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Zwei Schwestern. Dunkle Ereignisse. Eine alles bedrohende Macht. In der Fortsetzung von "Zefira – Es hätte sie nie geben dürfen", begleiten wir Essenslieferantin Maddie bei ihrem nächsten, noch gefährlicheren Abenteuer. Die Stadt Neo-Hongkong sieht sich einer Bedrohung ausgesetzt, bei der selbst die hartgesottenen Unterweltbosse kalte Füße bekommen. Alles scheint mit der Wiedererweckung von Maddies Schwester Zefira zu tun zu haben, die inzwischen einen eigenen Körper erhalten hat. Ab diesem Zeitpunkt laufen die Dinge aus dem Ruder. An der Seite ihrer Freunde Jared, Dante und Stanley taumelt Maddie von einem haarsträubenden Abenteuer ins Nächste, ohne zu wissen, dass ihr am Ende der finale Kampf gegen das allmächtige Omni bevorsteht. Ein bildgewaltiges Near-Future-Abenteuer von Bestsellerautor Thomas Thiemeyer im Stile beliebter Manga- und Anime-Serien.
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Seitenzahl: 418
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Zefira II – Die Rückkehr des Omni, ist die Fortsetzung von: Zefira – Es hätte sie nie geben dürfen, erschienen im Arena Verlag, Würzburg.
Thomas Thiemeyer geboren 1963, studierte Geologie und Geografie, ehe er sich selbstständig machte und eine Laufbahn als Autor und Illustrator einschlug. Mit seinen Wissenschaftsthrillern und Jugendbuchzyklen, die etliche Preise gewannen, sich über eine halbe Million Mal verkauften und in viele Sprachen übersetzt wurden, ist er eine feste Größe in der deutschen Unterhaltungsliteratur. Seine Geschichten stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane und handeln des Öfteren von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte. Thomas Thiemeyer lebt in der Nähe von Stuttgart.
Mehr Infos über den Autor und Künstler unter: www.thiemeyer.de
Thomas Thiemeyer
DIE RÜCKKEHR DES OMNI
Für Manuela
© 2024 Thomas Thiemeyer
Text: Thomas Thiemeyer
Umschlagillustration: Thomas Thiemeyer
e-ISBN 978-3948093-48-8
»Jeder Mensch hat seinen wunden Punkt. Das erst macht ihn menschlich.«
(Oscar Wilde)
»Noch sind wir keine gefährdete Art. Aber es ist nicht so, dass wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu werden.«
(Douglas Adams)
Dieser Roman entstand ohne Unterstützung durch KI.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Teil 1: Erwachen
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Teil 2: Die Rückkehr
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Teil 3: Eine neue Macht
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Teil 4: Showdown
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Schlussbemerkung
Danksagung
Was ist der Mensch? Sind wir nur Körper, Gedanken und Gefühle, oder ist da noch mehr? Ein kleines Gedankenspiel: Wenn jemand einen neuen mechanischen Arm erhält, weil er seinen bei einem Unfall verloren hat, dann ist er doch immer noch ein Mensch, oder? Niemand würde das bestreiten.
Zwei Arme, zwei Beine? Ebenso. Ein komplett mechanischer Torso? Immer noch ein Mensch. Zumindest sehe ich das so. Aber wieviel können wir entbehren, ehe wir nicht mehr Mensch sind? Was ist das entscheidende Teil, auf das wir nicht verzichten können, ohne unsere Menschlichkeit zu verlieren?
Viele sagen unser Gehirn, unser Nervensystem – die Schaltzentrale, die alles steuert. Auch unsere Gedanken und Gefühle. Manche glauben ja, Gefühle entstünden im Herzen, doch das ist Quatsch. Das Herz ist nur ein Muskel, der Blut durch den Kreislauf schickt. Bei einer Herzverpflanzung werden schließlich keine Gefühle verpflanzt. Trotzdem klammern wir uns an die Vorstellung, unser Körper wäre mehr als nur ein Gefäß. Dass es so etwas gibt wie eine Seele. Das denke ich auch. Auch glaube ich, dass ein völlig fremdartiges Wesen – ein Roboter vielleicht – menschlich sein kann. Es ist nur eine Frage der Schaltkreise und Programmierung.
Und was ist mit einem nicht-humanoiden Wesen? Etwas, das unser Aussehen imitiert, aber in Wirklichkeit etwas gänzlich anderes ist? Tatsächlich glaube ich, dass wir über diese Frage noch nicht intensiv genug nachgedacht haben. Jedenfalls hat mir der Vorfall mit dem OMNI gezeigt, dass wir das Menschsein grundlegend neu überdenken müssen.
(Aus: Mein zweites Ich, von Maddie O’Brian)
Am Anfang war Dunkelheit. Eine lange entspannte Dunkelheit. Keine Schmerzen, keine Sorgen. Nur Wärme und Behaglichkeit. Und ein Geräusch.
Piep …
»He, seht mal, die Linie. Ich glaube, ihr Herz fängt wieder an zu schlagen. Es gibt eine Reaktion.«
Die Stimme klang wie die eines Kindes.
Piep …
»Stimmt, Tian, jetzt sehe ich es auch. Kein Zweifel, ihr Körper erwacht.«
»Heißt das Maddie wird wieder leben?«
»Sie war nie tot, Schatz.« Diesmal war es die Stimme einer Frau.
»Sie war nur ruhiggestellt. Wie ein langer, tiefer Schlaf. Aber jetzt kommt sie zu uns zurück.«
Piep …
»Macht sie bald die Augen auf?«
»Still, Kinder. Lasst ihr Zeit. Sie wird die Augen öffnen, sobald der richtige Moment gekommen ist.«
»Und wenn es noch lange dauert?«
»Dann dauert es eben lang.«
…
»Matoka?«
»Ja?«
»Ich muss mal Pipi.«
»Ach Yema, schon wieder? Du warst doch erst vor einer halben Stunde.«
»Muss aber.«
Ein Seufzen erklang.
»Na gut. Tian und Bo, ihr kümmert euch um die Kleinen. Ihr dürft Ratte, Xin, Xixin und Baby Henry ja nicht aus den Augen lassen. Vor allem dürfen sie hier nichts anfassen. Nicht die Geräte und auch sonst nichts, verstanden? Ich bin gleich wieder da.«
Piep …
»Seit Yema reden kann, muss sie ständig aufs Klo. Ob das irgendwie miteinander zusammenhängt?«
»Ich glaube nicht. Ich denke, sie will nur Aufmerksamkeit.«
»Seltsam ist es trotzdem.«
Piep …
»Eh, voll langweilig hier. Ich wünschte, wir hätten unsere Handhelds mitgenommen. Ne Runde Mariokart wäre jetzt cool.«
»Vielleicht haben die ja hier irgendwo eine Konsole.«
»Glaub nicht … bloß Malbücher.«
»Ich habe keinen Bock auf das blöde Malbuch. He, schaut mal, die Linie bei Maddie wird wieder flacher. Eben sah es so aus, als wollte sie aufwachen, jetzt schläft sie wieder ein.«
»Wo? Zeig mal.«
»Na hier. Herzschlag, Blutdruck, Puls. Es geht alles wieder runter.«
»Scheiße. Ist irgendwas passiert? Wir haben doch nichts angefasst, oder? Wo ist Baby Henry?«
»Da drüben auf seiner Kuscheldecke. Er hat ausnahmsweise mal nichts damit zu tun.«
»Aber was ist dann los?«
»Keine Ahnung. Aber sie haben uns ja gesagt, dass so etwas passieren kann.«
»Ich werde trotzdem mal Bescheid sagen.«
»Ja, tu das. Ich bleibe solange bei den Kleinen. Beeil dich, ok?«
Piep …
Maddie war verwundert. Träumte sie das nur? Sie erinnerte sich an Stimmen. Wo waren die hergekommen? Auch erinnerte sie sich an ein Krankenhaus. Sie hatte dort gelegen, auf einem OP-Tisch, verbunden mit Schläuchen und Kabeln.
Doch jetzt sah ihre Umgebung anders aus.
Sie befand sich draußen im Freien. War das echt oder nur eine Illusion? Was war Realität, was Traum?
Der Wind wehte ihr durch die Haare. Unter ihren Füßen ging es dreißig Meter senkrecht in die Tiefe. Sie erblickte einen Hinterhof. Wieso stand sie auf einem Fenstersims? Das war doch gefährlich. Sie musste schleunigst zurück in die Wohnung.
Sie wollte zurückweichen, doch da merkte sie, dass sie nicht alleine war. Jemand stand hinter ihr. Seine Stimme war grausam und hart. Er versetzte ihr einen Stoß.
»Spring.«
Sie kippte vornüber. Fiel. Der Boden raste auf sie zu. Sie brachte keinen Ton heraus, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Dann schlug sie auf.
…
Und war plötzlich woanders.
Ein dunkler Saal breitete sich vor ihr aus, beleuchtet von brennenden Ölfässern.
War sie nicht eben woanders gewesen? Doch, gewiss. Sie erinnerte sich sogar daran, dass sie gefallen war. Und aufgeschlagen. Doch jetzt war sie hier. Scheinbar litt sie unter Gedächtnislücken.
Links und rechts erstreckten sich Stahlschränke zur Gepäckaufbewahrung. Ein alter Bahnhof? Verwundert sah sie sich um. Plötzlich zuckte der Strahl einer Taschenlampe auf und blendete sie. Sie versuchte, das Licht mit der Hand abzuwehren.
»He, du da, Mädchen. Stell den Koffer ab und dann die Hände hoch. Aber schön langsam, wenn ich bitten darf.«
Die Stimme klang rauh und kalt.
Sie war nicht allein. Da standen Männer. Was wollten die von ihr?
»Koffer? Wovon redet ihr? Macht das Licht aus, ich kann nichts sehen.«
Ein dreckiges Lachen erklang.
Sechs oder sieben Kerle standen da, Thugs, wie es schien. Sie waren bewaffnet. Schlagringe, Nagelkeulen, Motorradketten.
»Den Koffer, habe ich gesagt.«
Verwundert blickte sie an sich herab. Oh, da war ja wirklich ein Koffer. Sie hatte gar nicht gespürt, dass sie ihn in der Hand hielt. Fühlte sich ziemlich schwer an.
»Sag mal, bist du taub?«
Aus einem unerfindlichen Grund heraus wusste sie, dass dieser Koffer wertvoll war. Sie musste ihn mit ihrem Leben verteidigen. Aber sie hatte keine Ahnung was da drin war. Trotzig schüttelte sie den Kopf.
»Der gehört mir, den gebe ich nicht her.«
Seufzend winkte der Mann mit der Hand. »Tötet sie.«
Ein Surren erklang. Einer der Männer wirbelte eine Motorradkette über seinen Kopf, dann ließ er los. Das Ding zischte auf sie zu, schimmernd wie flüssiges Metall.
Maddie spürte einen brennenden Schmerz quer über ihre linke Schläfe und wurde nach hinten geschleudert.
…
Und befand sich plötzlich in luftiger Höhe. Der Wind zerrte an ihr. Es war dunkel. Rings um sie herum ragten leuchtend die Spitzen der Wolkenkratzer auf. Ein Flugtaxi sauste knapp über ihren Kopf hinweg.
Inzwischen war sie ziemlich sicher, dass sie all das nur träumte. Diese vielen Ortwechsel, das war doch nicht real. Wieder standen ihr irgendwelche Leute gegenüber. Diesmal jedoch keine Thugs. Sahen aus wie Mönche oder so. Ihre Kutten bauschten sich im Wind. Ein gewaltiges Luftfahrzeug kam hinter ihnen emporgekrochen. Seine Bordwaffen waren auf Maddies Brust gerichtet.
Der Anführer deutete mit dem Finger auf sie.
»Einsteigen, Kleine. Der Boss will dich sehen.« Der Interceptor wendete und kam mit geöffneter Ladeklappe auf sie zu. Völlig teilnahmslos ließ sich Maddie wie Vieh über die heruntergelassene Luke ins Innere treiben. Das Schott schloss sich und es wurde dunkel um sie herum.
In schneller Folge wechselten jetzt die Szenen.
Die Gassen von Undercity. Das kleine Restaurant, in dem sie zusammen mit Jared eine Kleinigkeit aß. Die Hängebrücke. Eine Kathedrale in der Ferne.
Ab da wurde alles sehr verwirrend. Höhlen, Schächte, Stollen. Ein riesiger Steinkopf, der sprechen konnte. »Meine Tochter. Ich freue mich, dass ich dich endlich wiedergefunden habe.«
Maddie wollte fortrennen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Um sie herum wurde es heller und klarer. Sie stand auf einer Wiese. Ein Meer von Blüten so weit das Auge reichte. Blauer Himmel und Schäfchenwolken. Alles zu schön, um wahr zu sein.
»Gefällt es dir?« Hinter Maddie stand ein Mädchen. Seelenvolle grüne Augen, ein paar Sommersprossen und eine schön gewölbte Stirn. Ihre Haare waren braun und ringelten sich in Wellen über ihre Schultern. »Wer bist du?«
»Weißt du das denn nicht?«
»Ich habe dich noch nie gesehen.«
»Natürlich hast du das. Versuch dich zu erinnern. Komm schon.«
»Ich habe echt keine Ahnung …«
»Ich bin’s, deine Schwester.«
»Quatsch. Ich habe keine Schwester.«
»Natürlich hast du. Ich stehe direkt vor dir. Wieso glaubst du mir nicht?«
»Weil das alles hier nicht echt ist. Ich bin in einem Traum. Und du bist auch nur ein Traum.«
»Dann nennst du mich eine Lügnerin?«
»Wie kann ich dich eine Lügnerin nennen, wenn du nicht da bist?«
»Und wer redet dann mit dir?«
»Ich rede mit mir selbst.«
»Du bist ganz schön eingebildet. Als würde sich die ganze Welt nur um dich drehen. Ich werde dir mal was sagen: ich bin genauso real wie du.«
»Beweis es.«
»Das werde ich. Pass gut auf.«
Maddie hielt den Atem an. Das Mädchen, das eben noch so nett und freundlich gewirkt hatte, begann sich zu verändern. Ihre Haut wurde olivgrün. Oliv mit rosa Flecken. Die Augen kippten in den Schädel zurück, die Stirn schwoll an. Aus dem Rücken wuchsen Fangarme, die wild durch die Luft zuckten. Statt der alten Augen wuchsen jetzt überall neue und sie alle starrten auf sie herab.
Maddie wich vor dem Ding zurück. Es war ein Monster wie aus einem alten Hollywoodfilm. So verrückt, dass es schon wieder lächerlich wirkte. Während sie noch überlegte, ob sie lachen oder sich fürchten sollte, schwoll das Ding auf die Größe eines Hauses an. Und als wäre das nicht schon genug, setzte jetzt auch noch heftiger Wind ein. Ein Sturm braute sich zusammen.
Maddie versuchte zu fliehen, aber da wurde sie schon von einem der Fangarme gepackt und in die Luft gehoben. Der Koffer, den sie immer noch in den Händen hielt, entglitt ihr, fiel zu Boden und sprang auf. Unzählige Fotos wirbelten durch die Luft. Fotos von Maddie als Baby. Fotos von ihrer Mutter, ihrem Vater und von Mama Matoka, die sie adoptiert hatte und von der sie aufgezogen worden war. Doch all das wurde zur Nebensächlichkeit, weil das Monstrum jetzt offensichtlich vorhatte, Maddie zu verspeisen. Es riss sein riesiges Maul auf, das mit Hunderten nadelspitzer Zähne gespickt war und hielt Maddie genau darüber. Dann ließ der Fangarm sie los. Sie stürzte.
»NEIN …«
Jared sah mit Schrecken, wie Maddie sich in ihrem Bett aufbäumte. Keuchend versuchte sie, Luft in ihre Lungen zu saugen. Die Anzeigen des EKG-Messgerätes flammten auf wie ein Weihnachtsbaum.
Er sprang auf und schüttelte sie. »Kannst du mich hören? Sag doch was.« Ihre Augen irrlichterten durch den Raum.
Nach einer Weile der Desorientierung schien sie sich zu beruhigen.
Gott sei Dank!
»Jared?«
»Ja.« Eine Woge der Erleichterung überfiel ihn.
»Oh, Jared.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Obwohl ihn ihre Umarmung in eine unangenehme Vorbeuge zwang, ließ er den Gefühlsansturm über sich ergehen. Er war einfach nur glücklich und drückte sie so fest an sich, dass er ihren Herzschlag spüren konnte. »Alles gut«, sagte er unendlich erleichtert. »Du bist wieder bei uns.«
Als sich ihr Griff lockerte, trat er einen Schritt zurück. »Schau mal, wer hier ist«, sagte er. »Matoka, Yema, Ratte, Xin und Xinxin, Tian und Bo. Und natürlich Baby Henry, der krabbelt hier auch irgendwo herum. Sie sind alle gekommen, um dabei zu sein, wenn du aufwachst.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Meine Lemminge …« Sie sah sich verwirrt um. Es schien ihr schwerzufallen, sich zu orientieren. »Was ist das hier? Wo bin ich?«
»Im Eastern Medical Centre.«
»Warum denn das?«
Jared suchte nach den richtigen Worten. Die Ärzte hatten ihnen erklärt, dass es bei der Schwere dieses Eingriffs zu kurzfristigen Gedächtnisaussetzern kommen konnte. Sie sollten sich deswegen keine Sorgen machen, was ihn aber nur bedingt beruhigte. Schließlich ging es hier um Maddie.
Seine Maddie.
Er versuchte, es ihr so direkt wie möglich zu erklären. »Du hattest eine Hirn-OP«, sagte er. »Der Eingriff war schwierig, aber es ist alles gut gegangen.«
»Eine Operation, wieso? Bin ich krank?«
Er holte tief Luft, dann fragte er: »Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst?«
»Mal überlegen.« Sie schloss ihre Lider.
»Wir waren Reis pflanzen. Die Wasserbüffel vorneweg, wir mit Gummistiefeln hinterher. Wir haben die Setzlinge eingepflanzt. Immer einen nach dem anderen. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Du warst auch dabei.«
»Ja …« Was Maddie da erzählte, lag ein halbes Jahr zurück. So viel war in der Zwischenzeit geschehen. Damals hatte er sie besucht, war ihr im Zug hinterhergereist, um sie auf ihrem Weg raus aufs Land zu begleiten. Matokas Schwager besaß dort eine Landwirtschaft. Kühe, Schweine, Hühner und Reisfelder. Eine reiche Kommune, die vor allem durch ihren ausgezeichneten Wein Berühmtheit erlangt hatte. Viele Bewohner der nahegelegenen Millionenmetropole Ganzhou kamen hier vorbei, um direkt vom Erzeuger zu kaufen. Das Gehöft lag am Rande einer kleinen Siedlung und glich einer Künstlerkommune. Was aber weniger mit der traumhaft schönen Lage in der Nähe des Yangling Naturschutzgebietes zu tun hatte, als vielmehr damit, dass der Ex-Ehemann von Matokas Schwester jede freie Fläche mit seinen schrill bunten Bildern verzierte. Nicht nur Stallwände, Heuschober und Seitenflächen der Reisweinmanufaktur, sondern vor allem auch den Kleinbus, mit dem er Maddie, Dante, Patricia, Anastasia und ihn damals vom Bahnhof abgeholt hatte.
Jared war eine Woche bei der Familie geblieben und hatte auf den Feldern geholfen, ehe er wieder zurückgefahren war und sich in die Hände der Mediziner begeben hatte. Sie halfen ihm dabei, seinen Weg zurück ins normale Leben zu finden. Die Prozedur hatte viel länger gedauert als ursprünglich veranschlagt. Doch jetzt war er clean. Sechs Monate Entzug lagen hinter ihm. Keine Drogen mehr, keine zellstärkenden Substanzen, die ihn auf Knopfdruck in eine Kampfmaschine verwandelten. Der ganze Scheiß, den die Helix-Corporation mit ihm veranstaltet hatte, um aus ihm eine Art Übermensch zu machen. Er hatte eine letzte Chance bekommen. Allerdings unter der Bedingung, niemals – unter keinen Umständen – wieder auf die chemischen Substanzen zurückzugreifen, die er damals genommen hatte. Es sei denn, er wolle einen schnellen und schmerzhaften Tod sterben.
Icarus war Geschichte. Aus und vorbei.
Es gab kein Zurück.
»Gibt es sonst noch etwas, an das du dich erinnerst?«, fragte er.
»Die Straßenfeuer vielleicht? Oder das Qingming-Fest. Weißt du noch? Wir haben die Gräber gefegt und sie mit Nahrungsmitteln und Blumen dekoriert. Die Menschen haben kleine Kunstwerke aus Papier angefertigt und sie dann angezündet; Autos, Anzüge und Schuhe. Damit man sie den Vorfahren zur Verfügung stellen kann, auf dass sie sich im Jenseits darüber freuen und den Nachfahren gegenüber freundlich gestimmt sind. Erinnerst du dich?«
Maddie rieb sich die Stirn. »Nein …«
Jared ließ die Schultern hängen. Er fühlte, dass er langsam an seine Grenzen stieß. Wenn sie sich nicht mal daran erinnerte, woran dann?
Plötzlich hellten sich ihre Züge auf. »Doch«, rief sie. »Warte mal, jetzt, wo du es sagst. Wie konnte ich das nur vergessen? Da war doch diese Totenspeisung, nicht wahr?«
Seine Laune verbesserte sich schlagartig. »Stimmt. An dem Tag gab es nur kaltes Essen, weißt du noch?«
»Ja.« Sie lachte. »Ich mochte das nicht besonders. War aber okay, da ich sowieso nicht viel Hunger hatte. Wir haben viel gebastelt an diesem Tag. Und an denen davor.«
Sie drehte sich zu den Lemmingen um. »Tian, hattest du nicht ein Modell von dem Bus gefertigt, mit dem Matokas Schwager uns vom Bahnhof abgeholt hat?«
Tian nickte ernst. »Aus einem Schuhkarton. Er war ganz bunt und hatte vier Räder aus Papierrollen.«
»Und er hat super gebrannt, so wie mein kleines Flugzeug«, rief Bo.
»Und wie meine Schuhe«, lachte Ratte.
»Und unsere Hemden«, fügten Xin und Xinxin hinzu.
»Und all die vielen Geldscheine«, sagte Matoka lächelnd. »Natürlich kein echtes Geld, sondern Spielgeld. So, wie es sich für ein echtes Qingming-Fest gehört. Die Toten spüren, wenn wir an sie denken. Ihre Seelen können das fühlen.«
»Ja, jetzt fällt es mir wieder ein.« Maddie nickte. »Erzählt noch mehr davon, ich glaube, das hilft mir.«
Jared fiel eine Last von den Schultern. Maddies Erinnerungen fingen an, zurückzukehren. Das war der Silberstreif, auf den er gehofft hatte. Die anderen Erinnerungen würden vermutlich bald folgen. Mit etwas Glück kam alles wieder zurück.
Das Mädchen hatte blondes, gewelltes Haar, eine hohe Stirn und dichte, buschige Augenbrauen. Sie besaß helle Haut, was aber kein Wunder war – immerhin war sie kürzlich noch tot gewesen.
Ihre Nase wirkte größer als Maddies, aber sie war ebenmäßig und schön geschnitten. Eine Charakternase. Der Mund hatte ebenfalls eine hübsche Form und schien im Traum leicht zu lächeln. Ein leichtes Zucken huschte um ihre Mundwinkel, als würde sie an etwas Schönes denken.
Maddie sah die behandelnde Ärztin verwundert an. Sie kannte Sun aus der Helix-Corporation. Sie war damals die einzige gewesen, die zu ihr gehalten hatte. »Ich verstehe nicht ganz. Wer ist das?«
»Weißt du das denn nicht«, fragte Sun.
»Wie sollte ich das wissen? Ich habe dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen.«
Sun lächelte. »Nun, dann lassen wir diese Frage vorerst offen. Die Antwort könnte euch ein bisschen schocken.«
Maddie hätte zu gerne gewusst, was sie damit meinte, aber sie verzichtete darauf, nachzubohren. Sie vertraute Sun.
»Sieht aus, als hätte sie einen sehr lebhaften Traum«, sagte Jared, der sich über sie beugte. »Man kann erkennen, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegen.«
»Die Messwerte zeigen einen ungewöhnlich hohen Ausschlag«, stimmte Sun zu. »Sie träumt offenbar sehr intensiv.«
Maddie runzelte die Stirn. »Ist das gut?«
»Natürlich ist das gut. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieses Mädchen kürzlich noch tot war. Es sagt uns, dass sie auf die Behandlung anspricht und wir in naher Zukunft damit rechnen können, dass sie erwacht.«
Maddie umrundete den Körper und ließ sich von der Ärztin eine kleine Einstichstelle am Arm zeigen. Warum sollte sie schockiert sein? Sie kannte sie doch gar nicht. »Woran ist sie gestorben? Ich kann keine Verletzungen erkennen.«
»Sie wurde das Opfer einer neuen Droge, die auf dem Schwarzmarkt kursiert. FRAC. Vielleicht habt ihr schon davon gehört.«
Jared hob den Kopf. »Da klingelt etwas bei mir. Es heißt, die Droge löst bei manchen Menschen einen plötzlichen und unerklärlichen Hirntod aus.«
»Die Fälle häufen sich in letzter Zeit«, erwiderte Sun. »Die Behörden sind alarmiert. Man fand die Kleine unten bei den Docks, neben ein paar Mülltonnen. Weggeworfen, vergessen und ausgeraubt. Nur durch Zufall wurden ein paar Passanten auf sie aufmerksam. Sie verständigten sofort die Polizei und den Notarzt, doch für das Mädchen kam jede Hilfe zu spät.«
»Wie schrecklich …« Maddie fühlte Kälte in sich aufsteigen. Sie wusste immer noch nicht, was das Ganze mit ihr zu tun hatte. »Hat sie denn keine Freunde oder Verwandten? Irgendjemand, der sie vermisst?«
Sun schüttelte den Kopf. »Bisher konnte die Polizei niemanden ausfindig machen. Ihre Fingerabdrücke tauchen in keinem System auf. Sie ist nicht vorbestraft, hat keine Angehörigen und keinen Eintrag im Geburtenregister. Ein unbeschriebenes Blatt. Wie so viele in Neo-Hongkong.«
Maddie presste die Lippen aufeinander.
Sie überlegte, wie sich das anfühlen musste, so verloren zu sein. Da hatte sie selbst mehr Glück gehabt. Zwar wusste sie lange nicht, was aus ihren leiblichen Eltern geworden war, doch im Unterschied zu diesem armen Geschöpf, war sie in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen. Mama Matoka hatte für sie gesorgt, hatte ihr ein Dach über dem Kopf gegeben und sich um ihre schulische Ausbildung gekümmert. Das Wichtigste war ohnehin, von jemandem geliebt zu werden, oder? Zu wissen, wo man hingehörte. Dieses Mädchen jedoch schien nirgendwohin zu gehören. Eine verlorene Seele.
»Na ja, immerhin lebt sie«, sagte Jared. »Und vielleicht wird sie eines Tages wieder gesund.«
»Das wird sie«, sagte Sun und nickte. »Ganz sicher sogar.«
»Aber was hat das mit uns zu tun?«, sprach Jared das aus, was auch Maddie die ganze Zeit beschäftigte. »Wir kennen sie doch überhaupt nicht.«
»Doch, ich glaube schon.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Maddie kramte in ihrem Gedächtnis. Drei Tage waren vergangen, seit sie aus dem Koma erwacht war. Die meisten ihrer Erinnerungen waren inzwischen wieder da. Aber offensichtlich nicht alle. An dieses Mädchen konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern.
»Tut mir leid«, murmelte sie schulterzuckend. »Ich habe wohl immer noch Erinnerungslücken. Ist sie eine Person, die ich aus meinen zurückliegenden Abenteuern kennen müsste? Eine der Black Bishops vielleicht?«
»Die Black …? Oh nein.« Sun winkte erschrocken ab. »Nein, nein, mit deinem Gedächtnis ist alles in Ordnung. Gesehen hast du diese junge Frau tatsächlich noch nie. Trotzdem kennst du sie. Oder genauer gesagt, du wirst sie kennen, wenn sie in naher Zukunft erwacht. Das ist Zefira, deine Schwester.«
Die Worte trafen Maddie wie ein Schock.
»Was? Aber wie kann das sein?«
Sun atmete tief ein. »Erinnerst du dich daran, was mit deiner Schwester passiert ist, nachdem sie den Kampf gegen das OMNI und Direktor Zhao aufgenommen hat?«
Maddie schluckte. Und ob sie sich erinnerte. »Sie ist gestorben.«
»Das dachten wir alle«, sagte Sun. »Der Scan deines Gehirns bestätigte unsere Vermutung. Wir dachten, Zefira und das OMNI hätten sich im Kampf gegeneinander selbst ausgelöscht. Ein Kampf der reinen Gedankenkraft, den keiner von beiden überlebt hat. Doch dann kam dieser Tag, als du die Stadt verlassen hast und raus zu Matokas Schwager gefahren bist. An diesem Tag bekamst du den ersten Hinweis, dass deine Schwester vielleicht doch überlebt haben könnte.«
Maddie nickte aufgeregt. »Der abgespreizte Finger.«
»Der abgespreizte Finger, genau.«
»Ich dachte, ich hätte einen Krampf oder so. Dabei war es ein Signal. Sie schien mir etwas mitteilen zu wollen.«
»Ganz genau. Sie tat es mittels Zeichensprache und zwar deswegen, weil sie sich nicht mehr auf herkömmliche Weise mit dir unterhalten konnte. Die Gedankenbrücke zwischen euch war durch den Kampf zerstört worden.«
Sun sah ihr fest in die Augen. »Wir waren uns anfangs unsicher, ob du dir das einbildest oder nicht.«
»Nein, das war keine Einbildung«, sagte Maddie entschieden.
»Das wissen wir jetzt auch.« Sun nickte. »Die Frage, die sich uns danach stellte, war, wie wir mit ihr kommunizieren sollten. Eine Unterhaltung auf schriftlichem Wege wäre sehr umständlich und fehleranfällig gewesen. Sich bis in alle Zeit nur Briefe zu schreiben? Vergiss es. An diesem Tag wurde die Idee geboren, Zefira einen eigenen Körper zu schenken, erinnerst du dich?«
Maddie kramte in ihrem Gedächtnis. Wie gerne würde sie sich daran erinnern, aber es war wie eine Mauer, hinter die sie nicht blicken konnte. Scheiß Amnesie!
»Und jetzt lebt der Geist meiner Schwester in diesem Mädchen?«
»Ganz genau.«
»Aber wie? Ich meine …«
»Wir haben ihn verpflanzt. Das war der Zweck dieser Operation. Und es war ein komplizierter Eingriff, das darfst du mir glauben. Allein die Suche nach einem geeigneten Körper war fast aussichtslos.« Sun schüttelte den Kopf. »Menschen neigen dazu, an ihrem Leben zu hängen. Vor allem, wenn sie jung sind und voller Lebensfreude. Niemand wäre so verrückt, sich für eine solche Aktion freiwillig zu melden und dir seinen Körper zu schenken.«
»Natürlich nicht …«
»Ein alter Körper kam nicht in Frage. Alleine schon deswegen, weil ein junger Geist in einem alten Körper zu Problemen führen kann. Vor allem seelischer Natur.« Sun prüfte die Messwerte auf der Anzeige. »Aber es gab noch andere Hindernisse«, fuhr sie fort.
»Die Blutgruppe, das Geschlecht, die Unversehrtheit des Körpers und so weiter. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sich die Suche über Monate, wenn nicht gar Jahre hinziehen würde. Bis plötzlich dieses Mädchen in der Obduktionshalle des städtischen Zentralkrankenhauses auftauchte und ich Wind davon bekam. Es war wie ein Wunder. Der Rest war Papierkram.«
»Moment mal …« Maddie konnte es nicht glauben. »Ihr habt ihr meinen Tumor eingepflanzt? Habe ich dazu denn meine Erlaubnis gegeben?«
»Aber ja. Erinnerst du dich nicht?«
»Sonst würde ich nicht fragen. Aber das macht nichts.«
Maddie blickte auf das Mädchen. Von der einen auf die andere Sekunde sah sie sie mit anderen Augen. »Deswegen die Narkose.«
»Deswegen die Narkose, ja. Und deswegen die Operation.« Sun wirkte ernst. »Wir haben den Abschnitt deines Bewusstseins übertragen, der von Zefira bewohnt wurde und gehofft, dass sie sich in einem anderen Gehirn genauso wohlfühlt. Wie es aussieht, scheint der Plan zu funktionieren. Zefiras Überlebenswillen ist groß. Sie hat das Mädchen inzwischen übernommen und es sich dort bequem gemacht.«
»Aber wie?« Maddie hatte immer noch Mühe, sich vorzustellen, dass dieses Mädchen tatsächlich ihre Schwester sein sollte. »Ihr Verstand hat doch bestimmt Widerstand geleistet. Wie meiner damals, als Zefira versucht hat, mich übernehmen. Zum Glück habe ich es geschafft, mich gegen sie zur Wehr zu setzen. Wenn auch mit Mühe. Ich war drauf und dran, den Kampf zu verlieren.« Sun nickte.
»Der Kampf zwischen dir und deiner Schwester ist knapp ausgegangen, das stimmt. Doch diesmal ist das Ergebnis eindeutig. Zefira ist die Gewinnerin. Was vor allem damit zu tun hat, dass der Geist dieses Mädchen vollkommen erloschen war. Sie besaß keinen freien Willen mehr.«
»Nicht?«
Sun schüttelte den Kopf. »Keine Erinnerungen, keinen Überlebensinstinkt. Wenn du ihr Gehirn mit einem Supermarkt vergleichen würdest, so müsstest du dir einen Laden vorstellen, bei dem sämtliche Regale leer sind. Zefira konnte problemlos dort einziehen. Sie ist die neue Besitzerin und sie füllte den neuen Laden mit ihrem eigenen Warenangebot. Stück für Stück. Regal für Regal.«
»Aber was ist das für ein Laden?«, fragte Jared mit schiefem Grinsen. »Ich hoffe doch sehr, dass es kein Waffengeschäft ist.«
Sun zuckte die Schultern. »Das werden wir erst nach der Widerbelebung feststellen. Noch haben wir keine Möglichkeit, ihren Charakter auf den Monitoren sichtbar zu machen. Aber ich gehe davon aus, dass sie immer noch die Person sein wird, mit der du es in der Vergangenheit zu tun hattest. Ist das gut oder schlecht?«
Maddie wusste darauf keine Antwort. Sie hatte beide Seiten kennengelernt. Die aufbrausende, gewalttätige Schwester und die liebevolle, warmherzige. Welche von beiden schlussendlich die Oberhand behalten würde, blieb abzuwarten.
Doch alleine die Tatsache, dass es überhaupt möglich war, versetzte sie in freudige Erregung. Wie mochte das wohl sein, wenn Zefira erwachte? Würde sie sie erkennen?
»Wie lange dauert es, bis sie das Bewusstsein wiedererlangt?«
»Ein paar Tage vermutlich«, sagte Sun. »Ich sage euch Bescheid, wenn es soweit ist. In der Zwischenzeit würde ich dir empfehlen, es langsam angehen zu lassen. Nimm dir ein paar Tage frei und genieße das Leben. Du bist hiermit offiziell entlassen.«
Vor dem Restaurant drängelten sich die Leute. Was Maddie nicht verwunderte, denn die Lage war auch wirklich phänomenal.
Gelegen am Ufer des Victoria-Harbour, direkt gegenüber der Megametropole Central, bot sich von hier aus ein prachtvoller Blick über die Bucht und auf die Stadtsilhouette von Neo-Hongkong.
Fünfzig, achtzig, hundert Stockwerke hohe Bauwerke bohrten ihre Spitzen in die Wolken und richteten tausend leuchtende Augen auf die Welt. Copter, Schweber und Robotaxis umrundeten die Wolkenkratzer wie Bienen eine Honigwabe. Tausende Besucher überquerten die Bucht täglich, extra zu dem Zweck, um von dieser Seite aus Fotos und Selfies zu machen. Und natürlich – wenn man schon mal da war – etwas zu essen.
In Mama Matoka’s Sichuan Palace wurden von Mittags bis spät in die Nacht kulinarische Spezialitäten aufgetischt, bei denen man für kleines Geld nach Belieben schlemmen konnte. In dieser Umgebung war Maddie großgeworden. Hier hatte sie die Kunst der Straßenküche erlernt, hatte auf die Lemminge aufgepasst und im letzten Jahr angefangen, als Fooddriverin zu arbeiten. Ein Job, nicht frei von Risiken, der aber gutes Geld brachte. Denn nicht immer hatten die Leute Zeit, selbst ins Restaurant zu kommen. Aber Hunger hatten sie immer.
Maddie kniff die Augen zusammen. »Was soll das heißen, Mama Matoka‘s neuer Sichuan-Palace? Wo ist der alte Laden geblieben?«
»Da wunderst du dich nicht wahr?« Ihre Adoptivmutter grinste.
»Den alten Shop habe ich aufgegeben. Stattdessen habe ich jetzt hier meine Zelte aufgeschlagen. Schön, findest du nicht?«
»Wunderschön.« Maddies Blick glitt über die funkelnden Lampen und riesigen Fenster. »Sieht aus wie ein Nobelrestaurant. Das muss doch ein Vermögen gekostet haben.«
»Ganz billig war es nicht«, gab Matoka zu. »Aber mit dem Geld, das du mir gegeben hast, konnte ich mir diesen Traum endlich erfüllen. Du weißt, wie lange ich schon auf der Suche nach so etwas bin.«
»Und die Konzession?«, hakte Jared nach. »Wie bist du daran gekommen? Das war doch sicher sehr schwierig.«
»Beziehungen.« Matokas Lächeln wurde noch breiter. Was eigentlich unmöglich war, denn es reichte jetzt schon von einem Ohr zum anderen.
»Ich habe einen Freund, der einen guten Kontakt zu den hiesigen Behörden hat. Er hat mir ein bisschen Hilfestellung geleistet. Ihr kennt ihn. Da drüben ist er.« Sie schnippte mit dem Finger.
Aus der Menschentraube löste sich eine Gestalt. Ein älterer Mann, Mitte sechzig. Klein, untersetzt und beinahe haarlos, sah man mal von dem sauber gestutzten Schnurrbärtchen und ein paar Fusseln ab, die ihm aus den Ohren quollen. Hinter der schwarzumrandeten Brille leuchteten lebhafte Augen.
»Hallo, ihr Zwei«, sagte er mit tiefer Stimme. »Ich freue mich wie verrückt, euch wiederzusehen. Ist schon eine halbe Ewigkeit her.«
Maddie zog die Brauen zusammen. »Mr Walker?«
»Alan bitte. Wir waren doch schon längst beim Du angelangt.« Er deutete eine Verbeugung an. Maddie wurde warm ums Herz. Von allen, die im Verlauf ihrer jüngsten Abenteuer eine Rolle gespielt hatten, war ihr Alan einer der liebsten. Sie hatten ein gefährliches Abenteuer bestritten und er war ein wichtiger Verbündeter und treuer Freund geworden.
»Wie geht es dir«, sprudelte sie los. »Ist die Schusswunde gut verheilt? Was hast du die letzten Monate gemacht?«
»So viele Fragen«, Alan lachte. »Wollen wir das nicht lieber bei einem kühlen Bier besprechen? Ich habe furchtbaren Durst. Vorausgesetzt, du hast deine Alkoholkonzession erhalten, Matoka.«
Maddies Adoptivmutter plusterte sich auf. »Natürlich habe ich. Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe, bekomme ich es auch.«
»Perfekt. Dann lasst uns reingehen.« Alan strich über seinen Schnäuzer.
»Sucht euch schon mal einen Platz«, sagte Matoka und öffnete eine Seitentür. »In fünf Minuten lasse ich die Leute rein, dann wird es ein ziemliches Gedränge geben. Wie es scheint, haben die Werbemaßnahmen gut funktioniert.«
»Wie geht es eigentlich Churchill?«, erkundigte sie Maddie beim Reingehen. »Immer noch so brummig?« Sie erinnerte sich gerne an den roten Riesenkater. Er und Stanley waren damals gute Freunde geworden.
»Churchill geht es prächtig. Der Bursche ist unverwüstlich. Ich habe ihn für ein paar Tage bei Kim und Scott geparkt. Solange wie ich brauche, um den Umzug zu organisieren. Dann hole ich ihn wieder zu mir.«
»Umzug?« Maddie sah ihn verwundert an. »Willst du denn aus deiner schönen Wohnung ausziehen? Ich erinnere mich an die vielen Bücher und an den herrlichen Balkon, der wie ein Park ausgesehen hat. Wie kann man so etwas verlassen wollen?«
»Es war keine ganz leichte Entscheidung, zugegeben. Aber ich musste es tun. Erstens mal hätte ich die Wohnung aufwändig renovieren müssen – sie war ja völlig zerstört nach dem Anschlag – und zweitens muss ich auch meine neue Position bei Libra in meine Entscheidung mit einbeziehen. Wie ihr vermutlich gehört habt, hat deine Mutter mir einen Job angeboten. Und ich habe mit Freuden zugesagt.«
»Dann stimmt es also, du arbeitest wirklich für Libra?«
Er nahm ein Schluck von seinem Bier und schmatzte genießerisch.
»Ja. Und es ist der beste Job, den ich je hatte. Endlich werden meine Fähigkeiten wirklich gewürdigt. Schluss mit dem Rentnerdasein. Ich kann wieder etwas bewirken!«
Maddie nickte. Sie hatte sich selbst schon überlegt, ob sie nicht für Libra arbeiten sollte. Eine Menschenrechtsorganisation, das war mehr als nur ein einfacher Job. Es war eine Berufung. Und diese Stadt brauchte Leute, die das schmutzige Handwerk skrupelloser Firmen und Großkonzerne sabotierten und die keine Angst hatten, wenn es mal brenzlig wurde. Vor allem, wenn man, wie sie selbst, zu Opfer übler Machenschaften geworden war.
»Ich habe mich viel zu lange in meinen Elfenbeinturm verkrochen«, fuhr Alan fort. »Gewiss, es war schön in dem grünen Wolkenkratzer zu leben, aber seien wir mal ehrlich. Ich habe die Wohnung mit Blutgeld erkauft. Das konnte ich nicht länger auf mir sitzen lassen. Die neue Wohnung passt viel besser zu mir. Alt, abgeranzt, dafür schön unauffällig. Sie dürfte euch bekannt sein.«
»Wo liegt sie denn?«, erkundigte sich Jared.
»Es ist dasselbe Gebäude, in dem auch Anastasia wohnt.«
»Was denn, der schreckliche alte Kasten, in dem die Ratten hausen?«
»Eben dieser.« Alan grinste.
Maddie kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Sie wusste, dass Anastasia dort wohnte. Die alte Frau war von dort nicht wegzukriegen, selbst, nachdem sie eine beträchtliche Zahlung von der Helix-Corporation erhalten hatte. Sie weigerte sich mit allen Mitteln, ihren Wohnort zu verlassen. Und jetzt wollte Alan ebenfalls dort einziehen?
Das überstieg ihr Vorstellungsvermögen.
»Ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt«, sagte Alan. »Was will ein alter Kerl wie ich in einem Bauwerk, in dem es von Kellerasseln nur so wimmelt? Zugegeben, es macht von außen nicht viel her und gehört eigentlich abgerissen, aber die Wohnungen sind groß und billig. Und vor allem: sie sind verschwiegen. Genau das richtige, wenn man unentdeckt agieren will.«
»Ist sicher schön da, wenn einen das Tropfen der defekten Leitungen und das Trippeln der Mäusefüße nicht stören«, sagte Jared mit gequältem Lächeln.
»Für meine Ohren ist das Musik«, sagte Alan lachend. »Und für die von Churchill auch. Der Speiseteller dürfte immer ordentlich gefüllt sein. Allerdings gibt es einen Haken.« Er senkte die Stimme.
»Ihr wisst, wie eifersüchtig Matoka sein kann. Wenn sie erfährt, dass ich mit Anastasia unter einem Dach wohne, rückt sie mir auf den Pelz. Ich glaube, dass sie mir immer noch nachstellt. Diese Frau gibt niemals auf. Ich hege den Verdacht, dass sie immer noch Heiratspläne verfolgt. Wenn ihr also bitte so nett sein würdet, ihr nichts davon zu erzählen, wäre ich euch sehr dankbar. Ich mache das selbst irgendwann.«
Maddie blickte amüsiert. Alan verhielt sich wie ein Teenager mit Beziehungsstress. Aber es stimmte schon: Matoka war eine Respektsperson, die einem Ehrfurcht einjagen konnte.
»Was gibt es denn hier zu tuscheln?« erklang plötzlich eine Stimme neben ihr. »Werden hier etwa irgendwelche Geheimnisse ausgetauscht?«
Maddie fuhr herum und sah eine Frau vor sich stehen. Kaum größer als Matoka, stand sie ein wenig schief. Die Frisur trug sie hochgesteckt. Ihre Haare hatten einen tiefen, leuchtenden Rotschimmer.
»Mom!« Maddie sprang auf und schlang ihre Arme um Patricias Hals. Sie musste sich dabei auf ihre Zehenspitzen stellen. Neben ihr stand eine ältere Frau, die still vor sich hinlächelte. Anastasia! Sie hatte Stanley dabei, ihren Dobermann-Welpen. Wobei Welpe der falsche Ausdruck war. Maddie hob erstaunt die Brauen.
»Mein Gott, ist der gewachsen«, sagte sie und umarmte erst die grauhaarige Russin, dann die Fellnase. Stanley schlappte ihr quer durchs Gesicht. »Das ist doch erst ein halbes Jahr her. Wie ist der nur so schnell gewachsen?«
»Mit viel Liebe und gutem Futter«, entgegnete Anastasia mit unverwechselbarem Akzent. »Er frisst mir die Haare vom Kopf. Keine Ahnung, wie lange ich mir das noch leisten kann. Vielleicht muss ich ihn abgeben. Brauchst du zufällig einen Aufpasser? Ich hätte einen abzugeben.« Sie grinste schief und machte damit klar, dass sie das natürlich nicht ernst meinte.
»Nichts lieber als das. Wie viel willst du für ihn?« Sie und Stanley hatten in der Vergangenheit so manches Abenteuer bestanden. Jetzt wedelte er fröhlich mit dem Schwanz. Maddie seufzte glücklich.
»Wie schön, euch alle wiederzusehen«, sagte sie, nachdem sie aufgestanden war. »Warum habt ihr denn nichts gesagt? Ich hatte keine Ahnung, dass ihr kommt.«
»Und Matokas feierliche Neueröffnung verpassen?« Patricia hob empört die Brauen. »Es sollte eine Überraschung sein und ich habe ihre Küche schon immer geliebt. Schließlich bekommt man hier das beste Essen von Kowloon.«
»Das Beste der ganzen Stadt, will ich doch hoffen«, donnerte Matoka, die gerade mit einem Haufen Schalen und Essstäbchen um die Ecke gebogen kam. »Wenn sich das nicht bald herumspricht, muss ich Insolvenz anmelden.«
»Nun übertreib mal nicht«, protestierte Alan. »Deine Küche ist fantastisch und das weißt du. Außerdem ist die Lage ideal. Gelegen zwischen Nordufer und Südufer, zwischen Uptown und Downtown, zwischen arm und reich – du hättest es gar nicht besser treffen können. Der Laden wird laufen wie geschmiert, oder ich rasiere mir meinen Schnäuzer ab.«
»Die Wette gilt«, sagte Matoka und strich dem Journalisten über den Arm. Er zuckte zurück und alle lachten.
»Was ist eigentlich mit den Black Bishops?«, erkundigte sich Jared in die entstandene Pause hinein. »Hast du keine Angst, dass sie wieder vorbeikommen, um Schutzgeld abzukassieren.«
»Um die Bishops braucht ihr euch keine Gedanken mehr zu machen«, hörte Maddie eine vertraute Stimme.
Dante hatte sich unbemerkt genähert. »Diese Organisation gibt es nicht mehr. Ich verbriefe mich persönlich dafür, dass ihr mit diesen Gangstern in Zukunft keine Probleme mehr haben werdet. Ich habe vorhin mit dem Polizeipräsidenten gesprochen, der das Problem Black Bishops für beendet erklärt hat.«
Wie immer war der Cyborg eine beeindruckende Erscheinung. Der Umhang verhüllte sein mechanisches Außenskelett, doch Maddie konnte die Relais und Gelenke klicken hören. Wie ein dunkler Ritter stand er da und betrachtete sie.
Sie lächelte. Heute waren wirklich alle gekommen.
»Du warst schon immer etwas voreilig, mein Freund«, sagte Alan.
»Ich sehe die Sache nicht ganz so optimistisch. Wir haben es momentan mit einem Machtvakuum zu tun, das geschlossen werden will. Das wird nicht ohne Blutvergießen ablaufen. Für alle Anwesenden heißt es Kopf einziehen und in Deckung gehen.«
»Mag sein, aber heute Abend will ich nichts davon hören«, donnerte Matoka. »Heute werdet ihr gefälligst feiern und euch freuen. Oder ihr bekommt es mit mir zu tun.«
»Matoka hat recht«, sagte Patricia. »Fachsimpeln könnt ihr auch später noch. Einmal will ich erleben, dass ihr positiv denkt und euch mit uns freut. Und wenn nicht für euch selbst, dann wenigstens für Maddie. Sie hat einen schönen Abend verdient, findet ihr nicht?«
Die beiden Männer senkten die Köpfe und wirkten dabei wie Schuljungen, die von ihrer Lehrerin in den Senkel gestellt worden waren. Aber Maddie wollte nicht, dass sie sich unwohl fühlten. Sie wollte gerade von ihrem neuesten Projekt sprechen und von dem fantastischen Angebot, das sie von einem Verlag erhalten hatte, als sie draußen ein Blinken bemerkte. Irgendein Luftfahrzeug näherte sich da in niedriger Flughöhe und mit anscheinend recht hoher Geschwindigkeit. Sah aus wie ein Polizeifahrzeug.
Sie stand auf und ging zum Fenster.
»Erwartest du jemanden?«, erkundigte sie sich bei Dante. Der Cyborg justierte seine Fotosensoren. »Ein Interceptor«, murmelte er.
»Ich sehe eine Kennung. DW-725.« Er hob den Kopf. »Also von der Polizei ist der nicht.«
»Ich glaube, es ist medizinischer Nottransport«, sagte Alan. »Seht mal, was das drauf steht. Er kommt vom Eastern Medical Centre.«
Jetzt konnte Maddie es auch lesen. Das Luftfahrzeug setzte zur Landung an. Es schien tatsächlich zu ihnen zu wollen.
»Was ist denn los«, fragte Matoka.
»Keine Ahnung.« Ein tiefsitzender Argwohn regte sich in Maddie.
Sie hatte in der Vergangenheit schon zu oft mit diesen Dingern zu tun gehabt, um einfach darüber hinwegzugehen.
Sie verließ das Restaurant und ging rüber an die Kaimauer. Jared begleitete sie. Die Seitentür des Copter öffnete sich und eine Person stieg aus. Zahlreiche Schaulustige hatten sich versammelt und bildeten eine Gasse. Einen Interceptor sah man nicht alle Tage.
Als sich die Staubwolke legte, erkannte Maddie Sun. Die Ärztin verließ das Fluggerät mit eiligen Schritten.
»Es tut mir wahnsinnig leid, eure Party zu stören«, rief sie ihr zu, während sie näher kam. »Ich dachte, es würde länger dauern, aber nun ist es geschehe. Ich bin gekommen, um dich zu ihr zu bringen. Dich und Jared.«
»Zu wem? Was ist passiert? Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« Maddies Herz schlug bis zum Hals.
»Ernst? Na ja, wie man es nimmt.« Sun lächelte. »Deine Schwester ist aus dem Koma erwacht.«
»Meine Schwester?«
»Ja, und sie möchte dich sehen.«
Sie betraten einen großen, hellen Saal. Die Rückseite wurde von einer breiten Fensterfront dominiert, die einen atemberaubenden Blick auf die umliegenden Wolkenkratzer bot.
Sun deutete an, dass sie hier warten sollten und ging rüber auf die andere Seite. Maddie konnte hören, dass sie leise zu jemandem sprach.
Maddie runzelte die Stirn. Mit wem redete Sun denn da? Der Raum war leer, abgesehen von einem gelben Sessel, der frei in der Luft schwebte. Keine Ahnung, wie er dort hielt. Die Rückenlehne war ihnen zugewandt und so hoch, dass man nicht erkennen konnte, ob dort jemand saß. Als Suns Stimme verhallte, rotierte der Sessel wie von Zauberhand. Ein Mädchen hockte im Schneidersitz darin. Weißer Kittel, die Hände gefaltet vor sich auf dem Schoß. Sun winkte ihnen zu. »Ihr könnt kommen.«
Als sie zwei Meter von dem Mädchen entfernt waren, blieben sie stehen. Maddie nahm ihr Gegenüber genauer in Augenschein. Die Haare waren blond und gewellt, die buschigen Augenbrauen bildeten eine durchgehende Linie. Die Augen besaßen einen grünen Schimmer mit Sprengseln von Gold darin. Der Mund, der vor ein paar Tagen noch leise gelächelt hatte, wirkte jetzt ernst. Keine Frage, es war dieselbe Erscheinung. Die Tote.
Und doch wieder nicht. Das Mädchen vor ein paar Tagen hatte ausdruckslos ausgesehen, entspannt. Als würde sie schlafen. Die Person vor ihnen war voller Kraft und Energie. Wie eine leere Flasche, die plötzlich mit einem starken Getränk gefüllt worden war.
Maddie schaute das Mädchen an und das Mädchen schaute zurück. Keiner von beiden sagte etwas. Irgendwann wurde das Schweigen peinlich.
Zum Glück tat Jared den ersten Schritt.
»Bist du schon lange wach«, fragte er.
»Eine Stunde, vierunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden«, erwiderte das Mädchen mit einer Stimme, die Maddie irgendwie bekannt vorkam. Was weniger an der Klangfarbe, als vielmehr an der Art zu sprechen lag.
»So genau weißt du das?«, erkundigte sich Maddie.
»Ich weiß alles ganz genau. Ich erinnere mich an jedes Detail.«
»Auch an mich?«
»Vor allem an dich.« Der Ausdruck des Mädchens blieb reglos.
»Dann bist du also Zefira?«
»Ich glaube schon. Warum?«
»Du wirkst so … fremd.«
»Wie sollte es auch anders sein? Ich erkenne mich ja selbst kaum wieder.« Zefira schaute auf ihre Finger und beugte einen nach dem anderen. »Diese Körperlichkeit«, murmelte sie. »Es fühlt sich irgendwie merkwürdig an. Sehr irritierend …«
Maddie runzelte die Stirn. »Wenn du meine Schwester bist, müsstest du doch wissen, wie es sich anfühlt. Immerhin warst du ziemlich lange in mir drin.«
Zefira schwieg. Statt einer Antwort tippte sie ihre Fingerspitzen aufeinander. Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger und wieder von vorne.
»Ich dachte, ich wüsste es«, lautete die verwirrende Antwort. »Ich dachte es wirklich. Aber scheinbar ist es etwas anderes, ob man einen fremden Verstand übernimmt, oder ob man selbst gezwungen ist, all diese kleinen Befehle und Handlungen auszuführen. Das verbraucht unglaublich viel Gehirnaktivität. Vor allem, wenn man es nicht gewohnt ist. Eine völlig neue Welt …« Sie hob den Kopf. »Danke, dass ihr gekommen seid. Das bedeutet mir viel.«
Sie verließ ihren Schneidersitz und versuchte aufzustehen. Sun war sofort bei ihr. Maddie sah, dass ihre Schwester noch ziemlich wackelig auf den Beinen war.
Ein entschuldigendes Lächeln huschte um Zefiras Mund. »Das ist das Schwierigste«, sagte sie. »Der Gleichgewichtsinn. Fühlt sich an, als stünde ich auf einem Boot.«
»Woher weißt du denn, wie sich Boote anfühlen? Ich war noch nie auf einem.« Sie räusperte sich.
»Keine Ahnung. Vielleicht Resterinnerungen an die frühere Besitzerin?«
»Ausschließen lässt sich so etwas nicht ganz«, sagte Sun. »Wobei das sehr merkwürdig wäre. Boote sind eigentlich nur was für Wohlhabende.«
Zefira ließ sich von der Ärztin helfen und bat dann darum, losgelassen zu werden. Ihre Schritte wurden sicherer. »Ich habe keine Ahnung, woher ich bestimmte Dinge weiß« murmelte sie. »Sie sind einfach da. Vielleicht habe ich schon mal darüber gelesen, vielleicht habe ich einen Film gesehen, vielleicht stelle ich mir auch nur vor, wie es sein müsste, auf einem Boot zu stehen. Es gibt so viele Möglichkeiten …«
Maddie war immer noch verwirrt. In ihrem Traum hatte Zefira anders ausgesehen. Braunhaarig war sie gewesen und von etwa der gleichen Statur wie sie selbst. Eine Projektion von Zefira, wie sich selbst sah. Oder wie sie gerne sein wollte.
Das Mädchen hier war anders.
»Du hast Zweifel, stimmt’s? Du denkst dir: wer ist diese Person? Das soll meine Schwester sein? Es fällt dir bestimmt schwer, mir zu vertrauen.«
»Ja, schon …«
»Verstehe ich komplett. Aber vergiss nicht, es ist auch für mich nicht leicht. Ein neuer Körper. Der erste, den ich vollkommen allein bewohnen darf. Es braucht eine Weile, bis ich mich zurechtfinde. Solange ich mir selbst fremd bin, wirst du mich ebenfalls fremd finden. Aber vielleicht kann ich dir dein Misstrauen nehmen.«
»Wie?«
»Zum Beispiel, indem ich dir Dinge erzähle, die nur deine Schwester wissen kann.«
Maddie hob überrascht die Brauen: »Kannst du das denn?«
»Wir werden sehen …«
Maddie war verblüfft darüber, wie klug und erwachsen dieses Mädchen redete. Sie hatte ihre Schwester viel unreifer in Erinnerung. Überhaupt kam es einem Wunder gleich, dass sie so schnell wieder auf den Beinen war. Ihr Verstand schien messerscharf zu sein und das Sprachvermögen schien auch nichts eingebüßt zu haben.
»Einverstanden«, sagte sie. »Versuch’s mal.«
Der Blick des Mädchens wanderte rüber zu Jared. »Vielleicht besser unter vier Augen?«
»Jared ist mein Freund. Vor ihm habe ich keine Geheimnisse.«
»Wie du willst.« Sie machte eine Handbewegung und wie durch Zauberei stiegen einige Sitzgelegenheiten aus dem Boden. Auch ein Automat erschien, der per Knopfdruck Getränke und Snacks ihrer Wahl bereitstellte. Dann fing sie an zu erzählen.
Zwanzig Minuten später endete der Vortrag. Maddie war sprachlos. Das Mädchen kannte viele Geheimnisse.
Ein feines Lächeln umspielte Zefiras Mund. »Und? Beeindruckt?«
Maddie nickte langsam. »Sagen wir mal so: du weißt tatsächlich Dinge, die nur meine Schwester wissen kann – vor allem in dieser Ausführlichkeit. Zum Beispiel das, was du mir über den letzten Kampf erzählt hast. Es deckt sich eins zu eins mit dem, was ich erlebt habe.«
»Das ist gut, oder…?«
Maddie nickte. »Trotzdem werde ich eine Weile brauchen, um mich an dich zu gewöhnen. Ich könnte mir vorstellen, dass es mit deinem neuen Körper zu tun hat. Andere Stimme, anderes Aussehen …«
»Oh, ich weiß genau, was du meinst.« Zefira blickte an sich hinab. »Dieses Ding hier fordert mir alles ab.« Sie deutete auf Arme und Beine. »Dieser Körper! Es ist, als müsste ich das Fahrradfahren neu lernen. Oder das Schwimmen. Nur viel schwieriger. Herrjeh, ich muss sogar aufpassen, dass ich nicht versehentlich vergesse, Luft zu holen.«
»So schlimm?«, erkundigte sich Jared.
Sie nickte. »Und lästig obendrein. Bisher hat Maddie das alles für uns gemacht, jetzt muss ich es selber tun. Das hat natürlich Auswirkungen. Ich muss jede verfickte Sekunde, vierundzwanzig Stunden am Tag auf meine Vitalwerte achten. Herzschlag, Atmung, Gleichgewicht. Meine Gedanken, meine Gefühle … das ist, als würde ich mit einhundertzwanzig Bällen gleichzeitig jonglieren und aufpassen, damit keiner runterfällt.«
»Aber machen unsere Körper das nicht automatisch, ohne darüber nachzudenken?«, erkundigte sich Jared.
»Normalerweise schon«, mischte sich Sun ein. »Der Unterschied ist nur, dass wir damit geboren wurden. Ein Baby hat den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als zu essen, zu schlafen und zu wachsen. Als Kind hat man Zeit, den eigenen Körper über Jahre hinweg kennenzulernen. Zefira hingegen muss in wenigen Stunden erlernen, wofür wir Jahre hatten.«
»Und das ist verdammt anstrengend«, warf Maddies Schwester ein. »Manchmal komme ich mir vor wie ein Dreiradfahrer, der plötzlich am Steuerpult eines komplizierten Lastenroboters sitzt und zusehen muss, wie er in kurzer Zeit mit den hunderten von Knöpfen, Schalthebeln und Lenkrädern umgeht. Es ist viel mühsamer, das alles neu lernen zu müssen.«
Sun nickte. »Lass es langsam angehen. Gemessen an der kurzen Zeitspanne hast du bereits erstaunliche Fortschritte gemacht. Viel mehr, als wir alle in derselben Zeit. Ich kann gut nachvollziehen, wie du dich fühlen musst.«
Maddie überlegte kurz, dann sagte sie: »Vielleicht war ich zu skeptisch. Darf ich dich mal in den Arm nehmen?«
Zefira blickte verblüfft. »Aber natürlich.«
Maddie legte vorsichtig ihre Arme um das fremde Mädchen. Ein merkwürdiges Gefühl. Doch ihr war die Berührung wichtig. Nur so konnte sie eine Bindung aufbauen. »Es fällt mir noch immer schwer, jemandem zu vertrauen«, gestand sie seufzend. »Ich kann einfach nicht vergessen, was im letzten Jahr passiert ist. Manchmal wache ich nachts auf und bin schweißüberströmt. Dann brauche ich ein paar Minuten um wieder ich selbst zu sein und stelle fest, dass ich mal wieder einen Alptraum hatte …«
»Wie gesagt, ich bin mir selbst noch fremd«, sagte Zefira. »Aber das wird schon, versprochen.«
»Ich hoffe es …« Maddie spürte, wie ihre Worte die harte Schale durchbrachen. Wenn es wirklich stimmte, was ihre Schwester da sagte, dann konnte das für sie alle nur von Vorteil sein. Immerhin steckte sie nicht länger in Maddies Kopf und das war ein Riesenfortschritt.
»Ich bin so froh, dass die Operation geklappt hat«, sagte sie, als die beiden sich voneinander lösten. »Du hast jetzt einen Körper. Endlich können wir uns richtig kennenlernen. Als zwei eigenständige Personen. Das ist etwas, worauf ich mich freue.«
Zefira verzog den Mund. »Ich war manchmal eine ganz schöne Nervensäge, oder?«
»Manchmal?« Maddie grinste. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein.