You'll Never Sing Alone - Gunnar Leue - E-Book

You'll Never Sing Alone E-Book

Gunnar Leue

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Beschreibung

Eine Kulturgeschichte des Fußballsounds, illustriert mit den besten Plattencovern und Fotos aus über 150 Jahren Fußballgeschichte Wenn am Wochenende in Stadien auf der ganzen Welt Fußball gespielt wird, ist das Geschehen auf dem Rasen von einer Wall of Sound umgeben: die Schreie und Pfiffe, das Geraune und Gejubel, und vor allem die Fangesänge erzeugen eine einzigartige Atmosphäre zwischen Gänsehaut und Ekstase. Doch nicht nur der unmittelbare Stadionsound, auch die zahlreichen Lieder, die den Fußball seit seiner Entstehung umgeben, prägen die Fußballkultur: Sie haben die schmerzlichsten Niederlagen und die größten Erfolge musikalisch aufbereitet und in Mythen verwandelt. Vereinslieder, Popsongs, simple Mitgrölreime und ambitionierte Kunst bilden den Soundtrack zum großen Spiel. Gunnar Leue hat den Sound des Fußballs als Fan in Stadien live erlebt und als Journalist und Autor beschrieben. Mit »You'll Never Sing Alone« legt er eine umfassende Darstellung des Themas in all seinen Facetten vor. Mitreißend und detailreich erzählt das Buch die Geschichte der Fußballmusik, von den skurrilen Anfängen des Fansupports über singende Fußballstars und die Entstehung von Vereinshymen bis hin zum Protest der Ultras gegen Kommerz und Eventisierung. »You'll Never Sing Alone« ist eine faszinierende Reise durch die Fußballmusikgeschichte, gespickt mit den aberwitzigsten Anekdoten und seltenen Plattencovern. Mit einem Vorwort von Thees Uhlmann

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Seitenzahl: 384

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GUNNAR LEUE, geboren 1963 in der Altmark, lebt

seit einigen Jahrzehnten in Berlin, wo er als freier

Journalist arbeitet (u. a. taz, Galore, Das Magazin,

11FREUNDE, radioeins). Zudem hat er die Ausstellung

»Der Sound des Fußballs« kuratiert, das Vinylalbum

»Eisern Union« und das Quartettspiel »Vereine auf

Vinyl« herausgebracht. Er ist Sammler von Schallplatten

mit Fußballmusik aus aller Welt.

© 2023 Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG,

Boppstr. 25, 55118 Mainz

Alle Rechte vorbehalten.

In Kooperation mit Tapete Records

ISBN print 978-3-95575-199-9

ISBN epub 978-3-95575-635-2

Lektorat: Benedikt Zopes

Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

1863 BIS 1918 FRÜHES MITEINANDER VON FUSSBALL UND GESANG

1918 BIS 1945 MASSENWAHN UND STARKULT

1945 BIS 1962 DIE ANFÄNGE GLOBALER FUSSBALLKULTUR

1963 BIS 1974 FUSSBALLPOPWELLE IN STADIEN UND PLATTENLÄDEN

1974 BIS 1989 FUSSBALLUNTERHALTUNG AROUND THE CLOCK

1990 BIS 2006 INSZENIERUNG UND ENTERTAINISIERUNG ALL OVER

2007 BIS 2023 KOMMERZOVERKILL

DANK

BILDQUELLEN

LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

»Ach, wie glücklich, die,

die sich selbst genügen,

die sich selber lieben

und am Ende immer siegen!«

Das habe ich mir gerade selbst ausgedacht. Das soll sich so E.T.A.-Hoffmannmäßig anhören. Weil das so ein guter Name ist. Und weil ich – und ich denke auch viele andere, die dieses Buch lesen – genauso fühle.

Irgendwas war krumm bei mir, als ich dreizehn, vierzehn war. Ich hatte lauter Fragen an mich und an die Welt. Sie wurden durch Musikhören und Gitarrespielen nicht gleich beantwortet, aber doch wenigstens erwidert. Ich hatte damals das Gefühl, dass mir etwas fehlte, wobei ich bis heute nicht genau weiß, was es eigentlich war. Ich merkte nur, dass das Gefühl kleiner wurde, wenn ich Musik hörte, die mich ansprach. Oder wenn ich in einem Konzert irgendeiner skurrilen Kleinstband stand und zusammen mit allen anderen neben mir ihre Lieder mitsang. In diesen Momenten spürte ich mich nicht als einzelne Person, sondern ich fühlte mich mit den anderen um mich verbunden. Dadurch begriff ich in etwa, wer ich sein könnte.

Ich glaube, das ist in uns Menschen so drin. Herrgott, seit der Steinzeit erzählen sich die Menschen, was sie gemeinsam erleben und was sie bewegt. Ganz früher handelten die Gespräche von der Mammutjagd. Die, die zuhörten, klopften dann gemeinsam mit Stöcken auf einen Holzstamm, der vor ihnen lag. Auch ein Ausdruck von Verbundenheit. Im Kollektiv vergessen wir Menschen ja für einen kurzen Moment, dass wir in einem Umkreis von tausenden Lichtjahren rund um die Erde ziemlich alleine sind. Wenn man genau drüber nachdenkt, kann einem das schon etwas Angst machen. Was dagegen hilft, und was auch sonst immer ein gutes Gefühl bringt: Wenn der neben dir das gleiche Lied kennt und singt wie du.

»Warum suchst du dir kein Hobby, das dich glücklich macht?«, fragte mich meine Tochter vor Jahren zu dem hochkomplexen Thema, warum sie damals Pferde liebte und ich mich von Zweitligafußball angezogen fühlte. Darüber denke ich, ehrlich gesagt, immer noch nach. Und ich habe immer noch keine richtige Antwort darauf gefunden.

Ich glaube, es hat zu tun mit der Suche nach einem emotional verbundenen Kollektiv. Bei mir führte sie fast unweigerlich ins Fußballstadion. Dort entsteht dieses unbeschreibliche Gefühl, in einer Gruppe aufzugehen, die die gleiche Liebe teilt. Und in der unwichtig ist, was im Leben ansonsten permanent zählt: Was hast du, wer bist du.

Ins Stadion gehen und ein Fußballspiel angucken ist ein bisschen, wie sich um ein Feuer versammeln. Man kann sich mit anderen für 90 Minuten am Spiel erwärmen. Selbst wenn wenig Spannendes passiert. Hoffnung ist immer dabei. Man kann sie sogar hören, wenn alle zusammen singen.

Wir singen von der Mammutjagd und von den alten Heldentaten!Wir singen davon, dass der andere Stamm der Neandertaler nichts draufhat und dass wir lieber verhungern würden, als etwas von seiner Beute anzunehmen. Wir singen davon, dass wir eigentlich die erfolgreichsten Mammutjäger sind. Auf jeden Fall sind wir die besten Neandertaler. Das wird dir nun wirklich jeder bestätigen. Es ist ein schönes Gefühl, nicht allein zu sein. Besonders, wenn man gar nicht so richtig weiß, wo man selbst überhaupt hingehört.

Es war am Millerntor, 1991 oder so. Ein Spieler der gegnerischen Mannschaft wird vor unserer Kurve gefoult und wälzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden. Wir schauen uns das an und mein Freund Balu schreit mit seiner wirklich lauten Stimme: »Da hilft nur noch HUBSCHRAUBEREINSATZ, HUBSCHRAUBEREINSATZ! Da hilft nur noch HUBSCHRAUBEREINSATZ, HUBSCHRAUBEREINSATZ!«

Die wir um ihn herum standen wussten damals nicht, dass es eine Zeile aus einem Song von Foyer des Arts, der ersten Band von Max Goldt, war. Aber zwanzig Sekunden später – ich schwöre, dass es wahr ist – hat die ganze Kurve gemeinsam gesungen: »HUBSCHRAUBEREINSATZ, HUBSCHRAUBEREINSATZ!«

Thees Uhlmann, Sänger, Musiker und Schöpfer des Rocksongs

»Das hier ist Fußball«

EINLEITUNG

Fußballstadien sind Orte des Spektakels. Hier wird getrunken und gesungen, geschrien, gejubelt und gepöbelt. Ein Riesenrummel und zugleich sozialer Treffpunkt für Jung und Alt, Männer und Frauen, Wenig- und Wohlhabende. Was sie zur Masse Gleichgesinnter verbindet ist das schlichte Spiel: Zwei Mannschaften versuchen einen Ball öfter ins Tor zu schießen als der Gegner. Das kann große Kunst sein oder öde Kost, aber selbst die kann begeistern, weil das laute Theater drumherum so schön ist.

Im März 2020 war es damit plötzlich vorbei, Ruhe im Karton. Die Covid-Pandemie hatte den Spielbetrieb praktisch weltweit zum Erliegen gebracht. Nach einigen Wochen ging es, zunächst in der deutschen Bundesliga, zaghaft wieder los, mit Spielen ohne Zuschauer. Stimmungsmäßig waren die fast schlimmer als gar keine Spiele. Keine Wall of Sound aus Schreien, Pfiffen, Tormusik und Fangesängen, stattdessen nackte Betonreihen, wo sonst zehntausende Fans tobten und sangen. Hier und da plärrten Vereinshymnen aus den Boxen, bevor die Partien angepfiffen wurden und die Zurufe von Kickern und Trainern wie auf dem Trainingsplatz zu hören waren. Schlimm. Bonjour Tristesse.

Ausgerechnet die sogenannten Geisterspiele offenbarten, was einen Großteil der Faszination ausmacht: die Fans. Sie haben ihn zur Popkultur gemacht. Zeitgleich mit dem Aufstieg des Sports zum Massenphänomen entstanden Lieder rund um den Fußball, die in Stadien, Music Halls und Varietés gesungen wurden, später auch auf Tonträgern, in TV-Sendungen und in der Werbung. So wurde die Begleitmusik zum großen Spiel zu einem schillernden Teil der Fußballkultur. Künstlerisch mag sie oft belanglos sein, bedeutungsloses Begleitrauschen ist sie keineswegs. Nicht nur dass der Fußball vielleicht nie zu dem milliardenschweren globalen Unterhaltungsgeschäft geworden wäre, das er heute ist. Die Zuschauerbindung, die sich in Fangesängen und Fußballliedern ausdrückte, ermöglichte überhaupt erst den Profifußball und das parallele Entstehen von Fußballkultur und -business.

Von Anfang an war die Verbreitung der Fußballmusik mit technologischen Entwicklungen verknüpft, mit der Erfindung der Schallplatte, des Radios, des Fernsehens und des Internets. Als einer der berühmtesten Fußballvereine der Welt, der FC Barcelona, und die bekannteste Musikfirma der Welt, Spotify, 2022 eine Partnerschaft eingingen, tönten die Dealmaker: »Wir bringen Fußball und Musik auf eine Weise zusammen, wie man es noch nicht gesehen hat.« Marketinglyrik, aber immerhin stimmte der Hinweis, dass Fußball und Musik schon lange, nämlich seit rund 150 Jahren, zusammengehören. Meist fanden sie spontan und zufällig zueinander, selten losgelöst von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Krieg, Kommerz, Massenunterhaltung, politischer Protest und nationale Feierlaune – in der Fußballmusik spiegelt sich alles wider. So lässt sich die Geschichte des Fußballs in gewisser Hinsicht auch entlang der Fußballmusikgeschichte erzählen, wie dieses Buch zeigt. Nicht nur in England und anderen traditionellen Fußballnationen auf der ganzen Welt sind tausende Schallplatten mit Fußballliedern erschienen. Das Internet ist voll mit Fußballsound und die Stadien auf allen Kontinenten mit singenden Fans. Es macht sie zu Auftrittsorten der größten globalen Singbewegung.

Man kann das Singen im Stadion als schnödes Anfeuerungsritual abtun. Es ließe sich aber auch als eine Art moderne Heimatmusik betrachten, die unterschiedliche Milieus im kollektiven Gesang vereint. Ein bemerkenswertes Phänomen vor allem in den zunehmend gespaltenen Gesellschaften vieler Länder.

Dieses Buch widmet sich der Kulturgeschichte des internationalen Fußballsounds in all seinen Facetten. Es geht um Fangesänge, um Vereinshymnen, um singende Fußballstars und Nationalmannschaften, um fußballverrückte Popstars, um Stadionbeschallung sowie um den WM-Soundtrack von FIFA oder TV-Sendern. Sie kommen selten aus dem Nichts, sondern sind eingebunden in die Umstände der Zeit. »WM-Hymnen« konnten eben erst auftauchen, nachdem Fußballweltmeisterschaften kommerziell aufgeladene, globale Medienevents wurden. Diesem Zusammenhang trägt der chronologische Aufbau des Buches Rechnung. Es beginnt mit der Entstehung des modernen Fußballs im England des 19. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte der Fußballbegleitmusik bis in die Gegenwart.

Nicht wenige Lieder sind Marksteine auf dem Weg der Fußball- zur Popkultur, der seinen ersten Etappenhöhepunkt bereits vor rund einhundert Jahren hatte. Damals entwickelte sich das Fußballunterhaltungsgeschäft mit allen Auswüchsen wie Starkult und (jugendlichem) Fantum. Heute sind die Ultras die Anführer der Fanszene und längst eine internationale Jugendkultur. Wie frühere Subkulturen, von Mods und Rockern über Hippies und Punks bis hin zu HipHoppern und Metalheads, definieren sie sich nicht zuletzt über Musik. Im Unterschied zu den Hardcorefans einer bestimmten Band begnügen sie sich aber nicht mit dem Abfeiern ihrer Idole beim Stadionrock, sondern machen ihre eigene Show. Mit Budenzauber, Parolen und Gesang. So erschaffen sie einen speziellen Fußballstadionrock, zum Angucken und Mitmachen. You’ll never sing alone.

1863 BIS 1918FRÜHES MITEINANDER VON FUSSBALL UND GESANG

Es läuft die 51. Minute im WM-Viertelfinale am 22. Juni 1986 zwischen England und Argentinien im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt, als Diego Maradona kurz hinter der Mittellinie den Ball zugespielt bekommt. Nach einem Augenblick der Intuition zieht er los in Richtung gegnerisches Tor. Lässig und elegant, gleichzeitig voller Dynamik, tanzt er mit dem Ball am Fuß durch den Raum, vorbei an drei englischen Spielern, ehe er kurz vorm Sechzehner zum Doppelpass mit seinem Teamkollegen Jorge Valdano ansetzt. Das Zuspiel kann der Engländer Steve Hodge zwar vereiteln, aber nur um den Preis einer steilen Bogenlampe in den eigenen Strafraum hinein. Fast senkrecht fällt der Ball aus dem gleißenden Himmel nach unten, wo er eine sichere Beute des hochspringenden Torhüters Peter Shilton zu werden scheint. Doch parallel zu ihm reckt sich auch der angestürmte Maradona in die Höhe. Er ist nur 1,65 Meter groß, aber erwischt offenbar den perfekten Moment des Absprungs, um den Ball über den zwanzig Zentimeter größeren Keeper ins leere Tor zu köpfen. Eins zu null für Argentinien. Maradona dreht ab und jubelt, als könne er selbst nicht fassen, was ihm da gelungen ist. Auch die Engländer können es nicht fassen, denn sie haben gesehen, was auch etliche der 114.580 Zuschauer im Stadion wahrgenommen haben und Hunderte Millionen Menschen an den Fernsehgeräten in der Zeitlupenwiederholung klar erkennen: Das Tor hat Maradona nicht mit dem Kopf erzielt, sondern mit der linken Hand. Die Briten protestieren heftig beim tunesischen Schiedsrichter Ali Bin Nasser. Umsonst. Den Videobeweis gibt es noch nicht, es bleibt beim Tor. Als wäre das nicht Demütigung genug, gelingt Maradona kurz darauf auch das 2:0 nach einem atemberaubenden 60-Meter-Solo durch die englischen Reihen. Es ist eine elfsekündige Schau magischer Ballbeherrschung, ein Akt vollendeter Fußballkunst, der später in einem FIFA-Internetvoting zum »Tor des Jahrhunderts« gekürt wird.

Was die Engländer am wütendsten macht, ist die Chuzpe, mit der Maradona nach dem Spiel in die Kameras spricht: »Es war ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes.« Die Reuelosigkeit hatte viel mit der Feindschaft zwischen Briten und Argentiniern seit dem Falklandkrieg im Jahr 1982 zu tun. Maradona sah in dem Hand-Tor auch eine Rache für seine im Krieg getöteten Landsleute. Den Mythos des skandalösen Treffers konnte das nur steigern.

Den Rest besorgten jede Menge Songs, in denen das berühmteste irreguläre Tor der Fußballgeschichte gefeiert wird. Ob von der finnischen HipHop-Gruppe Teflon Brother, der schottischen Skaband The Amphetameanies oder vom (inzwischen verstorbenen) Argentinier Rodrigo Bueno. Sein wilder Song »La mano de Dios« (Die Hand Gottes) erzählt von Maradonas Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen zum Superstar und wurde ein Riesenhit.

Dass Maradonas Handtor gerade die Three Lions bestrafte, ist von besonderer Ironie. Die Engländer haben den modernen Fußball erfunden und auch nach Argentinien gebracht. Sie waren es auch, die den Fußball als Erste mit Liedern popularisierten. Und sie waren es, die die Regel einführten, die das Handspiel beim Fußball verbietet. 123 Jahre bevor Diego Armando Maradona England mit der Hand Gottes eine Ohrfeige verpasste, die das Fußballkönigreich bis heute schmerzt.

Am letzten Oktobermontag 1863 trafen sich ein paar Herren in einem Londoner Pub, um darüber zu sprechen, wie sich das sich rasant ausbreitende Fußballspiel in geordnete Bahnen lenken ließe. Weg vom unkontrollierten Gekicke, hin zu einem strukturierten Wettkampfsport mit einem verbindlichen Regelwerk. Dazu gehörte auch die Frage, wie man mit dem Handspiel umgehen sollte, das auf einigen Bolzplätzen erlaubt war und auf anderen untersagt. Die 13 Vertreter von elf Londoner Fußballklubs waren sich uneins und schoben den strittigen Punkt auf die nächste Sitzungsrunde. Zunächst verständigten sie sich in Freemason’s Tavern auf Regeln zur Organisation der Vereine und auf die Gründung eines gemeinsamen Verbandes: die Football Association, der erste nationale Fußballverband der Welt. Erst bei dessen zweiter Zusammenkunft zwei Wochen später wurde das »Regelwerk für die Regulierung des Spiels« gründlich besprochen.

Trotzdem war der 26. Oktober 1863 ein historischer Tag, denn das Kneipentreffen in Covent Garden legte den Grundstein für den Siegeszug eines sportlichen Spiels, über das der Schotte Bill Shankly rund einhundert Jahre später sagte: »Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!«

Am selben Tag, als in Freemason’s Tavern die Basis für den modernen Fußball gelegt wurde, fand auch in Genf ein historisches Treffen statt, bei dem es wirklich um Leben und Tod ging. Abgesandte aus 16 Ländern berieten auf einer Konferenz im Athenäum auf Einladung des Humanisten Henry Dunant, wie sich im Krieg ein Rest Menschlichkeit bewahren ließe. Es ging um ein paar verbindliche Regeln für die Kriegführung. Nach drei Tagen einigte man sich auf die Gründung eines Internationalen Hilfskomitees für Verwundete. Aus ihm ging später das Rote Kreuz hervor. Henry Dunant wurde dafür 1901 als erster Mensch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Eine solche Ehre wurde den FA-Gründern nie zuteil, und doch bewirkten auch sie etwas, das man als zivilisatorischen Fortschritt bezeichnen könnte. Der Fußball wurde zu einer Möglichkeit, lokale und sogar internationale Rivalität nicht nur einigermaßen friedlich, sondern sportlich und unterhaltsam auszutragen.

Schon kurz nach Einführung der Fußballregeln sowie eines Spielbetriebs in Großbritannien entwickelte sich eine spezielle Art von Liedern und Gesängen rund um den Fußballsport. Sowohl um den Association Football als auch um dessen ruppigeren Zwilling, den Rugby Football. Nachdem die Grenzen zwischen Fußball und Rugby lange Zeit fließend verlaufen waren, kam es im Zuge der FA-Gründung zu einem Streit, der klare Verhältnisse schuf.

FOOTBALL AND SOCCER

Kaum, dass sich die Herren in Freemason’s Tavern auf einen Verband verständigt hatten, war es mit der Eintracht nämlich schon wieder vorbei. Beim finalen Treffen zur Festschreibung des neuen Fußballregelwerks verabschiedete sich der erste FA-Schatzmeister aus der Runde. Dem Vertreter des Blackheath Football Club hatte nicht gepasst, das den Spielern künftig das Laufen mit dem Ball in der Hand sowie das Festhalten und Beinstellen des Gegners verboten sein sollte. Da machten die rauffreudigen Kicker lieber ihr eigenes Ding. 1871 gründeten sie die Rugby Football Union, im selben Jahr, in dem die Association Footballer mit dem FA-Cup den ersten Fußballwettbewerb erfanden.

Der frühen Spaltung zum Trotz entwickelten sich Rugby Football und Soccer, wie die Fundis den angeblich verweichlichten Association Football nannten, anfangs fast parallel. Das zeigte sich auch in der Begleitmusik. Im Vereinigten Königreich gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits eine Affinität für instrumentale Sportmusik. Deren Popularität speiste sich aus einer doppelten Liebe. Die Briten liebten nicht nur den Wettkampfsport über alles, sondern auch die Musik, was sich in einer bunten Szene aus Gesangsvereinen, Blaskapellen und Orchestern zeigte.

Sportliche Großereignisse wie Ruderwettbewerbe zwischen Universitäten oder Pferderennen zogen nicht nur die Massen in ihren Bann, sie brachten auch spezifische Sportsongs hervor. Kein Wunder, dass der immer beliebtere Football ebenfalls in den Fokus von Songwritern geriet. Den Richtungsstreit der Sportler, ob Fußball nur mit Füßen oder auch mit Händen gespielt werden sollte, umgingen sie pragmatisch. »The National Football Song«, geschrieben vom englischen Komponisten C. A. Wills, empfahl sich 1880 als Hymne für alle. Auf der Notenblattillustration waren sowohl ein Fußball als auch ein Rugbyball abgebildet, dazu Porträts von Starkickern beider Seiten.

»The National Football Song« vom Komponisten C.A. Willis (Notenblatt, 1880)

Zu welchem Anlass der Song je vom Blatt gesungen wurde, weiß heute niemand. Gesichert ist hingegen, dass es im britischen Königreich der spätviktorianischen Epoche ein quirliges Angebot an Liveunterhaltung gab. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in allen größeren Städten Music Halls eröffnet, die sich zu Geburtsstätten der modernen Unterhaltungsindustrie entwickelten. In ihnen befriedigte das »niedere Volk« seine unbändige Lust auf Freizeitvergnügen. Der Alkohol floss in Strömen. Für den Rausch der Kleinkunst sorgten Zauberei, Akrobatik, Gesang und Tanz, gern frivol. Während sich das Bürgertum über die geschmacklosen Darbietungen echauffierte, amüsierte sich der Pöbel prächtig. Auch weil von den Künstlern all die Themen aufgriffen wurden, die die Leute umtrieben. In dieser Hinsicht war der Fußball weit vorn dabei.

Bei der gesanglichen Unterhaltung dominierten die schwer angesagten Vaudeville-Lieder, eine Art volkstümliche Schlager. Auch der Songwriter James Curran zielte auf das Music-Hall-Publikum, als er 1880 den Song »The Dooley Fitba Club« schrieb. Der Titel, interpretiert vom Sänger J. C. M’Donald, gilt gemeinhin als frühester Song mit konkretem Bezug zum modernen Fußball. Curran stammte zwar aus Irland, hatte den Fußball als Liedthema jedoch in seiner Wahlheimat Glasgow entdeckt. Das war insofern kein Zufall, als Schottland als Schmelztiegel des frühen britischen Fußballs gilt. James Curran hatte die sich auftuende Marktnische Fußballmusik früh erkannt und machte sich beherzt daran, sie zu besetzen. 1890 schrieb er den Song »The Football Match« für den Sänger George Ripon, kurz darauf »At The Football Match Last Saturday« für den Music-Hall-Künstler N. C. Bostock. Die Songs waren so erfolgreich, dass ihre Sänger mit rechtlichen Schritten gegen Kollegen drohten, die sich die Lieder illegal aneigneten.

Auch wenn »The Dooley Fitba Club« von allen Urfußballsongs die wohl größte Aktualität besitzt, ist mit ihm die Geschichte des first football song ever nicht abschließend geklärt. Häufig werden Pionierleistungen ja von mehreren

»The Dooley Fitba Club«, geschrieben von James Curran und interpretiert vom Sänger J. C. M’Donald, gilt als erster Song mit konkretem Bezug zum modernen Fußball.

Der Fußball-Ursong

Während die Pioniere des Genres Soccer-Songs bei der kommerziellen Verbreitung der Lieder offenbar wenig Spaß verstanden, versprühten die Stücke selbst alles andere als Bierernst. Das zeigte sich besonders schön an den Lyrics von »The Dooley Fitba Club«. Der Song war weniger eine Hommage an den Fußball als vielmehr eine Belustigung über das Kopfballspiel beziehungsweise über dessen Folgen für die Geisteskraft der Kicker. Tatsächlich ergab eine schottische Studie, dass Kopfbälle relevante Hirnschäden verursachen. Sie erschien allerdings erst 2021. Bis dahin hatte der Song bereits ordentlich Karriere als Satirelied gemacht. Großen Anteil daran hatte das Fernsehen, das sich in den frühen 1960er Jahren als dominierendes Massenmedium etablierte. In England verwendete eine BBC-Sendung den Song »Football Crazy« – eine Coverversion von »The Dooley Fitba Club« – als Titelmusik und lieferte den Fußballfernsehguckern damit jahrelang die Erkennungsmelodie für ihren Couch-Potato-Auftritt.

»Football Crazy« wurde durch eine BBC-Sendung in den 1990ern berühmt. (Single, 1960)

Seiten beansprucht. So glaubt man in Norwich, dass ihr »On the Ball, City« das Ranking der ältesten Fußballsongs anführt. Für den Song spricht, dass er eine echte Hommage ist, konkret an Norwich City. Das Kuriose an diesem Lied ist der Fakt, dass der Verein zum Zeitpunkt der Entstehung irgendwann in den 1890er Jahren noch gar nicht existierte. Komponist Albert T. Smith soll den Song aus Anlass eines jährlichen Festessens verschiedener Lokalteams in Norwich geschrieben haben. Ob er Norwich Teachers oder dem Stadtrivalen Caley’s FC gewidmet war, ist unklar. Bekannt ist nur, dass er von der Sportlersause direkt zu den Football Grounds in der Norfolk-Gegend vordrang. Dort variierte der Schlachtruf je nach Vereinspräferenz und wurde beispielsweise zu »On the Ball, Teachers« umgewandelt. Mit der unkontrollierten Ausbreitung war es erst vorbei, als Albert T. Smith 1902 zum ersten Direktor des neugegründeten Norwich City FC aufstieg. Fortan huldigte sein Ohrwurm nur noch diesem Verein.

Was den Mythos von »On the Ball, City« so unterhaltsam macht, ist, dass möglicherweise alles auch ganz anders ablief. Nach einer anderslautenden Überlieferung war die Fusion der städtischen Klubs zu Norwich City überhaupt erst der Anlass der Hymnenschöpfung und verhalf dem Urheber letztlich sogar auf den Vorstandsposten. Whatever. Von den Fans wurde »On the Ball, City« sofort ins Repertoire aufgenommen. Laut der Eastern Daily Press stieg es im Nu zum »beliebtesten Kriegsruf der Vereinsleute« auf. Da er noch heute durchs Stadion an der Carrow Road schallt, wähnt man sich bei Norwich City zumindest des Ruhmes für das älteste bestehende Vereinslied der Welt sicher.

Davon will man freilich in Portsmouth nichts wissen. Für die Fußballfans dort waren es ihre Vorfahren, die die Welle der Vereinslieder lostraten. Als Beleg dient ihnen eine Liedzeile im offiziellen Handbuch des Portsmouth F.C. von 1900/01: »Play up Pompey, Just one more goal! Make tracks! What ho! Hallo! Hallo!« Sie gehört zum Vereinssong »Town Hall Chimes« (auch »Pompey Chimes«) des einstigen Klubs Royal Artillery, ein lokaler Amateurverein von Armisten. Er spielte in den 1890er Jahren an der Burnaby Road unweit des Rathauses. Weil man die viertelstündlichen Glockenschläge der Rathausuhr bis aufs Spielfeld hörte, wusste jeder, wie lange es noch bis zum Abpfiff der Spiele um 16 Uhr dauerte. Daraus erwuchs irgendwann ein Ritual: Zu den Glockenschlägen kurz vor Spielende drehten die Zuschauer noch mal richtig auf, um den Spielern Beine zu machen. Dass »Pompey Chimes« später im Textbuch des Portsmouth F.C. auftauchte, hat einen simplen Grund. Royal Artillery wurde eines Tages aus dem FA Amateur Cup ausgeschlossen, woraufhin etliche der Fans zum neu gegründeten Profiklub Portsmouth F.C. wechselten – samt ihrem Lied.

Bei der Suche nach den Pionieren der Fußballmusik landet man auch in der Gegend um Wolverhampton. Dort lebte Ende des 19. Jahrhunderts ein Mann, der sich einen Namen als seriöser Komponist gemacht hatte: Edward Elgar. Zu seinen berühmten Werken zählen die Enigma-Variationen (1899) und der Marsch-Zyklus Pomp and Circumstance, zu dem das Stück »Land of Hope and Glory« gehört. Klassikexperten loben den Künstler bis heute dafür, die wenig innovative Phase der Musik im viktorianischen Zeitalter beendet zu haben. Eine ganz spezielle Innovation gelang Elgar mit der wohl ersten (musikalischen) Ode an einen konkreten Fußballer. Schon immer war Elgars zweite große Leidenschaft neben der Musik der Fußball. Als Lokalpatriot schlug sein Herz für die Wolverhampton Wanderers. Der Klub gehörte 1888 zu den Gründungsmitgliedern der Football League. Um sich dessen Spiele im Molineux Stadium anzusehen, fuhr Elgar die fast 40 Meilen von seinem Haus in Malvern nach Wolverhampton nicht selten mit dem Fahrrad. Im Februar 1898 spielten die Wolves gegen Stoke City. Das spektakuläre 4:2 hatte ein euphorisches Nachspiel in der Lokalpresse. Ein Reporter feierte den überragenden Wolves-Stürmer Billy Malpass mit den überschwänglichen Worten »He banged the leather for goal« (Er knallte das Leder ins Tor). Diese Zeile, so verkündet es die Vereinschronik der Wolves, griff Elgar spontan auf, um sie zum Klavierstück »He Banged The Leather for Goal« zu vertonen. Zur öffentlichen Aufführung kam es allerdings erst 2010 im Rahmen eines Charity-Events in Wolverhampton. Dafür wurde Elgars Hit »Land of Hope and Glory« gleich von Fans diverser Mannschaften adaptiert, auch von denen der Wolves.

DER URVATER DES KOMMERZSONGS

Der Verein aus den Midlands (der den Led-Zeppelin-Sänger Robert Plant viele Jahrzehnte später zum Ehrenvorstand wählen sollte) war um die Jahrhundertwende so beliebt, dass noch ein weiterer Musiker für ihn zur Feder griff: Ezra Read. Auch er stammte aus der Gegend, war allerdings kein echter Fan, sondern nur ein cleveres Kerlchen. Alles, was die Leute irgendwie bewegte oder ein großes Nachrichtenthema war, verwandelte er in Klaviermusik, die sich besonders für Klavierschüler und Hauspianisten eignete. Vom Hochzeitstag daheim bis zum Burenkrieg am anderen Ende der Welt wurde alles von ihm in Mainstreamklingklang verwandelt, ob als Marsch, Polka oder Walzer. Mit dem »Cinderella Waltz« landete der Vielschreiber seinen größten Hit.

Natürlich war ihm die Beliebtheit des Fußballs, die nach dem Start der Football League regelrecht explodierte, nicht entgangen. Sein enormes Gespür für Massenbespaßung brachte ihn auf die Idee einer Ode an die Freude am Fußballspiel. Er wusste, dass er mit ihr nichts falsch machen konnte, noch dazu, wenn er sie dem Top-Team aus Wolverhampton widmen würde. Das Ergebnis ist im Museum des Vereins zu sehen. Dort wird Reads Notenblatt von »The Football Match« stolz präsentiert, aber auch leise Kritik am Schnellschussstil des Songschöpfers geübt. Dessen Versuch, die Dramatik eines Fußballspiels zu illustrieren, sei in »Plinky-Plonky-Music« (eine Umschreibung für Konfektionspop) geendet. Leicht verschämt weist man zudem darauf hin, dass Mister Read seine Gunst nicht exklusiv vergeben hatte. Um auch in London Kundschaft für sein Notenblatt zu gewinnen, vertrieb er es dort mit Widmungen für Arsenal und die Tottenham Hotspurs. Das macht »The Football Match« gewissermaßen zur Urvariante des Fußballkommerzsongs.

Je mehr der Fußballsport den anderen britischen Massenvergnügen Pferderennen, Boxen oder Cricket den Rang abzulaufen schien, desto stärker sprang die Presse auf den Zug auf. Neue Tageszeitungen wie die 1881 gegründete Evening News zielten mit Sportberichten auf Käufer aus der unteren Mittelschicht. Sie sorgten sogar dafür, dass die Ligaspiele im Interesse einer effizienten Berichterstattung einheitlich samstags um 15 Uhr angepfiffen wurden. Dass sich überhaupt breite Bevölkerungsschichten vermehrt dem Sport(-Konsum) hingaben, lag am Wandel der Arbeitsgesellschaft. Die Wochenarbeitszeiten verringerten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so dass mehr Zeit blieb, sich dem Fußball zu widmen. Gleichzeitig entwickelten sich Massenkommunikation und Mobilität. Als in den 1880ern diverse Londoner Vereine gegründet wurden, konnten deren Fans mit der U-Bahn zu den Football Grounds fahren.

Dort merkten sie vom technischen Fortschritt wenig. Das ganze Getöse wurde live von Menschen erzeugt. Der Begleitsound des Fußballs im ausgehenden 19. Jahrhundert bestand allein aus Spiel- und Zuschauergeräuschen. Darunter waren auch Urformen von Chants, die heute als Königsdisziplin des Team-Supports gelten. So sollen Fans der Blackburn Rovers bereits 1891 vorm FA-Cup-Finale gegen Notts County gesungen haben: »We’ve won the cup before – many a time«. Von Sheffield-United-Anhängern ist überliefert, dass sie das Trinklied »Rowdy Dowdy Boys« aus den Music Halls ins Stadion überführten und damit Zeichen einer aufkeimenden Fankultur setzten. Für die Vereinsbosse waren es unüberhörbare Signale, dass der Fußball das Potenzial zum professionellen Unterhaltungssport besitzt. Die enge, teilweise fanatische Bindung der Zuschauer an ihre Vereine sollte zur entscheidenden Voraussetzung für das Geschäftsmodell Profifußball werden.

Walzer für einen englischen Sportverein Ende des 19. Jahrhunderts (Notenblatt, 1895)

Als absolute Zuschauermagnete erwiesen sich die FA-Cup-Spiele mit ihrem K.O.-Charakter. Sie zogen auch Fans an, die nicht zu Ligaspielen gingen, darunter auffällig viele Frauen. Durch das bunte Publikum gerieten die Zuschauerströme zu beinahe karnevalesken Aufzügen. Fasziniert berichteten Lokalzeitungen, dass die Fans Vereinsfarben, auffällige Hüte und handgefertigte Plakate trugen, auf denen sie ihren Teams viel Erfolg wünschten. Besondere Erwähnung fanden lustige Tänzchen, die von den Fans aufgeführt wurden, und noch mehr die mitgeführten Vereinsmaskottchen: Affen, Esel und Katzen – lebende Exemplare, wohlgemerkt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Tiere durch Menschen in Kostümen ersetzt. Auch der Begleitsound der Pokalspiele muss oft schrill und hemmungslos gewesen sein. Ob jubelnd oder wütend, auf jeden Fall laut verfolgten die Zuschauer das Spielgeschehen. Durchsagen oder gar Musik aus Lautsprechern gab es nicht. Es existierte ja auch noch keine Tonträgerindustrie, die einen Markt mit Musik für Fußballfans hätte anheizen können.

Zwei Männer waren – unabhängig voneinander – in Amerika jedoch dabei, das zu ändern: Thomas Edison und Emil Berliner. Beide experimentierten an einer Technik zur Tonübertragung, die später auch einen Boom der Fußballbegleitmusik auslösen sollte. 1877 stellte Edison, dem schon die Erfindung der Glühbirne gelungen war, einen Phonographen mit drehbarer Walze vor. Emil Berliner, ein deutschstämmiger Einwanderer, zog zehn Jahre später mit einer Schallplatte aus Zink nach. Es handelte sich um den ersten serienmäßig produzierten Tonträger für das 1887 von ihm erfundene Grammophon. Fortan war es möglich, Musik an vielen Orten und zu jeder Zeit zu konsumieren. Diese Entwicklung sollte die globale Kultur revolutionieren.

Die aufkommende Tonträgerindustrie dachte zunächst jedoch nicht daran, ihre wenigen Fachgeschäfte mit Fußballmusik zu beliefern. Der Weg der Schallplatte zum Massenmedium war gepflastert mit Opernarien, Operettenmelodien und leichter Klaviermusik. Die übliche Art der Wiedergabe und Verbreitung von Fußballmusik blieb das Livesingen, gern unter Anleitung eines illustrierten Notenblatts. Da Fußballgesänge vor allem aus Kehlen kommen, durch die zuvor Bier floss, wurde wahrscheinlich bevorzugt an Orten der Trunkenheit gesungen – nicht zuletzt in stadionnahen Pubs. Aufzeichnungen darüber gibt es allerdings nicht, anders als über das Treiben der Music-Hall-Künstler.

FUSSBALL ALS BELIEBTE VARIETÉ-NUMMER

Die bekanntesten Music-Hall-Darbieter genossen Ende des 19. Jahrhunderts große mediale Aufmerksamkeit, darunter Tom Traynor, Mark Sheridan und der aus Liverpool stammende Komiker Harry Weldon. Der dickliche Bursche mit dem verschmitzten Lächeln sorgte ab der Jahrhundertwende überall für Lacher, wo er als »Stiffy the Goalkeeper« auftrat. Die Sketchfigur passte perfekt in den Trend der Zeit, mit Vorliebe Torhüter (und Schiedsrichter) zu verspotten. Eine andere Varieté-Berühmtheit, der Schotte Sammy Shields, hatte sich ebenfalls auf komödiantische Fußballsprüche und -lieder spezialisiert. Alexander Jackson, Kurator am National Football Museum, rechnet ihn zur ersten Künstlergeneration, die eine Brücke zwischen der Music-Hall-Unterhaltung und dem sich kommerzialisierenden Zuschauerfußball schlug.

Die gegenseitige Anziehung von Fußball- und Varieté-Stars war so groß, dass sie sich schon vor dem Ersten Weltkrieg zu gut besuchten Benefizspielen verabredeten. Auch Sammy Shields soll 1913 bei einem Wohltätigkeitskick an der Stamford Bridge im Team der Music-Hall-Künstler aufgelaufen sein, das gegen eine Auswahl von Jockeys und Fußballprofis von Arsenal, Chelsea und Fulham antrat.

Die Music-Hall-Stars setzten zudem auf die immer beliebtere Schallplatte. Mark Sheridan veröffentlichte seinen 1897 via Notenblatt verbreiteten Hit »At the Football Match Last Saturday (The Josser Football Team)« ein paar Jahre später auch auf Schellack. Auch Harry Weldon nahm seinen Musiksketch »Stiffy the Goalkeeper« zum Nachhören daheim auf. Insofern war es eigentlich nichts Besonderes, als sein Komikerkollege Jock Whiteford 1907 ebenfalls mit einer Platte herauskam. In diesem Fall aber doch, weil er seine Witzeleien vor einer Kulisse präsentierte, die bis dato noch auf keinem Tonträger verewigt worden war. Auf der Schallplatte »The Football Match (Rangers v. Celts)« beschreibt Whiteford in seinem starken schottischen Akzent die Atmosphäre während des Glasgower Derbys. Deutlich hört man durch das Knistern aus den Rillen die Menge im Hampden Park. Die Stadionaufnahme war ein Novum in der Schallplattengeschichte und nebenbei Beleg dafür, dass die Schotten wieder mal zu den Vorreitern der Fußballunterhaltung gehörten.

Ein weiteres Beispiel hierfür ist in gewisser Weise auch Dave Russel, der als erster prominenter Fußballer ins Gesangsfach wechselte. In den 1890er Jahren hatte der beinharte Kicker für Preston North End und Nottingham Forrest das Leder getreten. Noch als Aktiven zog es ihn auf die Bühne, um auch als Sänger zu performen. Zwar hatten seine Lieder nichts mit seinem Hauptjob zu tun, trotzdem machte der Platzwechsel deutlich, wie sehr Fußball und Fußballer aufgrund der steigenden Popularität auch in andere Bereiche der britischen Alltagskultur hineinwirkten. Angeblich sollen die Vereine Swindon Town und Clapton Orient 1906 und 1910 sogar Konzerte veranstaltet haben, um mit den Einnahmen offene Gehälter zu decken.

Mark Sheridan: »At the Football Match Last Saturday« (Notenblatt, 1897)

Natürlich mischten auch die für ihre Sangeslust berühmten Waliser mit, wenn es um die Zusammenführung von Football and Music ging. In der Praxis lief das zum Beispiel so ab, dass sich die Fans von Swansea Town für die Melodie des »The Swans’ War Song«, den sie 1913 ihrem Team widmeten, vom Schlager »Here Comes the Chocolate Major« inspirieren ließen. Dieser Ohrwurm war ihnen natürlich in der Music Hall in den Kopf gesetzt worden.

In anderen Ländern war an eine derartige Verschmelzung von Fußball und Unterhaltung kaum zu denken. Schon gar nicht in Deutschland, wo die in puncto Leibesübungen tonangebenden Turner die »Fußlümmelei« lange verachteten. Ihr Genöle gegen den importierten Modesport hielt Gymnasiasten und junge Angestellte Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nicht davon ab, dem Football-Ei oder dem Foot-Ball nachzujagen. Besonders in Berlin, wo neben kaisertreuer Kleingeistigkeit großstädtische Offenheit für Neumodisches aller Art herrschte. Auch bei Georg Leux, einem Zugezogenen aus Frankfurt am Main. Der Opernsänger (laut anderen Quellen war er Maler) gründete im Mai 1885 den mutmaßlich ersten deutschen Fußballverein. Aus Verbundenheit zu seiner Heimatstadt nannte er ihn BFC Frankfurt 1885. Es folgten zahlreiche Vereinsgründungen im ganzen Kaiserreich, darunter die des BFC Germania 1888 in Berlin, des ältesten heute noch existierenden deutschen Fußballvereins. Was die Gründer der Ballsportvereine seinerzeit antrieb, war die Leidenschaft fürs Spiel. An eine Hymne zur Selbstdarstellung oder Unterhaltung der Zuschauer dachten sie noch nicht.

FROHSINN UND GEMÜTLICHKEIT MADE IN GERMANY

Trotzdem besaßen Musik und Unterhaltung einen hohen Stellenwert, speziell in den Vereinsheimen, die ab Ende des 19. Jahrhunderts zu Hotspots der Geselligkeit gerieten. Dort hegte niemand die Erwartung, bespaßt zu werden. Stattdessen machte man selbst ein Fass auf, in der Regel ein Bierfass. In Deutschland nennt sich das Gemütlichkeit oder wie die Fußballfreunde anno dazumal sagten: feierlicher Trinkabend. Genau genommen handelte es sich um Saufgelage, die nach strengem Komment abliefen. Für die »Kommers« des Berliner Fußball Clubs Hertha, Vorläufer von Hertha BSC, wurden 1893 sogar Pianisten gebucht. In so einem Umfeld sollte der Weg vom Trink- zum Fußballlied ein kurzer sein. Letztlich entwickelte sich hier jener Urmythos der deutschen Fußballmusik, auf dem eine DFB-Auswahl vor der WM 1974 mit ihrem Schunkellied »Frohsinn und Gemütlichkeit« aufbaute.

Obstwein und Fußball sorgen für Frohsinn. (Postkartenmotiv)

Im 19. Jahrhundert war den deutschen Vereinskickern der richtige Soundtrack zum Feiern so wichtig, dass sie ihn nicht der Spontanität des Einzelnen überließen. Erst recht nicht in Preußen, wo man korrekte Singanleitungen präferierte. 1895 gab der Vorsitzende des BFC Germania 1888, Albert Baritsche, deshalb ein »Deutsches Ballspieler-Kommersbuch« mit Trink- und Volksliedern für Fußballer und Cricketspieler heraus.

Frühe deutsche Fußballlieder

Patriotisch und praktisch für den deutschen Kicker: Fußball-Liederbücher

Fußballliederbücher waren die deutsche Antwort auf die englischen Notenblätter. Die Büchlein überzeugten mehr mit Quantität als durch kreative Qualität. Das allgemeine Motto lautete: Zackig, heroisch, pathetisch. Gern griff man dabei auf die Lieder der Konkurrenzsportler zurück und dichtete zum Beispiel »Turner auf zum Streite« einfach um. Ausnahmsweise bediente man sich sogar bei Beethoven, indem man »Freude, schöner Götterfunken« mit einem Fußballtext versah, bevorzugt jedoch bei patriotischen Liedern wie »O Deutschland hoch in Ehren«. Auf dessen Melodie stürmten die Sportsfreunde von Alemannia 1890 Berlin mit neuem Text voran: »Auf ihr Brüder, Alemannen, auf zum schönen Fußballspiel. Lasset flattern hoch die Fahnen, stoßt den Ball mit Kraft durchs Ziel, tretet kühn dem Feind entgegen, kämpfet um den Sieg mit Lust«. Unter der Schicht verquaster Lyrics erkennt man die Blaupause aller späteren Fußballhymnen: Stolz, Größenwahn, Sauflust. »Blau und Rot ist unser Zeichen, stolz soll unsre Flagge weh’n, nie woll’n wir dem Gegner weichen, immer treu zusammen steh’n«, sangen die Mannen von Merkur 1893 Berlin, dabei die dritte Halbzeit klar im Blick: »Wenn uns der Sieg gelungen, hei da ist die Freude groß, Töppe werden dann geschwungen und es ist der Teufel los.«

Zwischen Fußballerpathos im Trinkliedstyle verirrte sich zuweilen eine Spur Ironie. Der »Klagegesang der Schiedsrichter« fand 1908 Eingang ins Liederbuch des Verbandes süddeutscher Fußballspieler. Ebenso ein »D.F.B.-Lied«, das jedoch nicht die offizielle Hymne des 1900 gegründeten Nationalverbandes war, sondern nur eines von vielen DFB-Liedern. Was sie alle verband, war die schwer singbare Gesinnungslyrik. Zitat: »Laß unsern Fußballsport gedeihen, der stolz und trutzig macht den Mann, und sorge, daß in diesen Reihen, ein jeder Deutsche etwas kann«. Die altdeutschen Fußballliedermacher kannten noch nicht die gebräuchliche Formel für Fußballlieder: Simpler Text auf simpler Melodie.

Vom Frohsinn mit Alkoholfahne war es nur ein Stechschritt zum soldatischen Ernst in den Liedtexten. Die in hohen Auflagen publizierten Taschenbüchlein sollten »dazu beitragen, daß Fröhlichkeit und echter deutscher Kameradschaftsgeist bei den Vereinen wieder einziehen«. Nicht mittels beschwingter Weisen, sondern durch zackige Rhythmen.

Fußball wurde um die Jahrhundertwende eben noch selten als lockerer Spaß gesehen. Mehr als in jedem anderen Land betrachtete man ihn in Deutschland als Ertüchtigungssport. Nachdem die Obrigkeit vor der Popularität des Sports kapituliert hatte, versuchte sie ihn für militaristische Zwecke einzuspannen. Er sollte der Schulung von Kampfkraft und Siegeswillen dienen. Tugenden, die sehr lange auch als deutsche Fußballleitkultur gelten sollten. Zu Kaisers Zeiten hörte sich die in einem Fußballlied so an: »Jetzt ziehn wir wieder zum Felde, es führet ihn Eifer, es rufet die Pflicht«. Militarismus hieß der wahre Volkssport in Deutschland. Auch die Fußballer zogen alsbald freudig in den Ersten Weltkrieg.

An Fußball und Singen war an der Front nicht zu denken. Ende des ersten Kriegsjahres geschah jedoch genau das auf eine Weise, die als Weihnachtswunder in die Geschichte einging.

In der Heimat der Soldaten rollte der Fußball zwar nach wie vor über Fußballfelder, aber in den Kriegsjahren hatten die Leute naturgemäß andere Sorgen. In England gab es sogar eine Anti-Fußball-Kampagne. Trotzdem lief der

»Christmas Truce«

Die Liverpooler Band The Farm landete mit »All Together Now« über die wundersame Geschichte vom Weihnachtsfrieden einen Hit. (Single, 1990)

Das Wunder des kurzen Weihnachtsfriedens geschah wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs. An der Westfront war schnell ein Stellungskrieg entstanden, in dem sich in Flandern deutsche und britische Truppen gegenüberlagen. Mehr noch als sonst sehnten sich die Soldaten zur Weihnachtszeit 1914 nach Hause zu ihren Familien. Ein illusorischer Wunsch, der wenigstens durch einen Hauch Besinnlichkeit in all dem kriegerischen Elend betäubt werden sollte. Und so trug es sich der Legende nach zu, dass ein deutscher Soldat an Heiligabend im Schützengraben unweit der französischen Stadt Armentières »Stille Nacht« anstimmte. Als tausende Kameraden peu à peu in das Lied einfielen und die Briten das auf ihrer Frontseite hörten, begannen auch sie zu singen. Dann passierte das Unglaubliche: Am ersten Weihnachtstag kletterten die verfeindeten Soldaten aus ihren Unterständen. Ein britischer Soldat, aus Schottland stammend, hatte einen Ball dabei und mit ihm begannen die Krauts und die Tommys im Niemandsland ein Fußballmatch. Was für Militärexperten eine unerhörte Begebenheit ist, ist für Fußballfans der eindrucksvollste Beweis, dass der Sport mehr ist als ein Wettstreit um Tore. Fußball ist ein Spiel, bei dem sich Spieler und Zuschauer vergessen können und trotzdem Respekt für den Gegner zeigen. Weihnachten 1914 brachte ein Lied einen Fußball zwischen verfeindeten Soldaten ins Rollen und sorgte an einem Ort der Unmenschlichkeit für einen kurzen Moment der Zivilisation.

Fußball an der Front als Ansichtskarte (Postkartenmotiv)

Spielbetrieb dort unterhalb des Profifußballs ebenso weiter wie die Unterhaltung in den Music Halls, nunmehr zur Ablenkung vom Krieg. So auch am 3. Juli 1916 im Devonport Hippodrome, wo 1500 Männer und Frauen im Saal ein buntes Programm erlebten. Neben dem amerikanischen Girl-Quartett The Four Kids, einem Jongleur und Akrobaten trat als Staract auch Sammy Shields auf. An diesem Abend erfreute er das Publikum nicht nur mit seinen komödiantischen Fußballliedern. Auf die Bühne hatte er einen Ball mitgebracht. Dazu erzählte er eine Geschichte aus dem Krieg, die alle Anwesenden in Erstaunen versetzte, auch den Reporter der Western Morning News. Aus dessen Bericht erfuhren die Leser, was es mit dem Ball auf sich hatte: »Shields singt lustige Dinge über einen Fußball und erzählt, dass ihm der Ball von Major Buckley aus Bradford geschenkt wurde. Er ist bei einem großen Wettkampf in Flandern zwischen einer Mannschaft des Footballers’ Battalion und der Royal Field Artillery verwendet worden. Der Fußball trägt die Unterschriften von 43 berühmten Fußballern, die an der Westfront dienen. Shields ging auch in einem Monolog auf ein Fußballspiel zwischen den alliierten und feindlichen Nationen ein.«

In dem Bericht wurde offensichtlich, dass die Briten ihre Liebe zum Fußball quasi doppelt auslebten. Sie nutzten ihn als Spaßkatalysator und als kollektiven Seelentröster. Ihre Bereitschaft, sich dem Spiel emotional komplett hinzugeben, beförderte die schnelle Einbindung von The Game in die Massenkultur, inklusive ihrer musikalischen Auswüchse.

HYMNENBOOM IN FUSSBALLLÄNDERN

Durch den Einfluss der Briten entwickelte sich der Fußball nach der Jahrhundertwende in vielen Ländern zum Volkssport. Überall in Europa und Südamerika entstanden Klubs nach englischem Vorbild. Britische Siedler brachten das Spiel bis nach Südafrika. Parallel dazu erlebten Schallplattenindustrie und Unterhaltungsbranche einen weltweiten Aufschwung. Die Musik, die den nationalen Fußball und seine Helden umgab, war jedoch weit entfernt von der späteren globalisierten Gleichförmigkeit. Anfang des 20. Jahrhunderts stand sie ganz in der Tradition nationaler Eigenheiten. Ein Paradebeispiel ist die erste Fußballhymne in der Geschichte Spaniens. Sie wurde 1910 vom Militärmusiker José Antonio Lodeiro Piñeiroa komponiert (aber erst 2014 wiederentdeckt). Der Kapellmeister des Alcántara-Infanterieregiments Nr. 58 in Barcelona schuf die Hymne »Foot-ball Club Barcelona« aus Anlass einer fantastischen Saison von Barca, das die Spielzeit 1909/10 als Triple-Sieger beendete. Der Klub hatte unter der Leitung des Deutschen Otto Gmelin die katalanische Meisterschaft, den Pokal der östlichen Pyrenäen und die spanische Meisterschaft gewonnen.

Die Barca-Fans hörten Lodeiros mit einem Text von José Albert versehene Komposition erstmals im Stadion, da sie nicht in einem Tonstudio eingespielt wurde. Aufführungsort war das Spielfeld Carrer de l’Indústria, auf dem die grandiose Saison am 17. Juli 1910 mit einer Partie zwischen der ersten und der zweiten Mannschaft des FC Barcelona feierlich abgeschlossen wurde. Es existieren keine Aufzeichnungen, die Auskunft darüber geben, wie die Anwesenden auf die Marschmusik reagierten, ob mit ehrfürchtigem Applaus oder tosendem Jubel. Gut gefallen haben muss sie den Leuten aber, denn sie wurde als identitätsstiftende Vereinshymne beibehalten. 1915 beschloss der Vorstand des FC Barcelona sogar, Drucke der Partitur zu besonderen Anlässen an die Fans zu verteilen, um die Musik als emotionales Verbindungselement zu etablieren. Obwohl Lodeiros Werk nur bis zur Uraufführung einer neuen Barca-Hymne im Jahr 1923 in Kraft blieb, wird der Hymne ein besonderer Wert beigemessen, da sie wesentlich dazu beitrug, dass der Verein schon im frühen 20. Jahrhundert Fans aus anderen Teilen Spaniens in seinen Bann zog. Damit ist sie archetypisch für alle Hymnen von frühen populären Klubs. Mit ihnen konnte ein musikalisches Band zwischen zigtausenden Fans geknüpft werden, die sich persönlich so gut wie nie kannten, weil sie oft nicht mal in der Stadt ihres Lieblingsvereins lebten.

Ähnliches wie in Barcelona ereignete sich zu jener Zeit in allen großen europäischen Fußballnationen. Die großen und schon einigermaßen ruhmreichen Fußballklubs bekamen von diversen Komponisten Vereinslieder geschenkt. In Italien war es der Poet Corrado Corradino, der 1915 mit »La gioventù di cui portiamo il nome« die erste offizielle Hymne des Juventus Foot-Ball Club schuf. Corradino war selbst Juve-Mitglied und wurde nach dem Ersten Weltkrieg sogar für kurze Zeit Vereinspräsident. Ebenfalls im Jahr 1915 begann auch in den Niederlanden die Ära pathetischer Fußballmusik. Damals erhielten die Fans in Rotterdam ihren »Sparta-Stadion-Marsch«, wohingegen sich die Anhänger des großen Konkurrenten aus Amsterdam erst 1918 über ihren »Ajax-Kampioens-Marsch« freuen konnten. Der Komponist E. Painparé hatte die leidige Lücke gefüllt. In der Schweiz, als Hoheitsgebiet der Langsamkeit verspottet, war man da schon weiter. Der FC Zürich verfügte zu jener Zeit bereits über ein eigenes Musikensemble – ein Jodeldoppelquartett. Es veröffentlichte später sogar mehrere Schellackplatten.

Das Jodeldoppelquartett des F.C. Zürich huldigte im »Lied vom Hürlimannbier« dem Gerstensaft.

Auch in Südamerika entwickelte sich der Fußball Anfang des 20. Jahrhunderts zum beliebten Sport der Massen. Wie fast auf der ganzen Welt war er von Briten eingeführt worden, als sicher beste Exportleistung des weitreichenden Empires. Während sich in den nordamerikanischen Einwanderungsländern USA und Kanada die rauere Football-Variante durchsetzte, fand Fußball in vielen südamerikanischen Ländern, darunter Argentinien und Uruguay, großen Anklang. In diesen beiden Staaten wurde das britische Fußballvorbild Ende des 19. Jahrhunderts auch besonders gestreng nachgeahmt. So musste in den Sitzungen des argentinischen Verbandes Englisch statt Spanisch gesprochen werden. Der uruguayische Verband wiederum erlaubte keine Sonntagsspiele, weil die auch in England unüblich waren.

In Argentinien kam es allerdings um die Jahrhundertwende verstärkt zur »Argentinisierung« des britischen Sports, vorangetrieben von den fußballbesessenen Kindern der italienischen und spanischen Einwanderer (auch Kreolen genannt). Zusammen mit den jungen Einheimischen gebaren sie einen eigenen »kreolischen« Stil, der verspielt-individualistische Züge trug, anders als der disziplinierte, teamorientierte urbritische Stil. Lust und Leidenschaft drängten hier zur Improvisation.

Der kreolische Stil bildete sich vor allem in den Vierteln der Armen heraus. Zum Beispiel im Arbeiterviertel La Boca von Buenos Aires, wo viele Einwanderer in oft erbärmlichen Verhältnissen lebten. Das machte den Stadtteil zu einem Hotspot der Kriminalität. An allen Ecken gab es illegales Glücksspiel, Bordelle und viel Musik. Hartgesottene Milieus produzieren nicht nur eine freche Schnauze, sondern auch energische Musiktöne. In den Armenvierteln von Buenos Aires entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein freier Improvisationstanz, der europäische, lateinamerikanische und afrikanische Musikelemente zu einer anrüchig-eleganten Melange verschmolz. Er nannte sich Tango.

TANGO VS. SAMBA

Es war kein Zufall, glaubt der uruguayische Autor Eduardo Galeano, dass quasi am selben Ort ein individualistischer Tanz und ein individualistischer Fußballstil entstanden sind. Für ihn gibt es eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Ausdrucksformen menschlicher Bewegung. Galeano vergleicht den kreolischen Fußballstil explizit mit der Art zu tanzen, die in den Milonga-Klubs von Buenos Aires und Montevideo von den sogenannten einfachen Leuten erfunden wurde – Fußball als Fortführung der Musik mit sportlichen Mitteln: »Mit den Füßen der ersten kreolischen Virtuosen wurde el toque, die Berührung, geboren: Der Ball wurde wie eine Gitarre angeschlagen, eine Quelle der Musik.«

Es dauerte nicht lange, bis sich Tango- und Fußballleidenschaft der Argentinier vermischten. Sinnbildlich zeigte sich das 1913, als der angesehene Orchesterdirigent und Bandoneon-Spieler Vicente Greco seinen »Racing Club Tango« vom Orchester Roberto Firpo aufnehmen ließ, um dem 1903 gegründeten Verein und seinen »angesehenen Mitgliedern« zu huldigen. Der Racing Club de Avellaneda, beheimatet in einem Vorort von Buenos Aires, hatte sich in nur zehn Jahren zum ersten Aushängeschild des »kreolischen Fußballs« gemausert. Zwischen 1913 und 1919 gewann er als erster Verein der Welt sieben Amateurmeisterschaften hintereinander. Auf seinen Spitznamen »Nationale Fußballakademie« ging auch der Text des Tangos ein. Racing wird darin als Akademie Südamerikas für »große Meister der goldenen alten Zeit« gepriesen.

Während die Fußballer von Racing mit ihrer leichtfüßigen Spielweise die Herzen der Hauptstädter eroberten, machte sich ein junger Mann in Buenos Aires daran, zur größten Tango-Berühmtheit aller Zeiten aufzusteigen: Carlos Gardel. Nicht zuletzt ihm verdankt der Tango seinen Ruhm als mittlerweile offizielles Weltkulturerbe, was die Argentinier mit Stolz und ein Nachbarland möglicherweise mit einem gewissen Neid erfüllt. Uruguay reklamiert den Künstler Carlos Gardel nämlich ebenfalls für sich als Nationalhelden. Dabei ist nicht mal sicher, ob Gardel in Uruguay geboren wurde oder in Frankreich. Fest steht, dass er mit seiner alleinstehenden Mutter 1893 in Buenos Aires auftauchte, wo er als junger Mann durch die Cafés und Kneipen des Marktviertels Abasto tingelte und die Gäste mit seinem ausdrucksstarken Gesang in den Bann zog.

Ob er zu jener Zeit auch Fußballspiele besuchte oder selbst spielte, weiß man nicht. Dass sein Herz für den Fußball schlug, ist hingegen unstrittig, weil er das in späteren Jahren auf mehreren Schallplatten dokumentierte. Seine erste Aufnahme »Mi Noche Triste« (Meine traurige Nacht), mit der sein Aufstieg zum ersten Star des Tangogesangs begann, wies allerdings noch keinen Fußballbezug auf.