrische Form anzunehmen und will den Ballbesitz nicht durch Taktik und vordefinierte Räume dominieren, sondern durch Technik und dynamische Räume. Der Fokus verlagert sich also vom Raum zum Ball – und zu den Spielern. Im Positionsfußball ist der eingenommene Raum von grundlegender Bedeutung, um eine bessere Leistung zu erzielen; im Beziehungsfußball ist es die individuelle Leistung, die den Raum bestimmt.“84