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Als Sarah McAdams mit ihren Töchtern Jade und Gracie in ihre Heimatstadt nach Oregon zurückkehrt, gerät der erhoffte Neuanfang schnell zu einem schrecklichen Alptraum. Das alte Familienhaus – eine geschichtsträchtige Villa samt riesigem, verwildertem Grundstück, die seit dem Tod von Sarahs Vater leer gestanden hat – ist ihren Töchtern unheimlich, und Gracie behauptet, Gespenster zu sehen. Als auch Sarah eine Frau in weißem Gewand erscheint, glaubt sie, den Verstand zu verlieren. Kurz darauf verschwindet Jade spurlos – wie auch andere junge Frauen in der Gegend. Die Polizei ermittelt fieberhaft, doch vergeblich. So beginnt Sarah selbst mit den Nachforschungen – und enthüllt ein grauenvolles Geheimnis …
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Seitenzahl: 805
LISA JACKSON
Z – ZEICHEN DER RACHE
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp
Knaur e-books
Als Sarah McAdams mit ihren Töchtern Jade und Gracie in ihre Heimatstadt nach Oregon zurückkehrt, gerät der erhoffte Neuanfang schnell zu einem schrecklichen Alptraum. Das alte Familienhaus – eine geschichtsträchtige Villa samt riesigem, verwildertem Grundstück, die seit dem Tod von Sarahs Vater leer gestanden hat – ist ihren Töchtern unheimlich, und Gracie behauptet, Gespenster zu sehen. Als auch Sarah eine Frau in weißem Gewand erscheint, glaubt sie, den Verstand zu verlieren. Kurz darauf verschwindet Jade spurlos – wie auch andere junge Frauen in der Gegend. Die Polizei ermittelt fieberhaft, doch vergeblich. So beginnt Sarah selbst mit den Nachforschungen – und enthüllt ein grauenvolles Geheimnis …
31. Oktober 1924Blue Peacock Manor
Hilf mir! Vater im Himmel, steh mir bei, bitte!
Angeliques Herz hämmerte, getrieben von rasender Furcht, als sie barfuß zur Hintertür hinein und durch die Küche hastete. Ihre Füße klatschten laut auf die kalten Fliesen. Sie musste eine Möglichkeit finden, sich selbst und ihre Kinder zu retten. Um Himmels willen, sie musste sie retten, unbedingt!
Ihr langes weißes Kleid bauschte sich um ihre Beine. Panisch raffte sie mit einer Hand den zerrissenen Saum des schmutzigen, mit Grasflecken übersäten Kleidungsstücks, um schneller rennen zu können. Ihre Beine waren nass und schlammbespritzt.
Ihre Schenkel verschmiert mit Samenflüssigkeit.
Beweis dafür, dass der Bastard sie vergewaltigt hatte.
Bei diesem Gedanken drehte sich ihr der Magen um.
Sie durchquerte das Speisezimmer. Im Flur neben dem großen Gesellschaftsraum tickte die alte Standuhr ihrer Großmutter. Tick. Tick. Tick. Sekunde um Sekunde ihres Lebens verstrich. Sie gelangte ins Foyer, von dem aus eine breite Treppe in die oberen Stockwerke hinaufführte, umfasste das polierte Geländer und hastete nach oben, vorbei an der ersten Etage, in der noch Licht brannte, weiter die Treppe hinauf, höher und immer höher, nahm Stufe um Stufe in diesem Monstrum von Haus, ihrem Zuhause, in dem sie einst so glücklich gewesen war.
Das er für sie errichtet hatte.
Für sie allein.
Weil er sie so liebte.
Dummkopf!
Lauf! Lauf! Lauf!
Er darf dich nicht noch einmal erwischen!
Lock ihn weg von den Kindern!
Ihr Atem ging keuchend, ihre Lungen brannten, ihr Körper fühlte sich schwer an wie Blei, die Stäbe ihres Korsetts knackten. Sie erreichte den Treppenabsatz und meinte, unter sich schwere Schritte zu hören.
Eins der Kinder?
Nein, das konnte nicht sein.
Er?
O Gott!
Schweißüberströmt blieb sie im zweiten Stock stehen und spähte in den dunklen Flur. Sie sah die Kinder vor sich – die schutzlosen, unschuldigen Geschöpfe.
Hilf ihnen! Mon Dieu, bitte … HILF MIR!
Sei’s drum, wenn sie sterben müsste. Das würde sie akzeptieren, aber doch nicht die Kleinen! Bei dem Gedanken an den niedlichen Jacques und die anderen, älteren Kinder traten ihr die Tränen in die Augen. Sie wären es, die büßen mussten. Die unerschütterliche Ruth, die liebe Helen, Louis mit den traurigen Augen … Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Das alles war ihre Schuld, die Unschuldigen würden leiden, auf grauenvolle Art und Weise ihr Leben aushauchen, und das allein ihretwegen.
Wegen der Frau, die geschworen hatte, sie zu beschützen.
Sie blickte die schwindelerregende, geschwungene Treppe hinunter. Gedämpftes Licht warf einen flackernden Schein auf die Treppenabsätze unter ihr und malte unheimliche Schatten auf die Wände. Starr vor Angst spähte sie in die Tiefe.
Aber sie durfte ihre Angst nicht die Oberhand gewinnen lassen. Nicht jetzt.
Komm schon, du Widerling. Folge mir! Lass sie in Ruhe! Doch noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, wurde ihr klar, dass er die Kinder nicht ungeschoren davonkommen lassen würde. Das war einfach nicht seine Art. Bewiesen nicht die Narben, die sie davongetragen hatte, wie grausam er sein konnte, der Mann, den sie einst geliebt hatte?
Sie hörte, wie sich quietschend die Haustür öffnete und dann mit einem lauten Knall wieder zufiel. Panisch schlug sie die Hand vor den Mund. Bleib ruhig. Du kannst ihn überlisten. Du musst ihn überlisten. Herr im Himmel …
Seine Stiefel stapften laut über den Hartholzboden des Foyers, dann knarzte die unterste Treppenstufe.
Eilig riss sie den Kopf zurück, damit er sie hier oben nicht entdeckte. Ihre Haut kribbelte, und sie biss sich fest auf die Lippe, um nicht zu schreien vor Angst.
Le monstre hideux kam näher.
Genau wie sie es vermutet hatte.
Sie umklammerte das silberne Kreuz, das an der feinen Kette um ihren Hals baumelte, und wagte es, einen weiteren Blick übers Geländer nach unten zu werfen. Sein Schatten, schwarz, zuckend, bedrohlich, erstreckte sich bis zur Decke. Unaufhaltsam kam er näher. Er hielt etwas in der Hand. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Und dann erkannte sie es: eine Axt!
Sie krümmte sich bei der Vorstellung, wie er das scharfe, schwere Blatt auf sie niedersausen ließ in der Absicht, sie zu zerhacken. Welche Chance hatte sie, diesem brutalen Akt der Gewalt zu entrinnen?
Sie hätte zu den Stallungen laufen sollen, erkannte sie. Zu spät. Sie hatte diesen Einfall verworfen, weil sie fürchtete, sich mit ihrer Stute nicht durch Regen und Nebel über die schlammige Straße zur nächsten Stadt durchschlagen zu können, auch nicht querfeldein oder durch den Wald. Die von Gaslaternen erleuchteten Straßen von Stewart’s Crossing waren ihr unendlich fern erschienen. Und selbst wenn es ihr gelungen wäre, die Stadt zu erreichen, wie hätte sie den Sheriff davon überzeugen können, dass sie nicht etwa dem Wahnsinn verfallen war? Wie hätte sie es schaffen können, rechtzeitig zurückzukehren, um die Kinder zu retten? Also war sie dummerweise ins Haus zurückgelaufen und nicht in die Scheune mit den dazugehörigen Stallungen, in denen die Pferde untergebracht waren. In dem großen Holzgebäude befanden sich aber nicht nur verschiedene landwirtschaftliche Gerätschaften und Futter für die Tiere, sondern auch die Werkzeuge – Beile, Äxte, Hämmer und Sensen.
Sie wartete.
Ihre einzige Hoffnung war, dass er ihr aufs Dach hinauf folgen würde. Vielleicht hätte sie dann eine Chance – eine klitzekleine nur, aber immerhin eine Chance – oder aber zumindest die Gelegenheit, den Spieß umzudrehen. Wenn sie schon nicht ihr eigenes Leben retten konnte, würde sie den Bastard vielleicht mit sich nehmen können.
Und was ist mit dem Baby? Willst du das ungeborene Leben etwa ebenfalls opfern?
Tränen brannten in ihren Augen.
Erneut warf sie einen Blick über das geschwungene Geländer. Da war er, im ersten Stock, setzte gerade den Fuß auf die unterste Stufe, um weiter nach oben zu steigen.
JETZT!
Sie beugte sich übers Geländer und brüllte, so laut sie konnte: »Lauft!«
»Was zum Teufel …?«, blaffte er und blickte zu ihr herauf. Seine blauen Augen über dem dunklen Bart blitzten bösartig.
»Ruth! Helen!«, schrie sie verzweifelt, in der Hoffnung, dass die Kinder sie hörten. »Nehmt die Kleinen und lauft weg, so schnell ihr könnt!«
»Sie werden niemals entrinnen«, knurrte er und kräuselte verschlagen die Lippen, die sie einst so leidenschaftlich geküsst hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? So naiv? Er lachte. Der stechende Geruch von Alkohol stieg ihr in die Nase. Er kam immer näher.
Sie wirbelte herum und schoss über den Teppichläufer zum anderen Ende des Flurs, wo eine Treppe zum Dachboden hinaufführte.
»Dirne!«, brüllte er ihr nach. »Verfluchte Hure, komm zurück!«
Niemals!
Sie schickte ein stummes Gebet für die geliebten unschuldigen Kinderseelen gen Himmel.
Vater unser im Himmel …
Unten schlug die alte Standuhr die Stunde.
Geheiligt werde dein Name …
Seine Schritte wurden schneller. Eilig griff sie in die Tasche ihres ausladenden Kleides und suchte nach dem Schlüsselring. Es war gar nicht so einfach, in der Dunkelheit den richtigen Schlüssel zur Dachbodentür zu finden.
Beeil dich!
Ihr Puls raste, als sie mit schweißfeuchten Fingern mit dem Schlüsselring kämpfte. Er glitt ihr aus den Händen, und sie bückte sich rasch, um ihn wieder aufzuheben.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe.
Wie im Himmel, so auf Erden.
Die Uhr schlug noch immer, das sonst so vertraute Hallen klang wie eine finstere Drohung.
Vor Angst nach Luft schnappend, probierte sie einen weiteren Schlüssel.
Nichts!
»Glaubst du, du könntest mir entkommen?«, tönte er. Seine Worte wurden als Echo zurückgeworfen und ließen sie frösteln. »Glaub mir, es gibt kein Entrinnen!« Sein Lachen klang abstoßend, obszön.
Ihre Kehle schnürte sich zusammen.
Mit zitternden Händen rammte sie den nächsten Schlüssel ins Schloss und drehte ihn hektisch, bevor sie einen Blick über die Schulter warf und feststellte, dass er oben angekommen war. Mit einem abstoßenden Grinsen schlenderte er auf sie zu, ohne Eile, genoss die letzten Minuten, bevor er sie ein letztes Mal traktieren würde.
Klick.
Das Schloss sprang auf!
Hastig drückte sie die Tür auf, die zur Dachbodenstiege führte.
Soll er nur kommen.
Irgendwie, mit ein klein wenig Glück, würde es ihr gelingen, ihre Kinder zu retten, wennschon nicht sich selbst. Die Luft war abgestanden und nasskalt. Sie knallte die Tür hinter sich zu, sperrte mit zitternden Fingern von innen ab, dann kletterte sie die engen, steilen Stufen hinauf in die alles verschlingende Dunkelheit.
Sie hörte das unverwechselbare Fiepen einer Fledermaus und aufgeschrecktes Flügelflattern, doch sie achtete nicht darauf.
Denk nach, Angelique, denk nach. Er darf dich nicht überwältigen! Ihre Gedanken rasten so schnell, wie ihre nackten Füße über den kalten Boden huschten. Das war ihre Chance, sich ihm entgegenzusetzen, sich eine Waffe zu schnappen, mit der sie sich verteidigen konnte. Doch ihr blieb nicht viel Zeit. Hastig kletterte sie vom Dachboden die letzte Treppe empor, eine schmale Wendeltreppe, die zu einer gläsernen Kuppel führte.
Regen prasselte gegen die Scheiben, während sie mit bebenden Fingern versuchte, die Verriegelung der Tür in der Glaskuppel zu öffnen, die aufs Dach hinausführte. Bitte, bitte, bitte! Endlich gab der Riegel nach, doch die kleine Tür hatte sich verklemmt. Er kam näher und näher. Jetzt konnte sie ihn am Fuße der Dachbodenstiege hören. Er rüttelte am Türknauf.
Nein!
Verzweifelt warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür der Kuppel, die plötzlich aufflog. Ein eiskalter Luftzug schlug ihr entgegen. Sie rannte hinaus auf den Witwensteg. Der Wind heulte durch die tiefe Schlucht unter ihr, an deren Grund ein reißender Fluss toste, der Columbia River.
Wolken verschleierten den Mond, der Regen bildete einen dichten, kalten Vorhang. Angelique drehte sich um und kehrte zur Kuppel zurück. Vielleicht konnte sie ihn aufs Dach locken, an ihm vorbei in die Kuppel huschen und die Tür hinter ihm verriegeln, so dass er hier oben in der Falle saß!
Aber er hat eine Axt! Er kann sich den Weg zurück ins Haus freihacken!
Krach! Wumm!
Holz splitterte. Die Tür zum Dachboden gab nach und prallte mit einem lauten Knall gegen die Wand.
Sie unterdrückte einen Schrei, tappte die Wendeltreppe hinunter und gelangte wieder auf den Dachboden. Geräuschlos tastete sie sich vor zum stockfinsteren Nordflügel.
Die Dachstiege knarzte unter seinem Gewicht. Er ließ sich Zeit, als würde er jeden Augenblick seiner Jagd genießen.
Panisch schlug sie das Kreuzzeichen über der Brust und presste die Lippen aufeinander, damit er ihren keuchenden Atem nicht hörte.
Beruhige dich. Du kannst ihn überlisten. Er ist ein Ochse. Verzweifle nicht!
Zentimeter für Zentimeter schlich sie vorwärts, strich mit den Fingern über die rohen Holzwände und Balken, zog sich Splitter unter den Fingernägeln ein, doch sie gab keinen Laut des Schmerzes von sich, selbst dann nicht, als sie mit der Kopfhaut an aus einem der Dachbalken überstehenden, scharfen Nägeln entlangschrammte, mit denen die Dachschindeln befestigt waren.
Er darf dich nicht hören.
Vorsichtig zog sie sich tiefer und tiefer in den Nordflügel zurück, tappte durch eine eisige Pfütze, dort, wo das Dach leckte, die Arme ausgestreckt auf der Suche nach etwas, womit sie sich verteidigen konnte, einer Waffe, doch ihre Finger stießen auf nichts Geeignetes.
Er kam näher und näher. Fast meinte sie, ihn riechen zu können, meinte den strengen Schnapsgeruch wahrzunehmen, den er verströmte. Sie ging auf die Knie, tastete den Fußboden ab und die Kisten, die darauf gestapelt waren. Ihre Finger berührten einen alten Bilderrahmen, eine Truhe, einen vergessenen Nähkorb und vergammelte Obststeigen, aber nichts Hartes oder Scharfes. Bitte lieber Gott, lass mich eine Waffe finden!
Irgendetwas musste doch da sein, und wenn es nur eine Glasscherbe wäre. Ein Nagel. Ein Kleiderbügel. Ein altes Bügeleisen. Ganz gleich was!
Wumm!
Das Gebälk erzitterte.
»Verflucht!«, brüllte er. Offenbar hatte er sich den Kopf an einem der tiefhängenden Dachbalken gestoßen.
Sie erstarrte, am Boden zusammengekauert, dann tastete sie weiter die Holzdielen ab. Ihre Fingerspitzen streiften kaltes Metall, eine Stange oder ein Rohr. Ihr Herz machte einen Satz. Vielleicht ein liegen gebliebener Schürhaken oder … nein! Ein Kerzenhalter! Fast hätte sie aufgeschrien vor Überraschung und Erleichterung.
»Wo bist du?«, fragte er mit gefährlich leiser Stimme. Einschmeichelnd. »Komm raus, wo immer du steckst.«
Ihre Finger schlossen sich um das kalte Metall. Im Vergleich zu seiner Axt nicht gerade eine beeindruckende Waffe, aber dennoch hart und schwer. Sie packte den Kerzenständer am sich verjüngenden Ende, so dass sie mit dessen Fuß zuschlagen konnte. Das müsste reichen, um ihm den Schädel zu zertrümmern. Sie hörte, wie er zur Kuppel emporstieg. Bitte, dachte sie, bitte lass ihn aufs Dach hinausgehen, damit ich ihn aussperren und dann die Treppe hinunterlaufen und die Kinder in Sicherheit bringen kann. Sie würde den Wagen nehmen und in die Stadt fahren.
Seine Schritte verrieten ihr, dass er durch die kleine Tür der Kuppel hinaus auf den Witwensteg getreten war. Sie wagte kaum zu atmen.
Doch er zögerte. Als spürte er, dass sie ihn in die Falle locken wollte.
Nein! Nein! Nein! Geh weiter. Nur ein kleines Stück weiter! Bitte. Nur drei, vier Schritte aufs Dach hinaus!
Doch er drehte sich um, kehrte zurück in die Kuppel. Sie hörte, wie die Tür zum Witwensteg zugeschlagen wurde. Die Bodendielen bebten, als er wieder unten auf dem Dachboden angekommen war.
»Angelique?«, rief er mit schmeichelnder Stimme über das Heulen des Windes in den Dachgiebeln hinweg. »Ich weiß, dass du dadrin bist. Komm jetzt raus. Du kannst mir nicht entrinnen.«
Es gab nur einen Weg, ihn aufs Dach zu locken. Sie selbst musste als Köder dienen.
Mit gespitzten Ohren hörte sie, dass sich seine Schritte von ihr entfernten, dass er zum entgegengesetzten Ende des Dachbodens ging. Gott sei Dank. Sie umfasste den Kerzenständer, sprang auf und rannte zur Wendeltreppe, hinauf in die Glaskuppel.
Diesmal ließ sich die Tür leicht öffnen.
Sie stolperte nach draußen, trat auf den Saum ihres weißen Kleides, das hell in der Dunkelheit leuchtete, und hätte fast ihre Waffe fallen gelassen, als sie auf dem glitschigen Flachdach ausrutschte. Der Wind zerrte an ihrem Haar, Regen schlug ihr ins Gesicht, doch hier draußen hatte sie zumindest eine Chance. Eine winzige Chance.
Tief unter ihr schäumte der Columbia River, der schnell nach Westen floss, ein wildes, dunkles Band, das die steile Schlucht durchschnitt. Einst war dieses prachtvolle Haus, das oberhalb auf der Klippe erbaut worden war, ihr ganzer Stolz gewesen. Jetzt war es ihr Gefängnis.
In ihrer Naivität hatte sie das beeindruckende Gebäude Blue Peacock Manor genannt, wegen der Pfauen, die sie so sehr liebte, doch jetzt war die Villa nicht mehr als eine tödliche Falle hoch oben über dem tosenden Wasser. Ihre geliebten Vögel hatte er längst eigenhändig abgeschlachtet. Am Nachmittag hatte sie den Kadaver eines Pfaus entdeckt, den sie Royal genannt hatte. Sein schimmerndes, saphirblaues Gefieder war blutdurchtränkt, ein Pfeil steckte in seiner Brust.
Doch sie durfte jetzt nicht an dieses sinnlose Opfer denken … nicht, wenn das Leben der Kinder auf dem Spiel stand.
Zu voller Größe aufgerichtet, wartete sie neben der Tür. Hoffentlich konnte sie ihn außer Gefecht setzen, ihn aussperren und mit den Kindern fliehen.
Das genügt nicht. Du musst das Haus niederbrennen. Ihn auf dem Dach festsetzen, die Kinder in Sicherheit bringen und Feuer legen. Dieses abscheuliche Gefängnis bedeutet dir doch ohnehin nichts mehr!
»Herr, verzeih mir«, murmelte sie und hob den Kerzenständer in die Höhe, gerade als sein Kopf in der kleinen Türöffnung erschien. Sie überlegte nicht zweimal. Mit aller Kraft schlug sie zu.
Krach!
Er taumelte leicht, fasste sich an die Wange und heulte wie ein verwundeter Wolf.
Angelique holte erneut aus, doch er sprang zur Seite. Der Kerzenständer streifte ihn an der Schulter.
Er bekam ihn zu fassen, riss ihn ihr aus den nassen Händen und trat dann ganz aufs Dach hinaus. In einer Hand hielt er die Axt, in der anderen den Kerzenständer.
Sie wich zurück. »Hure«, knurrte er, während er sie ins Visier nahm wie ein Jäger seine Beute. »Glaubst du, du kannst mich verletzen? Mich umbringen?« Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, als könnte er nicht glauben, dass sie es wagte, sich ihm entgegenzustellen.
»Maman?«, ertönte ein angstvolles Stimmchen über das Heulen des Windes hinweg. Ein Blitz zuckte. Angeliques Blick schoss zur Kuppeltür, wo die vierzehnjährige Helen stand und das stinkende Ungeheuer mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Nein!«
»Geh nach unten, Helen!«, befahl Angelique.
»Aber maman –«
»Geh!« Angelique begegnete den Augen des verängstigten Kindes. »Und verriegele die Tür!«
»Nein!« Er drehte sich zu Helen um. »Du wirst die Tür nicht verriegeln!«
»Lauf weg! Sofort!«, rief Angelique verzweifelt, dann warf sie sich nach vorn, prallte gegen ihn und zerkratzte ihm mit den Fingernägeln das Gesicht, während sie versuchte, die Axt an sich zu bringen.
»Hure!«, brüllte er wieder.
Hinter ihnen schrie Helen auf. Donner grollte.
Das Axtblatt gleißte im Licht eines weiteren Blitzes.
Seine Stiefel rutschten auf den glatten Holzbrettern aus.
»Lauf weg!«, schrie Angelique Helen noch einmal zu, gerade als er taumelnd das Gleichgewicht verlor. Mit aller Kraft rammte sie ihm ihr Knie in den Schritt. Er heulte und fluchte, die Axt flog ihm aus der Hand, hinein in die Dunkelheit.
Schreiend vor Schmerz schloss er seine schwielige Hand um ihre Kehle, während sie erneut zutrat.
Zusammen gingen sie zu Boden, die Blicke verschränkt, dann rutschten sie auf die Dachkante zu und verschwanden in der Schwärze der Nacht.
15. Oktober 2014Blue Peacock Manor
Du machst wohl Witze, Mom!«, sagte Jade. Sie saß auf dem Beifahrersitz von Sarahs Explorer und blickte aus dem Fenster auf die ehedem gekieste Zufahrt, die nun nicht viel mehr als eine gras- und unkrautüberwucherte Fahrspur voller Schlaglöcher war.
»Ich mache keine Witze«, widersprach Sarah. »Das weißt du ganz genau.« Sie schlängelten sich durch den dichten Kiefern-, Fichten- und Zedernwald. Es hatte geregnet, und wenn sie durch eine der unzähligen Pfützen holperten, spritzte das Wasser bis an die Seitenfenster.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dort leben können!« Jade, siebzehn, sah auf einer Lichtung hinter den Bäumen das riesige Haus auftauchen und wirkte aufrichtig erschüttert. Wie immer hielt sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg.
»Mom meint das sogar todernst«, ließ sich Gracie vom Rücksitz aus vernehmen, wo sie eingeklemmt zwischen Stapeln von Laken, Steppdecken, Schlafsäcken und anderem Bettzeug saß, das sie von Vancouver mitgenommen hatten. »Das hat sie uns doch gesagt.«
Jade warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Ich weiß. Aber das hier ist viel schlimmer, als ich dachte!«
»Das ist ja wohl kaum möglich.«
»Es hat dich niemand nach deiner Meinung gefragt!«
Sarahs Hände schlossen sich ums Lenkrad. Sie hatte sich bereits wiederholt anhören müssen, dass sie das Leben ihrer Kinder ruinierte, weil sie sie mit zu dem alten Anwesen nahm, auf dem sie geboren und aufgewachsen war. In den Augen der beiden Mädchen war sie die schlechteste Mutter der Welt. Das Wort »hassen« war gefallen, und Jade hasste alles: sie, den Umzug und ihr elendes Leben im Allgemeinen.
Alleinerziehende Mutter zu sein war nichts für schwache Nerven, das war Sarah schon vor längerer Zeit klargeworden.
Na schön. Dann waren ihre Kinder also immer noch sauer auf sie. Pech. Aber es war wichtig, dass sie einen Neuanfang machte, da konnten Jade und Gracie sagen, was sie wollten. Auch für die beiden war es wichtig, noch einmal von vorn zu beginnen.
»Es kommt mir vor, als wären wir in einem anderen Sonnensystem gelandet«, sagte Jade.
Gracie nickte. »In einem unbekannten Land …«
»Ach, hört schon auf«, sagte Sarah. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Ihre Töchter hatten den Großteil ihres Lebens in Vancouver im Bundesstaat Washington verbracht, von Portland, Oregon, nur durch den Columbia River getrennt. Dennoch wäre hier draußen, in Sarahs Elternhaus in Stewart’s Crossing, alles anders.
Hoch oben auf den Klippen, die den breiten Fluss überblickten, ragte Blue Peacock Manor – ein solides, klotziges Haus im viktorianischen Stil mit vielen Giebeln und Schornsteinen – drei Stockwerke hoch in den grauen, verhangenen Himmel. Durch die Windschutzscheibe konnte Sarah jetzt die Glaskuppel erkennen, die auf den Witwensteg hinausführte. Ein furchtsamer Schauder rieselte ihr das Rückgrat hinab, doch sie zwang sich, dem keine weitere Beachtung zu schenken.
»Ach du liebe Güte!« Jade fiel die Kinnlade herab, als sie das Haus erblickte. »Das sieht ja aus wie die Villa der Addams Family!«
»Lass mal sehen.« Gracie, die auf dem Rücksitz saß, löste ihren Gurt und beugte sich vor, um einen besseren Blick zu haben. »Sie hat recht«, stieß sie fassungslos hervor, ausnahmsweise einer Meinung mit ihrer älteren Schwester.
»Ach, kommt schon«, wiegelte Sarah ab, doch so unrecht hatte Jade tatsächlich nicht. Mit der breiten, durchhängenden Veranda, den bröckelnden Kaminen, den mit Brettern vernagelten Fenstern und dem verwilderten Grundstück befand sich die einst so prächtige Villa, welche die Einheimischen einst »Das Juwel am Columbia River« genannt hatten, in einem weit schlechteren Zustand, als sie gehofft hatte.
»Bist du blind? Das ist ja furchtbar!«, rief Jade entsetzt und schüttelte langsam den Kopf, als könnte sie nicht fassen, was für eine grauenvolle Wende ihr Leben genommen hatte. Auf dem Weg zur Garage kamen sie an weiteren Gebäuden vorbei, die genauso, wenn nicht noch mehr verfallen waren wie das Haupthaus.
»Im Ernst, Mom, hier können wir nicht leben!« Jade richtete ihre großen Augen mit den viel zu stark getuschten Wimpern anklagend auf ihre Mutter, als sei Sarah vollends durchgedreht.
»Wir können und wir werden. Zumindest auf lange Sicht.« Sarah wendete und stellte den Wagen vor dem unkrautüberwucherten Plattenweg ab, der zum Haupteingang führte. Das dekorative, aber stark verrostete Tor fiel aus den Angeln, die Rosen in den Beeten neben dem Weg gehörten dringend zurückgeschnitten.
»Wir werden uns ein provisorisches Quartier im Haupthaus einrichten, bis die Arbeiten am Gästehaus abgeschlossen sind, vermutlich in der nächsten Woche. Dann ziehen wir dort ein, bis das Haupthaus fertig ist, aber das wird Monate dauern, wenn nicht sogar ein ganzes Jahr.«
»Ins Gästehaus? … O nein, jetzt sag nicht, das ist das da!« Jade deutete mit einem schwarz lackierten Fingernagel auf ein kleineres Gebäude, das dem wuchtigen Klotz aus Stein und Zedernholz gegenüberlag, durch einen großen, gepflasterten Hof getrennt. Das Gästehaus befand sich im selben Zustand wie das Haupthaus und die Nebengebäude. Dachziegel fehlten, die Dachrinnen waren verrostet, der Großteil der Fallrohre war verschwunden. Die wenigen Fenster, die nicht mit Brettern vernagelt waren, waren trüb oder gesprungen. Wie die Handwerker hier binnen einer Woche ein Wunder vollbringen wollten, war Sarah schleierhaft.
»Wirklich bezaubernd«, ließ sich Jade vernehmen und stieß angewidert die Luft aus. »Ich kann’s kaum erwarten, hier einzuziehen.«
»Das dachte ich mir«, erwiderte Sarah mit einem schwachen Lächeln.
»Sehr komisch«, knurrte Jade.
»Komm schon, Jade. Gib dir einen Ruck. Es ist doch nur für eine kleine Weile. Später können wir ins Haupthaus umziehen – wenn wir es nicht verkaufen. Oder wir bleiben im Gästehaus. Wir können auch darüber nachdenken, das Haupthaus in mehrere kleinere Wohneinheiten aufzuteilen, die wir verkaufen, während wir uns eine davon als Apartment einrichten …«
»Du solltest es jetzt schon verkaufen«, unterbrach Gracie Sarahs Überlegungen.
»Wie du weißt, gehört es mir nicht allein. Meine Brüder und meine Schwester haben ebenfalls einen Teil davon geerbt, so dass wir alle Entscheidungen gemeinsam fällen müssen.«
»Hat denn keiner ein Feuerzeug dabei?«, sagte Jade, nur halb im Scherz. »Wir könnten den Kasten abfackeln und die Versicherungssumme kassieren.«
»Tolle Idee«, sagte Sarah ironisch und stellte den Motor ab. Jade hatte in letzter Zeit nicht nur einen Hang fürs Makabere entwickelt, sondern war auch wie besessen von sämtlichen Krimiserien, die über die Mattscheibe flimmerten. Gerade hatte sie eine Vorliebe für Sendungen über »wahre Verbrechen« entdeckt, bei denen zweitklassige Schauspieler grauenhafte, »wirklich passierte« Morde und ähnlich Schreckliches nachspielten. Ihr aktueller Freund schien ihre Interessen zu teilen, was Sarah nicht unbedingt behagte, doch sie versuchte, ihre Tochter diesbezüglich nicht zu bevormunden. Manchmal war weniger mehr.
»Du solltest deinen Anteil verkaufen, Mom. Sollen doch Tante Dee Linn, Onkel Joe oder Onkel Jake Blue Peacock Manor renovieren«, schlug ihre Ältere jetzt vor. »Zieh den Kopf aus der Schlinge, solange es noch geht! Mein Gott, Mom, wie verrückt ist das denn? Nicht nur, dass das Haus aussieht, als wäre es einem Horrorfilm entsprungen, wir sind hier auch noch am Ende der Welt!«
Das kam der Wahrheit ziemlich nahe. Das Haus mit seinen weitläufigen Außenanlagen war mindestens zehn Kilometer von dem Städtchen Stewart’s Crossing entfernt, die angrenzende Ranch mit ihren nächsten Nachbarn lag hinter Kiefern- und Zedernwäldern verborgen. Sarah blickte Richtung Willow Creek, der die natürliche Grenze zwischen diesem Anwesen und dem nächsten bildete, welches seit über hundert Jahren der Familie Walsh gehörte. Unweigerlich musste sie an Clint denken, den letzten Vertreter der Walsh-Linie, der laut Dee Linn und Tante Marge nach wie vor dort lebte. Rasch rief sie sich ins Gedächtnis, dass er ganz bestimmt nicht der Grund dafür war, dass sie sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um nach Stewart’s Crossing zurückzukehren.
»Warum bringst du mich nicht einfach zurück in die Stadt und lässt mich mein Auto abholen?«, fragte Jade in Sarahs Gedanken hinein.
»Weil es erst in ein paar Tagen fertig wird. Du hast doch gehört, was Hal gesagt hat.« Sie hatten Jades Honda in einer Autowerkstatt in Stewart’s Crossing stehen gelassen, damit es einen Satz neue Reifen und die so dringend benötigten neuen Bremsen bekam, außerdem wollte Hal herausfinden, warum der Civic Flüssigkeit verlor und welche.
»Na klar. Hal, der Meister der Automechaniker«, erwiderte Jade abfällig.
»Der beste der ganzen Stadt«, sagte Sarah, stieg aus ihrem Explorer und warf die Schlüssel in die Handtasche. »Schon mein Vater hat seine Autos zu ihm gebracht.«
»Der einzige Mechaniker der ganzen Stadt«, korrigierte Jade. »Außerdem ist Grandpa schon lange tot, Hal wird also ein echter Dinosaurier sein!«
Sarah musste tatsächlich grinsen. »Na schön, eins zu null für dich. Aber seit ich das letzte Mal in der Werkstatt war, hat sich ganz schön was getan – Hal hat jede Menge elektronisches Zeugs angeschafft und zwei neue Mechaniker eingestellt.«
Zu ihrem Erstaunen zuckten Jades Mundwinkel in die Höhe, und sie erinnerte Sarah an das junge, unschuldige Mädchen, das sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch gewesen war. »Und er hat jede Menge Kunden.«
»Das Schicksal scheint es mit Autos momentan nicht gut zu meinen«, pflichtete Sarah ihr bei. Die kleine Reparaturannahme in Hals Werkstatt war voll gewesen; eine ältere Dame mit ihrem kleinen Hund und zwei Männer hatten ebenfalls Probleme mit ihren Fahrzeugen.
»Meint es das Schicksal mit Autos denn irgendwann einmal gut?«, fragte Jade bissig, doch sie schien sich in ihr eigenes Schicksal zu fügen, welches offenbar vorsah, dass sie eine Zeitlang ohne fahrbaren Untersatz auskommen musste. Gut.
Bis vor kurzem war Jade eine herausragende Schülerin gewesen. Sie besaß einen hohen IQ und hatte begeistert gelernt, war eine wahre Überfliegerin gewesen. Vor ungefähr einem Jahr allerdings hatte sie ihr Faible für Jungs entdeckt, und ihre Noten waren in den Keller gerutscht. Nun war noch dazugekommen, dass sie plötzlich auf Gothic stand, auch wenn diese Richtung im Grunde schon wieder passé war, doch ihr Freund, ein älterer Junge, der kaum den Highschool-Abschluss geschafft hatte und sich für nichts zu interessieren schien als für Musik, Marihuana und vermutlich Sex, stand ebenfalls darauf. Er liebte es, über Politik zu streiten, und machte einen auf intellektuell, obwohl er vom College geflogen war.
Jade hielt Cody Russell für den Mittelpunkt des Universums.
Sarah hingegen war felsenfest davon überzeugt, dass er das nicht war.
»Na los, Mädels, steigt aus«, drängte sie ihre Töchter und öffnete die Autotür.
Jade rührte sich keinen Millimeter und zog stattdessen das Handy aus ihrer Handtasche. »Muss ich auch aussteigen?«
»Ja.«
»Sie ist so eine Nervensäge!«, flüsterte Gracie. Mit ihren zwölf Jahren fing auch sie gerade an, sich für Jungs zu interessieren, doch eigentlich beschäftigte sie sich noch viel lieber mit Tieren und Büchern statt mit dem anderen Geschlecht. Gesegnet mit einer äußerst produktiven Fantasie und überdurchschnittlicher Intelligenz, war Gracie ihren Klassenkameradinnen jedoch in vielerlei Hinsicht um einen Schritt voraus.
»Das hab ich gehört!« Jade spielte an ihrem Handy herum.
»Das Haus ist unheimlich«, befand Gracie und schickte sich zum Aussteigen an, gerade als die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe platschten.
»Es ist mehr als unheimlich!« Jade hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. »Außerdem … o nein, jetzt sag bloß nicht, dass wir hier draußen keinen Handyempfang haben.« Auf ihrem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen.
»Nur an einigen Stellen«, erklärte Sarah.
»Mein Gott, Mom, wo sind wir? Im Mittelalter? Dieser Ort ist … grauenhaft. Blue Peacock Manor, dass ich nicht lache! Pfauen gibt es hier wohl schon lange nicht mehr, hab ich recht?«
»He!«, wies Sarah sie scharf zurecht. »Jetzt übertreib mal nicht.«
»Herrgott, Mom –«
»Schluss damit, Jade!«
Jade schnitt eine Grimasse, doch sie schwieg und stieg aus dem Jeep. Dann sagte sie: »Becky hat mir erzählt, in dem Haus würde es spuken.«
»Seit wann hörst du auf Becky?«, fragte Sarah. Das wurde ja immer schlimmer! »Ich dachte, du magst sie nicht einmal.«
»Das tue ich auch nicht.« Jade seufzte theatralisch. »Ich gebe bloß wieder, was sie gesagt hat.« Becky war Jades Cousine, die Tochter von Sarahs älterer Schwester Dee Linn. »Und mit irgendwem muss ich schließlich reden. Ist ja nicht gerade so, dass ich hier eine Million Freunde hätte, oder?«
»Na schön, ich hab’s kapiert.« Sarahs Meinung nach war Becky nicht unbedingt ein Mensch, dem man vertrauen konnte, sie zählte zu der Sorte weiblicher Teenager, die stets aus einer Mücke einen Elefanten machten und die nichts mehr liebten, als zu tratschen und Gerüchte zu streuen. So richtig glücklich war sie erst, wenn sie jemanden ärgern konnte. Becky fand nichts prickelnder, als sich in anderer Leute Privatleben einzumischen – genau wie ihre Mutter. Zweifelsohne hatte das Mädchen von Dee Linn die Märchen über Blue Peacock Manor erzählt bekommen. Ja, es hatte immer schon geheißen, das alte Haus habe seine ganz speziellen Geister und Leichen im Keller, doch diese Geschichte gerade jetzt wieder auszugraben war typisch für Dee Linn.
»Ich finde, das Haus sieht irgendwie cool aus. Schön gruselig«, befand Gracie.
Jade schnaubte. »Woher willst du denn wissen, was cool ist?«
»He!« Sarah warf ihrer Älteren einen warnenden Blick zu.
Gracie, die die Sticheleien ihrer großen Schwester gewohnt war, tat so, als hätte sie Jades hässliche Bemerkung nicht gehört. Stattdessen brachte sie das Gespräch auf ihr Lieblingsthema. »Können wir uns einen Hund zulegen, Mom?« Noch bevor Sarah etwas erwidern konnte, fügte sie rasch hinzu: »Du hast doch gesagt, hier würde das möglich sein. Erinnerst du dich? Sobald wir hier wären, würden wir uns nach einem Hund umsehen.«
»Habe ich nicht gesagt, ich wolle darüber nachdenken?«, stellte Sarah richtig.
»Jade hat ein Auto bekommen«, betonte Gracie.
»Das ist etwas anderes«, ließ sich Jade vernehmen.
»Nein, ist es nicht.« Gracie wandte sich ihrer Mutter zu, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. »›Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen‹«, zitierte sie und bedachte Sarah mit einem kühlen Blick. »Genau das sagst du doch immer, Mom. Und du weißt, wie sehr ich mir einen Hund wünsche.« Damit drehte sie sich um und betrat den Plattenweg, der zum Haupthaus führte.
»Ich weiß, ich weiß.« Wie könnte Sarah die Diskussionen vergessen, die sie mit Gracie führte, seit diese fünf geworden war? Ihre Jüngere war verrückt nach Tieren, und sie bettelte nun schon seit Ewigkeiten um einen vierbeinigen Freund.
Als Gracie außer Hörweite war, sagte Sarah zu Jade: »Es würde dich nicht umbringen, wenn du freundlicher zu deiner Schwester wärst.«
Jade warf ihrer Mutter einen ungläubigen Blick zu und erklärte: »Du nervst.« Dann stieg sie endlich aus dem Wagen.
»Du bist hier die Einzige, die nervt«, gab Sarah zurück. Sie hatte die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter so satt. Seit sie vor zwei Wochen verkündet hatte, dass sie umziehen würden, befand sie sich in einer Art Dauerstreit mit Jade. Sie hatte gewartet, bis sie sich mit ihren Geschwistern über die Nutzung des gemeinsamen Erbes einig war, dann hatte sie eine Crew von Handwerkern engagiert und erst danach ihren Mädchen die Neuigkeit überbracht. »Das ist die Chance für uns, einen Neuanfang zu machen«, hatte sie ihnen begeistert verkündet.
Genau auf dieses Thema kam Jade auch jetzt wieder zu sprechen. »Ein ›Neuanfang‹ soll das hier also sein – nun, das gilt doch eh nur für dich. Und vielleicht für die.« Sie deutete mit dem Kinn Richtung Gracie.
Sarah folgte ihrem Blick und sah ihre jüngere Tochter über die gesprungenen Gehwegplatten hüpfen, wo Löwenzahn und Moos den Mörtel durchbrachen. Überall wucherten ungepflegte Rosensträucher, die deutlich zeigten, wie lange das Haus schon unbewohnt war. Früher einmal hatte sich Sarahs Mutter liebevoll um die Gärten und die Obstwiese gekümmert, die ihr persönliches Steckenpferd gewesen waren, doch das war ewig her.
Eine einsame Krähe schlug auf einem kahlen Ast des Kirschbaums neben dem Gästehaus mit den Flügeln, dann zog sie den Kopf ein, um sich vor dem nun stärker fallenden Regen zu schützen.
»Bitte, Jade. Nun mach mal halblang«, drängte Sarah.
»Mach du doch mal halblang!« Jade verdrehte die Augen, gab eine SMS ein und knallte die Autotür zu. »Am Arsch der Welt … da hilft das beste Smartphone nichts. Mist.«
»Pass auf, was du sagst. Ich mag es nicht, wenn du so redest.« Sarah musste sich Mühe geben, nicht aus der Haut zu fahren. »Jetzt schnapp dir deine Sachen und komm, Jade. Ob es dir passt oder nicht – wir sind zu Hause.«
»Ich fasse es nicht, dass das mein neues Leben sein soll.«
»Du wirst dich dran gewöhnen.« Sarah ging zum Kofferraum und nahm ihren Computer und einen Koffer heraus.
Natürlich hatte auch sie Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, nach Blue Peacock Manor zurückzukehren. Das, was sie vorhatte – das Anwesen zu renovieren und wieder in seinen prachtvollen früheren Zustand zu versetzen, um es dann für gutes Geld zu verkaufen, während sie mit ihren Kindern im ebenfalls renovierten Gästehaus lebte –, war eine gewaltige, um nicht zu sagen beängstigende Aufgabe, wenn nicht gar unmöglich. Schon als sie noch mit ihren Geschwistern hier gelebt hatte, war das riesige Haus dem Verfall anheimgegeben. Seit dem Tod ihres Vaters war es langsam, aber stetig den Bach hinuntergegangen. Die Farbe blätterte von der Holzverkleidung, zahlreiche Bretter waren verzogen. Die breite Veranda, die sich über die gesamte Vorderseite des Hauses erstreckte, schien durchzuhängen, Teile des Geländers fehlten, im Dach klafften Löcher. Offenbar waren viele Schindeln verfault.
»Sieht böse aus«, ließ sich Jade vernehmen, dann drehte sie sich um und nahm ihren Rollkoffer aus dem Kofferraum. Missmutig folgte sie ihrer Schwester. »Wie sehr ich das alles hier hasse!«
Sarah verkniff sich eine bissige Bemerkung. Das letzte Mal, als sie mit den Kindern hier gewesen war, hatte sie sich mit ihrer eigenen Mutter gestritten. Arlene und sie hatten ein hitziges, verletzendes Wortgefecht ausgetragen, das den endgültigen Bruch zwischen ihnen bedeutete. Gracie war vermutlich noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern, aber Jade erinnerte sich mit Sicherheit.
Ihre jüngere Tochter war vor den Stufen zur Veranda angekommen, als sie plötzlich stehen blieb und am Haus emporblickte. »Ach du lieber Himmel – was ist das denn?«
»Na los, gehen wir rein«, sagte Jade zu ihrer kleinen Schwester, doch diese rührte sich nicht vom Fleck, auch nicht, als Sarah zu ihren Töchtern trat.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie. Eine große schwarze Krähe landete auf einer der verrosteten Dachrinnen.
»Aber nein, Mom«, beeilte sich Jade zu sagen, »alles ist ganz wunderbar. Du hast dich mit diesem Perversling bei deiner Arbeit gezofft, weshalb du beschlossen hast, uns hierherzuverfrachten. Und zack!« Sie schnipste mit den Fingern. »Da sind wir! So einfach ist das. Du hast unsere Wohnung in Vancouver vermietet, damit wir künftig in einem verfallenen alten Kasten leben, von dem selbst Stephen King nur hätte träumen können. Tja, ist doch alles cool.« Jade griff wieder nach ihrem Smartphone. »Wenn es hier wirklich nirgendwo Empfang gibt, dann haue ich ab. Ich mein’s ernst, Mom. Kein Empfang, das ist doch … vorsintflutlich und … unmenschlich!«
»Du wirst es überleben.«
»Da drinnen ist jemand«, flüsterte Gracie.
»Wie bitte?«, fragte Sarah. »Das Haus steht seit Jahren leer.«
Gracie blinzelte. »Aber … aber ich habe sie gesehen.«
»Du hast wen gesehen?«, hakte Sarah nach und versuchte, das furchtsame Flattern in ihrem Magen zu unterdrücken.
Ihre Tochter zuckte die Achseln. »Ein Mädchen.«
Sarah fing einen Hab-ich’s-dir-nicht-gesagt?-Blick von ihrer älteren Tochter auf.
»Ein Mädchen? Wo?«, fragte Jade.
»Sie stand dort oben.« Gracie deutete hinauf zum zweiten Stock, auf ein Zimmer an der Nordwest-Ecke des Hauses, gleich unterhalb der Glaskuppel. »Am Fenster.«
Theresas Zimmer. Das Zimmer, das für Sarah während ihrer Kindheit tabu gewesen war. Das Flattern in ihrem Magen wurde stärker. Wieder begegnete sie Jades Blick.
»Vielleicht ein Gespenst«, spottete Jade. »Davon soll es hier ja jede Menge geben.« Sie beugte sich zu ihrer Schwester vor. »Und das behauptet nicht nur Becky. Hast du mir nicht erzählt, du hättest ein bisschen ›recherchiert‹ und herausgefunden, dass die erste Bewohnerin dieses Hauses ermordet worden sei? Ihren Leichnam hat man nie gefunden, doch ihr Geist spukt für alle Ewigkeit in den Gängen von Blue Peacock Manor.«
Gracie warf ihrer Mutter einen besorgten Blick zu. »Nun … also …«
»Ich bitte dich!« Jade schnaubte. »Kaum setzt du einen Fuß hierher, siehst du auch schon einen Geist.«
»Angelique Le Duc ist tatsächlich hier ums Leben gekommen!«, brauste Gracie auf.
»Du meinst Angelique Stewart«, korrigierte Jade. »Sie war mit unserem wahnsinnigen, gemeingefährlichen Urururgroßvater oder so ähnlich verheiratet. Zumindest hast du das behauptet.«
»So stand es im Internet«, erwiderte Gracie, die Lippen missmutig zusammengepresst, weil Jade mal wieder alles besser wusste.
»Dann muss es ja stimmen.« Jade wandte sich ihrer Mutter zu. »Sobald du uns gesagt hast, dass wir umziehen, hat sie mit diesem Geisterkram angefangen. Hat sich Bücher aus der Bücherei ausgeliehen, hat im Netz recherchiert und sich in Chatrooms mit anderen Leuten unterhalten, die behaupten, Gespenster zu sehen. Und sie ist dabei nicht nur auf Angelique Le Duc gestoßen – o nein, keineswegs, sondern noch auf ein paar andere rastlose Seelen. Dieser Ort hier« – sie machte eine ausholende Handbewegung, die das Haus und die Außenanlagen umfasste – »ist voller Geister von Menschen, die in Blue Peacock Manor ein böses Ende genommen haben.« Der Wind frischte auf und ließ Jades Haare flattern. »Verstehst du nicht, wie lächerlich das ist, Mom? Jetzt glaubt sie schon an diesen übersinnlichen Sch… – Unsinn und bildet sich ein, wir würden hier mit einer Horde von lebenden Toten wohnen!«
»Jade …«, sagte Sarah warnend.
»Halt doch die Klappe!«, schrie Gracie ihre große Schwester an.
»Du klingst wie eine Irre«, stichelte Jade weiter, dann richtete sie ihre zornigen Augen auf Sarah. »Du musst dem ein Ende setzen, Mom, und zwar zu ihrem eigenen Besten. Wenn sie weiter so herumspinnt mit Gespenstern, Geistern und Dämonen –«
»Dämonen?«, fauchte Gracie. »Wer hat hier etwas von Dämonen gesagt?«
»Das ist alles Unsinn«, verkündete Jade im Brustton der Überzeugung. »Wenn du das erzählst, wird man dich in der Schule auslachen!«
»Genug!«, schimpfte Sarah, obwohl sie den Eindruck hatte, dass Jade ausnahmsweise wirklich um ihre kleine Schwester besorgt war. Dennoch hatte sie die Nase gründlich voll von den ständigen Zankereien der beiden Schwestern. Mit einiger Mühe zwang sie sich, ruhig zu bleiben, und sagte: »Jetzt lasst uns mal hineingehen.«
»Ihr glaubt mir nicht«, stellte Gracie verletzt fest und sah erneut zum Fenster auf.
Auch Sarah warf einen verstohlenen Blick zu dem Zimmer, in dem sich, wie sie tief im Innern wusste, etwas Fürchterliches zugetragen haben musste. Eine Tragödie, doch welcher Art genau, hatte sie schon in ihrer Kindheit nicht herausfinden können. Sie wusste nur, dass ihre ältere Schwester spurlos verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht war – weder tot noch lebendig.
Nichts.
Hinter der schmutzigen, gesprungenen Fensterscheibe war nichts. Keine gespenstische Erscheinung schwebte hinter den Sprossenfenstern, und auch sonst war nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Außersinnliches noch weniger. Da war kein »Mädchen« in Theresas ehemaligem Zimmer, nur die zerfledderten Vorhänge schienen sich im Luftzug zu bewegen. Kein Wunder, denn jetzt öffnete der Himmel endgültig seine Schleusen, und kräftige Böen fuhren durch die Bäume.
»Ich habe sie gesehen«, beharrte Gracie, die Stirn empört gefurcht.
»Vielleicht hat sich etwas in der Scheibe gespiegelt, oder du hast einen Schatten gesehen«, überlegte Sarah. Die Krähe krächzte laut. Warum behauptest du das? Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Mit Sicherheit sagt Gracie die Wahrheit. Doch das konnte sie unmöglich laut aussprechen, ohne ihre Tochter zu Tode zu ängstigen.
Gracie drehte sich zu Jade um. »Du hast sie verscheucht!«
»Na klar. Natürlich ist alles meine Schuld, wie immer. Lass mich bloß in Ruhe, Gracie.«
»Das wird sie dir heimzahlen.« Gracie kniff die Augen zusammen. »Die junge Frau im Fenster, meine ich.«
»Gracie!« Sarah klappte die Kinnlade herab.
»Du wirst schon sehen«, prophezeite die Zwölfjährige finster, dann wandte sie sich der Haustür zu, womit das Gespräch beendet war.
»Hier kommt das Neueste«, verkündete Rhea, als sie Clints Büro in dem kleinen Gebäude betrat, das Stewart’s Crossing als Rathaus diente, und knallte einen dicken Stapel Unterlagen in seinen Posteingangskorb. Als städtischer Bauinspektor hatte Clint Walsh sämtliche Arbeiten zu überprüfen, die an Gebäuden innerhalb der Stadtgrenzen und darüber hinaus vorgenommen wurden, egal, ob es sich dabei um Neubauten, Umbau- oder Sanierungsmaßnahmen handelte. »Ich glaube, das wird dich ganz besonders interessieren.« Rhea Hernandez zog ihre zu einer dünnen Linie gezupften Augenbrauen so weit in die Höhe, dass sie bis über den Rand ihrer Brille hinausreichten. »Du bekommst neue Nachbarn.«
»Ach ja? Auf dem Anwesen der Stewarts?«
»Das Juwel am Columbia River wird saniert«, bemerkte sie trocken und schüttelte den Kopf, ohne dass sich ihre rote Kurzhaarfrisur auch nur einen Millimeter bewegte.
Clint spürte, wie er sich innerlich verkrampfte. »Vielleicht möchte Doug das übernehmen.«
»Ich dachte, du verabscheust Doug.«
»Verabscheuen ist ein hartes Wort«, sagte Clint. »Er wäre lediglich nicht meine erste Wahl als mein Stellvertreter.« Er war sich nicht sicher, ob er Doug Knowles vertrauen konnte. Der Kerl, den er anlernte, damit dieser später seinen Job übernehmen konnte, kam ihm einfach zu unerfahren vor, als dass er ihm zutraute, jeder Aufgabe die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Clint hatte den Verdacht, dass Doug es sich eher leicht machen würde, was den Job anging. »Wenn ich genauer darüber nachdenke, möchte ich das Stewart-Projekt doch lieber selbst betreuen.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte Rhea. Ihre roten Lippen zuckten leicht. »Ach, und warte!« Sie eilte aus dem Zimmer und kehrte ein paar Sekunden später mit einer Schale voller Süßigkeiten zurück, die sie auf die Kante seines Schreibtisches stellte. »Halloween-Leckereien für unsere Klienten mit süßem Zahn, ähm, süßen Zähnen.«
»Ich brauche keine Süßigkeiten.«
»Natürlich brauchst du Süßigkeiten. Süßes oder Saures, schon vergessen? Sei doch nicht so ein Grinch!«
»Ich dachte, der Grinch hätte etwas mit Weihnachten zu tun.«
»Ist doch egal – Feiertage sind Feiertage. In diesem Fall geht es nun mal um Halloween.« Sie nahm sich einen Schokoriegel und steckte ihn sich in den Mund.
»Na schön, dann bin ich eben ein Grinch. Aber bitte sei nicht sauer auf mich.«
Lachend zwinkerte Rhea ihm zu, dann verließ sie sein Büro und klapperte auf ihren hohen Absätzen zurück an die Rezeption, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
In dem Flachdachgebäude aus Glas und gelben Ziegeln, erbaut um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, waren sämtliche Abteilungen der Stadtverwaltung untergebracht. Von dem offenen Empfangsbereich gingen ein halbes Dutzend Büros ab, darunter auch das von Clint. Die Decken waren niedrig, abgehängt mit »geräuschdämmenden« Platten, unter denen grelle Neonröhren angebracht waren, die Linoleumböden stammten noch aus den 1960er Jahren. Die jahrzehntelange Abnutzung war ihnen deutlich anzusehen.
Eins der Telefone am Empfang klingelte. Rhea drehte sich um, rief Clint zu: »Wirf einfach mal einen Blick auf die Unterlagen!«, und nahm den Hörer noch vor dem zweiten Klingeln ab. Ihr kurzer Rock spannte sich über ihren Pobacken, als sie sich vorbeugte. Sie machte das mit Absicht, nahm er an, wohl wissend, dass er ihr hinterhersah. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, warf sie ihm einen raschen Blick über die Schulter zu.
»Stadtverwaltung von Stewart’s Crossing«, meldete sie sich mit zuckersüßer Stimme. »Rhea Hernandez am Apparat.«
Sie hatte einen netten Hintern, das musste man ihr lassen, aber er war nicht interessiert.
Rhea war eine attraktive, clevere Frau, dreimal verheiratet und dreimal geschieden, die im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren Ausschau nach Ehemann Nummer vier hielt.
Das war nichts für Clint, und er nahm an, dass sie das wusste. Rhea flirtete vermutlich eher aus Gewohnheit als ernsthaft mit ihm.
»… das tut mir leid. Nein, die Bürgermeisterin ist nicht da. Kann ich ihr etwas ausrichten, oder möchten Sie ihr lieber direkt eine E-Mail schicken?«, fragte die Empfangssekretärin, umrundete ihren Schreibtisch und ließ sich auf ihren Stuhl außerhalb seiner Sichtweite fallen. Er hörte, wie sie die E-Mail-Adresse von Leslie Imholt, der Bürgermeisterin von Stewart’s Crossing, herunterratterte.
Clint nahm sich den Stapel Papiere vor, den sie in seinen Posteingangskorb gelegt hatte – Pläne für eine komplette Sanierung von Blue Peacock Manor, dem historischen Gebäude auf dem Grundstück direkt neben seiner Ranch. Er war nicht sonderlich überrascht, da ihm bereits zu Ohren gekommen war, dass Sarah zurückgekehrt war, um den alten Familiensitz wieder in Schuss zu bringen. Die vorläufigen Entwürfe lagen bereits dem Stadtingenieur zur Genehmigung vor, bei den Unterlagen hier vor ihm musste es sich um Änderungen an den ursprünglichen Plänen handeln. Eine höllische Aufgabe, das war ihm klar, und er fragte sich, weshalb ausgerechnet Sarah die Organisation und Betreuung der Arbeiten übernommen hatte und hierher zurückgekehrt war, an einen Ort, dem sie damals so dringend den Rücken kehren wollte. Er überflog die überarbeiteten Pläne und machte sich eine Notiz, sich persönlich ein Bild davon zu verschaffen, welche Arbeiten an dem kleineren Haus – dem Gästehaus, wie die Familie Stewart es genannt hatte – bereits in Angriff genommen worden waren.
Bis die Bürgermeisterin Doug Knowles eingestellt hatte, war Clint in diesem Teil des Countys der einzige Inspektor der Bauaufsicht gewesen und hatte sämtliche Arbeiten selbst überprüft. Jetzt konnte er, wenn er wollte, Jobs an Doug delegieren. Doch Clint hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass das für gewöhnlich keine gute Idee war. Und in diesem speziellen Fall erst recht nicht.
Wenn er sich allerdings persönlich um Blue Peacock Manor kümmerte, würde er zweifelsohne Sarah wiedersehen.
Stirnrunzelnd nahm er sich nun doch eine Süßigkeit aus der Halloween-Schale auf seinem Schreibtisch, einen kleinen Kitkat-Riegel, lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und steckte sich den Riegel gedankenverloren in den Mund. Sarah und er hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass sie nicht gerade im Guten auseinandergegangen waren. Er zerknüllte das Einwickelpapier in der Hand und warf es in den Mülleimer.
Eine Highschool-Romanze, dachte er. Sehr intensiv, doch im Großen und Ganzen so unbedeutend.
Doch warum war die Erinnerung daran dann immer noch so frisch, als sei alles erst gestern passiert und nicht vor einem halben Leben?
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, und er griff nach dem Hörer, mehr als gewillt, den Gedanken an Sarah Stewart und ihre unglückselige Liebe in die hintersten Ecken seines Gedächtnisses zu verbannen.
Das war’s für heute. Feierabend«, sagte Rosalie Jamison, band ihre Schürze ab und warf sie in einen Wäschekorb zu den anderen schmutzigen Schürzen, Handtüchern, Jacken, Stoffservietten und Tischdecken, die über Nacht gereinigt werden würden, um zur morgendlichen Schicht in dem Drei-Sterne-Diner wieder einsetzbar zu sein. Sie stellte ihre Arbeitsschuhe ins Regal und schnürte für den Heimweg ihre nagelneuen Nikes zu. »Bis dann!«
Irgendein fantasieloser Einfaltspinsel hatte das Restaurant vor einer halben Ewigkeit Columbia Diner genannt, obwohl es mehrere Blocks vom Fluss entfernt lag. Rosalie hatte die letzten sechs Monate als Bedienung hier gearbeitet, hatte sich um die Stammgäste gekümmert und um die Gäste auf der Durchreise. Sie hasste den Job und den Geruch nach Fett und Gewürzen, der an ihr haftete, bis sie sich mindestens zwanzig Minuten unter der Dusche geschrubbt hatte, doch immerhin hatte sie einen Job, und das war in diesem Hinterwäldlerkaff nicht gerade selbstverständlich.
Fürs Erste würde sie sich damit zufriedengeben, so lange, bis sie genügend Geld zur Seite gelegt hatte, um Stewart’s Crossing für immer zu verlassen. Sie konnte es kaum erwarten.
»Augenblick noch!«, rief Gloria, eine Frau in den Fünfzigern, die ständig nach Zigaretten roch, und schloss zu Rosalie auf, ehe diese zur Tür hinaus war. Sie drückte ihr ein paar Dollarnoten und etwas Kleingeld in die Hand.
»Vergiss niemals deinen Anteil am Trinkgeld«, sagte sie augenzwinkernd. »Sonst kannst du dir nie Pelze und Diamanten leisten.«
»Tja, da hast du wohl recht.« Rosalie musste grinsen. Gloria war cool, auch wenn sie ständig davon redete, wie lange es noch dauern würde, bis sie genug in die Sozialversicherungskassen eingezahlt hätte, um in Rente gehen zu können. Was Rosalie so gar nicht interessierte. In ihren Augen war all das einfach nur stinklangweilig. Gloria war eine frustrierte Frisörin, die ungefähr einmal pro Monat Haarfarbe und Frisur änderte und sich hier, im Columbia Diner, ein Zubrot verdiente. Sie hatte Rosalie unter ihre Fittiche genommen, und als einmal eine Gruppe Jungs, Klassenkameraden von der Highschool, ins Restaurant gekommen war und angefangen hatte, Rosalie mit obszönen Bemerkungen zu belästigen, hatte sich Gloria geweigert, die Kerle zu bedienen, und sie in hohem Bogen hinausgeworfen. Die hatten vielleicht die Schwänze eingeklemmt! Nachher war es in der Schule zwar nicht besser gewesen, aber Rosalie hatte das Problem gelöst, indem sie ganz einfach den Unterricht schwänzte.
»Wenn du noch eine halbe Stunde wartest, fahre ich dich nach Hause«, bot Gloria an und klopfte eine Zigarette aus der Schachtel, die sie stets griffbereit hatte. Rosalie schaute aus dem Fenster. Draußen war es stockdunkel, bis zu ihrem Zuhause lag ein guter Kilometer Fußmarsch vor ihr.
Sie zögerte. Sie würde mindestens zwanzig Minuten brauchen, um entlang der Anliegerstraße, die parallel zur Interstate verlief, nach Hause zu laufen, doch für gewöhnlich dehnten sich Glorias halbe Stunden zu einer ganzen, wenn nicht gar zu zweien aus, und Rosalie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich daheim zu sein, die Treppe hinauf in ihr Zimmer zu huschen, sich aufs Bett fallen zu lassen und sich eine Folge Big Brother oder Keeping Up With the Kardashians reinzuziehen. Außerdem steckte sich Gloria mit Sicherheit eine Zigarette an, sobald sie im Wagen saß, und es war zu kalt, um die Fenster ihres alten Dodge herunterzukurbeln.
»Nein danke, ich gehe lieber zu Fuß.«
Gloria runzelte die Stirn. »Es gefällt mir nicht, dass du so ganz allein durch die Dunkelheit läufst.«
»Ist ja nicht mehr für lange«, erinnerte Rosalie sie und steckte das Trinkgeld in die Tasche ihrer Jacke, die sie von einem Garderobenhaken neben der offenen Hintertür genommen hatte. »Ich werde den Toyota meines Onkels kaufen. Mir fehlen nur noch dreihundert Dollar.«
»Es fängt an zu regnen.«
»Ist schon okay. Wirklich.«
»Pass auf dich auf.« Gloria zog die Augenbrauen unter ihren strohblonden Ponyfransen zusammen. »Wie ich schon sagte, das gefällt mir gar nicht.«
Rosalie schloss den Reißverschluss ihrer Jacke und trat in die pechschwarze Nacht hinaus, noch bevor Gloria sie davon abhalten konnte. Ehe die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie Gloria zu Barry, dem Koch, sagen: »Ich weiß nicht, was sich ihre Mutter dabei denkt. Ein junges Mädchen so spät am Abend allein nach Hause gehen zu lassen!«
Sharon dachte gar nicht, und genau das war das Problem. In den Gedanken von Rosalies Mutter kam Rosalie kaum vor, und zwar wegen Mel, diesem Widerling, Sharons aktuellem Ehemann. Mel, Göttergatte Nummer vier, war ein vierschrötiger, bärbeißiger Kerl, ein weiterer Loser in der Reihe von Sharons Ehemännern, was Sharon allerdings nicht zu begreifen schien. Für sie war er »der Eine«, ihr »Seelenverwandter«. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, würde den fetten, biertrinkenden Dauerfernsehkonsumenten namens Mel Updike als »Seelenverwandten« bezeichnen. Er besaß ein ziemlich cooles Motorrad, aber das war auch schon das einzig Gute an ihm. Die Tatsache, dass Mel Rosalie anzügliche Blicke zuwarf, machte die Sache nicht gerade besser. Er hatte bereits fünf Kinder von verschiedenen Ex-Frauen und -freundinnen, die von L. A. bis Seattle verstreut waren. Rosalie hatte das zweifelhafte Vergnügen genossen, jeden einzelnen seiner Sprösslinge kennenzulernen, und sie hatte jeden einzelnen – allesamt Miniatur-Mels, allesamt Loser wie ihr fettbäuchiger Vater – auf den ersten Blick gehasst. Sie dachte an die Haare auf Mels Bierwampe und schüttelte sich. Mein Gott, hatte der Kerl noch nie etwas von Wachsen gehört? Offenbar nicht, genauso wenig wie er wusste, dass man bei Tisch nicht rülpste und furzte.
Seelenverwandter. Was für ein himmelschreiender Unsinn!
Sharon musste völlig durchgeknallt sein.
Rosalie steckte die Hände in die Taschen und schloss die Finger um das Geld, das sie im Futter ihrer Kapuzenjacke versteckt hatte – ein Geschenk ihres richtigen Vaters. Sie ließ die Jacke nie aus den Augen, immerhin hatte sie darin schon fast neunhundert Dollar gehamstert. Sie musste vorsichtig sein, sonst würde sich noch Mel oder einer seiner langfingrigen Söhne damit aus dem Staub machen. Von dem Geld wollte sie sich ein Auto kaufen – besagten Toyota. Ihre Mutter hatte ihr verboten, ein eigenes Auto anzuschaffen, solange sie den Wagen nicht bar bezahlen konnte und darüber hinaus noch genug Geld für sechs Monate Kfz-Steuer und -Versicherung übrig hatte.
Das nervte.
Alles nervte.
Ihr ganzes verfluchtes Leben nervte.
Inzwischen regnete es in Strömen, die Tropfen peitschten ihr ins Gesicht, bildeten Pfützen auf dem Kies des Randstreifens. Jetzt wünschte sie sich doch, sie hätte auf Gloria gewartet. Im Qualm zu sitzen war immer noch besser, als durch den strömenden Regen zu latschen.
Sie konnte es kaum erwarten, aus dem elenden Kaff hinauszukommen, in das ihre Mutter, die dem schleimigen Mel hinterhergerannt war, sie verschleppt hatte. Wütend trat sie gegen die Kieselsteine, neidisch auf die Leute, die in ihren Wagen über die nahe gelegene Interstate brausten – die Scheinwerfer hell in der Schwärze der Nacht, die Reifen summend auf dem nassen Asphalt –, während sie hier gefangen war.
Doch sobald sie ihr eigenes Auto hätte, wäre sie weg! In fünf Monaten wurde sie achtzehn und würde Sharon und Mel mit seinem Haarpullover verlassen und nach Denver fahren, wo ihr Vater und der Junge, den sie im Internet kennengelernt hatte, auf sie warteten.
Noch dreihundert Dollar und fünf Monate.
Mehr nicht.
Eine heftige Windböe fuhr ihr unter die Jacke. Rosalie schauderte. Vielleicht sollte sie einfach umkehren und Gloria bitten, sie nach Hause zu fahren. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch die Neonlichter des Diners waren nicht mehr zu sehen. Die halbe Strecke hatte sie schon geschafft.
Rosalie fing an zu laufen.
Ein einzelnes Fahrzeug bog in die Straße ein und schloss zu ihr auf, die grellen Scheinwerferkegel durchschnitten die nächtliche Dunkelheit. Ihre Nikes gerieten auf dem nassen Seitenstreifen ins Rutschen. Das dumpfe, laute Dröhnen des Motors kam näher – ein Truck, zumindest aber ein großer Pick-up, kein normaler Wagen. Nun, das war hier draußen nichts Ungewöhnliches, viele Fernfahrer legten im Columbia Drive eine Pause ein, und Pick-ups gab es rund um Stewart’s Crossing zu Hunderten. Sie erwartete, dass der Truck an ihr vorbeifuhr, und duckte sich in weiser Voraussicht vor dem aufspritzenden Fahrwasser, doch das Fahrzeug – ein dunkler Pick-up – bremste ab und fuhr langsam an ihr vorbei.
Geh einfach weiter, dachte sie. Anstatt zu joggen, schlug sie ein normales Tempo an, doch plötzlich sah sie, wie vor ihr die Bremslichter aufleuchteten – zwei rote Punkte in der Nacht.
Und jetzt?
Sie ging weiter, wollte einen Bogen um den Pick-up machen, hoffte, es sei nur Zufall, dass der Wagen angehalten hatte. Aber es war kein Zufall. Das Beifahrerfenster glitt hinunter.
»Rosie?«, fragte eine Männerstimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam, aus der dunklen Fahrerkabine. »Bist du das?«
Geh weiter.
Sie blickte nicht auf.
»He, ich bin’s.« Die Innenbeleuchtung wurde eingeschaltet, und sie erkannte den Fahrer, der Stammgast im Diner war. Er beugte sich über den Beifahrersitz zu ihr und fragte: »Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein danke, es ist nur noch ein kleines Stückchen.«
»Du bist doch klatschnass«, sagte er besorgt.
»Das ist schon okay.«
»Na los, spring rein. Ich fahre dich nach Hause.« Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür.
»Ich möchte nicht –«
»Deine Entscheidung, aber ich fahre direkt bei dir zu Hause vorbei.«
»Sie wissen, wo ich wohne?« Seltsam.
»Du hast doch gesagt, du wohnst an der Umpqua Road.«
Hatte sie das tatsächlich erwähnt? Möglich. »Das weiß ich gar nicht mehr.« Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr der kalte Regen den Nacken hinabrann. Das Innere des Pick-ups sah einladend aus. Sauber. Warm. Trocken. Im Radio lief ein Westernsong.
»In drei Minuten bist du zu Hause.«
Tu’s nicht!
Eine neuerliche Windböe fuhr ihr unter die Jacke. Fröstelnd schob Rosalie ihre Bedenken beiseite. Sie kannte den Kerl, hatte ihn mehrmals bedient. Er war einer der besseren Stammgäste. Sah nicht schlecht aus, machte ihr stets ein Kompliment und gab gutes Trinkgeld.
»Na schön.« Sie stieg in den Pick-up und zog die Tür zu, doch das Schloss wollte nicht richtig einrasten.
»Lass mich mal machen«, sagte er. »Verdammtes Ding.« Er beugte sich über sie und machte sich an der Tür zu schaffen. »Probierst du’s bitte noch mal?«
»Klar.« Rosalie streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Plötzlich schnappte kaltes Metall um ihr Handgelenk. »He! Was zum Teufel machen Sie da?«, rief sie panisch und versuchte, die Hand wegzuziehen, doch sie war mit Handschellen an den Türgriff gefesselt.
»Ganz ruhig, Rosie.«
»Ich soll ruhig bleiben? Was soll das?« Wütend und verängstigt zugleich, mühte sie sich mit der Tür ab, doch sie war verriegelt. »Lass mich raus, du Scheißkerl!«
Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Rosalie schrie auf.
»Solche Worte dulde ich nicht«, warnte er sie.
»Wie bitte?« Sie holte mit ihrer freien Hand aus, doch er schnappte ihr Handgelenk.
»Ah, Süße … Du musst noch einiges lernen.« Ohne ihre Hand loszulassen, drückte er aufs Gas und fuhr Richtung Interstate-Auffahrt.
»Lass mich raus!«, schrie sie aus Leibeskräften, trat gegen das Armaturenbrett und warf sich im Sitz vor und zurück. Ihr Absatz traf gegen den Suchlauf des Radios, aus den Lautsprechern tönte Werbung.
Lieber Gott, was hatte das zu bedeuten? Was hatte er mit ihr vor?
Irgendwie musste sie hier rauskommen. Egal wie.
»Ich – ich habe Geld«, sagte sie, doch er ging nicht darauf ein.
»Dein Geld interessiert mich nicht«, sagte er freundlich, was ihn umso unheimlicher erscheinen ließ. Sein Lächeln war so kalt wie der Wind, der durch die Schluchten des Columbia River heulte. »Ich will dich.«
»Mom!«, hallte Gracies Stimme durchs Haus. »Mom!«
Sarah riss die Augen auf und setzte sich kerzengerade in ihrem Schlafsack auf. Ihr Herz hämmerte. »Gracie?« Es war dunkel im Zimmer, die Kohlen eines Holzfeuers warfen ihren rotglühenden Schein auf die Wände.
»Gracie?«, rief sie noch einmal, mit der einen Hand nach dem Schlafsack neben ihrem, mit der anderen nach der Taschenlampe tastend. »Wo bist du?«
Der Schlafsack war leer.
Ein Schauder lief ihr den Rücken hinab.
»Gracie?« Sie schaltete die Taschenlampe an, öffnete ihren Schlafsack und kam mit einem Satz auf die Füße. »Gracie?«
»Hier!«, ertönte es voller Panik. Sarah folgte der Stimme aus dem großen Wohnzimmer hinaus, das früher einmal als »Gesellschaftszimmer« gedient hatte, und richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Fußboden des Flurs.
»Ich komme!«, rief sie, bemüht, das furchtsame Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Beeil dich, Mom«, jammerte Gracie. »Ich hin hier oben!«
Sarah erreichte den Fuß der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, und drückte auf den Lichtschalter. Im weichen, goldenen Licht der alten Wandleuchter hastete sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. »Gracie! Wo bist du?«
»Auf der Treppe«, antwortete ihre Tochter, die jetzt schon weniger panisch klang.