Yoga - Heilung von Körper und Geist jenseits des Bekannten - T.K.V. Desikachar - E-Book

Yoga - Heilung von Körper und Geist jenseits des Bekannten E-Book

T.K.V. Desikachar

4,8

Beschreibung

Yoga - das Geschenk Indiens an die Welt - zählt seit vielen Jahren auch im Westen zu den wichtigsten spirituellen Wegen der Heilung und Transformation von Körper und Geist. Diese Entwicklung ist eng mit dem Yogalehrer Krishnamacharya (1889-1989) verbunden, der auch als Vater des modernen Yoga bezeichnet wird. Anhand der Lebensbeschreibungen seines Vaters lässt Desikachar eine Yoga-Tradition lebendig werden, die einerseits aus uralten Quellen schöpft und andererseits durch Krishnamacharya und später durch ihn weitreichende Veränderungen erfahren hat, um sie den Bedürfnissen des modernen Menschen, auch des westlichen, anzupassen.

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YOGA

HEILUNG VON KÖRPERUND GEIST JENSEITSDES BEKANNTEN

Leben und Lehren Krishnamacharyas

T. K.V. DESIKACHAR

unter Mitarbeit von R. H. Cravens

YOGA

HEILUNG VON KÖRPERUND GEIST JENSEITSDES BEKANNTEN

Leben und Lehren Krishnamacharyas

ins Deutsche übertragenvon Bruni Röhm

Vollständige E-Book-Ausgabe der bei

J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH

erschienenen Printausgabe

Die amerikanische Originalausgabe Health, Healing & Beyond. Yoga and the Living Tradition of Krishnamacharya by T.K.V. Desikachar and R.H. Cravens ist erschienen bei North Point Press, a division of Farrar, Straus and Giroux, LLC, New York Copyright © 1998 by Aperture Foundation, Inc. Text copyright © 1998 by T.K.V. Desikachar and R.H. Cravens

Übersetzung ins Deutsche: Bruni Röhm

Copyright der deutschen Ausgabe © 2012 Theseus inJ. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld

Layout/Satz: Ingeburg Zoschke, Berlin Lektorat: Ursula Richard / Karlheinz Bernhard Grunwald Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, www.mbedesign.de © Fotos, sofern nicht anders angezeigt: Krishnamacharya Healing and Yoga Foundation Fotos S. 16, 58, 208 © Pierre Courtejoie Druck & Verarbeitung: fgb – freiburger graphische betriebe

ISBN E-Book: 978-3-89901-697-0ISBN Printausgabe: 978-3-89901-550-8

www.weltinnenraum.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Wir widmen dieses Buch unseren Müttern:Shrimati Namagiriamma Krishnamacharyaund Virginia Bergin Cravens

ANMERKUNG DER HERAUSGEBER

Im Jahr 1997, dem fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens, wurde der Name der Stadt Madras offiziell in Chennai geändert. Aus Gründen der Einheitlichkeit wird im gesamten Buch der Name Chennai benutzt (mit Ausnahme der Universität von Madras, die diesen Namen bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches beibehalten hat).

Alle Zitate aus der Bhagavad Gita stammen aus der inspirierenden Übersetzung von Juan Mascaró, auf Englisch erschienen bei Penguin Books. Zitate aus den Yoga Sutras von Patanjali sind ausschließlich der Übersetzung von T. K. V. Desikachar entnommen.

Die Zitate am Beginn eines jeden Kapitels stammen von T. Krishnamacharya.

Eine Landkarte mit den von Krishnamacharya besuchten Orten findet sich auf Seite 29.

Im gesamten Text, besonders im zweiten Kapitel, haben wir in Bezug auf den Vedanta und seine führenden Exponenten, die Daten der modernen indologischen Forschung benutzt. Diese stimmen nicht immer mit der traditionellen indischen Lehrmeinung überein, und eine zufrieden stellende Chronologie, die beide Standpunkte enthält und in Einklang bringt, muss erst noch erstellt werden.

INHALT

ZUM GELEIT

von Michael Lerner

EINFÜHRUNG

von R. H. Cravens

Erstes Kapitel

DAS FEUER, DAS DIE DUNKELHEIT VERTREIBT

Zweites Kapitel

SCHRITTE ZUM YOGA

Drittes Kapitel

DIE ALTEN LEHREN

Viertes Kapitel

DER YOGI UND DER MAHARADSCHA

Fünftes Kapitel

EINE YOGISCHE SICHT VON GESUNDHEIT

Sechstes Kapitel

VOM WESEN DER HEILUNG

Siebtes Kapitel

JENSEITS DES BEKANNTEN

Achtes Kapitel

WAS ES HEISST, LEHRER ZU SEIN

EPILOG

NACHWORT

von C. Subramaniam

DANK

BIBLIOGRAFIE

STICHWORTVERZEICHNIS

ZUM GELEIT

T. K. V. Desikachar gilt weltweit als eine der bekanntesten Autoritäten für die therapeutische Anwendung von Yoga. Er verbindet modernes Erfahrungswissen mit der alten Weisheitslehre einer äußerst bemerkenswerten Tradition und bringt dies in den modernen therapeutischen Yoga ein. Damit trägt er dazu bei, dass diese Praktiken in die medizinische Wissenschaft Eingang finden. Seine Lehren haben einen starken Einfluss auf Schüler und Schülerinnen des therapeutischen Yoga in der ganzen Welt. T. K. V. Desikachar leistet damit einen bedeutenden Beitrag auf diesem Gebiet.

Michael Lerner

Präsident des Commonweal, eines Forschungsinstituts für Gesundheit und Umwelt in Bolinas, Kalifornien.

EINFÜHRUNG

»Den wahren ›Namen‹ einer Sache zu wissen heißt, sie zu evozieren«, schrieb der indische Mythenforscher und Philosoph Ananda K. Coomaraswamy. Dieses Prinzip spielt in verschiedenen Glaubens- und Denksystemen eine Rolle. Ein Schamane ruft mit einem Totem-Namen wie zum Beispiel »Jaguar« magische Kräfte herbei. Mit magischen Riten beschwört der Priester den oder die Namen Gottes. Der Platoniker greift nach dem Absoluten, dem Ideal im Namen von Wahrheit, Gerechtigkeit oder Schönheit. Den wahren Namen einer Sache zu kennen bedeutet, alles zu verstehen, was damit benannt wird.

Yoga – Heilung von Körper und Geist jenseits des Bekannten ist eine Erkundung der alten Weisheit mit Namen »Yoga«. Das Wort tauchte in der Geschichte der Menschheit zum ersten Mal vor ungefähr zweitausend Jahren in Indien auf, obwohl die yogischen Praktiken vermutlich noch weitere zweitausend Jahre früher entstanden sind. Im Westen wird der Begriff wahrscheinlich zum ersten Mal 1785 erwähnt, in der frühesten in Europa erschienenen Übersetzung der Bhagavad Gita (»Gesang des Erhabenen«). Außerhalb des indischen Subkontinents rief das Wort Yoga bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein Vorstellungen von exotischen Adepten hervor, die die Befähigung zu den sagenhaftesten Körperverrenkungen besaßen, welche ihnen – einigen Berichten zufolge – übermenschliche Macht über Zeit, Raum, Materie, ja selbst über den Tod verlieh. In den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts kam es zu einem Sinneswandel, der zu den Meilensteinen in der langwierigen, mühevollen Evolution menschlichen Bewusstseins gerechnet werden kann. Einige begabte, glaubwürdige Lehrer aus Indien brachen auf, um der übrigen Welt die yogischen Techniken der Körperübungen, Atemkontrolle und geistigen Konzentration zu demonstrieren. Ihr Anliegen war es nicht, das Übernatürliche, sondern das unmittelbar Praktische zu lehren: Yoga konnte die körperliche Gesundheit verbessern, einen Heilungsprozess beschleunigen und die intellektuellen, schöpferischen und geistigen Fähigkeiten im Menschen fördern. Unter den Bekanntesten waren einige, die von dem außergewöhnlichen Lehrer Tirumalai Krishnamacharya ausgebildet worden waren. Wie sein Sohn T. K. V. Desikachar in diesem Buch darlegt, hielt Krishnamacharya Yoga für das größte Geschenk Indiens an die Welt. Durch das Engagement mehrerer Generationen von Lehrern, von denen manche den Name Krishnamacharya vielleicht gar nicht mehr kennen, gilt Yoga heute nicht länger als eine esoterische Praktik des Ostens, sondern gehört für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zum täglichen Leben.

Das Umfeld, in dem Yoga gelehrt wird, ist so unterschiedlich wie die Bedürfnisse und Interessen der Praktizierenden: Universitäten, Gemeinde- und Sportzentren, Kureinrichtungen, Krankenhäuser, Selbsthilfegruppen und natürlich Abertausende von Schulen, die auf Yoga spezialisiert sind. Die Körperübungen des Yoga dienen Menschen aus allen sozialen Schichten zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Bewältigung von Stress. Yoga-Techniken werden auch zunehmend in Therapien integriert, sei es bei Erkrankungen der Atmungsorgane, Migräne, chronischen Rückenschmerzen, sei es zur Rehabilitation nach Verletzungen, Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Die meditativen Praktiken des Yoga werden von Menschen angewandt, die die Grenzen des gewohnheitsmäßigen Denkens überschreiten und die Anforderungen materialistischer Gesellschaften hinter sich lassen wollen.

Yoga wird in starkem Maße mit einem System von Techniken assoziiert, bei dem es um Körper- und Atemübungen sowie Visualisierungen geht. Diese sind von unschätzbarem Wert, bilden aber andererseits nur einen Anfang. In den tiefen Bedeutungsschichten und dem reichen Sinngehalt uralter Quellen entdeckte Krishnamacharya unvorstellbare Möglichkeiten, die der Yoga jedem Menschen für seine persönliche Entwicklung eröffnen kann.

Krishnamacharya brachte die Besonderheit der »konkret erfahrbaren« Sprache in die Lehre des Yoga ein. Nach einer der vielen, aus dem ursprünglichen Sanskrit stammenden Definitionen bedeutet Yoga »zusammenbringen«; und er verstand diesen Begriff in ganz praktischem Sinne als bewusste Herstellung der Einheit von Körper, Geist und Seele. Nach einer anderen Definition bedeutet Yoga »einen Punkt erreichen, der für uns zuvor unerreichbar war«. Dies hat Krishnamacharya wortgemäß interpretiert: Die menschlichen Möglichkeiten zur Erlangung geistiger Klarheit, zu richtigem Verstehen und zur Veränderung sind grenzenlos. Einmal schrieb er: »Die Beziehung zwischen dem Wort und seiner Bedeutung ist ewig, sie ist nichts willkürlich Hergestelltes.«

Während seines über hundertjährigen Lebens widmete sich Krishnamacharya mit großer Zielstrebigkeit dem Studium, der Praxis und der Lehre des Yoga. Da Yoga aus den Weisheitslehren Indiens hervorgegangen war, beschloss Krishnamacharya schon in sehr jungen Jahren, diesen enormen wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Wissensschatz meistern zu wollen. Was auf Goethe im frühen neunzehnten Jahrhundert zutrifft, kann man ohne weiteres auf Krishnamacharya im zwanzigsten übertragen: Er war der letzte Mensch, der in der Lage war, sich des gesamten geistigen Erbes seiner Kultur zu bemächtigen.

Und Krishnamacharyas Sohn, Sri Desikachar, war der Einzige, der die Geschichte über Leben und Werk dieses weisen Mannes zusammenfügen konnte, insbesondere was dessen letzte Jahre betrifft, als Krishnamacharya an den physischen und geistigen Praktiken des Yoga revolutionäre Veränderungen vorzunehmen begann. Denn bei Krishnamacharyas lebendiger Tradition des Yoga geht es einmal darum, mit den Yoga-Praktiken zu experimentieren und sie an die modernen Verhältnisse anzupassen, und zum anderen um das Bewahren alter, zuweilen lange vergessen gewesener Lehren.

Desikachar, ursprünglich Ingenieur von Beruf, heute ein in aller Welt geschätzter Yoga-Lehrer, war in Krishnamacharyas letzten dreißig Lebensjahren dessen Schüler und Kollege. 1976 gründete er im südindischen Chennai (ehemals Madras) eine Yoga-Schule, die Krishnamacharyas Namen trägt. In dem großen Gebäude, an einer staubigen Straße im alten Stadtviertel von Mylapore gelegen, gehen jedes Jahr mehr als zweitausend Inder und Ausländer ein und aus, sei es um eine Yoga-Therapie zu machen, sei es um an Studiengruppen oder einer Lehrerausbildung teilzunehmen.

Die eigentliche Inspirationsquelle für Lehrer und Schüler gleichermaßen befindet sich jedoch am Ende dieser Straße, in einer Ecke des Gartens von Desikachars Wohnhaus. Dort, wo einst das kleine Haus stand, in das sich Krishnamacharya während seiner letzten beiden Lebensjahre zurückgezogen hatte, befindet sich das sannidhi. Dieses stuckverzierte, weißgetünchte Häuschen, das kaum sechs Quadratmeter groß ist, wird aber nicht, wie sonst bei sannidhi üblich, als Schrein betrachtet. Es war immer Krishnamacharyas Eigenart, Wörter zu veredeln, indem er sie in ihrem ursprünglichen Sinne auslegte. Für ihn bezeichnete das Wort sannidhi »Präsenz« oder »Nähe«. In diesem Fall bedeutet es die Nähe zu einem Paar versilberter Sandalen Krishnamacharyas, die dort auf einem behauenen Granitsockel stehen.

Obwohl es Krishnamacharya sein Leben lang abgelehnt hatte, Guru oder auch nur Yogi genannt zu werden, sprachen die Leute von diesem heute fast zur Legende gewordenen Gelehrten immer als dem acharya. Nichts könnte zutreffender sein. Ein acharya ist nicht nur ein weiser Lehrer: Er ist jemand, der weit gereist ist und das lebt, was er lehrt. Von Krishnamacharya heißt es, er habe alles, was er wusste, gelernt, als er zu Füßen seiner Lehrer saß; in diesem Sinne sind auch die weit gereisten Sandalen zu verstehen. So finden sich Lehrerinnen und Lehrer, Schüler und Schülerinnen, die von Krishnamacharyas Lebenswerk beinflusst sind, in dem sannidhi ein, um in Gegenwart dieser Sandalen »ihr Verantwortungsbewusstsein zu stärken. Und um es zu erleichtern », wie Claude Maréchal, der bekannte belgische Yoga-Lehrer es ausdrückte. Denn bei der lebendigen Tradition Krishnamacharyas geht es vor allem um den Dienst an anderen.

Es sei noch hinzugefügt, dass es, wie Desikachar immer wieder betont, keine völlige und letzte Gewissheit über die »wahre« Bedeutung des Begriffs Yoga geben kann. Nach einer anderen alten Auffassung ist Yoga eine »Wissenschaft vom Geist«. Der Geist eines jeden Menschen ist, nach der Lehre des acharya, absolut einzigartig, obwohl er Teil des universalen, ewigen Geistes ist. Doch eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Jeder Mensch, der sich ernsthaft dem Studium des Yoga widmet, kann schließlich die in ihm schlummernden Fähigkeiten entdecken, die zu richtigem Verstehen führen. Francis Bacon hat diese Perspektive vor mehr als vierhundert Jahren folgendermaßen formuliert: »Der Geist kann, je nach Kapazität, auf die Größe der Geheimnisse ausgedehnt werden, während sich die Geheimnisse nicht auf die Enge des Geistes reduzieren lassen.«

R. H. Cravens

Szene aus dem Mahabharata:Krishna unterweist Arjuna auf dem Schlachtfeld

ERSTES KAPITEL

DAS FEUER,DAS DIE DUNKELHEIT VERTREIBT

An allen Orten und zu allen Zeitenhaben die VorfahrenYoga-Praktiken nach ihren Bedürfnissen gestaltet.Nur die Einstellungen und Lebensumständeder Menschen ändern sich.Zeit und Raum bleiben gleich.Es scheint immer dieselbe Sonne.

Als mein Vater schon weit über Neunzig war, betrat ich eines Nachmittags sein Zimmer, wo ich ihn allein, in tiefen Schlaf versunken, antraf. Und er war dabei zu unterrichten. Obwohl er schlief, waren seine Worte ganz deutlich zu verstehen. Er rezitierte Sanskrit-Verse auf die alte Art, mit der indische Lehrer schon immer ihre Schüler unterwiesen. Ich erinnere mich, dass er damals die Geschichte von Valmiki wiedergab, wie dieser beim Anblick eines Jägers, der ein Pärchen heiliger Kraniche tötete, vom Zorn gepackt wurde. Als der wütende Valmiki den Mund aufmachte, um den Jäger mit einem Fluch zu belegen, sprach er die ersten Dichterworte der Menschheit. Diese sollten den Anfang der Offenbarungen des indischen Epos Ramayana bilden.

Dass mein Vater – bekannt als Professor T. Krishnamacharya – sogar im Schlaf unterrichtete, überraschte mich nicht, doch es berührte mich tief. Ich wusste, dass er in den letzten Jahren seines langen Lebens das Gefühl hatte, die Zeit dränge. Er hatte ein enormes Wissen angesammelt, das nur er allein besaß, und es war sein dringlichster Wunsch, davon so viel wie möglich weiterzugeben, wohl wissend, dass es sonst für immer verloren ginge. Deshalb konnte er selbst in seinen Träumen nicht vom Unterrichten lassen.

Krishnamacharyas Wissen war legendär. Es umfasste Sprachen, das gelehrte Schrifttum, religiöse Kommentare, Astrologie, Literatur, Rhetorik, Logik, Recht und Medizin. Krishnamacharya verstand sich auf vedische Rezitation, Rituale, Meditation, Musik und vieles andere mehr. Er besaß sieben, dem Doktorgrad entsprechende Titel. Seine Kenntnisse hätten Tausende von Seiten gefüllt, wären sie alle niedergeschrieben worden. Vieles lernte er durch mündliche Überlieferung von Lehrern, die er zum einen an traditionellen indischen Universitäten fand, zum andern an so weit voneinander entfernten Orten wie Tempeln im tropischen Südindien und Höhlen in den Bergen Tibets. Sein ganzes gelehrtes Wissen vertraute er seinem Gedächtnis an, das ihn bis ins hohe Alter nie verließ. Damit verblüffte er mich immer wieder, ebenso wie seine Schüler oder Gelehrte, die ihn aufsuchten. Beispielsweise konnte er genaue Angaben über Kapitel und Verse des Mahabharata machen, des umfangreichsten Epos der Welt, das mit zweihundertzwanzigtausend Zeilen fast achtmal so lang ist wie Homers Ilias und Odyssee zusammen.

Allerdings mag Krishnamacharyas Wissen aus moderner Sicht zuweilen geheimnisvoll, wenn nicht sogar fremdartig erscheinen. Er beherrschte die meisten Sprachen des indischen Subkontinents, doch keine westliche. Sein Verständnis von Medizin und Recht wäre für die meisten heute praktizierenden Ärzte und Juristen befremdlich. Seine Studien reichten zurück bis in jene fernste Vergangenheit, in der sich Geschichte zum Mythos verflüchtigt. Dorthin, wo sich das Reich der Urväter aller indischen Wissenschaft, Religion und Philosophie befindet; in die Zeit Buddhas und in jene Epoche, in der die unvergänglichen Geschichten von den sagenhaften Göttern, Dämonen und Helden erstmals niedergeschrieben wurden. Doch Sinn und Zweck der Gelehrsamkeit meines Vaters war es nicht, die Vergangenheit zu bewahren, sondern der Gegenwart und Zukunft zu dienen.

Der erstaunliche Umfang und die Vielfalt seiner Studien verbanden sich zu einem einzigen Ziel: Er wollte das Versprechen des Yoga in den Dienst aller Menschen stellen, ungeachtet von Alter, Geschlecht, Rasse, Nationalität, Kultur, Status, Glauben oder Nichtglauben. Nach Krishnamacharyas Überzeugung war Yoga Indiens größtes Geschenk an die Welt. Ein Teil seiner Genialität bestand darin, dass er seine enormen Kenntnisse nutzte, um die alte Weisheit für die moderne Welt neu zu formulieren. In diesem Sinne war dieser höchst orthodox-religiöse Mensch zugleich äußerst revolutionär.

Das jahrtausendealte Verbot, Frauen im Yoga zu unterrichten, fegte er beiseite; ja, er war sogar der Meinung, dass Yoga für Frauen wichtiger sei als für Männer, nicht zuletzt weil Yoga die Gesundheit in der Schwangerschaft verbessert und bei der Geburt eines gesunden Kindes hilft. Auch hielt er Frauen für die zuverlässigeren Bewahrerinnen und Vermittlerinnen der yogischen Lehre.

Mein Vater galt zu seiner Zeit als berühmter Heiler. Seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet verdankte er auch hier seiner Bereitschaft, die alten Praktiken den heutigen Bedürfnissen anzupassen. Er führte vor, welchen Beitrag Yoga zur physischen und psychischen Gesundheit leisten kann, sowohl bei der Prävention als auch bei der Heilung von Krankheiten. In vielen Teilen der Welt werden seine Praktiken heute angewandt bei Asthma, hohem Blutdruck, Diabetes, Schlaganfall, Verdauungsstörungen, Rückenschmerzen und einer Vielzahl anderer Leiden, einschließlich geistiger und körperlicher Behinderungen. Er zeigte auf, welchen Stellenwert Yoga in unserer Welt voller Zerstreuungen, Stress und Probleme für die Bewahrung eines klaren, ausgeglichenen Geistes haben kann. Zu diesem Zweck ersann und erprobte er Möglichkeiten, die yogischen Techniken so zu verfeinern, dass sie dem geschäftigen Alltag moderner Menschen gerecht werden.

Doch auch dieses Anliegen – die heilenden und bewahrenden Kräfte des Yoga zu vermitteln – bildeten nur einen Teil seiner Mission. Der wahre Sinn und Zweck von Krishnamacharyas Unterricht bestand darin, die Menschen in Kontakt mit etwas zu bringen, das höher und weit größer ist als sie selbst. Was aber ist Yoga, dieses viel versprechende Geschenk? Ein kurzes Wort von weit reichender Bedeutung, das oft nur teilweise und nicht selten falsch verstanden wird.

Für Millionen Praktizierende rund um den Globus ist Yoga eine Art Körpertechnik mit vorgegebenen Übungen und kontrolliertem Atem – bekannt als Hatha-Yoga. Viele setzen Yoga gleich mit bestimmten Meditationsformen, wie etwa dem Raja-Yoga, bei dem es um Selbsterkenntnis geht; oder mit Kundalini-Yoga, der das Streben nach »kosmischer Energie« und spiritueller Ekstase beinhaltet. Bei Kriya-Yoga geht es um Reinigung, die in ihren extremen Formen zuweilen an Selbstverstümmelung grenzt. Erwähnt sei noch der tantrische Yoga, der im Allgemeinen mit Erotik assoziiert wird. Diese und andere Schulen haben ihrerseits Ableger und Variationen hervorgebracht, die dem wahren Wesen des Yoga mehr oder weniger nahe kommen und ebenfalls ihre Anhängerschaft haben.

Der folgenden, sehr knappen Zusammenfassung von Krishnamacharyas Yoga-Lehre möchte ich zunächst ein paar grundsätzliche Definitionen voranstellen.

Das Wort »Yoga« stammt aus dem Sanskrit, der ursprünglichen Sprache der Literatur und Philosophie Indiens, und geht zurück auf die Wortwurzel yuj, welche zwei traditionelle, komplementäre Bedeutungen hat. Erstens: »Zwei Dinge zusammenbringen«, »sich treffen«, »sich vereinigen«. Zweitens: »Den Geist bündeln«. Ein einfaches Alltagsbeispiel ist das Autofahren. Wir regulieren das Gaspedal, steuern das Lenkrad und konzentrieren uns (hoffentlich) gleichzeitig auf den Verkehr und die Fußgänger rundherum. Hier kommen verschiedene Bewegungsabläufe zusammen und konvergieren mit unserer Aufmerksamkeit. Professionellen Rennfahrern dürften solche Momente von »Yoga-Zustand« vertraut sein, auch wenn sie sie nicht so nennen.

Noch wichtiger ist sicherlich eine weitere Bedeutung: »Einen Punkt erreichen, der für uns zuvor unerreichbar war«. Etwas, das im Moment noch unmöglich ist, wird durch Yoga möglich. Heute sitze ich auf dem Boden und kann kaum meine Beine nach vorne ausstrecken. Nach einigen Wochen des Übens kann ich in dieser Haltung vielleicht nicht nur aufrecht sitzen, ich kann mich sogar mit gedehntem Rücken nach vorne beugen und bei gestreckten Knien meine Zehen ergreifen. Stufenweise wird das zunächst Unmögliche möglich.

Auf der tiefsten Bedeutungsebene treffen all diese Inhalte des Begriffs »Yoga« zusammen. Der große indische Gelehrte Patanjali hat vor mehr als zweitausend Jahren in der folgenden knappen Definition zum Ausdruck gebracht, was die Grundlage der Lehren meines Vaters und gleichzeitig die Essenz des Yoga ist:

Yoga ist die Fähigkeit, den Geist ausschließlich auf ein Objekt auszurichten und diese Ausrichtung ohne jede Ablenkung aufrechtzuerhalten.

Das »Objekt« kann etwas Konkretes sein wie ein Kunstwerk, etwas Dynamisches wie ein Läufer beim Wettrennen, oder etwas Abstraktes wie eine mathematische Formel. Es kann sich auch um eine persönliche, der inneren Suche dienenden Frage wie »Wer bin ich?« handeln. Oder um etwas Transzendentes wie »Einssein mit Gott«, egal ob dieser Gott benannt wird oder ob es sich dabei um eine namenlose Wahrheit handelt.

Es gibt eine Vielzahl, vermutlich Tausende von Texten über Yoga. Doch die zweite, neben Patanjalis Definition unsterblich gewordene Interpretation des Begriffs »Yoga« findet sich im Mahabharata. Wie in Homers Epos steht auch hier ein großer Krieg im Mittelpunkt, in diesem Fall zwischen zwei verfeindeten Parteien ein und desselben alten Geschlechts. Ungefähr in der Mitte des Epos findet sich das erhabenste und vielleicht einflussreichste Werk der Hindu-Literatur, die Bhagavad Gita. Darin geht es um einen Dialog zwischen Gott, in der Gestalt von Krishna, und dem Krieger-Fürsten Arjuna. Beim Anblick der sich gegenüberstehenden gegnerischen Heere überkommt Arjuna der Wunsch, sich aus der Schlacht zurückzuziehen, um nicht, und sei es um den Preis seines eigenen Todes, Blutsverwandte töten zu müssen. Da ruft Krishna in Arjuna das Bild von dessen wahrem Selbst hervor, das unsterblich ist, und er appelliert an ihn, sein Schicksal durch Handeln im Geiste des Yoga zu erfüllen. Denn Yoga ist Handeln. Krishna beschreibt Yoga auf unterschiedliche Weise: als »Weisheit im Handeln«, als Bezwingung des »eigenwilligen, ungestümen« Geistes, als »Einssein mit dem Selbst« und als die Erkenntnis, dass »der Gott in ihm identisch ist mit dem Gott in allem, was existiert«. Das in der Dichtung beschriebene Schlachtfeld versinnbildlicht natürlich das ewige Ringen des Menschen um Vollkommenheit. In diesem Sinne ist die Aufforderung Krishnas an Arjuna gemeint: »Sei im Einklang mit dir selbst, sei im Yoga und erhebe dich, großer Krieger, erhebe dich.«

Gleich um welche Religion es sich handelt, Offenbarungen brauchen immer sterbliche, fehlbare Menschen, die die konkreten Details ausarbeiten. Dies getan zu haben ist das bleibende Verdienst meines Vaters. Er war ein enorm, zuweilen fast übertrieben praktischer Mensch, und er hatte die geradezu unheimliche Fähigkeit, Wesen und Zustand eines Menschen genau zu erkennen. Für ihn ließ sich der Yoga des Patanjali und der Bhagavad Gita allen Menschen – ob Mann, Frau oder Kind – so nahe bringen, als handle es sich um ihren nächsten Atemzug. Und wenn das geschehen war, konnten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Sich auf Patanjalis Lehre stützend, gründete der Unterricht meines Vaters auf wenigen unerschütterlichen Prämissen:

Er respektierte, ja wichtiger noch, er akzeptierte, dass jeder Mensch einzigartig ist. Kein Mann, keine Frau gleicht einem anderen Menschen, der irgendwann in der Vergangenheit gelebt hat oder in der Zukunft geboren werden wird. Mehr noch, jeder Mensch hat nicht nur eine einzigartige Identität, die durch Geburt, Erziehung in der Familie und durch die Kultur beeinflusst wird, er verändert sich auch auf einzigartige Weise in jedem Moment seines Lebens. Doch war Krishnamacharya der Meinung, dass allen Menschen ungeachtet dieses einzigartigen, dem ständigen Wandel unterliegenden Daseins, das gleiche Potenzial innewohnt – eine Art innerer Tempel. Dort kann es zu einer harmonischen Verschmelzung des Selbst mit dem Absoluten kommen.

Was heißt im Einklang sein mit sich selbst?

Es bedeutet die Verbindung von Körper, Geist und Seele.

Wie erlangt man diese?

Praktisch gesehen, fängt sie mit körperlicher Gesundheit an. Krishnamacharya war sich völlig bewusst, dass niemand mit Migräne, Asthma-Anfall, heftigem Ziehen im Rücken oder Bauchweh nach Vollkommenheit streben oder in der Meditation seinen Geist auf Gott ausrichten wird. Allerdings verstand er unter körperlicher Gesundheit immer mehr als nur Wohlbefinden. Gesundheit hatte für ihn ihren Ursprung in etwas Größerem, das selbst die modernste Biomedizin nicht erklären kann. Man könnte es Heilkraft nennen, die wiederum in starkem Maße von einer Beziehung abhängig ist – sei es zu einem Arzt, Lehrer oder, nach dem Glauben meines Vaters, vor allem zu Gott. In solchen Beziehungen erlangen wir »Ganzheit«. Interessanterweise hat im Englischen das Wort für ganz, »whole«, und das Wort für heilen, »heal«, dieselbe germanische Wurzel – ein erneuter Fingerzeig aus der Vergangenheit.

Nach der Lehre meines Vaters gibt es keine Trennung zwischen Geist und Körper. Heilung liegt im Geist begründet, und der Yoga des Patanjali ist vor allem eine mit dem Geist befasste Wissenschaft. Wenn der Geist die Wahrheit klarer erkennen kann, zeigt sich dies unweigerlich in der Seele. Krishnamacharya hat dies einmal in einem Gedicht zum Ausdruck gebracht:

Gib dich ganz dem Yoga hin, denn

wo bleibt der Konflikt, wenn die Wahrheit erkannt ist,

wo bleibt die Krankheit, wenn der Geist klar ist,

wo bleibt der Tod, wenn der Atem beherrscht ist?

»Gib dich ganz dem Yoga hin …«, ein bemerkenswerter Satz, auf den es sich lohnt, näher einzugehen.

Ich unterrichte seit mehr als dreißig Jahren Yoga und habe zahlreiche Vortragsreisen durch Europa, Nordamerika und andere asiatische Länder gemacht. Ich bin mir also völlig bewusst, welche unterschiedlichen Assoziationen und Einwände eine Vorstellung wie »der Schlüssel zur Heilung liegt im Geist« oder ein Wort wie »sich hingeben« hervorrufen können. Unter meinen Schülerinnen und Schülern, unter denen, die zu meinen Vorträgen kommen, gibt es Menschen, die überhaupt noch nichts über Yoga wissen, und andere, die Yoga bereits beherrschen. Auch deren Einstellungen sind sehr verschieden und reichen von entschiedenem Skeptizismus bis zu blinder Akzeptanz. Meine besondere Sympathie gilt den Skeptikern unter ihnen, möglicherweise deshalb, weil ich als Ingenieur mit einer westlich geprägten wissenschaftlichen Ausbildung häufig selbst zu ihnen zählte.

Niemand hat seine Worte sorgfältiger gewählt als mein Vater, und seit Jahrhunderten gab es vielleicht niemanden, der abgenutzten Begriffen mehr neues Leben eingehaucht hätte, als er es tat. Wie wir noch sehen werden, bedeutet die Vorstellung, dass der Schlüssel zur Heilung im Geist liegt, keineswegs, dass Yoga alle Leiden heilt. Wundstarrkrampf wird durch eine Tetanus-Spritze verhindert, und schwere Infektionen behandelt man mit Antibiotika. Yoga wirkt Hand in Hand mit den großen Errungenschaften der Medizin und tritt nicht an ihre Stelle. Auch ein Wort wie »sich hingeben« hat noch eine andere Bedeutung als die übliche. Für Krishnamacharya bedeutete »sich dem Yoga hingeben«, sein ganzes Sinnen und Trachten darauf zu richten, Unabhängigkeit – das heißt Autonomie in Geist und Seele – zu erlangen.

Der Unterricht meines Vaters stützte sich zuoberst auf die Grundwahrheit, dass jeder Schüler und jede Schülerin stets nach seinen bzw. ihren individuellen Fähigkeiten unterrichtet werden soll. Denn jeder Mensch entwickelt sich auf unterschiedliche Art und in unterschiedlichem Rhythmus. Und jeder Entwicklungsschritt sollte so erfahren werden, wie es in der Bhagavad Gita beschrieben wird: als Episode im größten aller Abenteuer, dem ewigen Bestreben, das persönliche Schicksal zu erkennen und zu erfüllen. Jeder Mensch befindet sich an einem anderen Ausgangspunkt, doch die Erfahrbarkeit des von Krishnamacharya gelehrten Yoga setzt immer fünf Elemente voraus:

Das erste bilden die üblicherweise am Anfang stehenden asana, der Sanskrit-Begriff für die Körperhaltungen des Yoga. Das zweite Element bilden die pranayama, Techniken, mit denen man ganz bewusst den Atem reguliert. Als drittes Element gilt die Rezitation – von Silben, Worten, Textpassagen, die meist im Zusammenhang mit den Veden stehen –, teils wegen ihrer heilenden Wirkungen auf Geist und Körper, teils weil sie uns in spirituellen Kontakt mit etwas Uraltem, etwas Heiligem bringt. Das vierte Element ist Meditation, ein Mittel, das unser Bewusstsein über das übliche Maß hinaus sowohl nach innen als auch nach außen auszuweiten vermag. Das fünfte Element schließlich bildet das Ritual, ein zutiefst instinktiver und universeller menschlicher Akt, der allerdings häufig missverstanden wird.

Vor einigen Jahren nahm ich an einem Treffen von Yoga-Lehrern und Yoga-Schülern teil, die eine Vereinigung zur Förderung von Yoga gründen wollten. Dort führte allein schon die bloße Erwähnung des Wortes Ritual zu einem plötzlichen und – wie sich herausstellen sollte – verhängnisvollen Aufstand. Eine Gruppe von Teilnehmern wollte auf gar keinen Fall etwas mit einer Organisation zu tun haben, in der der Begriff des Rituals auch nur in Erwägung gezogen wurde. Ich vermute, sie befürchteten die Einführung eines dogmatischen Elements. Nichts aber könnte dem Anliegen des Yoga ferner liegen. Aus der Vereinigung zur Förderung von Yoga wurde am Ende nichts, hauptsächlich aufgrund der falschen Vorstellungen, die über ein einziges Wort bestanden.

Es gibt auch Leute, die Praktiken wie Rezitation und Meditation mit Argwohn betrachten. Die häufigste Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt wird, lautet: Führt Yoga nicht immer zum Hinduismus? Die Antwort ist: Keineswegs – es sei denn jemand ist Hindu und will ein innigeres Verhältnis zu seiner Religion entwickeln. Yoga führt zur Schwelle des Absoluten, das dann je nach Bedürfnis und Schicksal einer Person – ob religiös oder nicht – anders erlebt wird. Ich werde übrigens nicht selten gebeten, für Gläubige anderer Religionen Meditationen zu konzipieren. Normalerweise bitte ich Schüler, die diesen Wunsch an mich herantragen, die Zustimmung von Ratgebern aus der eigenen Konfession einzuholen, denn es ist schon ungewöhnlich, wenn sich ein Hindu aus Chennai eine Meditation etwa für eine Katholikin in Barcelona ausdenkt.

Krishnamacharyas ganzes Leben und Werk zeugt von seinem Bemühen, dem Yoga und seinen Praktiken mit Offenheit und neuem Verständnis zu begegnen. Nicht nur las er die alten Texte zuweilen so, als wären sie eben erst geschrieben worden, er bezog auch das mit ein, was hinter den Wörtern stand – die tiefere Bedeutung. Darin liegt meines Erachtens der Grund für seinen nachhaltigen Einfluss. Hierzu ein Beispiel: 1976 beschloss ich, in Chennai eine Yoga-Schule zu gründen, die seinen Namen tragen sollte – den Krishnamacharya Yoga Mandiram. Mandiram wird üblicherweise mit Tempel übersetzt, etwas, das wir ganz und gar nicht im Sinn hatten. Doch von meinem Vater kannte ich eine andere Bedeutung des Wortes, deren Wurzeln sich im ursprünglichen Sanskrit finden: Manda übersetzt als Dunkelheit und ram als Feuer. Auf diese Weise sollte die nach ihm benannte Schule sein lebenslanges Bemühen um den menschlichen Geist verkörpern, sollte ein Ort sein, wo Yoga das »Feuer (ist), das die Dunkelheit vertreibt«.

Nur relativ wenige Menschen kennen heute den Namen meines Vaters, obwohl seine Arbeit das Leben vieler berührt. Er strebte selbst nie nach persönlichem Ruhm und lehnte es kategorisch ab, anders als mit Professor T. Krishnamacharya angeredet zu werden. »Wenn sich jemand selbst Guru nennt, ist er keiner«, behauptete er. Auch wer sich selbst als Yogi bezeichnete, war in seinen Augen keiner.

Der nachhaltige Einfluss, den Krishnamacharya heute hat, ist zum großen Teil den Lehrerinnen und Lehrern zu verdanken, die bei ihm studierten. Dazu zählt vor allem sein Schwager (mein Onkel) B. K. S. Iyengar, der mehr als zweihundert Schulen in aller Welt gründete. Hierzu gehört auch Indra Devi, seine erste ernsthafte nicht-indische Schülerin und eine der ersten Frauen, die mein Vater unterrichtete. Neben ihnen gibt es noch einige Dutzend Lehrende in aller Welt, die bei uns in Chennai ihr Wissen erworben haben und nun eine Yoga-Tradition fortführen, die bis in prähistorische Zeiten zurückreicht. Dabei haben sie in Übereinstimmung mit der Tradition ihre Yoga-Praktiken so angepasst und verändert, dass sie den heutigen Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler gerecht werden.

Vor diesem Hintergrund fortwährender Anpassung und Veränderung erschien es mir angebracht, in einem Buch zusammenzutragen, was über Leben und Werk meines Vaters bekannt ist. Ich meine damit nicht die eigentlichen Praktiken des Yoga. Dafür gilt es den richtigen Lehrer, die geeignete Lehrerin zu finden. Mir ging es vielmehr darum, den Leserinnen und Lesern durch die Vermittlung der lebendigen Tradition Krishnamacharyas die Aussicht auf ungeahnte Möglichkeiten und immer neue Hoffnungen vor Augen zu führen.

Allerdings barg das Vorhaben, über Krishnamacharya zu schreiben, nicht wenige Schwierigkeiten. Ein nicht gerade geringes Problem bestand in seiner Weigerung, sich selbst für sein Wissen und seine Lehren irgendein Verdienst zuzuschreiben. Mit Ausnahme einer einzigen Gelegenheit, die er aber auch abrupt wieder beendete, hat er sich immer geweigert, über sich und sein Leben zu sprechen. Dies stand voll und ganz im Einklang mit der Hingabe, mit der er ein Leben im Geiste des Yoga führte und die Weisheit des Yoga an seine Schülerinnen und Schüler weitergab.

Ich stellte mir auch die Frage, ob Krishnamacharya ein Buch über sein Leben und Werk überhaupt gutgeheißen hätte. Hinzu kamen Bedenken, dass alles, was man über ihn schreiben würde, nur einen winzigen Bruchteil seiner Erfahrungen und seines Genies wiedergibt. Was mich schließlich tröstete, war der Gedanke, dass er jeden Versuch, der das Interesse an Yoga und dessen Wirkungen zu wecken suchte, begrüßt hätte, und sei er noch so fehlerhaft und unvollkommen. In diesem Sinne sollte auch Krishnas Beteuerung gegenüber Arjuna in der Bhagavad Gita verstanden werden:

… selbst der, den es nur nach Yoga verlangt, geht über die Worte von Büchern hinaus.

Von Krishnamacharya besuchte Orte

Berg Kailash in Tibet; Wohnstätte Shivas

ZWEITES KAPITEL

SCHRITTE ZUM YOGA

Wissen ist nicht nur Erinnerung.Jeden Tag muss es etwas Neues geben.

Im Jahre 1934 erschien der von Paul Brunton, einem englischen Journalisten mit Hang zum Okkulten, verfasste internationale Bestseller Von Yogis, Magiern und Fakiren. Der Autor beschreibt darin seine Erlebnisse, die er mit ein paar bemerkenswerten Fakiren, Okkultisten und Magiern meines Landes hatte, doch auch seine Begegnungen mit einigen wahren Heiligen und »heiligen« Gaunern. Viele Seiten widmete er einem dunkelhäutigen Brahmanen, dem er in der Nähe von Chennai begegnet war und der ihm einige geheime yogische Praktiken enthüllte. Das am besten gehütetste Geheimnis dieses Yogi, das er besonders anschaulich beschrieb, war dessen Fähigkeit, seinen Herzschlag und Atem zum Stillstand zu bringen.

Genauso gut hätte Paul Brunton in Mysore, ein paar hundert Kilometer entfernt, meinen Vater sehen können, wie er dieselbe Fähigkeit auf einer Bühne demonstrierte. Krishnamacharya vollbrachte dieses Kunststück viele Male ohne jede Geheimnistuerei, oft vor mehreren Hundert oder gar Tausend Zuschauern, denen er die Möglichkeiten von Yoga vorführen wollte. Internationale Berühmtheit erlangte mein Vater schließlich, als ihn ein medizinisches Experten-Team aus Europa dabei überwachte, wie er Herzschlag, Puls, Atmung und andere lebenswichtige elektrochemische Funktionen zum Stillstand brachte und nach ein paar Minuten langsam wieder aufnahm. Der Bericht des Teams wurde damals in der europäischen und amerikanischen Presse als Sensation aufgemacht. In Indien wurde diese scheinbare Macht über Leben und Tod bald Teil der Legende über meinen Vater – vermutlich mehr als ihm lieb war.

Schon von Kind auf hatte ich darüber erzählen hören, dass mein Vater seinen Herzschlag kontrollieren konnte. Als Student der Naturwissenschaften zeigte ich offen meine Skepsis. So fragte ich ihn einmal: »Vater, ist das wirklich möglich?« Eines Tages – es war im Jahre 1965, und er hatte mich schon einige Jahre unterrichtet – machte er die Augen zu und bat mich, seinen Puls zu fühlen. Ich tat dies und merkte, wie sein Pulsschlag immer schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte. Es war nichts mehr zu spüren, weder am Handgelenk noch am Hals, und auch seine Atmung war vollkommen zum Stillstand gekommen. Dies dauerte mindestens zwei Minuten, dann kamen Puls und Atmung wieder in Gang.

»Vater«, sagte ich, »ich will das auch lernen.«

»Das werde ich dir niemals beibringen«, sagte er.

»Vater«, wandte ich ein, »ich muss das anderen vorführen.«

»Nein!«, sagte er sehr energisch. »Das bringt niemandem einen Nutzen. Es taugt nur zur Schau …«, und hier benutzte er ein Wort aus dem Sanskrit, das mit »Ego-Trip« übersetzt werden könnte.

»Mit meiner Demonstration wollte ich die Öffentlichkeit von der Kraft des Yoga überzeugen. Das ist nun geschehen. Du brauchst das nicht mehr zu lernen. Du solltest nur Dinge lernen, die für Mensch und Gesellschaft von Nutzen sind.«

Ich argumentierte weiter, denn ich war sehr neugierig und hätte alles getan für diese Erfahrung: Was würde es für ein Gefühl sein, das Leben zum Stillstand zu bringen, und sei es auch nur für ein, zwei Minuten? Doch er ließ sich nicht erweichen. Zwar vertrat er immer die Meinung, dass wir alles, was wir empfingen, mit anderen teilen sollten. Mangelnde Bereitschaft zum Teilen galt ihm als das Schlimmste. Doch auf diese besondere Fähigkeit traf dies nicht zu.

In den dreißig Jahren, die mein Vater mich unterrichtete, war er immer der großzügigste Lehrer, den man sich vorstellen kann. Er beantwortete mir jede Frage, ging auf alles ein, was ich wissen wollte. In der ganzen Zeit erlebte ich nur diese eine Enttäuschung: Er lehrte mich nicht, den Herzschlag anzuhalten.

Mein Vater galt als acharya, was üblicherweise mit Guru oder spiritueller Lehrer übersetzt wird. Ein acharya ist jemand, der lebt und praktiziert, was er lehrt; auch ist er »jemand, der weit gereist ist«. All dies traf auf Krishnamacharya unumschränkt zu. Während meiner ersten Unterrichtsjahre wurde mir allerdings auch deutlich bewusst, wie wenig ich über seine Lebensgeschichte wusste.

Die groben Umrisse von Krishnamacharyas Leben waren allgemein bekannt. Er hatte schon als sehr kleines Kind Yoga-Unterricht erhalten, hatte sich später an verschiedenen Universitäten ein enormes Wissen angeeignet und war mehrere Jahre von einem in einer Höhle in Tibet lebenden Lehrer unterrichtet worden. Über zwanzig Jahre lang war er Lehrer und Berater des Maharadschas von Mysore gewesen, und er hatte einen großen Ruf als Heiler. Doch das war ungefähr alles, was wir in unserer Familie über ihn wussten. Er sprach fast nie über sich oder seine Vergangenheit. Also ging ich eines Tages zu ihm und bat ihn, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Zuerst lehnte er ab, doch ich gab keine Ruhe.

»Vater, es kommen ständig Leute zu mir und stellen Fragen über dich«, argumentierte ich. »Ich kann sie nicht beantworten.« Schließlich gab er nach, zumindest fürs Erste. Vier Tage lang ging ich jeden Nachmittag zu ihm, und er diktierte mir Begebenheiten aus seiner frühen Jugend. Am vierten Tag hielt er abrupt inne und weigerte sich weiterzureden. Wiederum halfen all meine Argumente nichts, er ließ sich nicht umstimmen.

Eine grundlegende Erkenntnis des Yoga besagt, dass all unser Tun, seien es Gedanken oder Taten, Konsequenzen hat. Ich muss also die Gründe, die meinen Vater bewogen haben, die Arbeit an seiner Lebensgeschichte abzubrechen, respektieren. Im Yoga ist es unser ganzes Streben, uns ohne Ablenkung auf ein Objekt auszurichten und eins zu werden mit dem Objekt unserer Konzentration. Mein Vater empfand seine Lebensgeschichte lediglich als triviale Ablenkung hiervon. Er wollte sich ganz auf seine Studien konzentrieren, auf seinen Unterricht und vor allen Dingen auf seinen Gott, Narayana, Urquell aller Dinge. Andererseits hatte seine Entscheidung Konsequenzen für uns übrige.

Schon zu seinen Lebzeiten hatten die Menschen damit begonnen, meinen Vater mit der Aura eines Halbgottes zu umgeben. Seine Schülerinnen und Schüler und andere Anhänger sahen in ihm immer mehr einen Heiligen, einen stets gütigen, sanftmütigen Menschen, der immer bereit war zu geben und geradezu unheimliche Kräfte besaß, besonders als Heiler. An diesem Bild war durchaus etwas Wahres. Gleichwohl war sein Charakter komplexer, menschlicher.

Krishnamacharya war wirklich gütig und sanftmütig, aber er konnte auch Furcht erregend sein. Er war der unabhängigste Mensch, den ich je gekannt habe – zugleich der demütigste und gottergebenste. Obwohl er ein sehr orthodoxer Brahmane war, hatte er in seinem Glauben radikale, ja revolutionäre Veränderungen vorgenommen. Und trotz seines unerschütterlichen Glaubens liebte er die intellektuelle Debatte, ganz besonders über religiöse Fragen. Krishnamacharya war jemand, der jeden Tag mehrere Stunden in Andacht verbrachte. Danach konnte er mit dem größten Vergnügen eine diesem Tun diametral entgegengesetzte religiöse Position beziehen. Zum Beispiel konnte er einem lang und breit auseinander setzen, dass der reine »agnostische« Buddhismus die einzige Wahrheit sei, um kurz darauf mit derselben Überzeugungskraft für die komplizierte ritualistische Verehrung Vishnus einzutreten.

Angesichts der nur fragmentarischen biografischen Angaben meines Vaters mussten wir versuchen, Fakten von Fabeln zu trennen. Beispielsweise habe ich Leute getroffen, die überzeugt waren, dass Krishnamacharya der von Paul Brunton beschriebene Yogi war, was aber völlig unmöglich ist. Andere behaupteten, dass er in den Dreißigerjahren nicht nur das Kunststück fertig gebracht habe, seinen Herzschlag und Atem zum Stillstand zu bringen, sondern dass er dabei noch mit seinem Vortrag fortgefahren sei oder Yoga-Haltungen demonstriert habe! Wiederum, etwas ganz Unmögliches. Doch für wichtiger als das Auseinanderhalten von Dichtung und Wahrheit halte ich die folgende yogische Lektion:

»Wenn wir uns Problemen gegenübersehen«, so Patanjali, »kann uns der Rat oder das Beispiel eines Menschen, der ähnliche Probleme gemeistert hat, eine große Hilfe sein.« Diese Lektion können wir ganz direkt von jemandem lernen oder indirekt, indem wir uns mit einer Person – möge sie noch leben oder bereits tot sein – mittels Studium und Lektüre befassen. Meines Erachtens enthält das Leben meines Vaters viele Lektionen, die für andere hilfreich, tröstlich oder auch inspirierend sein können.

Bei seinem Streben nach Wissen ließ sich Krishnamacharya von nichts und niemandem aufhalten. Er reiste Tausende von Kilometern durch Indien, lernte dabei viele Sprachen und befasste sich mit den Lehren unserer verschiedensten religiösen Traditionen. So unterrichtete er in späteren Jahren Muslime und Sikhs in Yoga und griff dabei auf deren eigene heilige Schriften zurück. Bei seinen Studienreisen in Südindien verfolgte er die Absicht, die Lehren der yogischen Traditionen dieser Region mit jenen des Nordens zu vereinen. All sein Wissen und Können wollte er zusammenbringen, vereinigen, dem grundlegenden yogischen Prinzip folgend, das immer nur auf Klärung und Wachstum zielt, nie auf Konflikt.

Krishnamacharya besaß die Unabhängigkeit, den Mut und die Offenheit, sowohl in seinem eigenen Leben als auch innerhalb seiner religiösen Tradition, große, den Erfordernissen der Zeit entsprechende Veränderungen vorzunehmen. Gleichzeitig hielt er am Wesenskern jener ewigen Wahrheiten fest, die die Menschheit bewahren muss, will sie ihr eigenes Überleben sichern. Was uns bleibt, ist das Beispiel Krishnamacharyas, der seiner Berufung folgte und das Leben eines Yogi führte – häufig im Angesicht fast unüberwindlicher Hindernisse.

Dies hatten wir im Sinn, als wir in jahrelanger Arbeit versuchten, das Wenige zusammenzufügen, das über Krishnamacharyas Leben bekannt war. Dazu zählen die wenigen Gelegenheiten, in denen er Fragen von Schülern beantwortet hatte; die Befragungen von Familienangehörigen, Schülern und Freunden – einige von ihnen sind heute sehr alt –, die ihn während seiner ruhmreichen Jahre in Mysore gekannt hatten; dazu zählen auch meine eigenen Erinnerungen und die meiner verstorbenen Mutter, meiner Frau und meiner Kinder.

Alles in allem ist es immer noch verschwindend wenig, was wir über das Leben eines Mannes wissen, das ein ganzes Jahrhundert umspannte und Tausende von Menschen beeinflusste. Ähnlich verhielt es sich auch mit seinem Besitz: Er hinterließ eine kleine Bibliothek, ein paar Schals, die er von heiligen Männern geschenkt bekommen hatte, die Sandalen seines Guru und einige religiöse Gegenstände. Mein Vater war ein Mensch, der sein langes Leben auf dieser Erde mit voller Kraft und zugleich mit großer Leichtigkeit lebte.