Zapfenstreich - Ford Madox Ford - E-Book

Zapfenstreich E-Book

Ford Madox Ford

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Beschreibung

Der letzte Band der großen Tetralogie Das Ende der Paraden. Bewegungslos und unfähig, ein Wort zu sagen, liegt Mark Tietjens auf einer überdachten Krankenliege vor Groby Hall, dem Gutshaus der altehrwürdigen englischen Familie. Der Schlag hat ihn getroffen, als er am Tag des Waffenstillstands erfuhr, dass die Alliierten darauf verzichteten, nach Deutschland einzumarschieren, um den Feind endgültig zu besiegen. Aber Frieden und Ruhe findet Mark auch auf dem Krankenbett nicht – die Frau seines Bruders Christopher will den Familiensitz an eine reiche und vulgäre Amerikanerin vermieten; und zwar nur, um ihn zu ärgern und die Familie zu demütigen. Seit Jahren schon führt sie einen erbitterten Ehekrieg gegen ihren Mann, der inzwischen verarmt ist und sich in die Arme einer Geliebten geflüchtet hat. Den letzten und abschließenden Band seiner großen Tetralogie Das Ende der Paraden erzählt Ford aus der Perspektive des gelähmten Bruders, um den herum die Schlachten und Intrigen toben. Einmal mehr gelang Ford mit seinem unverwechselbaren Stil ein atemberaubender Roman über einen Ehekrieg, der literarische Maßstäbe setzte. So wie die gesamte Tetralogie Maßstäbe setzte: neben Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und Joyces Ulysses gilt sie als Markstein der europäischen Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, als wegweisende literarische Auseinandersetzung mit den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs – bis in persönliche Verhältnisse hinein.

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Seitenzahl: 380

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Ford Madox Ford

Zapfenstreich

Band 4 der Tetralogie »Das Ende der Paraden«

Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Joachim Utz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ford Madox Ford

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Motto

Teil Eins

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

Teil Zwei

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

Anhang

Die drei Widmungsbriefe zu Ende der Parade

Nachwort

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Das englische Original erschien unter dem Titel »The Last Post« im Jahr 1928 bei Duckworth & Co in London.

Im Sinne der Originaltreue wurden bei der Übersetzung gewisse systematische und grammatikalische Inkonsistenzen in Kauf genommen.

Inhaltsverzeichnis

Oh Rokehope is a pleasant place

If the fause thieves would let it be

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

I

Von seinem Lager starrte er in das Weidengeflecht, mit dem sein strohgedeckter Unterstand verspannt war; die Wiesen waren eine grüne Unendlichkeit; vier Grafschaften lagen in seinem Blickfeld; sechs niedrige, grob behauene junge Eichenstämmchen trugen das Dach, auf das die Zweige eines Apfelbaums hingen. Französischer Holzapfel! Die Hütte hatte keine Wände.

Ein italienisches Sprichwort lautete: Wer einen Baum über sein Dach wachsen lässt, lädt sich den Arzt zum täglichen Besuch. So ungefähr hieß es! Er hätte gerne gegrinst, aber das hätte jemand sehen können.

Für einen Mann, der sich nicht mehr von der Stelle rührte, war sein Gesicht sehr gebräunt, walnussfarben; sein Kopf, der sich ins Magermilchweiß der Kissen eindrückte, hätte einem Zigeuner gehören können mit dem dunklen, angegrauten, ganz kurz geschnittenen Haar, dem tadellos rasierten, vollkommen regungslosen Gesicht. Die Augen bewegten sich jedoch mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, denn in ihnen und in den Lidern versammelte sich alles Leben dieses Mannes.

Den Pfad hinab, den man in das kniehohe Gras gemäht hatte und der vom Stall zu der Hütte führte, ging schwerfällig rudernd ein älterer Bauer. Seine überlangen, behaarten Arme schwangen hin und her, als fehlten ihm eine Axt oder ein Holzklotz oder ein voller Sack, um ihn zu einem vollständigen Mann zu machen. Er war von breitem Wuchs und steckte in einer um das Gesäß sehr engen Kniehose aus Cord; er trug schwarze Strümpfe, eine blaue ärmellose Jacke, die er aufgeknöpft hatte, ein gestreiftes, am schweißglänzenden Hals offenes Flanellhemd und einen eckigen, hohen Hut aus schwarzem Filz.

Er fragte:

»Woll’n Sie umgedreht werden?«

Der Mann im Bett senkte langsam die Augenlider.

»Woll’n Sie ’nen Schluck Most?«

Wie zuvor senkte der Angesprochene die Augenlider. Der stehende Mann hielt sich mit seiner riesigen Hand wie ein Gorilla an einem der Eichenpfosten fest.

»Nie so ’nen guten Most getrunken«, sagte er, »wie den bei Seiner Lordschaft. Sagt Seine Lordschaft zu mir: ›Gunning‹, hat er gesagt … War an dem Tag, als die Füchsin ins Hühnergehege des Wildhüters eingebrochen ist …«

Umständlich erzählte er eine sehr lange Geschichte, um zu beweisen, dass ein englischer Landedelmann den Fuchs dem Fasan vorzieht. Oder vorziehen sollte! Wenn es ein englischer Landedelmann von echtem Schrot und Korn ist.

Keine Rede konnte für seine Lordschaft davon sein, die Füchsin schießen zu lassen oder nur zu stören, trächtig, wie sie nun mal war … Schrecklich, was ’ne trächtige Füchsin mit Fasanenküken im Hühnerstall anstellen kann … Muss ja auch für sechse oder sieben fressen, klar! Sind doch alle im Wachsen … hatte Seine Lordschaft zu Gunning gesagt …

Und dann die Beschreibung des Mosts … Herb! Herb wie die Heide und stark wie Gift. Körper hatte er gehabt. Kraft hatte er gehabt. Klar auch, bei Most, der zehn Jahre alt ist. Keinen einzigen Tropfen hatte es im Haus Seiner Lordschaft zu trinken gegeben, der nicht zehn Jahre im Fass gewesen war. Jede Woche hatte er drei Schafe geschlachtet für Haus- und Hofgesinde. Und dreihundert Tauben. Hundert Fuß ist der Taubenturm hoch, und die Tauben nisten in Löchern in der Innenwand. Verscheuchte die Tauben aus ’ner ganzen Wand mit einem Schlag und holt die Küken. Die Zeiten sind nicht mehr, was sie mal war’n, aber seine Lordschaft hält durch. Und so bleibt’s auch!

Der Mann im Bett – Mark Tietjens – hing seinen eigenen Gedanken nach:

Langsam, mit schlenkernden Armen, stapfte der alte Gunning davon und den Pfad zum Stall hinauf. Der Stall hatte ein mit Ziegeln ausgebessertes Strohdach und war nicht das, was man im Norden unter einem richtigen Stall verstand – es war ein Platz, wo sich die alte Stute mit Hühnern und Enten zusammen unterstellen konnte. Die Leute aus dem Süden wussten einfach nicht, was Ordnung hieß. Sie lag ihnen nicht im Blut, obwohl Gunning akkurat Stroh zu binden und eine Hecke sauber zu schneiden verstand. Vielseitiger Mann. Wirklich ein vielseitiger Mann, in sehr vielen Dingen beschlagen. Er wusste alles über die Fuchsjagd, die Aufzucht von Fasanen, die Jägerei, die Anlage von Hecken, von Entwässerungsgräben und über die Jagdgewohnheiten König Edwards. Der pausenlos große Zigarren rauchte! Die eine fertig rauchen, die nächste anzünden und dann den Stummel wegwerfen …

Fuchsjagd, der Sport der Könige, nicht halb so gefährlich wie Krieg! Er, Mark Tietjens, hatte sich nie etwas aus der Fuchsjagd, nie etwas aus der Jagd auf Fasanen gemacht, und nie mehr würde er noch einmal an einer Jagd teilnehmen. Nicht, weil er nicht konnte; nein, weil er von nun an nicht mehr wollte … Es ärgerte ihn, dass er sich nie die Mühe gemacht hatte, nachzulesen, was genau Jagos Worte waren, ehe er denselben Entschluss wie jener gefasst hatte … Von jetzt an rede er nie mehr ein Wort … Ungefähr in diesem Sinne: Aber das war keine Blankverszeile.

Vielleicht hatte Jago nicht in Blankversen gesprochen, als er denselben Entschluss wie Mark Tietjens fasste … Ich den beschnittnen Hund beim Hals ergriff und ihn erschlug … Guter Mann, der Shakespeare! Irgendwie auch so ein Alleskönner. Vermutlich ganz ähnlich wie Gunning. Wusste Bescheid über die Jagdgewohnheiten von Königin Elisabeth; sehr wahrscheinlich auch über die Anlage von Hecken, wie man ein Dach mit Stroh deckt, wie man einen Hirsch oder einen Hasen oder ein Schwein ausweidet, wie man jemanden vorlud und wie man schlechtes Französisch schrieb. War mit einer französischen Familie zusammen irgendwo bei den Kreuzbrüdern oder den Minoriten einquartiert gewesen. Irgendwo.

Die Enten auf dem Teich droben auf der Anhöhe machten einen Mordslärm. Im Sonnenlicht stapfte der alte Gunning zwischen Stallwand und Himbeerstauden hügelan. Der ganze Garten lag am Hang. Mark schaute übers Gras hinweg zur Hecke hinauf. Wenn sie sein Bett herumdrehten, schaute er hinab aufs Haus. Ein Haus aus grob behauenem grauem Stein.

Wenn sie das Bett halb herumdrehten, schaute er auf die berühmten vier Grafschaften; war es halb in die andere Richtung gedreht, konnte er über eine steile Grasböschung bis zur Hecke an der Straße sehen. Jetzt schaute er hügelwärts über die Spitzen des Grases hinweg, das reif zum Mähen war, über die Himbeerstauden an der Hecke, die Gunning gleich schneiden würde … Rücksichtsvoll waren sie zu ihm, allesamt. Immer dachten sie sich etwas aus, um ihm Abwechslung zu verschaffen. Die er aber nicht brauchte. Er hatte Abwechslung genug.

Den Pfad hinauf, der oberhalb, jenseits der Hecke, durch einen Grashang lief, gingen die Elliotkinder – ein hoch aufgeschossenes, dünnes Mädchen von zehn Jahren mit sehr langem strohblondem Haar; ein dicker Junge von fünf Jahren in einem Matrosenanzug – beide starrten vor Schmutz. Das Mädchen hatte zu lange Beine und dünne Gelenke, ihr Haar war kraftlos … Kriegsbedingte Unterernährung im Kindesalter! Nun, daran war er, Mark Tietjens, nicht schuld. Er hatte dem Land die Transportmittel besorgt, die es brauchte: Das Land hätte die Lebensmittel auftreiben müssen. Hatte es aber nicht, sodass die Kinder lange, dünne Beine hatten und auf Pfeifenstielen hervorstehende Handgelenke. Diese ganze Generation! … Nicht seine Schuld! Er hatte das Transportwesen organisiert, wie es organisiert werden musste. Seine Abteilung hatte das getan. Seine eigene Abteilung, die er selbst aufgebaut hatte, zuerst als zweiter Sekretär auf Zeit und schließlich als leitender Beamter auf Lebenszeit; er hatte sie aufgebaut, vom Tag seines Dienstantritts vor dreißig Jahren bis zum Tag, an dem er beschlossen hatte, nie mehr ein Wort zu sprechen.

Oder jemals einen Finger zu rühren! Dass er auf dieser Welt und in diesem Land war, konnte er nicht ändern. Jetzt aber sollten die anderen für ihn sorgen, denn er war fertig mit allem … Er kannte die Zuchtlinien jedes Pferdes von Eclipse bis Perlmutter auswendig. Mehr brauchte er nicht. Sie sorgten dafür, dass er alles zu lesen bekam, was es über Pferderennen zu lesen gab. Er hatte Abwechslung genug!

Die Enten auf dem Teich droben auf dem Hügel schrien immer noch, klatschten mit den Flügeln das Wasser schaumig und quakten. Wären es Hühner gewesen, hätte es etwas zu bedeuten gehabt – zum Beispiel, dass ein Hund hinter ihnen her war. Bei Enten hatte es nichts zu bedeuten. Sie wurden einfach toll und steckten sich gegenseitig an. Wie Völker oder das Vieh in einer Grafschaft.

Im Vorübergehen pflückte Gunning von den Himbeerstauden die eine oder andere Fruchtknospe und zerquetschte die blassen Gebilde zwischen Zeigefinger und Daumen. Schaute, ob sie Maden hatten. Das Laub der Himbeere war blassgrün: Unter den sonst so robusten Rosazeen war sie eher schwächlich. Das lag aber nicht an Nahrungsmangel, sondern an der Art. Ihre Versorgung mit Nährstoffen funktionierte durchaus, aber vermutlich brauchte sie nicht viel. Gunning fing an, die Hecke mit kräftigen, streifenden Schlägen seiner Sichelhaue zu stutzen. Immer noch wuchsen viel zu viele Brombeeren in der Hecke: In einer Woche würde sie wieder verwildert sein.

Sie hielten die Hecke so niedrig, um ihm etwas Unterhaltung durch die Leute zu verschaffen, die den Pfad benutzten, obwohl sie sie am liebsten so hoch hätten wachsen lassen, dass niemand in den Obstgarten hätte schauen können … Nun, er hatte Leute hier vorbeigehen sehen. Mehr, als sie sich vorstellten! … Was, zum Teufel, führte Sylvia im Schilde? Und Edward Campion, der alte Esel? … Nun, er, Mark, würde sich nicht einmischen. Ohne Zweifel war irgendetwas im Busch … Marie Léonie – früher Charlotte – kannte keinen der beiden Hübschen vom Ansehen: Bestimmt aber hatte sie beobachtet, wie sie über die Hecke nach unten spähten …

Fürsorglich, wie sie waren, hatten sie außerdem am linken Eckpfosten seines Unterstandes ein breites Brett angebracht. Damit ihn die Vögel unterhielten. Dabei hatte sein Interesse eigentlich immer größeren Tieren gegolten! … Eine Hecken-braunelle, lautlos, unscheinbar grau, geisterhaft saß auf diesem Brett. Sie huschte durch die Hecken, in denen sie sich versteckte. Für ihn war es ein amerikanischer Vogel – vielleicht nur deshalb, weil es da drüben so viele Amerikaner gab, auch wenn er nie welche sah … So etwas wie eine stumme Nachtigall, schmächtig, lang, dünnschnäbelig, fast ohne Zeichnung, wie es sich für einen Vogel gehört, der selten das Licht der Sonne sieht, sondern im tiefen Dämmer dichter Hecken lebt … Amerikanisch, weil sie einen scharlachroten Buchstaben tragen müsste. Fast alles, was er über Amerika wusste, stammte aus einem Buch, das er einmal gelesen hatte – über eine Frau wie eine Heckenbraunelle, die sich heimlich im Gebüsch verkroch und in Schwierigkeiten mit einem Priester geriet … Aber es gab bestimmt auch andere Typen.

Dieser flattrige, schmächtige, offenkundig puritanische Vogel steckte jetzt sein dünnes Schnäbelchen in das Bratenfett, das Gunning für die Meisen auf das Brett gestrichen hatte. Weidenmeise, Kohlmeise, Schwanzmeise … alle Meisen liebten Bratenfett. Die Heckenbraunelle offenbar nicht; das Bratenfett war an jenem milden Junitag ölig geworden. Die Heckenbraunelle kaute mit dem unteren auf dem oberen Schnabelteil, die beide ganz fettig waren, pickte aber nichts mehr von dem Bratenfett auf. Sie schaute Mark in die Augen. Weil diese sie bewegungslos musterten, stieß sie einen langen Warnruf aus und huschte geräuschlos dorthin, wo man sie nicht mehr sehen konnte. Alle Wesen, die in Hecken leben, nehmen keine Notiz von einem, solange man weitergeht und sie nicht beachtet. Bleibt man aber stehen und blickt sie an, warnen sie die übrige Hecke und huschen davon. Bestimmt hatte diese Heckenbraunelle Junge in Hörweite. Der Warnruf mochte aber auch der ganzen Vogelgesellschaft gegolten haben.

Marie Léonie, geborene Riotor, stieg die Stufen und dann den Pfad herauf. Er erkannte sie an ihrem Atem. In einer langen Schürze aus bedruckter Baumwolle, die ihre Figur verbarg, stand sie mit einem Teller Suppe in den Händen neben ihm und sagte:

»Mon pauvre homme! Mon pauvre homme! Ce qu’ils ont fait de toi!«

Sie hob zu einer atemlosen Rede auf Französisch an. Sie war der Typ der großen blonden Frau, wie man sie in der Normandie sieht; ihr ungewöhnlich blondes Haar war für eine Frau in den Vierzigern üppig und auffällig. Sie lebte jetzt seit zwanzig Jahren mit Mark Tietjens zusammen, hatte sich aber immer geweigert, auch nur ein Wort Englisch zu sprechen, weil sie eine unbezwingbare Verachtung sowohl für die Sprache als auch für die Menschen ihrer Wahlheimat empfand.

Ihre Rede sprudelte. Das kleine Tablett mit dem Teller voll rötlich-gelber Suppe hatte sie auf ein glattes Holzbrett gestellt, das man auf einer Spindel unter dem Bett hervordrehen konnte; in der Suppe war ein glänzendes Fieberthermometer, das sie von Zeit zu Zeit bewegte und betrachtete, neben dem Teller eine gläserne Spritze mit Messstrichen. Ils – Sie – so sagte sie, hätten sich verschworen, um ihre Gemüsesuppe ungenießbar zu machen. Sie wollten ihr nicht navets de Paris geben, sondern welche, die rund wie Knöpfe seien; sie schafften es, dass die Karotten unten pourris waren; die Lauchstangen hätten die Konsistenz von Holz. Sie wollten ihm die Gemüsesuppe vorenthalten, weil sie meinten, dass Fleischbrühe besser für ihn sei. Sie seien Kannibalen. Nur Fleisch, Fleisch, Fleisch! Dieses Mädchen! … In Gray’s Inn Road habe sie immer Pariser Rübchen aus Jacopos Geschäft in der Old Compton Street bekommen. Es gebe keinen Grund, in diesem Boden keine navets de Paris anzubauen. Das Pariser Rübchen sei fassförmig und rund, rund, rund wie ein süßes, kleines Schweinchen bis zu der Stelle, wo es in sein lustiges Schwänzchen übergehe. Das sei ein Rübchen, an dem man einfach seine Freude habe, das einen auf andere Gedanken bringen und über das man ins Schwärmen geraten könne. Ils – er und sie – seien unfähig, sich von einem Rübchen auf andere Gedanken bringen zu lassen.

Gelegentlich stieß sie zwischen ihren Sätzen hervor:

»Mein armer Mann! Was haben sie aus dir gemacht?«

Ihr Redefluss überströmte Mark wie ein Wasserschwall einen Gitterrost, sodass nur hin und wieder ein paar Wendungen davon bei ihm hängen blieben. Es war ihm nicht unangenehm, weil er seine Frau mochte. Sie hatte eine Katze, die sie dazu erzogen hatte, freitags auf Fleisch zu verzichten. In Gray’s Inn Road, in einem großen Zimmer, das mit unzähligen Miniaturen und Scherenschnitten geschmückt war, die Mitglieder der Familie Riotor und ihrer Nebenlinien darstellten, war das leichter gewesen. Sowohl Mme Riotor mère als auch Mme Riotor grand-mère hatten Miniaturen gemalt, und Marie Léonie besaß ein paar verblüffend weiße Skulpturen von dem berühmten Bildhauer Casimir-Bar, der zeitlebens ein Freund ihrer Familie gewesen war und dem nur aufgrund einer Verschwörung nie ein Orden verliehen worden war. Er hatte deshalb nur Verachtung für Orden und Ordensträger übrig. Früher hatte Marie Léonie die Angewohnheit gehabt, die weitschweifigen Ausführungen Monsieur Casimir-Bars zum Thema Orden ausführlich wiederzugeben. Seit jedoch ihm, Mark, von seinem Souverän ein Ehrentitel verliehen worden war, hatte sie es seltener getan. Sie gab zu, dass die heutige Demokratie nicht mehr über jene gediegenen Werte verfügt, welche die Demokraten zu der Zeit ihrer Eltern noch ausgezeichnet hatten; deshalb sei es besser, sich zu caser – also ein Unterkommen zu finden bei jenen, die der Staat auszeichnete.

Das Rauschen ihrer tiefen, nicht unangenehmen Stimme hielt an. Mark betrachtete sie mit der ironischen Nachsicht, die man einem Kind einräumt. Aber als er noch im Geschirr war, hatte er stets zu innerer Ruhe gefunden, wenn er donnerstags und montags, nicht selten auch mittwochs, wenn keine Pferderennen stattfanden, nach Hause kam. Er hatte zu innerer Ruhe gefunden, wenn er aus einer Welt voller inkompetenter Idioten nach Hause kam und dieses Kopfes Ansichten zur Weltlage hörte. Sie hatte ihre eigene Meinung über Tugend, Stolz, Niedergänge, Laufbahnen, die Eigenarten von Katzen, über Fische, die Geistlichkeit, über Diplomaten und Soldaten und leichte Frauen, über den heiligen Eustachius, Präsident Grévy, Lebensmittellieferanten, Zollbeamte, Apotheker, die Seidenweber von Lyon, Gastwirte, Henker und die Garotte, Schokoladenhersteller, Bildhauer außer M. Casimir-Bar, Liebhaber verheirateter Frauen, Hausmädchen … Eigentlich war ihr Hirn wie ein Schrank, angefüllt und vollgepackt mit den unterschiedlichsten Gegenständen, Werkzeugen, Gefäßen und Abfällen. Ging eine seiner Türen einmal auf, wusste man nie, was alles herausfallen und was noch alles hinterherkommen würde. Für Mark war das so erholsam wie es Reisen in ferne Länder hätten sein können – nur, dass er nie im Ausland gewesen war außer damals, als sein Vater, bevor er Groby übernahm, der Erziehung seiner Kinder wegen in Dijon gelebt hatte. Deshalb konnte er Französisch.

Eine andere Eigenart ihrer Konversation amüsierte ihn immer wieder: Am Ende kam sie stets auf das Thema zurück, mit dem sie begonnen hatte. Dementsprechend musste sie heute, nachdem es ihr beliebt hatte, mit navets de Paris zu beginnen, auch mit Pariser Rübchen schließen. Es machte ihm Spaß zu beobachten, wie sie es immer wieder schaffte, auf ihr Anfangsthema zurückzukommen. So konnte es passieren, dass sie gerade längere Ausführungen über Panzerschiffe abschließen wollte, aber blitzschnell zu Eierpudding zurückkehren musste, weil es an der Haustür schellte, während ihr Dienstmädchen Ausgang hatte, und doch die Überleitung schaffte, noch ehe sie die Tür öffnete. Ansonsten war sie anspruchslos, klug und von besonders frischem und gesundem Aussehen.

Während sie ihm seine Suppe einflößte, indem sie ihm die gläserne Spritze in halbminütigen mithilfe ihrer Armbanduhr kontrollierten Abständen zwischen die Lippen steckte, redete sie über Möbel … Ils wollten sie nicht diese Art Kaninchenställe, die im Salon standen, mit der Politur behandeln lassen, die sie aus Paris mitgebracht hatte. Und als sie einen Sessel in wirklich erbärmlichem Zustand damit aufpoliert hatte, habe Monsieur Schwager echte Bestürzung an den Tag gelegt, über die sie sich richtig amüsiert habe. Möglicherweise seien altersschwache oder unelegante Möbel ja gerade in Mode. Dass sie ihr nicht erlaubt hätten, den neu vergoldeten Sessel ihrer verstorbenen Mutter oder die Figurengruppe des verstorbenen Monsieur Casimir-Bar, die Niobe mit einigen ihrer Kinder darstellte, oder die Kaminuhr, die eine genaue Bronze-Nachbildung des Medici-Brunnens im Pariser Jardin de Luxembourg sei, im Salon aufzustellen – das sei eine Frage des Geschmacks. Elle mochte es sehr wohl als Ärgernis empfinden, dass sie, Marie Léonie, Kunstgegenstände von so anerkanntem Rang besitze. Denn könne es etwas geben, das man mit einem frisch vergoldeten und aufgepolsterten Sessel aus dem Second Empire vergleichen dürfe, der, sie könne es aller Welt versichern, so auf Hochglanz gehalten werde, dass es die Augen blende? Elle mochte es sehr wohl als Ärgernis empfinden, wenn man bedenke, dass der Rock, den sie bei der Gartenarbeit trage, etwas … Nun, kurz und gut, eben so sei, wie er sei! Trotzdem trete sie in diesem Rock dem Pfarrer unter die Augen. Und wie könne es sein, dass Il, der anerkanntermaßen ein Mann von Ehre und Feingefühl sei und im Ruf stehe, alles über diese und vielleicht auch die nächste Welt zu wissen – wie könne es sein, dass Er sich der unsäglich törichten Verschwörung gegen das Werk Casimir-Bars, des großen Genies, anschließe? Sie, Marie Léonie, könne verstehen, wenn Er es in seiner schwierigen Lage nicht gestatten wolle, im Salon Objekte aufzustellen, an denen Elle Anstoß nehmen könnte, weil zu ihren Besitztümern keine Kunstgegenstände gehörten, welchen die ganze Welt klassischen Rang zuerkenne, ganz zu schweigen von der Perlenkette, die sie, Marie Léonie, geborene Riotor, seiner, Marks, Großzügigkeit und ihrem eigenen guten Wirtschaften verdanke. Und noch andere kostbare und geschmackvolle Gegenstände. Dafür könne man ja Verständnis haben. Wenn eine Geliebte mit einer nur mäßigen Mitgift ausgestattet sei … ja, nennen wir es Mitgift … sie, Marie Léonie, sei nämlich gewiss niemand, sich kritisch über andere auszulassen, die sich in schwierigen Situationen befänden … Das stünde ihr auch ganz schlecht an! Dennoch lägen lange Jahre ehrlicher, anspruchsloser, regelmäßiger Lebensführung und Gepflegtheit … Und sie fragte Mark, ob er je in ihrem Empfangszimmer Spuren von Matsch gesehen habe, wie sie sie nun tatsächlich im Salon einer gewissen Person habe entdecken können. Ebenso könne sie einiges über den Zustand berichten, in dem sich das Innere des Schranks unter der Treppe einmal befunden und wie es hinter gewissen Kommoden in der Küche ausgesehen habe! Aber was wolle man tun, wenn man in der Führung von Hauspersonal keine Erfahrung habe sammeln können? … Gleichwohl gebe einem eine Reihe von in hausfraulicher Sparsamkeit verbrachten Jahren, die sie ja schon erwähnt habe, das Recht, kritische Bemerkungen – natürlich mit dem gebotenen Takt – über den ménage einer jungen Person zu machen, wenn auch deren delikate Situation sie vor unchristlichen Bemerkungen über gewisse andere Dinge bewahren sollte. Sie, Marie Léonie, sei jedoch der Meinung, vor einem Priester in einem Rock mit nicht weniger als drei sichtbaren tâches von Benzin aufzutreten, mit Handschuhen, die mit Erde verkrustet waren wie eine Trüffel im Teig vor dem Backen in der Asche – und dabei ausgerechnet einen kleinen Spaten zu halten … Und mit ihm zu lachen und zu scherzen! Die Situation verlange doch sicher nach einer gewissen – sollen sie es doch Zurückhaltung im Auftreten nennen. Sie sei weit davon entfernt, dem Priester die übertriebenen Privilegien zuzugestehen, auf die Priester gerne Anspruch erhöben. Geständen wir unseren soi-disant geistlichen Beratern alles zu, was sie gerne nähmen, habe der verstorbene Monsieur Casimir-Bar zu sagen gepflegt, blieben uns für unser Bett weder Laken, eiderdons, Kissen, Kopfkeil noch Rückenlehne. Sie, Marie Léonie, sei geneigt, Monsieur Casimir-Bar zuzustimmen, obwohl er als einer der Helden der Barrikaden von 1848 zu etwas extremen Ansichten geneigt habe. Immerhin ist ein englischer Pfarrer Staatsbeamter und sollte deshalb mit Anstand und einer gewissen Diskretion empfangen werden. Andererseits habe sie – Marie Léonie – vormals Riotor, deren Mutter eine geborene Lavigne-Bourdreau war und in deren Adern infolgedessen ein Schuss Hugenottenblut fließe, sodass man wohl erwarten dürfe, dass sie, Marie Léonie, wisse, wie sie einen protestantischen Geistlichen zu begrüßen habe – sie also, Marie Léonie, habe durch das kleine Fenster im Treppenhaus genau gesehen, wie Elle dem Geistlichen eine Hand auf die Schulter gelegt, auf die offene Haustür gedeutet habe – und zwar, man stelle sich vor, mit dem Setzholz – und gesagt habe – sie habe deutlich die Worte gehört: »Armer Mann, wenn Sie Hunger haben, gehen Sie ins Esszimmer. Dort treffen Sie Mr. Tietjens an, der gerade ein Sandwich isst. Das Wetter macht richtig hungrig!« Das war sechs Monate her, aber beim Gedanken an die Worte und die Geste sträubten sich Marie Léonie immer noch die Haare. Ein Setzholz! Auf jemanden mit einem Setzholz zu deuten; pensez-y! Warum dann nicht gleich mit einer main de fer, einer Kehrschaufel? Oder einem noch schlichteren Gerät? … Und Marie Léonie gluckste vor Lachen.

Ihre Großmutter Bourdreau erinnerte sich an einen fahrenden Geschirrhändler, der einmal ein gewisses Utensil – eine vase de nuit, die aber natürlich neu war – mit Milch gefüllt und sie kostenlos jedem Vorübergehenden angeboten hatte, der die Milch trinken wollte. Eine junge Frau namens Laborde nahm damals auf dem Marktplatz von Noisy-Lebrun seine Herausforderung an. Sie verlor darüber ihren Verlobten, der die Geste für unangemessen hielt. Ein Spaßvogel, dieser Geschirrhändler!

Aus ihrer Schürzentasche zog sie mehrere zusammengefaltete Zeitungsblätter und unter dem Bett einen doppelten Bilderrahmen hervor – zwei Rahmen, die so mit Scharnieren verbunden waren, dass sie zusammengeklappt werden konnten. Sie legte eine Seite der Zeitung zwischen die beiden Rahmen und hängte das Ganze an ein Stück Bilderdraht, das von dem Balken unter dem Strohdach herabhing. Zwei weitere Stücke Bilderdraht liefen von den Stützpfosten auf die rechte und linke Seite des Rahmens. Sie hielten ihn in stabiler Position und ein wenig zu Marks Gesicht geneigt. Sie bot einen erfreulichen Anblick, wenn sie die Arme nach oben streckte. Mit großer Kraft und unendlicher Besorgtheit hob sie seinen Oberkörper an, stützte ihn etwas mit den Kissen ab und prüfte, ob seine Augen auf das bedruckte Blatt fielen. Sie fragte ihn:

»Kannst du so gut sehen?«

Er verstand, dass er über das Newbury Summer Meeting und das von Newcastle lesen sollte. Er schloss die Augen zwei Mal, um so sein Ja zu signalisieren! In die ihren traten Tränen. Sie murmelte:

»Mon pauvre homme! Mon pauvre homme! Was haben sie dir angetan!« Aus einer anderen Tasche ihrer Schürze holte sie ein Fläschchen Eau de Cologne und einen Wattebausch. Diesen feuchtete sie an und tupfte damit, noch besorgter, zuerst sein Gesicht und dann seine mageren, mahagonifarbenen Hände ab, die sie aufgedeckt hatte. Sie erinnerte an Frauen, die man manchmal in Frankreich im August dabei antreffen kann, wenn sie an den Kirchenportalen ihrer verehrten Heiligen Jungfrau das weiße Seidengewand wechseln und das Gesicht waschen.

Dann trat sie zurück und redete lebhaft auf ihn ein. Er erfasste, dass das Fohlen des Königs den Berkshire Fohlenpreis gewonnen hatte und das Pferd eines Freundes das Seaton Delaval Hindernisrennen von Newcastle. Beides war zu erwarten gewesen. Sein Plan war es gewesen, dieses Jahr zum Rennen in Newcastle zu gehen und Newbury auszulassen. Das letzte Jahr, in dem er Pferderennen besucht hatte, war es sehr gut für ihn gelaufen, sodass er es zur Abwechslung mit Newcastle hatte probieren und, bei dieser Gelegenheit, auf Groby hatte vorbeischauen und nachsehen wollen, was dieses Luder Sylvia mit dem Haus anstellte. Nun, das hatte sich erledigt. Vermutlich würden sie ihn auf Groby begraben.

In innigem, dramatischem Tonfall sagte sie:

»Mein Mann!« Fast genauso gut hätte sie »Meine Gottheit!« sagen können. »Was für ein Leben führen wir hier? Hat es je etwas ähnlich Seltsames und Unsinniges gegeben? Lassen wir uns zu einer Tasse Tee nieder, kann sie uns jeden Augenblick vom Mund gerissen werden; lassen wir uns auf einem Sofa nieder – kann jeden Augenblick das Sofa verschwinden. Ich sage nichts dazu, dass du Tag wie Nacht immerzu hier im Freien liegst, weil ich weiß, dass es auf deinen Wunsch hin und mit deiner Zustimmung geschieht, dass du hier liegst, und nie will ich das, was du wünschst und billigst, ablehnen. Aber kannst du nicht veranlassen, dass wir in einem einigermaßen vernünftigen Haus wohnen, in einem, das besser für Menschen unseres Alters geeignet ist und ohne so viel Hin und Her und Ein und Aus? Du könntest es veranlassen. Du bist derjenige, der hier allein das Sagen hat. Ich kenne deine Vermögensverhältnisse nicht. Es war nie deine Art, mich darüber aufzuklären. Du hast mich aufs Angenehmste versorgt. Nie habe ich einen Wunsch geäußert, den du nicht erfüllt hättest, auch wenn man sagen kann, dass meine Wünsche stets vernünftig waren. Folglich weiß ich nichts darüber, obwohl ich einmal in einer Zeitung gelesen habe, dass du über außerordentliche Reichtümer verfügt hast, die sich kaum alle in Nichts aufgelöst haben können, weil es nur wenige Männer gibt, die so anspruchslos sind, und du immer Glück hattest und mäßig warst beim Wetten. Ich weiß also nichts, und ich würde es von mir weisen, mich bei anderen darüber zu erkundigen, weil ich dadurch zu verstehen gäbe, Zweifel an unserem Vertrauensverhältnis zu haben. Ich zweifle nicht daran, dass du für mein künftiges Wohlergehen Vorkehrungen getroffen hast, und bin mir sicher, dass sie Bestand haben werden. Es sind keine materiellen Ängste, die ich habe. Aber das Ganze hier kommt mir verrückt vor. Warum sind wir hier? Was hat das alles zu bedeuten? Warum wohnst du in diesem seltsamen Gebäude? Es mag ja sein, dass die frische Luft notwendig ist wegen deiner Krankheit. Ich glaube aber nicht, dass deine Wohnung immer gut gelüftet war, auch wenn ich sie nie gesehen habe. An den Tagen aber, die du mir geschenkt hast, war dir alles aufs Allerbequemste bereitet und du schienst zufrieden zu sein mit meinen Vorkehrungen. Und dein Bruder und seine Geliebte erweisen sich in sämtlichen anderen Bereichen des Lebens als so verrückt, dass ihre Verrücktheit sich auch auf diesen erstrecken mag. Warum also machst du dem Ganzen kein Ende? Du hast die Macht. Du hast hier alle Macht. Dein Bruder wird von einer Ecke dieses finsteren Ortes in die andere springen, um noch deinem kleinsten Wunsch zu entsprechen. Elle ebenso!«

Indem sie dabei die Hände nach oben reckte, glich sie einer Griechin, die eine Gottheit anrief, so groß und schön war sie, und so üppig blond ihr Haar. Und tatsächlich war seine Rätselhaftigkeit, war sein Schweigen für sie das Gebaren einer Gottheit, die sowohl nicht auszudenkende Pfeile versenden als auch unvorstellbare Vergünstigungen zu gewähren vermochte. Obgleich sich ihre Lebensumstände völlig verändert hatten, hatte sich daran nichts geändert, sodass seine Bewegungslosigkeit seine geheimnisvolle Ausstrahlung nur noch verstärkte. Nicht nur jetzt, sondern während ihres gesamten gemeinsamen Lebens hatte er immer geschwiegen, während sie redete. Vom Augenblick an, da sie ihm an den beiden Tagen der Woche, an denen er sie zu besuchen pflegte, um Punkt sieben Uhr abends die Tür öffnete und ihn mit seinem Bowlerhut auf dem Kopf, dem sorgfältig zusammengerollten Schirm und dem quer über der Brust hängenden Feldstecher erblickte, bis zu dem Augenblick am nächsten Morgen um halb elf, wenn sie seinen Bowler bürstete und ihm mit seinem Schirm zusammen reichte, redete er fast kein Wort – redete überhaupt so wenig, dass er den Eindruck absoluter Schweigsamkeit vermittelte, während sie ihn mit einem nimmer endenden Redefluss und mit Bemerkungen über Neuigkeiten aus dem Viertel unterhielt – über die französische Kolonie in jenem Teil von London oder über die Nachrichten aus französischen Zeitungen. Dabei pflegte er auf einem polsterlosen Lehnstuhl zu sitzen, leicht nach vorne gebeugt, mit kleinen Fältchen um die Mundwinkel, die den Eindruck eines ständigen milden Lächelns vermittelten. Gelegentlich legte er ihr nahe, auf ein bestimmtes Pferd einen halben Sovereign zu setzen; gelegentlich brachte er ihr ein opulentes Geschenk mit, schwere goldene Armreifen, reich ziseliert und mit großen Smaragden besetzt, prächtige Pelze, teure Koffer für ihre Reisen nach Paris oder im Herbst an die See. Dergleichen. Einmal hatte er ihr eine vollständige Ausgabe der Werke Victor Hugos in purpurnem Maroquin sowie sämtliche von Gustave Doré illustrierten Werke in grünem Kalbsledereinband geschenkt, einmal den in Silber gefassten Huf eines in Frankreich trainierten Rennpferdes als Tintenfass. An ihrem einundvierzigsten Geburtstag – sie wusste freilich nicht, wie er herausbekommen hatte, dass es ihr einundvierzigster war – hatte er ihr eine Perlenkette geschenkt und hatte sie in ein Hotel in Brighton ausgeführt, das von einem ehemaligen Berufsboxer geleitet wurde. Er bat sie, die Perlen beim Dinner zu tragen, aber gut auf sie aufzupassen, weil sie fünfhundert Pfund gekostet hätten. Einmal wollte er wissen, wie sie ihre Ersparnisse anlege, und als sie ihm erklärt hatte, sie in französischen rentes viagères anzulegen, hatte er ihr gesagt, er könne damit mehr für sie herausholen, und hatte sie danach hin und wieder über ausgefallene, aber sehr profitable Möglichkeiten informiert, kleine Summen anzulegen.

Auf solche Art, weil Opulenz und Wert seiner Geschenke sie verzückten, hatte er für sie allmählich die Gestalt einer Gottheit angenommen, die auf unerforschliche Weise segensreich – und möglicherweise vernichtend – sein konnte. Denn noch viele Jahre nachdem er sie zum ersten Mal vor dem alten Apollotheater in Edgeware Road abgeholt hatte, empfand sie Misstrauen gegen ihn, weil er ein Mann war und weil es die Natur des Mannes ist, Frauen gegenüber treulos, lüstern und gemein zu sein. Jetzt sah sie sich als die Gefährtin einer Gottheit, geschützt und immun gegen die bösen Machenschaften Fortunas, als wäre sie auf die Schulter eines von Jupiters Adlern gesetzt worden, zur Seite seines Throns. Von den Unsterblichen war bekannt, dass sie sich gerne Menschen zu Gefährten erwählten; war es einmal geschehen, so hatten die Erwählten wahrhaftig ein glückliches Los. Sie fühlte sich als eine von ihnen.

Nicht einmal seine plötzliche Erkrankung hatte ihr dieses Gefühl seiner weitreichenden und unerforschlichen Macht nehmen können, und sie war außerstande, die Überzeugung aufzugeben, er könnte, wenn er nur wollte, sprechen, gehen und die Taten eines Herkules vollbringen. Es war ihr unmöglich, sich etwas anderes vorzustellen; die Kraft seines Blickes war ungebrochen, und es war der unergründliche Blick eines stolzen, wachsamen und befehlsgewohnten Mannes. Und das Geheimnisvolle dieses Anfalls sowie dieser selbst bestärkten sie nur in ihrer unterbewussten Überzeugung. Der Anfall hatte sich auf so undramatische Weise ereignet, dass auch die übereinstimmenden Aussagen der herbeigerufenen wichtigtuerischen und ihr fast stümperhaft erscheinenden englischen Ärzte, eine Art Schlaganfall müsse ihn im Bett heimgesucht haben, nicht vermochte, sie in ihrer Überzeugung zu erschüttern. Ja, sogar als ihr eigener Arzt, Drouant-Rouault, ihr versicherte, es handle sich hier seiner Erfahrung nach um einen Fall plötzlich auftretender Hemiplegie ganz typischer Symptomatik, blieb sie, obwohl ihr Verstand sein Urteil akzeptierte, bei dem, was ihr Unterbewusstes ihr eingegeben hatte. Doktor Drouant-Rouault war ein Mann von sensiblem Verstand, was er bewiesen hatte, als er auf die anatomische Vortrefflichkeit der Skulpturen von Monsieur Casimir-Bar hingewiesen und ihr darin beigepflichtet hatte, dass nur eine Verschwörung seiner Rivalen verhindert haben konnte, dass er Präsident der École des Beaux Arts wurde. Er war also ein kluger Mensch und stand bei den französischen Kaufleuten des Viertels in sehr hohem Ansehen. Sie selbst hatte nie der Behandlung durch einen Arzt bedurft. Brauchte man aber einen, dann lag es nahe, zu einem französischen zu gehen und sich damit zufriedenzugeben, was er sagte.

Doch wenn sie anderen, und tatsächlich auch sich selbst, in Worten zustimmte, ihr Innerstes, ihr for intérieur, vermochte sie nicht zu überzeugen. Und selbst diese vordergründige Überzeugtheit war das Ergebnis zumindest einiger kritischer Überlegungen. Sie hatte es sogar als ihre Pflicht verstanden, nicht nur Doktor Drouant-Rouault, sondern auch die englischen Ärzte, mit denen sie ansonsten nicht gesprochen hätte, darauf hinzuweisen, dass der Mann, der dort in ihrem Bett lag, aus dem Norden komme, aus Yorkshire nämlich, wo die Männer unvorstellbar eigensinnig seien. Sie hatte sie aufgefordert zu bedenken, dass es in Yorkshire für Geschwister oder andere Verwandte nichts Ungewöhnliches sei, jahrzehntelang im selben Haus zu wohnen, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln, und sie hatte besonders darauf hingewiesen, dass sie Mark Tietjens als einen Mann von unbeschreiblicher Entschlusskraft kenne. Sie kenne in lebenslanger Vertrautheit. Zum Beispiel habe sie ihn nie veranlassen können, die Größe seiner Mahlzeiten auch nur geringfügig zu ändern oder ein bisschen mehr Pfeffer darüber zu streuen – kein einziges Mal in den zwanzig Jahren, in denen sie für ihn gekocht habe. Sie bat die Herren eindringlich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Bedingungen des Waffenstillstands einen Mann von Marks Willenskraft und persönlichen Eigentümlichkeiten veranlasst haben könnten, sich für immer aus allen menschlichen Verbindungen zurückzuziehen, und dass ihn, sollte er dies einmal beschlossen haben, nichts mehr bewegen könne, seinen Entschluss zu ändern. Das letzte Wort habe er gesprochen, während einer seiner Kollegen im Ministerium mit ihr telefoniert habe, um ihr, zur Weiterleitung an Mark, den Wortlaut der Waffenstillstandsvereinbarung durchzugeben. Auf die Nachricht hin, die sie ihm über die Schulter weg habe weitergeben müssen, habe er vom Bett aus eine Bemerkung gemacht. Er habe sich zu jener Zeit gerade von einer beidseitigen Lungenentzündung erholt. Jene Bemerkung könne sie nicht genau wiedergeben; sie sei sich aber fast sicher, dass sie – auf Englisch – in etwa gelautet habe, er wolle nie mehr ein einziges Wort sagen. Es sei ihr jedoch bewusst, dass ihre eigene Voreingenommenheit sehr wohl beeinflusst haben könne, was sie hörte. Sie selbst habe auf die Nachricht hin, dass die Alliierten nicht beabsichtigten, den Deutschen bis in ihr eigenes Land nachzusetzen – da sei ihr selbst danach gewesen, dem hohen Beamten am anderen Ende der Leitung zu stecken, dass sie mit ihm und seiner ganzen Rasse nie wieder ein Wort wechseln wolle. Das sei ihr als Erstes in den Sinn gekommen, und zweifellos sei es als Erstes auch Mark in den Sinn gekommen.

So hatte sie sich den Ärzten gegenüber geäußert. Sie hatten ihr praktisch keine Beachtung geschenkt, und ihr war klar, dass dies sehr wahrscheinlich ihrer zweifelhaften Stellung als der bis vor Kurzem rechtlich nicht abgesicherten Gefährtin eines Mannes zuzuschreiben war, den sie für außerstande erachteten, sie weiterhin zu protegieren. Dies nahm sie in keiner Weise übel; es entsprach dem Wesen des männlichen Geschlechts in England. Der Franzose hatte ihr natürlich ehrerbietig zugehört, sich sogar ein wenig verneigt. Doch er blieb unbeirrt bei seiner Meinung. Madame, so bemerkte er, müsse verstehen, dass in Anbetracht der Situation, die den Schlaganfall auslöste, fast Gewissheit bestehe, dass es tatsächlich ein Schlaganfall war. Als Französin müsse ihr dieses Argument unmittelbar einleuchten, denn der Verrat an Frankreich durch seine Alliierten im erhabensten Augenblick des Triumphes sei ein Verbrechen gewesen, bei dessen Bekanntwerden man sich sehr wohl das Ende der Welt gewünscht haben mochte.

II

Sie blieb an seiner Seite stehen und redete lebhaft auf ihn ein, bis sie die in den Rahmen gespannte Zeitung herumdrehte und er die andere Seite des Blattes lesen konnte. Als Erstes las er die Kommentare verschiedener Journalisten zum Pferderennsport. Das nahm er sehr schnell auf, gleichsam als hors d’œuvre. Sie wusste, dass er für die Meinungen sämtlicher Journalisten über Pferderennsport nur Verachtung übrig hatte, weniger aber für die beiden, die auf dieser besonderen Seite schrieben. Die wirklich ernsthafte Lektüre begann erst, wenn sie die Seite umdrehte. Dort standen in langen, ausgezackten Spalten die Namen von Rennpferden, Jockeys und Teilnehmern verschiedenster Rennen, mit Alter, Stammbäumen und bisherigen Leistungen. Diese Seite pflegte er genau und aufmerksam zu studieren. In der Regel brauchte er eine knappe Stunde dafür. Wenn er diese Seite las, blieb sie gerne bei ihm, denn die intensive Beschäftigung mit allem, was mit Rennpferden zu tun hatte, war das einzige Thema gewesen, über das sie sich austauschten. Fast sentimental waren oft jene Stunden gewesen, die sie, auf die Rückenlehne seines Sessels gestützt, bei der Lektüre der Nachrichten aus der Rennsportwelt mit ihm verbracht hatte, und die häufigen, wenn auch einzigen Komplimente, die er ihr machte, weil sie die Form der Pferde so sicher einzuschätzen wusste, hatten sie mit der warmen Freude und Verlegenheit erfüllt, die sie auch empfunden haben mochte, hätte er solche Komplimente ihrer Person gezollt. Aber sie bedurfte keiner ihrer Person geltenden Komplimente; ihr reichte, dass er zufrieden mit ihr war – aber diese langen, ruhigen Stunden vertraulichen Zusammenseins waren ihr immer eine Freude gewesen, und die vermisste sie jetzt. Gleichwohl wies sie darauf hin, dass Scuttle, wie vor mehreren Tagen von ihr vorausgesagt, ihr Rennen gewonnen habe, in dem keine anderen Teilnehmer auch nur entfernt an die Klasse der jungen Stute herangereicht hätten. Jetzt aber löste sie damit nicht mehr jenen halb geringschätzigen Grunzlaut der Zustimmung aus, der ihr früher dafür sicher gewesen wäre.

Das Brummen eines Flugzeugs war zu hören gewesen, und sie war nach draußen getreten, um hinauf zu dem blitzenden, von der Sonne beschienenen Spielzeug zu schauen, das langsam seine Bahn durch den klaren Himmel zog. Als sie zu ihm zurückkehrte, weil er zwei Mal die Augenlider geschlossen hatte, um anzuzeigen, dass sie seine Zeitungsseite wenden dürfe, löste sie einen Draht vom Pfosten zu seiner Rechten, ging um das Bett herum, befestigte den Draht am Pfosten zu seiner Linken und machte andersherum genau das Gleiche mit dem Draht, der jetzt auf die linke Seite gekommen war. Auf diese Weise wurde der Bilderrahmen komplett umgedreht und zeigte die andere Seite der Zeitung.

Diese Vorrichtung rief jeden Tag erneut ihren Ärger hervor, den sie auch, wie gewöhnlich, zum Ausdruck brachte. Dies sei ein weiteres Beispiel der Verrücktheit von Denen – nämlich der ihres Schwagers und seiner Gefährtin. Warum hatten sie nicht einen jener schlauen Apparate angeschafft, der auf einem Arm aus blitzendem Messing ein Lesebrett aus angenehm poliertem Mahagoni hielt und den man an ein Bettgestell klemmen und nach Bedarf neigen konnte? Warum nur hatten sie nicht eine jener Hütten für Tuberkulosepatienten besorgt, die sie in einem Katalog gesehen hatte? Diese Hütten konnte man mit hübschen grünen und roten Streifen bemalen, sodass sie etwas Fröhliches ausstrahlten, und man konnte sie auf einer Achse so drehen, dass die Sonne hineinschien oder die Zugluft abgehalten wurde, wenn es windig war. Welche Erklärung gab es für dieses verrückte und plumpe Gebilde? Ein von Pfosten getragenes Strohdach ohne Wände! Wollten sie ihn etwa aus seinem Bett geblasen sehen? Wollten sie sie bloß damit ärgern? Oder waren ihre Mittel so beschränkt, dass sie sich die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation nicht leisten konnten?

Dies mochte sehr wohl der Fall sein. Doch wie war das möglich angesichts des seltsamen Benehmens von Monsieur beau-frère in der Sache mit der Statue von Casimir-Bar, dem großen Bildhauer? Sie hatte angeboten, bei der Begrenzung der Haushaltsausgaben ihren Beitrag zu leisten und dafür zu opfern, was ihr am teuersten war. Doch wie seltsam hatte sich Monsieur Christopher verhalten. Während sie der großen öffentlichen Versteigerung in Wingham Priory beiwohnten, hatte sie dem liebenswerten, wenngleich ungeschlachten Gunning und dem halb idiotischen Tischler befohlen, jene bewundernswürdige Niobe und die anerkanntermaßen unvergleichliche Thetis, Neptun die Nachricht vom Tod seines Schwiegersohns überbringend, aus ihrem Zimmer hinunter in den Salon zu schaffen, von ihrem frisch vergoldeten Second-Empire-Sessel ganz zu schweigen. Und wie hatten nicht das Weiß und der goldene Lüster dieser Kunstwerke in jener bedrückenden Wildnis geglänzt! Welche Leidenschaft in der Haltung der Niobe, welche Lebensfülle und zugleich welch ein Jammer in der Gebärde der Thetis. Auch hatte sie die Gelegenheit genutzt, mit einem aus der Hauptstadt der Kunst importierten besonderen Präparat den einzigen Sessel im Salon zu polieren, dessen Zustand für eine Politur, obwohl aus Paris, nicht zu schlecht war. Zugegebenermaßen ein unelegantes Stück – aus der Zeit Ludwigs des Dreizehnten von Frankreich, wobei nur der Himmel wusste, welcher Epoche das hier entsprach. Bestimmt der Cromwells, des Königsmörders.

Und dann fiel Monsieur nichts Besseres ein, als in dem Augenblick, in dem er die dergestalt belebte Szene betrat, die einzige Gefühlsregung zu zeigen, die sie je bei ihm erlebt hatte. Ansonsten nämlich gab sich Monsieur mindestens so selbstbeherrscht, wenn auch nicht so absolut schweigsam, wie Mark selbst. Sie fragte Mark: War jetzt der richtige Augenblick für eine, genau genommen, Demonstration der Zuneigung für seine junge Geliebte? Was sonst war es denn? Il – Monsieur, ihr Verwandter, galt als Mann grenzenlosen Wissens. Was man wissen konnte, er wusste es. Es war unmöglich, dass er sich der überragenden Bedeutung des Werkes Casimir-Bars nicht bewusst war, der, hätte es nicht die Machenschaften seines Rivalen Monsieur Rodin und seiner Kollegen gegeben, die höchsten Auszeichnungen Frankreichs erhalten hätte. Aber Monsieur hatte nicht nur Gunning und dem Tischler mit allen Anzeichen von Zorn befohlen, die Skulpturen und den Sessel unverzüglich aus dem Salon zu entfernen, wo sie sie aufgestellt hatte – Gott weiß wie zögerlich und in der Hoffnung, sie könnten die Aufmerksamkeit eines unerwarteten Kunden auf sich ziehen –, weil nämlich Laufkundschaft immer während Ihrer Abwesenheit kam … Nicht nur das, sondern um den vielleicht nicht unnatürlichen Neid von Elle zu dämpfen, hatte Monsieur ganz ungehörige Zweifel am künstlerischen und finanziellen Wert der Werke Casimir-Bars geäußert. Jedermann wisse doch, dass in diesen Tagen die Amerikaner das unglückselige Land der Franzosen seiner kostbarsten Schätze beraubten; jedermann kenne die enormen Preise, die sie zahlten; die Gier, die sie zeigten. Und trotzdem habe dieser Mann ihr weiszumachen versucht, dass die Statuen nicht mehr als ein paar Shilling das Stück wert seien. Es war unfassbar. Er sei so knapp bei Kasse, dass er ihr Haus in einen bloßen Lagerraum für schäbige Gegenstände aus grobem Holz und zerbeultem Messing verwandelt habe. Er schaffe es, für diese elenden Dinge einzigartige Preise bei verrückten Yankees zu erzielen, die große Entfernungen dafür zurücklegten, um diesen Müll von ihm zu erstehen. Biete man ihm aber Stücke von außergewöhnlicher Schönheit in allerbestem Zustand, weise er diese schlicht und geradezu höhnisch zurück.

Was sie selbst betraf, so hatte sie Respekt vor Leidenschaft – obwohl sie sich ein geeigneteres Objekt der Leidenschaft hätte vorstellen können als Elle, die sie der Einfachheit halber als belle-sœur zu bezeichnen pflegte. Aber sie war großzügig und verstand die Wendungen des menschlichen Herzens. Es war ehrenwert, wenn ein Mann sich für den Gegenstand seiner Zuneigung ruinierte. Sein Verhalten jedoch empfand sie mindestens als übertrieben.

Und was bedeutete überhaupt diese Entschlossenheit, die Entwicklungen des modernen Geistes zu ignorieren? Warum wollten sie für Mark partout keinen Lesetisch mit einem Messingarm anschaffen, der den Nachbarn und Dienern einen Fingerzeig gegeben hätte, dass es sich bei ihm um eine hochstehende Person handelte? Warum keine drehbare Hütte? Dieses Zeitalter zeigte Symptome, die beunruhigend waren. Sie wäre die Erste, dies zu bestätigen. Man schlage nur die Zeitungen auf, die voll seien von den Untaten von Meuchelmördern und Straßenräubern, Umstürzlern und Ungebildeten, die überall die Zügel der Macht ergriffen. Aber was wolle man nur gegen etwas so Harmloses wie den Lesetisch, die drehbare Hütte und das Flugzeug einwenden? Ach ja, von wegen Flugzeug!

Warum ignorierten sie die Existenz des Flugzeugs? Das Jahr sei zu weit fortgeschritten, nannten sie als Grund, ihr keinen Samen für navets de Paris mitgebracht zu haben und den Samen dieses wunderbaren und leckeren Gemüses auszubringen, das, in den frühen Morgenstunden im bleichen Licht der elektrischen Laternen angeliefert und in symmetrischen Stapeln bis unter die Fenster der Hotels aufgeschichtet oder in Bergen auf den Marktkarren, eines der heitersten Schauspiele im Nachtleben der Ville Lumière bot. Mindestens einen Monat würde es dauern, hatte man ihr gesagt, um den Samen aus Paris zu beschaffen. Aber angenommen, sie hätten einen Brief mit dem Flugzeug geschickt, so wäre es, wie alle Welt wusste, eine Angelegenheit von ein paar Stunden gewesen, ihn zu beschaffen. Und nachdem sie dergestalt auf das Thema der Rübchen zurückgekommen war, endete sie ihre Rede:

»Ja, mon pauvre homme, es sind seltsame Wesen, unsere Verwandten – denn ich rechne die junge Frau dieser Kategorie zu. Ich zumindest bin dafür liberal genug. Aber es sind seltsame Wesen. Es ist eine merkwürdige Geschichte!«

Sie verließ ihn und stieg den Pfad hinauf zum Stall, derweil sie über die Wesensart der Verwandten ihres Mannes sinnierte. Sie waren die Verwandten einer Gottheit – aber Gottheiten hatten merkwürdige Verwandte. Man denke sich Mark als Jupiter; gut, Jupiter hatte einen Sohn namens Apollo, den man nicht im engeren Sinne als fils de famille