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Der Mutter wird in den ersten Lebensjahren des Kindes immer noch eine größere Kompetenz zugesprochen. Der Statistik zufolge nehmen Väter nur durchschnittlich drei Monate Elternzeit in den ersten drei Lebensjahren des Kindes. Dabei werden die Fähigkeiten und die Bedeutung des Vaters insbesondere für die Entwicklung der Kinder oft unterschätzt. Meist ist es der Vater, der den Entdeckergeist von Kleinkindern fördert und damit Selbstvertrauen und Autonomie stärkt. Babyprobleme zum Beispiel beim Essen oder Schlafen lösen sich dann oft wie von selbst auf. Ein fundierter und erfahrungsbasierter Ratgeber, wie Mutter und Vater sich zum Wohle ihres Kindes in ihren jeweiligen Rollen gut ergänzen, und ein Plädoyer, den Papa einfach mal machen zu lassen!
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Seitenzahl: 285
Josephine Schwarz-Gerö
Yes, he can
So fördern Väter die frühkindliche Entwicklung
Patmos Verlag
Vorwort
I. DIE GROSSEN ZUSAMMENHÄNGE
1. Einführung
Die frühe Kindheit
Das erste Lebensjahr
Vater und Gesellschaft
2. Was die Wissenschaft über Babys und Eltern herausgefunden hat
Säuglingsforschung und Co
Über die Sprachentwicklung
Bindung und Hierarchie
Wer ist Mutter? Wer ist Vater?
II. DIE GROSSE AUFGABE DES VATERS
3. Über Autos und Autonomie
Ein Auto fährt »selbst«
Projekt Vater: ein Dreistufenplan
4. Im sicheren Hafen: Zeit der Mutter 0–6 Monate
Mutterliebe
Die große Ausnahmezeit
Oma ist nicht gleich Oma
Wenn das Baby schreit
Ernährung
Aufgabenteilung – wickeln oder nicht?
5. Auf Übungsfahrt: Zeit des Vaters 7–12 Monate
Mit Papa zu zweit
Ich und du
Neue Regeln – Vaterspiel
Eine Besonderheit der Vaterrolle
6. Familie auf Kurs: Zeit des Gleichgewichtes 13–36 Monate
Wenn das Baby nicht mitmacht
Zwei und zwei sind nicht drei
Zu dritt
Grenzen und Manieren
7. Wenn die Route nicht stimmt – Klippen und Verirrungen
Der Vater als Autorität
Die Sonderstellung der ersten sechs Monate nicht beachten
Zu früh mit dem geplanten Familienmodell starten
Beibehalten der Sonderregeln
Allein gelassen
Gespenster im Kinderzimmer
Moderne Medizin und frühe Kindheit
III. DIE KLEINEN DETAILS
8. Mit dem Baby sprechen
Bei Handlungen sprechen
Spiegelndes Sprechen
»Machst du mit?« – Über das Fragenstellen
»Lass das!« – Befehlsform
»Was machen wir da?« –Konflikte regeln
9. Sinnvolle Zusammenhänge
Mit Spielzeug spielen
Handlungspläne
Selbstwirksamkeit
Über Zeitpunkte und Reihenfolgen
Papa ist anders als Mama
Entscheidungen über das Kind – die gemeinsame Schatzkarte
Schluss
Dank
Literatur
Über die Autorin
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
»Ich höre das zum ersten Mal«, oder: »Das ist aber nicht allgemein bekannt?!« Viele Väter reagieren erstaunt, wenn man die Bedeutung und Rolle des Vaters einmal aus Sicht des Babys und der frühen Entwicklungspsychologie her betrachtet.
Was Fachleuten durchaus schon länger bekannt ist, scheint die betroffenen jungen Familien noch nicht wirklich erreicht zu haben. Es gibt ausreichend Bücher für Väter älterer Kinder. Versucht man aber die dort gegebenen Empfehlungen von Beginn an anzuwenden, scheinen sie nicht wirklich zu passen. Die Anfangszeit folgt anderen Regeln. Hier werden die Weichen für die spätere Zeit erst gelegt.
Dieses Buch, das sich speziell mit der besonderen Lebensphase von 0–3 Jahre beschäftigt, war ursprünglich als Leitfaden nur für Väter gedacht. Während des Schreibens erging es mir aber zunehmend so, wie es eben auch Vätern ergeht: Man kann das Baby nicht ohne Mutter verstehen.
Insofern ist es auch ein Buch für Mütter geworden und letztendlich ein Buch über das Zusammenspiel der Kräfte beider Eltern, damit das magische Dreieck Vater – Mutter – Kind gelingt. Die hier enthaltenen Strategien und Tipps sind als Ergänzung zu verstehen – sie ersetzen nicht bisherige mütterliche Strategien und diesbezügliche detaillierte Ratgeber. Sie fügen nur jene Bereiche, bei denen es speziell auf den Vater ankommt, hinzu.
Auch bei der Strukturierung des Buches, nämlich bei Reihenfolge und Inhalt der einzelnen Kapitel, erging es mir ähnlich, wie es Familien in der Anfangszeit ergeht. Wie soll aus drei verschiedenen Teilen, dem Kind, der Mutter und dem Vater, ein Ganzes – nämlich eine Familie – werden? Wie die einzelnen Abschnitte aufbauen, wenn diese doch von Anfang an schon miteinander vernetzt sind und eines das andere laufend beeinflusst? Jeder Einzelne für sich hat seine eigenen Bedürfnisse und Spielregeln. Gleichzeitig wurzeln darin aber auch schon wieder jene der anderen. Der Aufbau dieses Buches folgt deshalb in vielen Bereichen dem natürlichen Prinzip des Wachstums.
Als Leiterin einer Säuglingspsychosomatik war ich jahrelang konfrontiert mit Belastungen, die Eltern und Kinder in den ersten drei Lebensjahren betreffen können. In vielen Fällen war das Miteinbeziehen des Vaters geradezu die Schlüssellösung solcher Probleme. Dabei ging es vor allem um die Klärung seiner vielfältigen Rollen als Vater, seine Funktion im kindlichen Entwicklungsprozess und die vielen kleinen Details des Alltages, die auf ein Baby oder Kleinkind Einfluss nehmen. Dass sich dabei, gleichsam ganz nebenbei, auch viele typische Konflikte zwischen Mutter und Vater auflösen lassen, ist das Überraschende dabei.
Die hier im Buch beschriebenen Fallgeschichten stammen aus der Praxis und sind wahre Begebenheiten. Um die Identitäten dieser Familien zu schützen, wurden aber Namen und genauere Umstände verändert.
Vieles, was ich im Rahmen meiner Tätigkeit individuell mit einzelnen Vätern besprochen habe, ist in diesem Buch zusammengefasst. Es beschreibt die typischen »Fallen«, die sich für junge Eltern manchmal ergeben, aber auch wie man sie vermeidet oder die passenden Lösungswege findet. Wenn man die Klippen und Fallstricke dieser Lebensphase kennt, kann man sie vermeiden. Ist man bereits hineingetappt, so gibt es auch wieder Wege hinaus. Hilfreich kann es aber auch sein, einfach nur eine Bestätigung zu bekommen, dass man eigentlich auf ganz passendem Kurs ist. Vieles, was Väter rein intuitiv tun, wird weder von der Partnerin noch gesellschaftlich in seinem Wert ausreichend erkannt und gewürdigt – manchmal nicht einmal von ihnen selbst. Dabei hat der Vater ganz eigene wertvolle Kompetenzen, wenn man ihm denn Gelegenheit gibt, diese auch umzusetzen. Yes, he can lautet daher auch der Titel dieses Buches.
Schon in meinem ersten Buch Baby, warum isst du nicht? habe ich versucht, die Bedeutung des Vaters herauszuarbeiten. Viele Gedanken dazu und Zusammenhänge, sind aber offengeblieben. Es waren junge Väter der ORF-Redaktion »Thema«, die mich letztendlich motivierten, mich hinzusetzen und dieses »Vater-Buch« auch wirklich zu schreiben. Als ich im Rahmen eines Interviews versuchte, Funktion und Aufgaben von Vätern kleiner Kinder in Kürze zusammenzufassen und dabei auch bisher übliche Sichtweisen hinterfragte, gab es erstaunlich positive Reaktionen. Was ich sagte, schien eine Art Erleichterung auszulösen. Es scheint ein vages und möglicherweise berechtigtes Unbehagen zu geben, das so mancher Vater in sich herumträgt.
Meine ersten beruflichen Erfahrungen mit Vätern machte ich bereits in meiner Ausbildung zur Kinderärztin. Eine Zeit lang war es damals meine Aufgabe, nach operativen Geburten das Kind zu versorgen und dann dem Vater zu bringen. Jeder dieser Väter war natürlich gerührt, als er sein Kind zum ersten Mal sah. Aber jeder, egal aus welcher Gesellschaftsschicht, stellte anschließend sofort die immer gleiche Frage: »Wie geht es meiner Frau?«
Was mir in diesen berührenden Situationen noch auffiel, war, dass ein Großteil der Männer von sich selbst heraus nicht die Arme ausstreckte, um das Baby von mir zu übernehmen. Nachdem ich eine Zeit lang zuerst fragte: »Wollen Sie es halten?«, und unsichere Gegenfragen wie »Darf ich das denn?« erhielt, änderte ich meine Strategie: Ich fragte nicht mehr. Ich legte das Neugeborene einfach dem Vater in den Arm. Die Tränen der Rührung, die dann regelmäßig bei den Vätern flossen, begleiten mich noch heute.
»Was das Kind betrifft, das entscheidet alleine meine Frau.«
»Meine Frau und ich machen alles gleich.«
»Also, es kann doch nicht sein, dass die Mutter alles bestimmt!«
»Ist es nicht meine Aufgabe, dem Kind Grenzen und Manieren beizubringen?«
Das Selbstverständnis vieler Väter bezüglich ihrer Vaterrolle zeigt sich manchmal nur in solchen Nebensätzen. So unterschiedlich, direkt widersprüchlich diese Väter auf den ersten Blick auch wirken mögen: überraschenderweise hat jeder von ihnen – zumindest auf eine gewisse Weise – recht.
Alle diese Haltungen sind Teilstücke der väterlichen »Job-Beschreibung«. Jeder dieser Sätze hat seinen berechtigten und sinnvollen Platz n der väterlichen Welt. Es sind passende Puzzleteile. Um die Widersprüche aufzulösen, muss man sie allerdings in Relation zum Faktor Zeit bringen. Die Kernfrage dazu lautet: Wie alt ist denn das Kind, um das es dabei geht?
Bereits im ersten Lebensjahr eines Babys können – nacheinander – ganz unterschiedliche Grundhaltungen des Vaters ihren absolut passenden Platz finden.
Gibt es Probleme in der jungen Familie – dazu zählen Konflikte zwischen dem Elternpaar ebenso wie spezielle Sorgen das Baby betreffend – und fragt man Väter dann gezielt nach ihrer Sicht, so fassen sie es mitunter so zusammen: »So habe ich mir das mit Kind und Familie eigentlich nicht vorgestellt!« »Meine Frau hat sich total verändert!« »Mit dem Kind, geht es mir eh gut – meine Frau ist das Problem.«
Anscheinend verzweifeln nicht nur Mütter an einer Doppelfunktion. Auch Väter erleben Vergleichbares. Ist es für Mütter der oft beschrieben Konflikt, Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen, so scheint es für junge Väter die Doppelrolle zu sein – einen Beruf zu haben und gleichzeitig den Bedürfnissen einer Partnerin, die Mutter geworden ist, gerecht zu werden.
Das Dilemma, das Väter zu lösen haben, hat einen tiefen Zusammenhang mit der frühkindlichen Entwicklung: Vieles aus der Vaterwelt ist für das kleine Kind nur dann nutzbar, wenn es nicht gleichzeitig die Beziehung zu seiner Mutter bedroht. Gleichzeitig liegt aber für das kleine Kind eine der zentralen Bedeutungen des Vaters darin, dass er einerseits vertraut, aber eben auch anders als die Mutter ist. Bereits im zweiten Halbjahr wird die Andersartigkeit des Vaters direkt zu einem Motor der kindlichen Entwicklung. Es bekommt einen Wert, dass der Vater andere Lösungen findet, andere Prioritäten setzt, andere Sichtweisen einbringt. Dass er eben nicht die Mutter ist. Die Quadratur des Kreises liegt für Väter also darin, einerseits im Einvernehmen mit der Mutter und andererseits trotzdem selbstbewusst anders zu sein.
Wissen beide Eltern über die Bedeutung ihrer unterschiedlichen Rollen Bescheid, so können sie einander darin gegenseitig ganz bewusst stärken. Die Kraft, die im ausbalancierten Zusammenspiel der Eltern steckt, scheint in der heutigen Zeit immer wichtiger zu werden. Sowohl gesellschaftliche Veränderungen als auch die Fortschritte der Medizin verändern zunehmend die Startbedingungen junger Familien. Nicht wenige Babys, die nicht essen, schlecht schlafen oder viel schreien, haben eine medizinische Vorgeschichte. Viele dieser Babys können auch unerwartete Bedürfnisse und Verhaltensweisen zeigen. Betrachtet man die Rolle des Vaters aus Sicht des Babys und dessen entwicklungspsychologischen Bedürfnissen, ergeben sich klare Zeitabläufe.
Auch die Säuglingsforschung hat Informationen zu bieten. So zeigt die Bindungstheorie, dass Babys anfangs eine klare Hierarchie ihrer Bezugspersonen aufbauen. Das hilft schon einmal in der (anfänglichen!) Rangfolge. Langzeitstudien darüber, welche Faktoren Kinder zu einem glücklichen und erfüllten Leben ausrüsten, führen wiederum zurück zu der sehr frühen Kindheit und so etwas wie einem Doppelsystem. Es gibt eine Polarität mit einem mütterlichen und einem väterlichen Prinzip.
Die ersten drei Lebensjahre sind eine spezielle Zeit. Und das erste Lebensjahr ist die Ausnahme dieser Ausnahmezeit. Es ist eine Zeit des Werdens. Das gilt nicht nur für das Baby, sondern für die ganze Familie.
Ganz allgemein kennzeichnet die frühe Kindheit eine Eigentümlichkeit: Wir alle haben sie erlebt, aber keiner kann sich daran erinnern. Während viele Menschen an ihre Jugend noch sehr lebhafte Erinnerungen haben und manche auch Szenen aus ihrer Grundschulzeit, einige sogar aus ihrem Kindergarten erzählen können, ist die Zeit davor verhüllt.
Der österreichische Gedächtnisforscher und Nobelpreisträger Eric Kandl kann das Phänomen erklären: In einem Alter von unter achtzehn Monaten gibt es kein bewusstes Gedächtnis. Es fehlen einfach noch die entsprechenden Hirnstrukturen. Es ist gar nicht möglich, sich gedanklich an die Zeit unter eineinhalb Jahren zurückzuerinnern.
Während Eltern also bei der Erziehung größerer Kinder auch ihre eigenen bewussten
Erinnerungen zu Rate ziehen können – was hat einem selbst als Kind gutgetan? Was hat einen damals gekränkt? –, so geht das in den ersten eineinhalb Jahren nicht.
Und es ist noch komplizierter! Was man in der eigenen frühen Kindheit erlebt hat, ist nicht einfach verschwunden. Es ist trotzdem irgendwie noch da. Auch das hat die Gedächtnisforschung herausgefunden: Erlebnisse dieser Zeit werden im Gefühlssystem abgespeichert. Wir haben Erinnerungen an diese Lebensphase – aber eben nur gefühlsmäßig.
Nehmen Eltern also in den ersten Monaten nach Geburt ihres Kindes unerklärliche Emotionen, Verhaltensweisen und Veränderungen an sich selbst oder ihrem Partner wahr, so können diese direkt mit diesem Phänomen zusammenhängen. Alte Stimmungen und Empfindungen aus der eigenen Vergangenheit werden gleichsam wieder erweckt.
Wir alle bekommen in unserer frühen Kindheit eine Art Blackbox übergeben, deren Inhalt wir später nicht mehr kennen, und geben diese an unsere Kinder, in deren frühen Kindheit, weiter. Und auch diese werden sich nicht mehr bewusst erinnern können.
Eine der Besonderheiten dieser Zeit ist, dass prinzipiell andere Spielregeln herrschen als später in der Familie. So wie es zu Anfang ist, wird es nicht bleiben. Das gilt nicht nur dem Baby gegenüber. Das ist auch bedeutsam für die Partnerschaft zwischen den Eltern. Wie immer sich Eltern ihr späteres Familienleben und ihre Paarbeziehung auch vorgestellt haben – derzeit wird erst daran gebaut. Erst wenn die Wände hoch genug sind, kommt das Dach darauf.
Nie wieder wird das Tempo der kindlichen Entwicklung so rasant sein. Schon das erste Lebensjahr ist ein Wunder! Ob ein Kind später dann einmal sieben oder acht Jahre alt ist, wird nicht so eine große Rolle spielen. Aber wie gravierend ist doch der Unterschied zwischen einem Neugeborenen und einem Einjährigen! Innerhalb eines Jahres wird aus einem kleinen Wesen, das nur zwanzig Zentimeter weit scharf sehen konnte, seinen Körper nicht bewusst bewegen, sich nicht aufsetzen, ja nicht einmal seinen eigenen Kopf halten konnte, ein – im wahrsten Sinne des Wortes – eigenständiges Persönchen. Es will dann nicht nur auf eigenen Beinen stehen, sondern auch eigene Pläne entwickeln und diese umsetzen.
Erwachsene sind auf so eine atemberaubende Schnelligkeit oft gar nicht eingerichtet. Speziell im Berufsleben fliegen die Jahre oft nur so dahin. Wir wundern uns, dass wir schon wieder einmal Weihnachtsgeschenke einkaufen müssen. Während in unseren Augen das Baby also weiterhin das gleiche Baby ist, hat es sich in Wirklichkeit schon wieder verwandelt und verändert. Manchmal merkt man es nur an der notwendigen neuen Babykleidung: Jetzt ist es schon wieder gewachsen!
Im ersten Lebensjahr wird ein Baby nicht nur sein Geburtsgewicht verdreifachen und motorisch mobil werden. Neben diesen großen, unübersehbaren Fortschritten werden sich noch viel eindrücklichere, aber unsichtbare Veränderungen ablaufen.
Um bei Babys Entwicklung halbwegs Schritt halten zu können, hat es sich bewährt diese beschleunigte Lebensphase in Abschnitte zu gliedern. Kinderärzte orientieren sich meist an den sogenannten Meilensteinen der Entwicklung (vgl. dazu auch die »Darstellung der kindlichen Entwicklung« am Ende des Buches). Hat es schon das erste Mal gelächelt? Kann es sich schon umdrehen? Sitzt es schon frei? Zieht es sich auf? Kann es schon gehen? Ganz allgemein kann man alle drei Monate mit gravierenden Neuigkeiten rechnen.
Für Väter besonders bedeutsam ist die große Veränderung, die mit sechs Monaten beginnt. Sinnvoll ist es, wenn Väter hier zwischen einer Zeit davor und einer Zeit danach unterscheiden.
Betrachtet man es entwicklungsgeschichtlich, so sind Babys in den ersten sechs Monaten eigentlich noch sogenannte »physiologische Frühgeburten«. »Physiologisch« bedeutet hier naturgegeben, sozusagen normal. Die medizinische Idee dazu ist, dass wir Menschen anscheinend früher auf die Welt kommen als andere vergleichbare Lebewesen. Unser Kopf wäre sonst zu groß für eine normale Geburt.
Psychologisch gesehen gehört das Baby bis zum sechsten Monat in vielerlei Hinsicht sozusagen noch in Mutters Bauch. Das große Erlebnis der körperlichen Geburt hat zwar schon stattgefunden, man kann das Baby auch schon sehen und halten. Trotzdem gelten vielfach noch ähnliche Bedingungen wie auch während der Schwangerschaft. Die Devise lautet: Zwei sind eins. Und dementsprechend fühlen sich sowohl Babys als auch Mütter – sowohl die Mutter als auch das Baby verstehen sich in der Anfangszeit in weiten Bereichen nicht einzeln und individuell, sondern als zwei in einem. Sie sind eine Zweiheit. Wie es dem einen geht, geht es dem anderen. Das Baby als Teil ihrer selbst zu verstehen, gehört zu der anfänglichen Mütterlichkeit. Ein so kleines Baby alleine für sich wäre auch gar nicht lebensfähig.
Den Zeitpunkt der großen Veränderung dieser Lebensphase exakt bei sechs Monaten festzulegen, ist natürlich eine Vereinfachung. Wie fast bei allem, was mit Babys zu tun hat, gibt es auch hier eine gewisse natürliche Bandbreite. Manche Babys erreichen diese Phase unerwartet früh, bereits mit fünf Monaten. Andere lassen sich Zeit und erreichen sie erst mit neun Monaten oder sogar noch später. Es gibt also eine bequeme Übergangsfrist, in der sich alle Beteiligten nach und nach auf neue Spielregeln einstellen können.
Trotzdem ist die Grenzlinie bei sechs Monaten zu legen eine hilfreiche Gedankenstütze. Auch viele andere Veränderungen dieser Altersgruppe weisen direkt auf diese Grenze hin. Beispielsweise empfehlen Kinderärzte für genau dieses Alter den großen Schritt der Ernährungsumstellung. Oft kommen um diese Zeit die ersten Zähne. Es geht um das Ausklingen des Stillens und den Beginn der Beikost. Das ist kein zufälliger Termin, den sich Kinderärzte willkürlich irgendwie ausgedacht haben. In diesem Alter sind Babys Organe ausgereift und benötigen eine Umstellung. Was da so locker empfohlen wird, ist genau betrachtet eigentlich ein fundamentaler Systemwechsel: Es heißt, die Zeit des Säuglings geht zu Ende. Die Zeit des Kleinkindes beginnt.
Aber auch ganz ohne kinderärztliche Empfehlungen merken sowohl Eltern als auch Babys, dass sich etwas geändert hat. »Ich kann sie tagsüber kaum mehr stillen, alles lenkt sie derzeit ab«, berichtet die eine Mutter. »Ja, ich muss mich zum Füttern sogar extra in ein einsames Zimmer setzen«, antwortet die andere. Viele Babys stillen sich zum Beispiel um den siebenten Lebensmonat herum ganz selbstständig ab. »Danke, das war super«, scheinen sie zu sagen, »ab jetzt brauche ich was anderes!«
Nicht nur stillen oder Flasche füttern kann in dieser Zeit schwieriger werden. War es Eltern zum Beispiel in den ersten Monaten durchaus möglich, ihr Baby zu diversen Einladungen und Veranstaltungen mitzunehmen – beim größten Trubel schlief es unter Umständen entspannt im Tragetuch –, so geht das nun nicht mehr so locker. Mit sechs Monaten wird die Außenwelt viel zu interessant. Und wenn es da draußen so spannend ist, ist an Schlaf gar nicht mehr zu denken. Müde brüllende Babys setzen den sozialen Aktivitäten ihrer Eltern jetzt neue Grenzen.
Sogar die doch erfreulichen motorischen Fortschritte bekommen auch ihre Schattenseiten. Wird das Baby gewickelt, bleibt es jetzt nicht mehr ruhig liegen. Denn was man mit sechs Monaten meist auch plötzlich kann, ist – sich umdrehen. Babys vergrößern in diesem Alter ihren Aktionsradius. Sie wollen sitzen lernen und beginnen sich fortzubewegen. Auch die von der Mutter an das Baby geliehenen Abwehrstoffe, die seit der Geburt abgebaut werden, neigen sich nun dem Ende zu. Selbst immunologisch beginnt das Kind dann auf eigenen Beinen zu stehen. Manchmal merkt man das an den ersten Infekten.
Teilt man Babys erstes Lebensjahr also in zwei Hälften, so ergeben sich für Väter bereits hier zwei unterschiedliche Strategien. Während in den ersten sechs Monaten weiterhin Spielregeln wie in der Schwangerschaft gelten und Väter mit der Grundhaltung »Was das Kind betrifft, entscheidet alleine meine Frau« gut beraten sind, ändert sich das im zweiten Halbjahr. Mit sechs Monaten bahnt sich ein fundamental wichtiger nächster Entwicklungsschritt an. Es beginnt eine neue Entwicklungsphase, die bis in das dritte Lebensjahr hinaufreichen wird. Dort kann auch das Grundgefühl mancher Väter: »Die Mutter kann doch nicht alles bestimmen«, seinen passenden Platz finden. Was zu dieser Zeit sowohl Väter als auch Mütter manchmal verunsichert und an ihrer Partnerschaft zweifeln lässt, steht eigentlich in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung ihres Kindes. Könnte dieses schon sprechen, würde es zu dieser Zeit unter Umständen ganz Ähnliches fragen. Nämlich: »Was kann man hier eigentlich selbst bestimmen?«
Väter haben es nicht leicht. Während die Rolle der Mutter in der Anfangsphase in allen Kulturen ziemlich ähnlich angelegt ist, ist die des Vaters variabel. Im Gegensatz zur frühen Mutterrolle ist die des Vaters mehr von der jeweiligen Gesellschaftsform abhängig. Ohne es bewusst zu planen, ist er sozusagen deren erste Abordnung. Dabei geht es weniger darum, wie er diese bewusst aktiv vermittelt, sondern eher darum, was das Kind alltäglich beobachten kann. Es nimmt wahr, was der Vater wie selbstverständlich tut, welche Rolle er in der Familie einnimmt und wie die anderen ihm begegnen.
In welche übergeordnete Gesellschaftsstruktur ist die Familie eingebettet? Herrschen mehr hierarchisch-autoritäre oder demokratische Spielregeln? Wie werden denn ganz grundsätzlich in dieser Gesellschaft Konflikte gelöst? Auf was muss ein Vater sein Kind eigentlich vorbereiten? Geht es in der jeweiligen Gesellschaft um die Entwicklung als Einzelindividuum mit all seinen persönlichen Begabungen und Anrechten? Oder ist es gesellschaftlich erwünscht, dass sich jeder jeweils als ein Teil einer Gruppe versteht und die Bedürfnisse des Clans vorangestellt werden? Bereits in der Altersklasse sieben bis sechsunddreißig Monate, der Entwicklungsphase der Individuation, gibt es dabei beträchtliche kulturelle Unterschiede.
Grundsätzlich gilt, dass jede Kultur die zu ihr passende Form der frühkindlichen Erziehung entwickelt. Wie unterschiedlich die Methoden sein können, verdeutlicht vielleicht folgende kleine Nebenszene, die während eines Terra-Mater-Afrika-Dokumentarfilms über meinen Bildschirm flimmerte:
Es wird die Mahlzeit einer Großfamilie gezeigt. Mittendrin in einem Kreis auf dem Boden sitzender Erwachsener sitzt auch ein kleiner essender Junge. Ich schätze ihn auf nicht einmal zwei Jahre. Plötzlich ist im Bild eine große Männerhand zu sehen. Mit einem Griff schnappt sich die große Männerhand einfach ein Stück Essen des Kindes. Und dann, blitzschnell, geschieht es. Direkt routiniert, ohne auch nur aufzusehen, ohne jede Zeitverzögerung und sogar weiterkauend holt der kleine Junge weit aus und schlägt entschlossen einmal und mit aller Kraft auf die Riesenhand vor ihm. Ebenso prompt öffnet sich die große Hand und lässt das Stück Essen wieder zurückfallen. Die Hand wird zurückgezogen. Ruhig, unaufgeregt und wie selbstverständlich isst das Kind weiter. Im Hintergrund ist das kurze Auflachen eines Mannes zu hören.
Offensichtlich hat der kleine Junge soeben eine auffrischende Lektion in »Nahrungsverteidigung« bekommen. In einem Land, in dem Ressourcen knapp sind, ist dies anzunehmenderweise eine wichtige, vielleicht sogar lebensnotwendige Fähigkeit. Der kleine Junge hat sie mit Bravour gemeistert.
Kinder werden von klein an auf die Gesellschaft vorbereitet, in der sie später leben werden. In Zeiten der Migration und des gesellschaftlichen Wandels birgt dieses Prinzip allerdings auch einige Verirrung und Verunsicherung.
Aber man muss nicht bis nach Afrika oder auf andere Kontinente schauen. Auch innerhalb Europas gibt es bereits große Unterschiede. Während im deutschsprachigen Teil Kleinkinder vor allem zuhause und meist von der Mutter betreut werden, gilt für den französischsprechenden Teil schon lange die Tradition der sehr viel früheren Fremdbetreuung.
Davon, dass sich sogar schon französische Kleinkinder teilweise anders verhalten als österreichische, konnte ich mich persönlich überzeugen: Als ich während eines Urlaubes in einem Club Med täglich mit den verschiedensten französischen Familien mit Kleinkindern als ihnen Unbekannte den Mittagstisch mit ihnen teilte, war ich verwundert. Zu meinem Erstaunen würdigte mich kaum eines dieser Kinder auch nur eines Blickes. Während österreichische Kleinkinder im Beisein ihrer Eltern Fremden gegenüber sehr neugierig und kokett sind, verhielten sich die französischen anders. Auch im Urlaub täglich fremdbetreut in der Kindergruppe, hatten sie bei der gemeinsamen Mahlzeit nur Augen für ihre Eltern. Offensichtlich hatten sie die Nase voll von all den Fremden und waren froh, endlich einmal mit ihren Eltern zusammen sein zu können. (Ob diese kulturell geübte Form der frühen Fremdbetreuung eventuell mit der berühmten Amour der Franzosen zusammenhängt, ist natürlich Spekulation.)
Die gesellschaftlichen Vorgaben sind auch rein praktisch gesehen bedeutsam für die Aufgaben eines Vaters. Es macht einen großen Unterschied, ob seine Familie als Großfamilie oder, so wie meist bei uns im Westen, als Kleinfamilie angelegt ist.
In Großfamilien stehen bereits in der frühesten Kindheit viele verschiedene Personen gleichzeitig zur Auswahl. Je nach Bedarf kann auf Großeltern, Onkel, Tanten, Geschwister, Cousinen und Cousins zurückgegriffen werden. Für Mütter ergibt sich dadurch ganz nebenbei Entlastung und Unterstützung. Dem Baby stehen von Anfang an unterschiedlichste Bezugspersonen, Spielgefährten und Vorbilder zur Verfügung.
In Kleinfamilien hingegen übernehmen Eltern, quasi stellvertretend für all diese Personen, die verschiedensten Aufgaben. Der Anforderungskatalog an Mutter und Vater wird dadurch breiter und bunter. Vor allem für den Vater ergibt sich so ein sehr variationsreiches Rollenbild. Das gilt sowohl dem Kind gegenüber als auch gegenüber der Partnerin.
Dass die gesellschaftlich veränderte Stellung der Frau auch die Aufgaben des Vaters verändert hat, können ältere Leute bestätigen: »Das gab es früher nicht!« Man sieht Väter mit Tragetuch, Väter, die Kinderwagen schieben, oder Väter auf dem Spielplatz. Väter gehen in Karenz- bzw. Elternzeit. In der westlichen Welt ist die patriarchale Rolle der (Ur-)Großväter out. Da ist sich der Großteil der Eltern bereits einig. Seit der vermehrten Berufstätigkeit von Müttern wird das Partnerschaftsmodell favorisiert. Gleiches Recht für alle, gleiche Pflichten. Durch die öffentliche Meinung ging vor kurzem ein Aufschrei, als ein bekannter Sänger öffentlich erklärte, er plane, seinem (noch ungeborenem) Kind, nicht selbst die Windeln zu wechseln.
Die gesellschaftlichen Weiterentwicklungen lassen auch neue Themen auftauchen. In den Medien gibt es Diskussionen über Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare. Definieren sich Mutter- und Vaterrolle am Geschlecht? Und wenn der Vater so wichtig ist – wie machen das dann eigentlich Alleinerziehende?
Verunsicherung und Belastung für junge Familien gibt es aber auch von anderer Seite. Die eigentlich erfreulichen Fortschritte der Medizin haben leider auch Nebenwirkungen. Unter Schlagworten wie Hormonbehandlung, In-vitro-Fertilisation, Frühgeburt oder Leihmutterschaft verbergen sich oft dramatische Geschichten. Es sind neue Hürden – für Väter genauso wie für Mütter und für das Baby selbst.
Wo der Fortschritt neue Fragen aufwirft, gibt es aber glücklicherweise auch Fortschritt bei den Antworten. In unserem Fall kommen sie aus einer jungen Wissenschaft – der Säuglingsforschung.
Eine von jungen Vätern häufig gestellte Frage lautet: »Was kann so ein Baby eigentlich schon?« Das ist eine wunderbare Frage. Auf gewisse Weise zielt sie direkt ins Zentrum des väterlichen Universums. Während bei Müttern die Gedanken mehr um Fragen nach den Bedürfnissen ihres Babys kreisen: »Was braucht es? Wie kann ich ihm helfen?«, suchen Väter oft den Zugang von der anderen Seite, nämlich von der Seite der Fähigkeiten des Babys her. Väter haben da ganz Recht. Jenseits aller Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Bedürftigkeit haben Babys auch noch eine andere Seite. Und diese andere Seite ist reich ausgestattet mit einer überraschenden Fülle von Befähigungen und Begabungen. Der unwiderstehliche Charme der Babys ist nur einer davon.
Die Frage »Was kann so ein Baby eigentlich schon?« beschäftigt nicht nur Väter. Inzwischen hat sich ein ganzer Wissenschaftsbereich gebildet, der sich diesem Thema widmet – die Säuglingsforschung.
Dieser Überbegriff, der genauer gesagt »Säuglings- und Kleinkindforschung« heißt, steht heute für ein bunt zusammengetragenes Wissen aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen. Dazu zählen Fachleute wie Entwicklungspsychologen und Kinderärzte, ebenso wie Psychoanalytiker, Kinderpsychiater, Soziologen, Sprachwissenschaftler oder auch Verhaltensbiologen und sogar Zoologen.
Wegbereiter dieses neuen Wissenschaftsbereiches war eine in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gemachte neuartige Erfindung: die Filmtechnik. Dass Filmaufnahmen von Babys neue Erkenntnisse über diese bringen sollen, ist für so manchen verblüffend. Ist es nicht das Gleiche, ob man ein Baby beobachtet oder einen Film von dieser Beobachtung anfertigt? Was ist da der Unterschied?
Babys können zwar sehr lautstark schreien, sonst aber drücken sie sich vor allem durch Körpersprache aus, nämlich durch Gestik und Mimik. Sie verhalten sich. Dieses sogenannte »Verhalten« ist aber auch etwas sehr Flüchtiges. Kaum war es da, ist es schon wieder vorbei. »Es hat die Stirn gerunzelt, hast du es gesehen?« »Findest du? Ich glaube nicht!« Beobachtbares Verhalten existiert nur so lange, wie es eben stattfindet. Ob es überhaupt wahrgenommen wird, hängt wiederum ganz persönlich von dem ab, der es sieht oder eben nicht sieht.. Die Sichtweisen können da sehr unterschiedlich sein.
Videoaufnahmen solcher Szenen ändern das schlagartig. Sie schaffen nämlich Fakten. Und man kann sehen: Ja, das Baby hat die Stirn gerunzelt. Man kann es sogar messen und zeitlich bestimmen. Das Runzeln der Stirn begann in Minute drei und dauerte fünf Sekunden. Man kann auch versuchen, einen Zusammenhang herzustellen. Videos kann man ja sogar zurückspulen und wiederholt betrachten. Sogar den Zeitverlauf kann man ändern. Es gibt Zeitlupe oder Zeitraffer. Was war denn knapp vor dem Stirnrunzeln? Aha, ein Geräusch.
Was Babys oder Kleinkinder so tun oder wie sie auf etwas reagieren, konnte man natürlich schon immer beobachten. Aber beforschen, das heißt das Beobachtete wiederholbar und zählbar und dadurch auch zu überprüfbarem Wissen machen, konnte man es erst seit Entdeckung des Films. Was hat man da alles herausgefunden? Was waren die ersten Fragen, die man über Babys gestellt hat? Eigentlich ähneln diese Fragen jenen, die mir auch Väter so oft stellten: Was sieht ein Baby? Was bekommt es mit von dem, was ich tue? Was interessiert ein Baby? Was bevorzugt ein Baby? Bald wurden daraus aber auch komplexere Fragen. Was weiß ein Baby über die Welt, wenn es zur Welt kommt? Wie lernt ein Baby?
Zum Beispiel über das Sehen: Alles in zwanzig Zentimeter Entfernung können Neugeborene schon scharf sehen. Das macht auch Sinn, denn es ist in etwa die Distanz zu dem Gesicht jenes Menschen, der einen im Arm hält. Dahinter sehen Neugeborene noch alles verschwommen. Auch das ergibt Sinn, denn dadurch entsteht eine Art Reizschutz. Vieles, was in diesem Alter Angst machen könnte, ist unscharf und verliert so an Bedeutung. Es verkleinert die Welt und reduziert sie auf das für das kleine Baby Wesentliche. Zu Anfang lieben sie Kontraste. Schwarz-Weiß-Muster zum Beispiel sind bei Babys total in. Vielleicht betrachten sie auch deshalb so gerne Haargrenzen und schwarze Brillenfassungen.
Allmählich zunehmend bis zum sechsten Lebensmonat können Babys dann schon so gut sehen wie Erwachsene. Es ist ein Alter, in dem Kinder bereits etwas Kontrolle über ihren Körper bekommen. Die Hände können dann schon gezielt zugreifen und sich etwas in den Mund stecken. Der ganze Körper kann sich jetzt zunehmend etwas Interessantem zuwenden. Dinge in weiterer Entfernung zu sehen, motiviert nämlich dazu, sie auch erreichen zu wollen. Was ein Baby sieht, will es ganz selbstverständlich auch anfassen und sehr bald auch in den Mund stecken. Gut sehen zu können, wird dadurch auch zu einer Art Motor für körperliche Fähigkeiten. Wir Menschen sind schon von Beginn an sehr neugierig!
Babys befragen
Über das Sehen und Anschauen diverser Objekte hat die Säuglingsforschung eine Reihe weiterer Untersuchungen gemacht. Eigentlich ist die Art, wie Babys Dinge betrachten, direkt ein Kernstück dieses Forschungszweiges: Man kann Babys nämlich damit richtiggehend befragen.
Das geht allerdings nur unter bestimmten Umständen. Sie dürfen nicht gerade mit sich selbst beschäftigt sein; also zum Beispiel, wenn sie müde oder hungrig sind oder Bauchweh haben. Speziell bei kleinen Babys unter drei Monaten ist die Zeitspanne, in der sie nicht mit solchen körperlichen Wichtigkeiten beschäftigt sind, noch sehr kurz. Wann genau sie bereit für Informationen von außen sind, kann man ihnen aber im wahrsten Sinne des Wortes vom Gesicht ablesen. Im Zustand der sogenannten »ruhigen Aufmerksamkeit« scheint sich alles auf die Augen zu konzentrieren. Babys Augen sind dann weit geöffnet, während sonst alles ruhig und entspannt ist. Der Körper hält still. Im Gesicht ist kaum Mimik zu sehen. Nicht einmal die Stirne runzelt sich. Alles ist auf »Empfang« geschaltet.
Was Babys interessiert, sehen sie an. Zum Beispiel etwas Neues. Was sie nicht interessiert, übersehen sie. Sie sind da ganz ähnlich wie wir Erwachsenen. Was wir täglich vor Augen haben, verliert an Wichtigkeit. In manchen Dingen können wir ja wortwörtlich betriebsblind werden.
Als die Forscher also wissen wollten: »Erkennen Babys überhaupt, ob ein Gegenstand für sie neu ist? Machen sie einen Unterschied zwischen Bekanntem und Unbekanntem?« So gab einem die Zeitdauer des Betrachtens eine Antwort. Neues scheint Babys mehr zu interessieren als etwas, was sie laufend vor Augen haben. Neues betrachten sie länger als etwas, was sie bereits kennen. Sie machen einen Unterschied.
Man kann sie sogar befragen: »Erkennst du den Gegenstand wieder?« Denn hat man etwas dem Baby Wohlvertrautes (welches sie eventuell kaum mehr eines Blickes würdigten), für einige Zeit verschwinden lassen und zeigt es dann wieder her, machen sie erneut einen Unterschied. Sie betrachten es nun wiederum für längere Zeit. Auch hier wird verständlich, warum Videoaufnahmen solcher Szenen für die Säuglingsforschung so wichtig waren. Wenn, wie in diesem Fall, die Zeitdauer den Unterschied macht, musste man das ja abstoppen, bestimmen und Vergleiche anstellen können.
Aber nicht nur in der Wissenschaft, auch im normalen Leben kann man auf diese Weise Babys befragen. Ich selbst wende es zum Beispiel an, wenn ich nicht weiß, ob ein Flaschenkind gerade hungrig ist oder nicht (und kein Zuständiger in der Nähe ist, der mir sagen kann, wann das Kind zuletzt getrunken hat). Ich präsentiere eine Flasche. Ist man nämlich hungrig und ein Flaschenkind, dann ist so eine Flasche – zumindest im Augenblick – eindeutig interessant. Und was interessant ist, wird – angeschaut. Ein wirklich hungriges Baby lässt die Flasche unter Umständen gar nicht mehr aus den Augen. »Ja! Genau richtig!«, scheint das zu heißen. Für ein sattes Baby hingegen gilt: Es gibt es nichts Langweiligeres als so eine Flasche. Täglich schon zigmal gesehen und im Augenblick völlig nutzlos. Gähn. Manche Babys lassen den Blick nicht nur gelangweilt darüber hinweggleiten, sondern scheinen das uninteressante Ding sogar aktiv übersehen zu wollen. Überall und rund um die Flasche herum wird geschaut, nur keinesfalls auf die Flasche vor der Nase. Man könnte es fast als »Bitte nimm das weg!« übersetzen. Zu glauben, das arme hilflose Baby sieht einfach die Flasche vor seinen Augen nicht, ist natürlich eine ziemliche Unterschätzung seiner Fähigkeiten.
Sogar über ihr Wissen über die Welt hat man Babys mithilfe des Prinzips der Blickdauer schon befragt. Präsentiert man ihnen Unwahrscheinliches, indem man (technisch präparierte) ganze Dinge in der Luft scheinbar plötzlich zerspringen lässt, scheinen Babys sich aufrichtig zu wundern. Solche »Wunder« werden besonders lange angesehen.
Auch über die Mechanik wissen Menschenbabys schon sehr früh Bescheid. Rollt eine Kugel hinter einen Paravent und verschwindet dort, richten sie den Blick dorthin, wo diese nach den Regeln der Rollbahn auch wiederauftauchen sollte.
Und Babys verstehen sogar so etwas wie den Dopplereffekt! Das ist das physikalische Phänomen, dass man sich Näherndes und sich Entfernendes am Geräusch unterscheiden kann. Bei einem heranfahrenden Zug wird das Geräusch immer lauter. Entfernt er sich, wird das Geräusch immer leiser. Mit ausgeklügelten Apparaturen hat man bei diesen Experimenten fünfmonatigen Babys (in guter Sichtweite!) also gleichzeitig Filme und Geräusche vorgespielt. Zum Beispiel zwei Filmsequenzen, einmal mit einem heranfahrenden Zug und einmal mit einem, der sich entfernt. Hörten die Babys dabei das Geräusch, das nur zu einem der Filme passte, so betrachteten sie diese passende Filmsequenz deutlich länger. Sie konnten offensichtlich einen Zusammenhang herstellen.
Dass Babys Zusammenhänge herstellen und das auch auf anderer Ebene können, zeigt der folgende Versuch: Einmonatigen Babys wurde ein speziell geformter Schnuller mit Noppen zum Saugen gegeben. Dann präsentierte man ihnen zwei Bilder. Auf einem Bild war ein Schnuller mit Noppen, so wie sie ihn im Mund hatten. Auf dem anderen Bild war ein Schnuller in einer ganz anderen Form. Würden sie auch da das Zusammenpassende erkennen? Und ja. Wieder war die Antwort klar. Das Bild mit dem jeweils passenden Schnuller wurde länger betrachtet. Das war für die Wissenschaftler eine große Überraschung. Denn dass Informationen eines Sinnes (des Tastsinnes im Mund) und eines anderen Sinnes (des Sehsinns) von Anfang an so vernetzt zusammenarbeiten, hat vorher keiner einem Baby zugetraut.