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Mit hinreißend schwarzem Humor und einer Prise Erotik beobachtet Gaby Hauptmann das Treiben des Jetset. Marc Richard, erfolgreicher deutscher Modedesigner, liebt seine gemütlichen Türkei-Ferien mit Familie und guten Freunden an Bord einer bauchigen Segelyacht. Als der Szeneplayboy Franco sein Schnellboot längsseits legt und mit einigen Models die Yacht entert, ist Marc Richard wenig begeistert. Anders seine Tochter Kim und ihre Freundin Alissa: Bald ist auf den Booten und im Wasser eine ausgelassene Party im Gange. Bis Franco plötzlich nicht mehr auftaucht! Als schon am nächsten Tag die Zeitungen von seinem Verschwinden berichten, beschleicht Alissa eine bange Ahnung … Gaby Hauptmanns Bestseller ist so anregend wie ein prickelnder Ausflug über das kristallklare Wasser des Mittelmeers!
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Cover & Impressum
Die »Dogukan«
Text
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Für Botho und Cathrin und unsere Dogukan-Freunde
ISBN 978-3-492-98413-3 © Piper Verlag GmbH, München 2005, 2018 Covergestaltung: Favoritbuero, München Covermotiv: kiuikson/shutterstock und JKDECODE/shutterstock Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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DIE »DOGUKAN«
DAS RENNBOOT SCHOB SICH LANGSAM, fast lautlos, an die Längsseite des bauchigen großen Segelschiffs. Marc Richard sah es erst, als die Festmacherleinen herüberflogen.
»Oh, nein«, sagte er und verzog das Gesicht. »Sag ihm, daß ich nicht da bin!«
»Kann ich nicht«, entgegnete seine Frau, »ich bin auch nicht da!«
Sie drückten sich beide in die blauen Leinenkissen ihrer Stühle, halb verdeckt durch die mächtigen Holzvorbauten am Heck des Schiffes.
»Wieso weiß er, wo wir stecken?« wollte Marc halblaut wissen.
»Ich hab’s ihm sicherlich nicht gesagt!«
»Und was machen wir jetzt?«
Pia linste vorsichtig um die Ecke.
»Er kommt tatsächlich an Bord!«
Marc seufzte.
»Und nicht nur er!«
Marc runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
In dem Moment setzte laute Discomusik ein, dröhnte mit harten Bässen vom Rennboot herüber und deckte alles zu.
Marc sprang auf. Er war ein drahtiger Mann Ende Fünfzig, kurzgeschnittenes weißes Haar, braungebrannt. »Habt ihr noch alle?« Mit wenigen Sätzen war er an der Reling.
»Na, da bist du ja!« Breit grinsend stand Franco vor ihm, ein italienischer Playboy deutscher Abstammung.
Marc holte tief Luft. »Schalt bloß dieses Gewummer ab!« Franco schnippte kurz zu seinem Boot hinüber, ein langbeiniges Geschöpf in blaßrosa Bikini, dunkel gebräunter Haut und strohblonden Haaren drückte auf einen Knopf an der unübersichtlichen Instrumententafel. Augenblicklich war es still. Und augenblicklich gab es Protest aus dem Hintergrund.
Marc drehte sich um. Das hätte er sich denken können, seine Tochter Kim und deren Freundin Alissa standen hinter ihm.
»Laß doch!« Kim warf ihm einen typischen Tochter-Vater Blick zu: »Sei doch kein Spielverderber.«
Alissa blinzelte verschlafen zu dem Boot hinüber. »Gibt’s ’ne Party?«
»Verschon mich bitte damit«, sagte Marc und drehte sich hilfesuchend nach Pia um. Sie hatte sich ein weißes Herrenhemd übergeworfen und kam heran.
»Das ist eine Überraschung«, sagte sie indifferent und reichte Franco ihre Hand, die er übersah.
Statt dessen zog er sie gleich in seine Arme, küßte sie rechts und links auf die Wange und grinste dabei Marc an. »Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könntet euch vor der Welt verstecken?«
»Och …« Marc tat unschuldig. »Und jetzt willst du dich mit deiner Bande hier bei uns einnisten?«
Franco lachte. »Ich wollte mal meinen Mädchen hier den berühmten Modedesigner aus Deutschland vorstellen«, sagte er laut, und leise fügte er mit Verschwörermiene hinzu: »Ein bißchen mit dir angeben, versteht sich …«
»Das fehlt mir noch!« Marc schaute zu dem Rennboot, eine feuerrote Zigarre mit weißer Lederinnenausstattung. »Ein wenig dezenter hätte dir das Ding nicht gefallen?« fragte er rhetorisch.
»In meinem Alter doch nicht.« Franco zwinkerte ihm zu und machte eine Handbewegung zum Boot hin. Es war schon klar, was er meinte. Die beiden Mädchen, die er dabeihatte, waren bildhübsch und Anfang Zwanzig, jede von ihnen sicher lich dreißig Jahre jünger als er selbst. Er fuhr sich mit seiner rechten Hand kurz durch sein gewelltes braunes Haar, das er aus der Stirn nach hinten gekämmt und nackenlang trug. »Die haben Spaß«, sagte er dazu, »und ich auch!«
In diesem Moment setzte die Musik wieder ein. Ein junger Mann, der aus der Kajüte aufgetaucht war, hatte auf den Knopf gedrückt.
»Ich nicht.« Marc wandte sich ab. »Aber wenn du jetzt schon mal da bist, dann laß uns was trinken. Vielleicht finden wir ja ein lärmgeschütztes Eckchen …«
Kim und Alissa dagegen waren schon zu den anderen in das Rennboot gestiegen, machten sich bekannt und freuten sich über die Abwechslung. Sie waren seit zehn Tagen an der türkischen Küste unterwegs, schwammen und fuhren Jetoder Wasserski und suchten sich abends eine ruhige Bucht für die Nacht. Für Alissa war es ein Traum, der sich hier für sie erfüllte, für Kim pure Gewohnheit, denn Jahr für Jahr mieteten ihre Eltern für drei Wochen eines der typisch türkischen Segelschiffe, ganz aus Holz, bauchig, gemütlich und trotzdem komfortabel. Dies hier sah aus wie ein ehemaliges Piratenschiff, und Alissa verschoß am ersten Tag allein von den sich im Wind bauschenden riesigen Segeln in einer einzigen Stunde einen ganzen Film. Kim hatte bäuchlings auf einer der vielen Segeltuchmatten gelegen, die vor dem großen Fenster des Führerhauses aufgereiht waren, und ihr kopfschüttelnd zugesehen.
»Das siehst du jetzt drei Wochen lang«, hatte sie ihr zugerufen. »Die fliegen dir nicht weg!« Aber Alissa hatte nur gelacht und ein Foto von Kim geschossen. Kim war zwanzig, und durch den Beruf und den Erfolg ihres Vaters lag ihr die Welt zu Füßen. Wie sollte sie Alissas Gefühle verstehen können, die als drittes Kind einer ganz normalen Familie mit einem ganz normalen Einkommen großgeworden war? Die beiden hatten gemeinsam Abitur gemacht, hatten sich in den vergangenen zwei Jahren angefreundet, nachdem Kim nach einem Austauschjahr aus Amerika zurückgekehrt und neu in ihrer Klasse gelandet war. Kim war mit viel Spaß durchs Abitur gekommen, ohne große Anstrengung und ohne großen Ehrgeiz.
Alissa dagegen war die Beste in der Klasse, hatte wenig von Kims Lässigkeit, sondern war eher gewissenhaft und bemüht, sich alles selbst zu erarbeiten. Sie hatte Kim wie einen Stern eines ande ren Universums empfunden, war über ihre Freundschaft glücklich, hatte sie in der Schule mitgezogen, ihr Spickzettel zugesteckt und sie abschreiben lassen, wann immer es möglich und nötig war. Zum Dank hatte Kim sie im Namen ihrer Eltern eingeladen. »Zur Vorbereitung aufs Leben«, hatte sie gelacht, während Alissa vor Freude fast geheult hätte.
Am Heck der Ketsch stand ein langer Tisch in einer Art Nische, die sich durch den Bau des Deckhauses ergeben hatte. Die gepolsterte Rückenlehne der Sitzbank schmiegte sich an das cognacfarbene Holz des Aufbaus, an der offenen Seite der Nische standen blau bezogene Stühle. Marc und Pia zogen sich zwei davon heran, Franco setzte sich auf die Bank, die Hände hinter seinem Nacken verschränkt. Er streckte sich ausgiebig und schaute sich um. Von seinem Platz aus übersah man achtern den offenen Steuerstand des Kapitäns und die bequeme Liege- und Sonnenfläche dahinter.
»Wo sind denn alle?« Franco zog die Stirn kraus. »Es ist hier ja wie ausgestorben!«
Marc seufzte und schickte einen theatralischen Blick zum Himmel. »Sie sind nach Fethiye zum Einkaufen.«
Ein dunkelhaariger Mann in weißem Poloshirt und dunkelblauen Shorts brachte eine Flasche Wein, drei Gläser und einen Sektkühler voller Eiswürfel.
»Aha.« Franco nahm die Flasche in die Hand und begutachtete das Etikett des Rosés. »Wenigstens die Crew ist noch da …«
»Nur Hussein, der Kapitän und der Maschinist«, sagte Pia und schob Franco ihr Glas hin.
»Dann ist ja nur gut, daß wir den müden Laden etwas auffrischen.« Franco stellte die Flasche laut ab. »Lâl. Ich kann das Zeug nicht ausstehen. Ich habe noch Champagner in meiner Hütte!«
»Wir mögen aber keinen Champagner«, kam es wie aus einem Mund. Pia und Marc mußten lachen, dann goß Pia ihre Gläser voll. »Wir sind in der Türkei und trinken Lâl. Basta!«
Marc Richard führte zwar ein großes Unternehmen und war auf allen wichtigen Modeschauplätzen aktiv, aber privat hatten er und seine Frau am liebsten ihre Ruhe. Sie mochten es gemütlich und bodenständig, so wie es ihrem Wesen entsprach. Pia hatte in Marcs Unternehmen gearbeitet, und es war klassisch, was passierte, bis zu dem Moment, da sie aus ihm, dem eingeschworenen Junggesellen, einen verheirateten Mann machte. Da war es nicht mehr klassisch, alle waren erstaunt, aber es paßte. Er konnte beruflich auf den Wolken tanzen, und sie hielt die Füße auf dem Boden. Genauso verhielt es sich mit ihren Freunden. Einmal im Jahr trafen sie sich auf der »Dogukan«, immer auf demselben Schiff mit demselben Personal, einer Crew von fünf Mann. Richards und ihre Freunde waren zu acht auf dem zweiunddreißig Meter langen und sieben Meter breiten Schiff, das sechs gemütliche Doppelkabinen besaß. Ein Pärchen war jedes Jahr dasselbe, dazu Kim und eine Freundin und ein Überraschungspärchen oder zwei Singles. Das brachte jedes Jahr aufs neue Spannung und genügend Gesprächsstoff und Ansichten, nur diesmal war es anders verlaufen als gedacht: Ausgerechnet das Ehepaar, an das sie schon lange gedacht hatten und das nun endlich einmal dabeisein sollte, hatte sich kurz vor Reiseantritt getrennt. Der Grund waren eine vollbusige Auszubildende in der Firma des Mannes und der Umstand, daß seine Frau von einer Reise zu früh zurückkam. Und damit hatte Marc nun ein Problem. Wen von beiden sollte er mitnehmen? Den Mann oder die Frau? Er plädierte für seinen Geschlechtsgenossen, aber als klar wurde, daß der seine neueste Errungenschaft vorzustellen gedachte, protestierten die Frauen. Und gegen Pia war Marc natürlich machtlos, also gab er nach. Von den Aufrüstungs-, Mobilmachungs- und Schadenwiedergutmachungsgesprächen der Frauenrunde hielt er sich in der Folge fern, aber recht geben mußte er ihr: Na dines Mann war ein Trottel. Wie hatte er sie alle in eine solche Situation bringen können? Hätte das nicht bis nach ihrem Urlaub Zeit gehabt?
So hatte Marc es begrüßt, daß alle nach Fethiye wollten. Die Crew wollte sowieso frische Lebensmittel einkaufen, und bis auf zwei Personen fanden auch alle in dem Schnellboot, das zum Schiff gehörte, Platz. Praktischerweise hatten Kim und Alissa den Aufbruch verschlafen, so brauchte nicht einmal gelost zu werden, wer an Bord bleiben mußte, und alles schien sich wunderbar zu fügen, bis, ja, bis …
Marc nahm einen tiefen Schluck des leichten türkischen Rosés und sah tief in Francos Augen. »Also gut, Franz, wir haben alle weggeschickt, weil wir heute unseren Hochzeitstag feiern und dieses Ereignis stilgerecht begehen wollten. Also, Pia und ich, wenn du verstehst …«
»Nenn mich nicht Franz, das tun nur meine Eltern, mein Lieber, wie du weißt, und was heißt hier Hochzeitstag? Wenn ihr dafür einen Hochzeitstag braucht …?«
Pia mußte lachen. Sie hatten kürzlich festgestellt, daß sie beide wieder mal das schicksalhafte Datum vergessen hatten. Den vierzehnten Dezember. In diesem Augenblick tanzte Kim um die Ecke, mit Alissa im Schlepptau und zwei jungen Frauen sowie zwei jungen Männern. Sie waren alle sichtbar gut gelaunt, lachten und bestellten bei Hussein Getränke.
Marc schaute kurz aufmerksam hin. »Nehmen die was?«
Franco zuckte die Achseln. »Ich bin nicht ihr Vater.« Er nippte vorsichtig an seinem Glas und verzog angewidert sein Gesicht. »Ein bißchen Koks vielleicht … keine Ahnung!«
»Na, du machst mir Spaß …« Pia betrachtete Kim genauer. Das fehlte gerade noch. Und erst Alissa, ein geliehenes Kind sozusagen.
»Wo hast du die denn aufgegabelt?« wollte Marc wissen. Er hatte sich seinem Schicksal ergeben und angelte nach einer Zigarre.
»Sie laufen mir scharenweise zu.« Franco strich sich betont kokett übers Haar, was Pia dazu brachte, ihm einen längeren Blick zu gönnen.
Sie registrierte die dicke goldene Kette um seinen Hals, die Anzeichen alternder Haut darunter, das Gesicht mit dem fliehenden Kinn, den rehbraunen Augen und der hohen Stirn mit den zurückgegelten Haaren. Sie lehnte sich zurück: »Es sind Models, und sie wollen Marc kennenlernen, weil sie sich was davon versprechen. Paß auf, gleich werden sie hier zur großen Show auflaufen.« Ihr Tonfall war leicht spöttisch, leicht gelangweilt. Sie war keines dieser gazellenhaften Geschöpfe, denen Marc beruflich auf Schritt und Tritt begegnete. Sie war eine Frau aus Fleisch und Blut, mit Charme, beiden Beinen auf dem Boden, ihrem Verstand im Hier und Jetzt, einer Kleidung, die sich ausschließlich nach ihrem eigenen Geschmack richtete, und einem energischen Kinn im ovalen Gesicht. Ihre Haut war von Natur leicht getönt, sie hatte Sommersprossen über der schmalen Nase, braune Augen mit gelben Sprenkeln, die Augenbrauen so dunkelbraun wie die Wimpern, und hatte dichte halblange Haare, die sie zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Auf Make-up verzichtete sie, wie meistens.
Franco machte eine wegwerfende Bewegung. »Sie sind noch nicht groß im Geschäft – doch die …«, er wies auf ein athletisch gebautes Mädchen mit olivfarbener Haut und klassischen Gesichtszügen, »… die ist in Griechenland schon ein Star. Während der Olympiade war sie ständig auf den Titelblättern und im Fernsehen.«
Marc warf einen kurzen Blick hin und nickte dann. »Ja, hat was. Griechin? Wie kommst du denn zu so einer Göttin?«
»Und auch gleich noch zu einer, die dir vom Olymp herunter den Weg zu unserer ›Dogukan‹ zeigt?« Pia zog bewundernd die Augenbrauen hoch. »Quer durchs Mittelmeer?«
»Ach, jetzt hör auf.« Franco schüttelte den Kopf. »Als ob nicht längst bekannt wäre, wo ihr euch um diese Jahreszeit immer herumtreibt.«
»Bisher hat uns außer dem Chef unserer türkischen Zulieferfirma noch niemand aufgespürt …« Der Rest von Marcs Satz ging in lauter Musik unter. Jetzt waren es nicht nur die Lautsprecher aus dem Rennboot, die dröhnten, sondern auch die Anlage der »Dogukan« war eingeschaltet worden.
»ABBA«, stöhnte Marc und hielt sich die Ohren zu. »Haben wir das nicht schon längst abgefeiert?«
»Erinnere dich, wir hatten eine Einladung zur Premierenfeier des Musicals in Stuttgart«, rief ihm Pia zu.
»Wie in der Mode«, grinste Franco. »Alles kommt wieder!«
Doch zunächst kam der Kapitän. Durch die Fenster gab er ein Zeichen ins Innere des Schiffes, und augenblicklich wurde die Lautstärke heruntergedreht. Er wies auf die jungen Gäste, die ausgelassen hinter ihm tanzten.
»Ihre Tochter läßt fragen, ob wir nicht ein Seil hinter uns herziehen könnten. Sie würde sich mit ihren Freunden gern dranhängen.«
»Wir fahren doch gar nicht.« Marc wies auf das nahe Ufer und auf den Baum, an dem das Heck des Schiffes angeleint worden war. »Ganz offensichtlich sind wir festgemacht.«
»Sie meint, wir könnten den anderen in Richtung Fethiye entgegenfahren, dann könnten sie gleich mitmachen.«
»Könnten wir das?« Marc schaute Pia an.
»Theoretisch schon.« Pia musterte die tanzenden Jugendlichen. »Hatten die Alkohol?« fragte sie den Kapitän.
Der schüttelte den Kopf. »Bitter Lemon. Ich habe Hussein schon gefragt.«
»Und dein Renntiger? Den können wir nicht hinterherziehen, wenn wir eine Horde Youngster an der Leine haben.«
Franco stand schon auf. »Na, endlich kommt Leben in die Bude.« Er winkte einem der Jungen zu. »Wir ankern. Da hinten ist eine geschützte flache Stelle!«
Die »Dogukan« hatte schon Fahrt aufgenommen. Der Dieselmotor stampfte durch ein Meer, das abends wunderbar glatt wurde, jetzt aber noch immer gewaltig in Bewegung war. Es wehte ein scharfer Wind, und überall schossen kleine Wellen spitz nach oben, ohne Gleichklang, sie züngelten empor und ließen sich wieder fallen, um gleich darauf wieder hochzuschießen. Der Wind strich über Bord und wirbelte die Hitze auf, die die brütenden Mittagsstunden auf den Planken hinterlassen hatten.
»Action!« rief Marc, aber sein Scherz ging unter, denn nun tanzten wirklich alle, selbst Pia und Franco. Marc hatte sich ein Glas Wasser geholt und schaute aus sicherer Entfernung zu. Es waren wirklich hübsche Körper, die sich da vor ihm bogen. Sie waren nicht mehr ganz so mager wie zu Zeiten des Grungy-Look, sie hatten wieder Busen und Pobacken, und auch die Männer bestanden nicht mehr nur aus Sixpacks. Marc ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren und betrachtete ein Mädchen, das neben seiner Tochter tanzte. Sie agierte wie auf einer Bühne, mit kontrollierten Bewegungen und einer Mimik, als ob vor ihr im Publikum Tausende von begeisterten Fans säßen. Sicherlich steckte da jahrelanges hartes Training dahinter, dachte Marc. Eine Weile sah er ihr zu und war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel oder nicht, dann ging sein Blick auf Pia, die sich so sinnlich bewegte, so in sich versunken war, als ob nichts um sie herum existierte. Er kannte das an ihr, dieses Entrücktsein, das ihn am Anfang ihrer Beziehung gestört hatte, so als ob sie sich ihm entzöge, nur noch für sich selbst da wäre. Vielleicht hatte er sie des wegen geheiratet, weil er den Gedanken nicht ertrug, sie könne sich ihm tatsächlich entziehen, in eine andere Welt, mit einem ande ren Kerl. Blödsinn, er schüttelte den Kopf über sich selbst. Er war Realist, solche Gedanken hatten ihm fremd zu sein. Sein Blick schweifte noch einmal über die tobende Schar vor sich. Kim und Alissa waren offenbar völlig in ihrem Element. Kim tanzte mit einem der Jungs. Sie sah gut aus, hatte die verführerischen Augen und den vollen Mund ihrer Mutter geerbt und auch das dichte dunkelbraune Haar, das sie mit blonden Strähnchen aufgehellt hatte und das ihr nun lang und wild um den Kopf wirbelte. Sie war graziler als Pia und auch ein wenig größer. Marc lächelte. Sie war ein fröhlicher, selbstbewußter Mensch, und, das war ihm klar, ihr stand die Welt offen. Aber auch Alissa gefiel ihm, sie war eine hübsche junge Frau mit sportlicher Figur und entschlossenen Bewegungen, sie hielt sich gern im Hintergrund und schirmte sich hinter ihrem dichten Pony gegen die Welt ab. Alissa wirkte immer etwas ernster als Kim, sie hatte sehr feine, klare Gesichtszüge, und ihre schulterlangen dunkelblonden Haare waren meist zusammengebunden. Beide konnten im Kreis der Models gut mithalten, fand Marc – und überhaupt, dachte er gleich darauf, war fast zu bezweifeln, daß Francos Mitbringsel wirklich Models waren. Dazu waren sie eindeutig zu hübsch.
Sie hatten schon ein gutes Stück zurückgelegt, das Meer glitzerte, die Küste war etwas zurückgetreten, die Zahl der Schiffe um sie herum nahm zu, je näher sie Fethiye kamen, aber noch immer war ihnen das zur »Dogukan« gehörende Schnellboot nicht entgegengekommen.
Kim kam zu Marc gelaufen: »Sollen wir auf die anderen warten oder uns gleich in die Fluten werfen?«
Marc gab den Ball mit einem Blick an Pia weiter.
»Wenn die mit ihren Einkäufen zurückkommen, wird es hier erst mal die große Schatzbesichtigung geben, denke ich.« Sie lächelte. »Ungestörter ist es sicherlich jetzt, und ihr seid entsprechend aufgepeitscht, was die anderen nicht sind. Ich denke, eine Abkühlung tut euch gut!«
Marc nickte, als seien es seine Worte gewesen.
Kim stürzte zum Kapitän. »Ferhat«, rief sie, »läßt du die Leine ins Wasser werfen? Aber ras nicht so!«
Ferhat lachte, wohl wissend, daß die »Dogukan« überhaupt nicht rasen konnte, und gab Kommando zum allgemeinen Schwimmgang. Er nahm die Fahrt ganz raus, der Maschinist Shabaz ließ für alle Fälle das kleine Beiboot ins Wasser und ging in Position. Hussein befestigte das dicke Tau am Heck und warf es ins Wasser. Träge schlängelte es sich hinter dem Boot her. Dann ließ er die Treppe herunter, aber längst waren alle über Bord gesprungen. Pia bewaffnete sich sofort mit ihrer Digitalkamera und brachte sich in Position.
»Soll das heißen, du machst nicht mit?« rief Franco zu ihr hoch.
»Gut erkannt«, lachte Pia. »Einer muß ja das Ereignis für die Nachwelt festhalten!«
»Spielverderber, Spielverderber«, schallte es von unten.
»Ich glaube, sie meinen dich.« Pia drehte sich nach Marc um, da kam er auch schon an ihr vorbeigelaufen und sprang mit einem vollendeten Kopfsprung über die hinteren Sonnenmatratzen ins Wasser. Zwischen den anderen tauchte er wieder auf, sie hießen ihn lautstark willkommen, dann reihten sie sich auf, griffen nach dem Tau und brüllten mehrstimmig: »Gas!«
»Kann auch nichts passieren?« fragte Pia Ferhat, der den Gashebel sachte nach vorn schob.
»Nein, an die Schraube kommen sie nicht ran, andere Boote sind keine Gefahr, und sie können alle schwimmen«, sagte er und fügte ein »Denk ich doch« an.
»Denk ich auch«, bestätigte Pia und machte die ersten Fotos von den Köpfen, die wie Melonen auf den Wellen tanzten. Gelächter schallte hoch, es schien allen wirklich Spaß zu machen, sie tauchten auf und ab, und es dauerte nicht lange, da schallte es erneut mehrstimmig nach oben: »Schneller, schneller …«
Pia suchte Marcs Blick, das war etwas schwierig, denn von hier oben sahen alle gleich aus, aber er hob die Hand und gab mit nach oben gerecktem Daumen das Zeichen, daß mehr Tempo okay sei.
»Na, dann«, sagte Pia und nickte Ferhat zu. Er tippte kurz an seine Kapitänsmütze und gab mehr Gas. Sie fotografierte ihn, wie er so lässig in seiner weißen Uniform am Ruder stand, blitzende Zähne im braungebrannten, markanten Gesicht, den Schalk in den Augen. Der hat über den Sommer hier bestimmt einiges am Laufen, dachte Pia, nicht alle hatten Partner dabei, und wenn, dann nicht unbedingt so einen. Sie lächelte in sich hinein. Sie hatte gehofft, Nadine hätte sich nach dem Kummer mit ihrem Mann ein bißchen mit ihm trösten können, aber entweder war sie nicht sein Typ oder erkannte die Chance nicht. Dafür, das mußte sie sich eingestehen, ging sie allen hier mit ihrem ewigen Lamento auf die Nerven. Friedrich war fremdgegangen, schön, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß das nicht alles war, da schlummerte noch etwas im verborgenen. Anja und sie hatten schon versucht, der Sache etwas näherzukommen, aber Nadine wollte offensichtlich nicht tiefer nach den Gründen forschen; so hatten sie es fürs erste auf sich beruhen lassen.
Pia konzentrierte sich wieder auf die Köpfe unter ihr. Das Geschrei und das Gelächter waren groß, ganz offensichtlich hatte Ferhat die richtige Geschwindigkeit getroffen. Sie versuchte, einzelne Gesichter mit dem Zoom heranzuholen und zu fotografieren, aber die Sonne stand mittlerweile recht schräg hinter ihnen, und sie erkannte nur noch schwarze, runde Bälle im rötlichen Gegenlicht.
»Werden die nicht langsam müde?« wunderte sie sich, aber Ferhat zuckte die Achseln.
»Sie sind jung, was soll’s, sie haben Spaß, ist doch schön!«
Sie sind jung. Pia dachte an Marc und mußte unwillkürlich lächeln. Wenn er das gehört hätte, wäre er vor Stolz geplatzt. Und erst Franco, der die halbe Formel 1 aufkaufen würde, wenn er könnte, nur um vorne mit dabeizusein. Sie selbst war gerade zweiundvierzig geworden, war sechzehn Jahre jünger als ihr Mann und gut elf Jahre jünger als Franco. Aber für den zählte nur »Frischfleisch«, und dank seiner Beziehungen und seiner Barschaft sah es zumindest immer so aus, als ob er welches bekäme.
Obwohl – sie überlegte –, welches der Mädchen war wohl mit ihm zusammen? Die wirklich bildhübsche Griechin? Die hatte ihn doch gar nicht nötig, die würde ihren Weg alleine machen. Die andere? Schien auch nicht so. Oder einer der Jungs? Auch möglich. Sie kannte Franco schon lang, und er fütterte die Gazetten dieser Welt gern mit den hübschesten Frauen zu seinen Füßen, aber was er wirklich drauf hatte, wußte sie nicht. Zumindest hatte er nie lang eine. Mög licherweise war an der von ihm so nachhaltig herausgestellten Männlichkeit gar nichts dran. Wer sah schon in die Menschen hinein?
Pia schaute wieder zu den Köpfen hinunter, im selben Moment drosselte Ferhat die Maschine.
»Was ist?«
»Zwei haben losgelassen.« Er wies auf zwei Köpfe, die hinterherschwammen.
Shabaz war schon hingefahren, um sie mit seinem Beiboot aufzufischen, aber sie winkten ab. Die »Dogukan« dümpelte nur noch, und die anderen protestierten lauthals mit dem schlaffen Seil in den Händen, aber Marc kraulte zum Niedergang vor, und für Pia war das das sichere Zeichen, daß es nun genug sei.
»Ich denke, es reicht«, sagte sie zu Ferhat, »und wer noch überschüssige Kräfte hat, kann ja Wasserski fahren!«
Ferhat gab den Schwimmern das Schlußzeichen, und nachdem sie lange genug ohne Erfolg gebettelt hatten, gaben sie auf und erklommen einer nach dem anderen die Treppe. Gut gelaunt kamen sie wie eine Horde Sprößlinge beim Kindergeburtstag an, zerzaust und mit glühenden Gesichtern, warfen sich triefend naß auf die blauen Polster im Heck, und Kim bestellte für alle einen riesigen Krug Eiswasser mit Zitronenspritzer.
Marc ließ sich am Tisch in einen der Stühle sinken und lachte. »Mein, Gott, so ein Blödsinn«, sagte er, »aber schön. Hat Spaß gemacht. Das nächste Mal machst du mit, gibt’s eben mal keine Fotos!«
»Hab sowieso kaum etwas draufbekommen, Wellen, ein paar Köpfe dazwischen, ein bißchen Gischt und viel Gegenlicht. Wir können es ja mit den anderen wiederholen, Nadine tut es bestimmt gut, vielleicht wäscht es ihr diese dumme Geschichte aus dem Kopf.«
Marc nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserglas, das Hussein vor ihn hingestellt hatte, und schaute dabei über den Glasrand zu den Jugendlichen auf der großen Liegefläche.
»Wo ist eigentlich Franco?« fragte er dann.
»Franco?« Pia lachte. »Wahrscheinlich vor irgendeinem Spiegel, um seine Haarpracht wieder aufzurüsten!« Sie fuhr Marc über seine stoppelkurzen Haare. »Das hast du natürlich nicht nötig …«
Marc stellte das Glas ab und lehnte sich genüßlich zurück. »Ich muß mich ja auch nicht ständig beweisen!«
»Beweisen nicht, aber anstrengen schon!« konterte Pia. »Mich hält man nicht übers Geld!«
Marc lachte und hielt abwehrend beide Hände hoch: »Ich weiß, ich weiß.«
Alissa hatte sich aus der Gruppe der anderen gelöst und kam zögernd an den Tisch zu Marc und Pia.
»Störe ich?«
»Wie könntest du? Natürlich nicht«, erwiderte Pia. »Setz dich doch!«
»Es ist nur«, in Alissas Gesichtszüge trat der Ausdruck von Entschlossenheit, »ich hab irgendwie das Gefühl, daß einer fehlt. Und ich kann mich nicht daran erinnern, daß Franco mit uns an Bord kam. Aber vielleicht habt ihr ihn ja irgendwo gesehen? Ich kann mich ja auch täuschen.«
Pia richtete sich auf. »Du meinst, daß er überhaupt nicht auf dem Schiff ist? Auf der Toilette oder so? Du meinst, daß er gar nicht die Treppe mit euch hinaufgekommen ist?«
Alissa zuckte leicht die Schultern. »Ich weiß es eben nicht. Wir waren so viele, und ich habe nicht speziell auf ihn geachtet. Aber jetzt ist er nicht hier.«
Pia und Marc schauten sich an. »Wir haben auch eben darüber gesprochen, aber wir meinten, er könnte irgendwo vor einem Spiegel stehen.«
Marc runzelte die Stirn. »Also, laß uns die Sache mal ruhig angehen. Er ist ein guter Sportler. Und das da unten war ja keine Leistung. Und wenn ihm wirklich etwas passiert wäre, hätten wir das merken müssen, also wird er irgendwo sein. Aber ich informiere jetzt trotzdem mal Ferhat, und ihr durchkämmt das Schiff. Vielleicht fehlt ja auch ein Mädchen?«
Außer Franco fehlte niemand. Kein Mädchen, kein Junge. Sie liefen alle ausgelassen los, riefen seinen Namen und lachten dabei, suchten in den Toiletten, der Bordküche und den Kajüten, aber als sie zurückkamen, war die fröhliche Ausgelassenheit einer Beklemmung gewichen. Sie fanden sich alle am großen Tisch ein.
»Das kann doch nicht sein!« Marc starrte ratlos aufs Wasser. »Er war doch mitten unter uns. Zwischen uns!«
Ferhat hatte die »Dogukan« gewendet und fuhr die Strecke langsam zurück, Shabaz und Hussein waren im Beiboot unterwegs. Per Funk hatte Ferhat den Rest seiner Crew mit den Gästen angewiesen, sofort zurückzukommen, das Schnellboot würde gebraucht. Noch zögerte er, die Polizei anzurufen. »Was sollen sie tun?« sagte er. »Sie haben auch keine Röntgenaugen.«
Hilflos starrten jetzt alle aufs Wasser, versuchten durch jede Welle hindurchzuschauen, während Marc jeden einzelnen befragte.
Wie es aussah, war Franco am Anfang zwischen Kim und Alissa gewesen, dann hatte er überholt und sich zwischen die beiden Mädchen von seinem Boot gelegt, irgendwann war er zwischen den Jungs und schließlich auch überraschend vor Marc aufgetaucht. Allem Anschein nach hatte er sich aus seinem Positionswechsel einen Spaß gemacht. Körperkontakt mit jedermann.
»Er wird uns doch nicht verarschen und sich irgendwo vor uns verstecken?« mutmaßte schließlich einer der Jungs. »Der macht öfters so einen Scheiß!«
»Wenn er das tut, werfe ich ihn eigenhändig über Bord.« Pia war es nicht mehr nach Scherzen zumute. Vorsichtshalber schwärmten jedoch alle noch einmal aus und riefen nach ihm. Dann kamen sie erneut am großen Tisch zusammen.
»Jetzt wird’s mir angst«, sagte Pia, und sie fror trotz des warmen Windes. »Ich wage es ja kaum auszusprechen, aber wenn er hier nicht ist und nirgends herumschwimmt«, sie schaute fragend zu Ferhat, der aber langsam den Kopf schüttelte, »dann ist er ertrunken!«
Sie schauten sich alle betreten an. Keiner rührte sich.
»Dreh den Film zurück«, sagte Kim schließlich lahm, aber es kam kein Lacher. Alle warteten auf eine Eingebung, auf ein Wunder, auf einen Franco, der plötzlich vom Mastkorb herunter »verarscht, verarscht« ruft.
»Nun gut«, sagte Pia schließlich, »was können wir tun?«
Ferhat gab Ferngläser aus.
»Ist das auch exakt die Strecke, die wir vorhin gefahren sind?« wollte Pia wissen.
»Exakt die Strecke«, bestätigte Ferhat. »Und bei diesen Verhältnissen sieht man jeden einzelnen Schwimmer ohne Probleme!«
»Auch ohne Fernglas«, meinte Pia, hob ihres aber trotzdem an die Augen.
»Auch ohne«, nickte Ferhat, und dann griff er zu seinem Handy.
Noch vor dem Schnellboot traf die türkische Polizei ein. Am Bug des Polizeiboots war ein fest verankertes Maschinengewehr auf die »Dogukan« gerichtet.
»Davon habe ich immer geträumt«, seufzte Marc. »Ein Unglück zieht das nächste an!«
»Sie werden uns nicht gleich erschießen«, wandte Pia ein und beobachtete, wie Ferhat den Polizisten eine Leine zuwarf.
»Hast du eine Ahnung, wie türkische Gefängnisse von innen aussehen? Hoffentlich sind Francos Freunde sauber!«
»Das habe ich sie vorhin schon gefragt. Sie sagen, sie hätten nichts dabei. Keinen Stoff jedenfalls!«
Marc holte tief Luft, dann erhob er sich. »Hoffen wir mal, daß das so stimmt!«
In ihren Uniformen wirkten die Polizisten an Bord zunächst wie Außerirdische, aber in ihrer Gegenwart kam rasch ein Gefühl unanständiger Nacktheit auf. Sie legten sich schließlich alle Badetücher um. Die beiden Polizisten schenkten jedem einen eindringlichen Blick und verschwanden mit Ferhat im Deckhaus, das eine Mischung aus Bar, Eßzimmer, Wohnzimmer und dem Steuerstand des Kapitäns war. Es hatte auf beiden Seiten einen Eingang und war durch die großen Fenster lichtdurchflutet. Vom Deckhaus führten auch die Treppen hinunter in die Kajüten, achtern zu den beiden großen Heckkajüten, der kleineren Kapitänskajüte und der gegenüberliegenden Kombüse, und nach vorn zu den weiteren vier Passagierkajüten, während sich die Crew einen Schlafraum unter einer Luke im Bug des Schiffes teilte.
Die Jugendlichen schauten den Männern ratlos nach, und Marc ergriff die Initiative, indem er sie übers Schiff verteilte, damit sie aus verschiedenen Positionen heraus die Wasseroberfläche absuchen konnten. Es war still an Bord, jeder hoffte und beschwor seine Heiligen, daß irgend etwas geschehe, daß Franco plötzlich wieder auftauchen möge.
Es dauerte gut fünf Minuten, die für Pia nicht vergehen wollten, bis die Polizisten mit Ferhat wieder erschienen. Dann verlangten sie Pässe, und als die Jungs und Mädchen, die mit Franco gekommen waren, diese nicht vorweisen konnten, nahmen sie die Personalien auf.
Pia dauerte das alles zu lang. »Wenn er wirklich noch irgendwo herumschwimmt, ist er jetzt garantiert abgesoffen«, flüsterte sie Marc zu und kassierte dafür einen strafenden Blick eines der Polizisten.
»Ich möchte wissen, was jetzt geschieht«, sagte sie daraufhin laut zu Ferhat. »Hubschrauber, damit man tiefer ins Wasser sehen kann? Polizeitaucher? Unsere Pässe zaubern Franco jedenfalls nicht her!«
Ferhat übersetzte, aber er schien etwas anderes zu sagen, denn der eine tippte an seine Mütze und warf Pia einen bestätigenden Blick zu.
»Du hast nie und nimmer übersetzt, was ich gesagt habe«, sagte sie zu Ferhat. Der lächelte ihr beschwichtigend zu und sagte etwas zu dem Polizisten, der daraufhin grinste.
Pia verschränkte die Arme.
»Ist er tot?« hörte sie ihre Tochter von hinten flüstern, und zum ersten Mal ging Pia damit die ganze Tragweite dieser Geschichte auf. Nicht nur, daß hier eine Suchaktion gestartet wurde, nein, es ging tatsächlich um Leben und Tod. Aber Franco tot? Das war einfach zu absurd. Gerade eben war er hier noch herumgeturnt, und jetzt sollte er tot am Meeresgrund liegen? Tot? Ihr Verstand weigerte sich, das Unfaßbare anzunehmen.
Die Polizisten wollten Francos Rennboot sehen.
»Und hier?« fragte Pia einigermaßen fassungslos. »Was ist jetzt hier? Da muß doch was passieren!«
Ferhat nickte.
»Und? Was passiert jetzt?«
»Sie wollen das Rennboot sehen«, wiederholte der Kapitän.
»Das ist alles? Das Rennboot? Das hat doch mit der Sache hier nichts zu tun!«
Ferhat machte eine hilflose Geste.
»Und finden wir die Stelle denn überhaupt wieder, wenn wir jetzt wegfahren?« Wozu? fragte sich Pia im selben Moment, um nach ihm zu tauchen?
»Das wäre kein Problem, aber wir nehmen unser Schnellboot, es dürfte gleich eintreffen«, sagte Ferhat leichthin, aber sein Gesicht war düster, und Pia wurde klar, daß die ganze Angelegenheit auch für ihn ein Problem werden konnte. Ein Toter auf einem der Ferienschiffe? Ob seine Karriere das überstand? Ihr wurde schlecht. Marc sah es ihr an und nahm sie in den Arm.
»Vielleicht träume ich ja auch«, flüsterte sie.
»Wenn, dann träumen wir gemeinsam«, gab er zurück, und sie hielten sich eine Weile aneinander fest.
»Das Schnellboot kommt!« Alissas Ruf schreckte sie auf. Alle liefen zu ihr hin. Sie hatte noch immer das Fernglas vor den Augen und wies auf einen kleinen Fleck in der Ferne, der schnell größer wurde.
»Gott sei Dank«, sagte Pia, wußte aber selbst nicht, warum. Die anderen konnten nichts retten und brachten nur ein noch größeres Durcheinander. Sie löste sich von Marc und wollte Kim in den Arm nehmen.
»Laß nur.« Kim zog die Schultern hoch. »Es geht schon!« Die Zurückweisungen taten Pia heute noch manchmal weh, obwohl sie geglaubt hatte, sich in der langen Phase der Pubertät daran gewöhnt zu haben. Sie trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie sich Kim bei Alissa einhängte und sie dicht aneinandergeschmiegt das Boot erwarteten.
Die Polizisten warteten auch.
Die anderen waren ruhig wie nie, als sie einer nach dem anderen die Schiffstreppe heraufkamen. Ferhat wies einen seiner Leute an, die »Dogukan« zu übernehmen, dann stieg er mit Marc ins Schnellboot. Einen der Jungen nahmen sie mit; er wußte, wo im Rennboot Franco den Schlüssel versteckt hatte, und kannte sich an Bord von allen am besten aus. Die Polizisten starteten ihr Schiff, gemeinsam fuhren sie los.
Pia ging zum Tisch und ließ sich auf die breite Bank sinken. Die anderen kamen nach. Sie rückten eng zusammen und schoben Stühle dazu, aber noch immer war kein Wort gefallen.
»Ist denn das die Menschenmöglichkeit«, sagte Pia schließlich und löste damit einen Schwall an Fragen aus. Alle redeten durcheinander, die Neuankömmlinge fragten die Jugendlichen aus, bis Pia schließlich »stop!« sagte. Es war laut genug, alle schauten sie an.
»Was ist, wenn Franco irgendein Mistzeug auf seinem Boot hat?«
»Wir haben nichts«, sagte die schöne Griechin.
»Das weiß ich schon«, nickte Pia ihr zu. »Das habt ihr mir schon gesagt – ihr nicht, aber er vielleicht? Was passiert dann?«
»Darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.« Uli kratzte sich am Kopf und verzog das Gesicht. »Daß man euch aber auch nicht einmal für drei Stunden alleine lassen kann!«
»Mir ist jetzt nicht nach Scherzen zumute«, wies ihn Pia zurecht.
»Mir auch nicht«, entgegnete Uli.
»Warum müssen wir uns jetzt ein Boot anschauen, wenn wir einen Mann suchen? Frag ihn das mal!« Marc konnte seinen Unwillen kaum noch zügeln.
Sie standen auf Francos Rennboot, einer maßgeschneiderten Luxusyacht in Zigarrenform, fünfzehn Meter lang, ausgestattet mit allen technischen Raffinessen, einem 900-PS-Motor und einer erstaunlich großen Kajüte. Die beiden Polizisten hatten wegen des flachen Wassers schon Schwierigkeiten, an den Offshore-Cruiser heranzukommen, und als es endlich soweit war, inspizierten sie alles äußerst gründlich und erklärten Ferhat dann, daß das Boot vorerst beschlagnahmt sei.
Ferhat und Marc schauten sich an.
»Vielleicht wäre Franco noch zu helfen. Statt dessen stehen wir hier herum! Es war völlig sinnlos und idiotisch, die Polizei anzurufen!«
Einer der Beamten drehte sich langsam zu ihm um.
»Passen Sie auf, was Sie sagen«, sagte er in langsamem, aber deutlichem Deutsch.
Marc verschlug es die Sprache.
»Wir werden Ihren Freund finden, aber vorher werden wir dieses Boot genau untersuchen.«
Marc war sich nicht mehr so sicher, ob er überhaupt wollte, daß Franco sein Freund war.
»Und Sie werden so lange Ihr Schiff nicht verlassen!«
»Ich werde was nicht?«
»Sie alle werden sich zumindest die nächsten drei Tage auf Ihrem Schiff zu unserer Verfügung halten!«
Jetzt sprach er sogar plötzlich besser als Ferhat. Marc war auf der Hut.
»Wir haben gar nicht für alle Platz!« Im Geiste zählte er die Kabinen durch. Das machte drei Leute pro Bett.
»Sie werden sich arrangieren!«
Einen Teufel werde ich tun, dachte er, sprach es aber nicht aus. »Franco Bergheimer ist ein sehr bekannter Mann. International bekannt«, versuchte er es und hoffte, es möge in den Ohren der Polizisten wie eine versteckte Drohung wirken.
»Das ist uns bewußt!« Der Polizist zeigte sogar ein Lächeln.
Allerdings erschien es Marc wenig freundlich. Er war kein Menschenkenner wie seine Frau, aber der hier hatte die Ausstrahlung eines Wolfs vor der Beute. Marc beschloß, sich vorerst bedeckt zu halten. Das ist uns bewußt, dachte er. Interessant. War der Polizei schon vorher bekannt, wer sich da in ihren Gefilden herumtrieb, oder woher konnten sie das so schnell wissen? Höchstens über Ferhat, aber Marc hatte seine Zweifel, daß dem Kapitän Bergheimer überhaupt ein Begriff war – er sah nicht nach einem eifrigen Leser bunter Jetsetblätter aus.
»Es war meine Idee!« Kim saß dicht neben Alissa auf dem Deckaufbau, die Füße auf den Planken, die Augen starr auf das Meer gerichtet. Um die beiden herum standen die anderen. »Wenn ich nicht auf diese Idee gekommen wäre, wäre das alles nicht passiert!«
»Genausogut könntest du sagen, wenn wir nicht gekommen wären, wäre es nicht passiert!« Jens, mit dem Kim vorhin getanzt hatte, beugte sich vor. »Ist doch Schwachsinn«, sagte er. »Was passiert, passiert, que sera, sera!«
»Du meinst, man kann nicht eingreifen?« Inka, die flachsblonde Schwedin, die Marc beim Tanzen beobachtet hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann macht man es sich aber leicht. Dann muß man nie Verantwortung für etwas übernehmen. Ich glaube nicht, daß die Dinge vorbestimmt sind!«
Ein Geräusch schreckte sie auf, etwas näherte sich am Himmel mit viel Lärm und wurde schnell größer.
»Ein Hubschrauber!« Kim stand auf und rannte nach hinten an den langen Tisch, an dem ihre Mutter und deren Freunde saßen. »Mutti, ich glaube, sie schicken einen Hubschrauber!«
Augenblicklich standen alle auf und traten an die Reling.
»Na, endlich!« Pia nahm ihr Fernglas und schaute in den Himmel. »Gut. Sieht offiziell aus.« Sie ließ das Glas sinken.
»Was ist?« wollte Kim wissen, und auch die anderen schauten sie an.
»Was soll er jetzt noch finden?« fragte Pia und drehte sich um. »Wie lange kann ein Mensch tauchen?«
»Ich weigere mich zu glauben, daß er einfach untergegangen ist! Er war mitten unter uns, wir hätten das doch mitgekriegt!«
Der Hubschrauber stand nun über ihnen und entfachte dabei einen solchen Sturm, daß das Wasser um die »Dogukan« herum aufgepeitscht wurde und Bade tücher übers Deck flogen. Anscheinend standen die Piloten im Funkkontakt mit den Polizisten, denn sie stiegen höher und flogen auf zwei Boote zu, die auf das Schiff zukamen.
»Marc und die Polizisten«, flüsterte Pia und fragte sich, was sich wohl auf Francos Boot abgespielt hatte.
Es war wohl Ferhat, der nun vom Speedboot aus die Anweisung gab, das Wasser gemeinsam und systematisch abzusuchen. Gebannt standen auf der »Dogukan« alle im Heck und beobachteten, wie der Hubschrauber von den beiden Booten in die Mitte genommen wurde und sie langsam die Strecke zurückverfolgten, die die »Dogukan« mit den Schwimmern im Schlepptau genommen hatte. Einmal kreiste der Hubschrauber, und alle hielten die Luft an, aber es war offensichtlich eine Täuschung, denn er flog dann doch weiter. Zwischenzeitlich hatten sich andere Schiffe genähert, ob aus Neugierde oder um ihre Hilfe anzubieten, war unklar.
»Wie die Gaffer auf der Autobahn«, kommentierte Jens und holte für Kim und sich ein Glas Wasser.
Alissa ging ebenfalls zum großen Krug und brachte Pia ein Glas mit. Sie bedankte sich und drehte es in der Hand. »Und vor knapp zwei Stunden wollte er noch Champagner«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Irgendwie macht das keinen Sinn!«
»Zumindest für uns nicht«, fügte Alissa hinzu.
»Denkst du an höhere Zusammenhänge?« Pia schaute sie aufmerksam an.
»Was es da gibt oder nicht, weiß ich nicht, aber ich denke, alles hat einen höheren Sinn, sonst wären wir nicht da.«
»Und hat es dann auch einen Sinn, daß jemand quasi vor unseren Augen stirbt?«