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Beschreibung

Zeitfragen stellen, Zeitfragen klären Das Phänomen Zeit nimmt im pädagogischen Diskurs eine besondere Rolle ein. Wie viel Zeit erlauben wir Kindern und Jugendlichen für Entwicklungs- und Lernprozesse? Wie verändert sich der Umgang mit Zeit durch Erwartungen der Leistungsgesellschaft? Wie wirken sich digitale Medien auf das Zeiterleben aus? Diesen Fragen wird aus psychologischer, pädagogischer und philosophischer Perspektive nachgegangen: Die Autorinnen und Autoren stellen aktuelle Forschungsergebnisse und Konzepte vor. Der Sammelband bietet damit vielfältige Reflexionsmöglichkeiten und Implikationen für die pädagogische Arbeit. Autoren und Autorinnen: - Prof. Dr. Clemens Hellsberg | Wien (A) - Assoz.-Prof. Dr. Dipl.-Ing. Lisa Kaltenegger | Ithaca, NY (USA) - Univ.-Prof. Dr. Peter Heintel | Klagenfurt (A) - Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Hede Helfrich | Köln (D) - Univ.-Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort | Hamburg (D) - Dr. habil. Gabriele Haug-Schnabel | Kandern (D) - Assoz.-Prof. Dr. Dorothé Bach | Charlottesville, VA (USA) - Assoz.-Prof. Dr. John Baugher | Baltimore, MD (USA) - Günter Funke | Berlin (D)

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Zeit

ZEIT

Anna Maria KalcherKarin Lauermann (Hg.)

Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg

Tagungsband der 65. Tagung 2016

Katholisches Bildungswerk Salzburg

F.W.-Raiffeisenstraße 2, 5061 Elsbethen, Österreich

www.bildungskirche.at

Mit freundlicher Unterstützung der Universität Salzburg und der Caritas Österreich.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Umschlagbild:

Mit Genehmigung von shutterstock.com, © Min Chiu 2016

Grafik S. 64: © mtkang, shutterstock.com

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Anja Zachhuber

eISBN 978-3-7025-8034-6

Auch als Print erhältlich: Print-ISBN: 978-3-7025-0848-7

www.pustet.at

Inhaltsverzeichnis

Facetten von Zeit im pädagogischen Kontext. Eine Einleitung

Anna Maria Kalcher und Karin Lauermann

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Gedanken zur Zeit in der Musik

Clemens Hellsberg

Unsere Zeit als Wendepunkt in der Astronomie

Lisa Kaltenegger

Geld ist Zeit

Peter Heintel

Der verborgene Horizont. Psychologische Aspekte der Zeit

Hede Helfrich

Wenn die Zeit krank macht. Über den Zusammenhang von Erschöpfungsdepression und Entwicklungsdyspraxie

Michael Schulte-Markwort

Mehr als ein Blick auf die Uhr. Wie Kinder Zeit erleben

Gabriele Haug-Schnabel

Vom Lob der Umwege. Pädagogik braucht ihre Zeit

Lothar Böhnisch

Hast du es eilig, gehe langsam. Kontemplatives Lernen im Zeitalter von Beschleunigung und Zerstreuung

Dorothe Bach und John E. Baugher

Unsere Aufgaben in dieser Zeit

Boglarka Hadinger

Die Kultur des Fehlermachens und die Kunst des Verzeihens

Günter Funke

Autorinnen und Autoren

Herausgeberinnen

Anna Maria Kalcher und Karin Lauermann

Facetten von Zeit im pädagogischen Kontext. Eine Einleitung

Wer in pädagogischen Feldern tätig ist, der und dem begegnet das Thema ›Zeit‹ auf vielen Ebenen und in verschiedenen Facetten. Zum einen gilt es, innerhalb meist vorgegebener Zeitstrukturen Lernprozesse zu initiieren und zu gestalten. Zum anderen stellen sich Fragen nach der zur Verfügung stehenden Zeit, um Ziele und Inhalte zu realisieren. Damit im Zusammenhang stehen bildungspolitische Fragen, wie zum Beispiel, ab wann und wie lange junge Menschen in institutionellen Lernsettings verpflichtet werden sollen, und Diskussionen beispielsweise darüber, in welchen Zeitspannen Schul- oder Studienabschlüsse zu absolvieren sind. Angesichts derartiger Debatten wirken Ansätze wie jener von Emmi Pikler nahezu provokant. Ihr Leitsatz lautet »Lasst mir Zeit« und bezieht sich auf die frühkindliche Bewegungsentwicklung. Empirisch weist sie nach, dass ein Verweilen in und Auskosten von Entwicklungsphasen nicht bloß sinnvoll, sondern hoch relevant für die positive Bewältigung nachfolgender Entwicklungsschritte sind. Kinder, die mit Angeboten versorgt werden, die sie selbstbestimmt in Angriff nehmen können, anstatt mit überfordernden Aufgaben frühzeitig konfrontiert zu werden, profitieren davon in vielen Bereichen ihrer Persönlichkeitsbildung. Dabei bedarf es mit Pikler (2001) differenzierter Beobachtungen, um entsprechende Aufgaben und Angebote zu entwickeln. Angesichts der zeitlichen Herausforderungen – Erfüllung von Bildungsplänen, Verkürzung von Ausbildungszeiten, Fokussierung auf Kompetenzüberprüfung zugunsten weit gefasster Bildungskonzepte – ist zu fragen, was Pädagoginnen und Pädagogen tun können, um die Zeit, die sie mit Kindern und Jugendlichen verbringen, so zu gestalten, dass diese zum Wohle aller genutzt wird und soziale, emotionale und ästhetische Aspekte ebenso berücksichtigt werden wie die kognitive Ebene – ganz im Sinne einer umfassenden Bildung.

Das Anliegen der 65. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg zum Thema »Zeit« lautete: eine Vielfalt an Zugängen aufzuzeigen und dabei auch Blickwinkel einzunehmen, die nicht ausschließlich pädagogisch fokussiert sind. Die hier versammelten Texte bilden unterschiedliche Perspektiven ab und sollen Impulse zum Nachdenken und Reflektieren zeitbezogener pädagogischer und persönlicher Aspekte geben. Vor der Vorstellung der einzelnen Beiträge mögen weitere thematische Facetten aufgezeigt werden, um die Kontextualisierung zu verdeutlichen.

Zeit scheint gegenwärtig eines der kostbarsten Güter zu sein. Zeitgeschenke werden für viele wichtiger als ein hübsch verpacktes materielles Präsent. Paradoxerweise verfügen Menschen in westlichen Ländern soziologischen Studien folgend über so viel Freizeit wie selten zuvor. Es dürften also nicht die real vorhandenen Zeiträume sein, die den Eindruck von Stress erwecken, sondern eher das für unsere Gesellschaft bestimmende Tempo. Besonders deutlich wird diese Schnelligkeit im Kommunikationsverhalten innerhalb der Neuen Medien. Es wird vielfach erwartet, unmittelbar auf Nachrichten zu reagieren. Damit erlangen Fragen nach der Organisation von Arbeitszeit und Freizeit, etwa in Form eines ausgewogenen Zeitmanagements, eine hohe Relevanz. Zuweilen wird die frei zur Verfügung stehende Zeit nicht als Erholung und Kraftquelle erlebt, sondern verursacht Stress: die Sorge, in der Vielfalt an Angeboten das Perfekte zu finden und nichts Wesentliches zu versäumen. Wenn Eltern – in bester Absicht – ihre Kinder von Aktivität zu Aktivität chauffieren, bewirkt dies einen vollen Terminkalender und geht auf Kosten informeller Spiel- und Lernräume. Daran anknüpfend können unter anderem die Fragen gestellt werden: Dürfen wir Kindern und Jugendlichen Zeiten der Langeweile zumuten? Sollen wir bewusst Zeiten der Unproduktivität für Kinder und Jugendliche einplanen? Arthur Schopenhauer zufolge erfahren wir Zeit nicht bei Kurzweiligem, sondern gerade in der Langeweile. Wer das Phänomen Zeit begreifen will, wende sich, so die zugegeben etwas gewitzte Empfehlung Rüdiger Safranskis, am besten der Langeweile zu (vgl. Safranski 2015, S. 19f.). Langeweile wird als leere Zeit erlebt, wobei sie letztlich nie ereignislos ist. Im Gegensatz dazu führt eine Fülle an Reizen und Ereignissen zum Eindruck, Zeit würde schneller voranschreiten. Wie rasant gegenwärtige Zeitabläufe sind und wie diese Beschleunigung zu sozialer Entfremdung führt, beschreibt Hartmut Rosa (2016). Insgesamt betont Rosa drei Kategorien: die technische Beschleunigung durch Veränderungen aufgrund der Globalisierung und der digitalen Revolution, die Beschleunigung des sozialen Wandels, indem mehrfache Wechsel hinsichtlich Berufsausübung, Beziehung, Wohnort gegenwärtig in westlichen Gesellschaften dominieren sowie die Beschleunigung des Lebenstempos durch die »Steigerung der Zahl an Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit« (ebd., S. 27). Diese drei Kategorien bestimmen die »Akzelerationsdynamik« moderner Gesellschaften (ebd., S. 55). Als Motoren dieser Beschleunigung identifiziert Rosa das Wettbewerbsprinzip (vgl. ebd., S. 35) und die mit der Säkularisierung verbundene Idee, das Leben voll und ganz auszukosten, da der Glaube an ein Jenseitsleben vielfach nicht mehr geteilt wird (vgl. ebd., S. 39). Vieles deutet darauf hin, dass diese Beschleunigung weder gesundheitsfördernd noch lernfördernd ist. Für die pädagogische Arbeit scheinen gerade die Umwege und das Erkunden unausgeleuchteter Pfade sowie das Ausprobieren neuer Wege bedeutsam – auch wenn damit das Risiko des Scheiterns verbunden ist. Lernautobahnen erlauben keine Verinnerlichung, keine Durchdringung von Inhalten und Erkenntnissen. Karlheinz Geißler unterstreicht diese Überlegungen, wenn er sagt, Erziehung und Bildung kommen nicht ohne Irrwege und Wiederholungen aus (vgl. Geißler 2010, S. 64). Rosa empfiehlt, den Phänomenen der Beschleunigung Erfahrungen des Berührt- und Bewegt-Werdens und des aktiven Berührens und Bewegens als Form des Selbstwirksamkeitserlebens entgegenzuhalten, um die Gefahr der Entfremdung zu bannen. Wie dies in der pädagogischen Praxis gelingen kann, sodass es beispielsweise im Klassenzimmer zu knistern beginnt, zeigt Rosa zusammen mit Wolfgang Endres auf (vgl. Rosa/Endres 2016). Ihr Ansatz bietet eine Möglichkeit zum Umgang mit aktuellen Anforderungen. Ein weiterer Zugang lautet Ressourcenorientierung, das heißt Konzentration auf vorhandene Potenziale und bereits vollzogene Lernschritte. Gerade in pädagogischen Handlungsfeldern wird oft auf problematische und konfliktbehaftete Situationen geblickt, diese werden umfassend bearbeitet und diskutiert. Wir meinen, es gilt, positive, erfreuliche Begegnungen und Lernerfahrungen gleichermaßen wahrzunehmen, zu analysieren und zu verbuchen und im Sinne einer Qualitätssicherung Sorge zu tragen, erforderliche Rahmenbedingungen zu schaffen, um derartige gelingende Momente auch weiterhin zu gewährleisten. Das Titelbild der vorliegenden Publikation zeigt eine Sonnenuhr, die diesen Gedanken anklingen lässt.

Das vielfach beklagte Tempo, der Zeitforscher Karlheinz Geißler (2010) spricht von »Sofortismus« (S. 66), können wir nicht aufhalten und nur bedingt verlangsamen, wohl kann aber jede und jeder im pädagogischen Alltag Zeitlichkeit verhandeln und Zeiträume steuern: beispielsweise durch Pausen, durch Achtsamkeit und durch Muße. »Nicht die Zeit rennt, wir rennen«, diagnostiziert Geißler und regt an, der »Beschleunigungsdynamik« Zeiten des Dazwischen entgegenzusetzen (ebd., S. 23). Lothar Seiwert (2001) empfiehlt als Strategie gegen Eile und Stress, bewusst das Tempo zu drosseln und Langsamkeit zu üben. Untersuchungen deuten darauf hin, dass Achtsamkeitsübungen mit einer Stressreduktion einhergehen und das Wohlbefinden fördern (vgl. z.B. Kabat-Zinn/Kabat-Zinn 2007; Hanson/Mendius 2010; Gerner 2013). Eine gelungene Darstellung aus neurowissenschaftlicher Perspektive gibt Daniel Siegel (2007). Ein anderer Weg der Kontemplation kann über das Nachdenken über den Rhythmus und die Rhythmisierung erfolgen. So weist Geißler darauf hin, dass alles Lebendige rhythmisch organisiert ist, was in vielen körperlichen Prozessen zum Ausdruck kommt (vgl. Geißler 2010, S. 29). Er stimmt ein Lob auf die Pausenkultur an, um dem Rhythmus von Anspannung und Entspannung zu folgen und plädiert dafür, die gegenwärtig wenig geschätzten Zeitqualitäten Langsamkeit, Wiederholung, Warten und Pausen zu rekultivieren (vgl. Geißler 2010, S. 42f.). Darüber hinaus soll jede und jeder sich bewusst machen, welche Aktivität eher schnelles beziehungsweise welche hingegen langsames Handeln verlangt. Es geht darum, zu prüfen, in welchen Situationen auf ein unnötig rasches Tempo verzichtet werden kann, um ein »Enthetzen« zu erreichen (vgl. ebd., S. 48). Hilfreich scheint hierbei die Pflege wohltuender Rituale. Rituale bezeichnet Geißler als »Alleen des Zeitlichen«, da sie Zeit ordnen, formen und strukturieren (ebd., S. 66). Auch Clemens Sedmak betont den Wert von Wiederholungen. Gewohnheiten geben dem Alltag Halt und Stabilität, können jedoch auch einengen und fixieren. Veränderungen im eigenen Leben bedürfen der Aufgabe bestehender Gewohnheiten. Sedmak empfiehlt, täglich einen Monat lang entweder mit einer Gewohnheit zu brechen oder sich eine neue Gewohnheit anzueignen. Mit diesem Experiment entwirft er eine Praxis der »Selbstethik« (Sedmak 2014, S. 8). Martin Seligman schlägt beispielsweise vor, ein Dankbarkeitstagebuch anzulegen und jeden Tag einen Eintrag zu verfassen. Auf diese Weise ändere sich die Wahrnehmung des Alltags (vgl. ebd., S. 181). Es scheint interessant, diese Anregungen in pädagogischen Settings – etwa im Kollegium oder in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – auszuprobieren, um zu erfahren, wieviel Gestaltungsmöglichkeiten in relativ kurzen Zeitspannen gegeben sind.

Rüdiger Safranski konstatiert: »Wir stehen unwiderruflich unter der Herrschaft der Zeit. Umso besser, dass wir wenigstens mit ihr spielen können« (Safranski 2015, S. 16). Diese Komponente des Spiels deutet auf das Moment der erfüllten Zeit hin (vgl. ebd., S. 17). Augenblicke der Zeitlosigkeit und der Erfüllung begleiten häufig kunstbezogene Erlebnisse. Insbesondere Musik, die vielleicht zeitlichste aller Kunstformen, vermag uns aus den Sorgen des Alltags herauszuheben und uns Momente erfüllter Zeit zu eröffnen.

Diese und viele andere Gedanken wurden im Rahmen der 65. Internationalen Pädagogischen Werktagung aufgegriffen und facettenreich verhandelt.

Clemens HELLSBERG, promovierter Musikwissenschaftler, viele Jahre als erster Geiger der Wiener Philharmoniker tätig und langjähriger Vorstand dieses weltbekannten Orchesters, diskutiert Fragen zum Thema Zeit und Musik. Er verweist darauf, dass sich diese Beziehung keineswegs auf Aspekte wie Tempo und Rhythmus beschränkt, sondern weitaus vielfältigere und subtilere Komponenten beinhaltet. Seine Gedanken illustriert er anhand ausgewählter Werke der Musikgeschichte und regt damit an, dem Phänomen Zeit aus der Perspektive der Ästhetik nachzusinnen.

Eine gänzlich andere zeitliche Dimension eröffnet der Blick in kosmische Welten. Neue wissenschaftliche Forschungsmethoden verändern unsere Sichtweise, sowohl was die Entstehung von Leben als auch unsere Position im Universum betrifft, denn vieles deutet darauf hin, dass außerhalb der Erde Leben existiert. Die Auseinandersetzung mit astronomischen Phänomenen berührt Fragen nach der Vergangenheit des Universums ebenso wie Fragen unserer Zukunft. Die Astrophysikerin Lisa Kaltenegger teilt ihre Faszination für die Erforschung des Sternenhimmels und schafft es, diese komplexen Themen anschaulich darzustellen. Dadurch lassen sich Anregungen für die didaktische Bearbeitung – etwa im schulischen Kontext – ableiten.

»Zeit ist Geld«, dieser Spruch ist allgemein vertraut. Der Philosoph Peter HEINTEL pointiert dessen Umkehrung: Geld ist Zeit. Im Anschluss daran erörtert er aus philosophischer und soziologischer Perspektive die Frage: »In welcher Weise strukturiert unser Umgang mit Geld unsere Zeit?« Seine Überlegungen gegen die Beschleunigung und für eine andere Zeitkultur rücken unterschiedliche Facetten der Zeitverdichtung in den Fokus, um einen freien und gewährenden Blick auf individuelles und kollektives Innehalten, Verweilen und Pausen gegen alle Logik der ›Sachzwänge‹ zu gewinnen.

In der gegenwärtigen Gesellschaft mit ihren beschleunigten Zeittakten und Kommunikationsmöglichkeiten haben viele Menschen das Gefühl, dass ihnen die Zeit davoneile. Insbesondere mit zunehmendem Alter scheint die Zeit immer schneller zu verlaufen, konstatiert die Psychologin Hede HELFRICH. Hat die Zeit nicht einen Doppelnamen? Unser Zeitempfinden speist sich aus zwei Quellen: aus der biologischen Zeit, der ›inneren Uhr‹ und aus der subjektiv erlebten Zeit, der ›Ereigniszeit‹, die in starkem Maße von der jeweiligen Kultur geprägt zu sein scheint. Die Zeit stellt somit ein gutes Beispiel für den Antagonismus von gewachsener kultureller Tradition und fortschreitender Globalisierung dar.

Der Kinder- und Jugendpsychiater SCHULTE-MARKWORT widmet sich Fragen der Erschöpfungsdepression und fokussiert seine Ausführungen vor allem in Richtung sogenannter entwicklungsdyspraxischer Kinder und Jugendlicher, die Schwierigkeiten mit dem schnellen Tempo haben. Vor dem Hintergrund seiner ärztlichen und therapeutischen Expertise sensibilisiert er für diese Problematik und für die Bedürfnisse dieser Gruppe. Empirische Studien untermauern seine Überlegungen.

Wie Kinder Zeit erleben und woran die Entwicklung des Zeitverständnisses festzumachen ist, beschreibt Gabriele HAUG-SCHNABEL. Sie verbindet Erkenntnisse aus der Forschung mit anschaulichen Beispielen aus der pädagogischen Praxis und vermittelt dadurch auf ebenso profunde wie verständliche Weise wesentliche Meilensteine der kindlichen Zeitentwicklung. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie Pädagoginnen und Pädagogen diese Prozesse begleiten können.

Die Pädagogik der Zeit lässt sich über vier zentrale Zeitverhältnisse thematisieren: über das Generationenverhältnis, die Spannung zwischen linearen und zyklischen Strukturen im Lebenslauf, den Konflikt zwischen Externalisierung und Innehalten und die Chance der Umwege, betont Lothar BÖHNISCH. Der Sozialpädagoge und Soziologe betrachtet die Rolle der Zeit in der Entwicklung von Menschen, speziell von männlichen Jugendlichen und jungen Männern. Ausgehend von pädagogisch relevanten Grundfiguren von Zeit führen seine Betrachtungen über das Zeitverständnis pädagogischer Institutionen zum Verhältnis von Zeit und Geschlecht und er resümiert: Verlorene Zeit wird gewonnene Zeit.

In einer Kultur der Zeitknappheit versucht die kontemplative Pädagogik, Raum zu schaffen, die ganzheitlichen Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Studierenden wieder verstärkt in den Blick zu nehmen und mentale, emotionale sowie soziale Qualitäten zu kultivieren, die für transformatives, nachhaltiges Lernen essenziell sind. Dorothe BACH und John BAUGHER beschreiben den Ansatz und die Intentionen der kontemplativen Pädagogik und verdeutlichen, wie sich diese mit nachhaltigem Lernen im weiteren Sinne verknüpfen lässt. Veranschaulicht wird dieser kontemplative Lehransatz an konkreten Beispielen aus der universitären Lehrpraxis.

Die Logotherapeutin Boglarka HADINGER richtet ihren Blick auf aktuelle Themen unserer Zeit und entwirft Lösungsmöglichkeiten, die zugleich ermutigen und herausfordern. Sie differenziert insgesamt drei Aufgabenbereiche: Aufgaben, die jede und jeden unmittelbar betreffen, Aufgaben, die sich auf den Umgang mit den Nächsten beziehen und schließlich Aufgaben, die es in der äußeren Welt zu leisten gilt.

»Alles hat seine Zeit«, formulierte Kohelet so treffend. Günter FUNKE, der im Rahmen der 65. Internationalen Pädagogischen Werktagung einen Vortrag zum Thema »Geschenkte Zeit, gestohlene Zeit« halten wollte, musste aus gesundheitlichen Gründen absagen. Nur wenige Wochen später – im August 2016 – verstarb er, was uns sehr betrübt. In Memoriam an sein Engagement als Mitglied des Kuratoriums beziehungsweise des Wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Pädagogischen Werktagung, an der er 25 Jahre lang als Referent mitwirkte, möchten wir in diesem Band einen Vortrag zum Thema »Umgang mit Fehlern« aufnehmen, den er vor einiger Zeit in Innsbruck gehalten hat. Dieser Beitrag verdeutlicht an vielen Stellen Günter Funkes Haltung und Sichtweise. Aufgrund seiner Ausbildung in Logotherapie und Existenzanalyse bei Viktor Frankl war es ihm ein Herzensanliegen, Menschen zu ermutigen und anzuleiten, den Sinn ihres Handelns zu reflektieren.

Wir möchten Günter Funke an dieser Stelle im Namen des Wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Pädagogischen Werktagung von Herzen für sein Sosein und seine steten Impulse danken und versichern, dass seine Überlegungen und Ansätze durch persönliche Begegnungen und den Dialog mit zahlreichen Menschen weiterleben und weiterwachsen werden.

Mit den in dieser Publikation versammelten Beiträgen wollen wir, die Herausgeberinnen, einerseits eine Reflexion über Fragen der Zeitlichkeit im pädagogischen Kontext anstoßen, andererseits ermutigen, Zeit proaktiv zu gestalten und auch kleine Entwicklungsschritte zu würdigen. Wir möchten anregen, die gegenwärtige Zeit, den Augenblick zu zelebrieren und in der pädagogischen Arbeit Momente des Gelingens aufzuspüren und auszukosten.

Literatur

Geißler, K. (2010): Lob der Pause. Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind. München.

Gerner, C. (2013): Der achtsame Weg zur Selbstliebe. Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. 4. Aufl. Freiamt.

Hanson, R./Mendius, R. (2010): Das Gehirn eines Buddha. Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit. Freiburg.

Kabat-Zinn, M./Kabat-Zinn, J. (2007): Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie. Freiamt.

Pikler, E. (2001): Lasst mir Zeit. Die selbstständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. 3. Aufl. München.

Rosa, H. (2016): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. 5. Aufl. Berlin.

Rosa, H./Endres, W. (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim und Basel.

Safranski, R. (2015): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. München.

Sedmak, C. (2014): Jeder Tag hat viele Leben. Eine Philosophie der kleinen Schritte. Salzburg.

Seiwert, L. (2001): Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Das neue Zeitmanagement in einer beschleunigten Welt. Frankfurt/M.

Siegel, D. (2007): Das achtsame Gehirn. Aus dem Amerikanischen von Ute Weber. Freiamt im Schwarzwald.

Clemens Hellsberg

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Gedanken zur Zeit in der Musik

Zusammenfassung

In der Musik ist Zeit eine in vielerlei Hinsicht entscheidende Komponente. Vom (scheinbar linearen) Ablauf eines Musikstücks, bei dem Zeit einer gängigen Definition zufolge als bewusst wahrgenommene Abfolge von Veränderungen verstanden wird, über die (scheinbar banale) Schaffung von »Zeitgewinn« für die sichere Bewältigung ausführungstechnischer Probleme bis hin zur (scheinbar sublimen) Überhöhung einer musikalischen Ausdrucksform zur »platonischen Idee« und dem damit verbundenen Begriff der Überzeitlichkeit – die Befassung mit dem Phänomen Zeit bedeutet in der Musik keineswegs die Beschränkung auf Fragen wie Tempo und Rhythmus, sondern führt nicht zuletzt zu einer Erkenntnis des Heiligen Augustinus: »Zeit wohnt in der Seele.« Diese und weitere Aspekte werden in den folgenden Ausführungen entfaltet.

Es ist für einen ehemaligen Orchestermusiker ein Ding der Unmöglichkeit, einen Vortrag über die Bedeutung der Zeit in der Musik anders zu beginnen als mit einem Zitat aus dem »Rosenkavalier«. Dies gilt umso mehr, wenn man den Vortrag in der Stadt Salzburg halten darf, gegenüber dem Großen Festspielhaus, das am 26. Juli 1960 mit dem »Rosenkavalier« eröffnet wurde und in dem ich die Oper rund vierzigmal spielte. Und zudem drehte sich Rüdiger Safranskis Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 2015 mit dem Titel »Macht der Zeit – Macht über die Zeit« ebenfalls um den »Rosenkavalier«.

In zwei Passagen des ersten Aufzugs lässt Hugo von Hofmannsthal die Marschallin, Maria Theresia Fürstin Werdenberg, über die Zeit nachdenken, in einem Monolog und in einer Szene mit Octavian, die aber ebenfalls ein Monolog ist: Die Fürstin erreicht ihren Gesprächspartner nicht – der »Bub mit seine siebzehn Jahr’« hat noch kein Sensorium für diese Thematik. Von der Schönheit der Sprache abgesehen, fasziniert die erste Passage durch die fast naiv wirkende Selbstverständlichkeit, mit der die Fürstin scheinbar banale Erkenntnisse aneinanderreiht. Dichterisch grandios ferner, wie sie mit einem einzigen Wort – »geheim« – zum Phänomen Zeit Stellung nimmt und dann eine zwar nicht wissenschaftliche, aber in ihrer schlichten Weisheit überraschende und vor allem zutiefst menschliche Lösung findet. Der Wortlaut der Passage mit den Regieanweisungen Hugo von Hofmannsthals:

»Kann mich auch an ein Mädel erinnern, das frisch aus dem Kloster ist in den heiligen Ehstand kommandiert word’n. (nimmt den Handspiegel) Wo ist die jetzt? Ja, (seufzend) such’ dir den Schnee vom vergangenen Jahr! Das sag’ ich so: (ruhig) Aber wie kann das wirklich sein, dass ich die kleine Resi war und dass ich auch einmal die alte Frau sein werd? Die alte Frau, die alte Marschallin! ›Siegst es, da geht die alte Fürstin Resi!‹ Wie kann denn das geschehn? Wie macht denn das der liebe Gott? Wo ich doch immer die gleiche bin. Und wenn er’s schon so machen muss, warum lasst er mich zuschaun dabei mit gar so klarem Sinn! Warum versteckt er’s nicht vor mir? Das alles ist geheim, so viel geheim. Und man ist dazu da, dass man’s ertragt. Und in dem ›Wie‹ (sehr ruhig) da liegt der ganze Unterschied«.

Die Geradlinigkeit und berührende Unmittelbarkeit des Gedankengangs erinnert ein wenig an die Erkenntnis des heiligen Augustinus hinsichtlich der Zeit: »Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären« (Augustinus 1989, S. 14). In der Vertonung berühren das Einfühlungsvermögen, mit dem Richard Strauss auf Hofmannsthals Gedanken eingeht und die liebevolle Aufmerksamkeit, die er dieser zentralen Passage widmet: Der Meister der Instrumentation, der dem vollen Orchesterklang eine differenzierte Farbenpracht abgewinnen konnte wie kaum ein anderer Komponist, reduziert die Partitur auf Kammermusik, die intimste Form der Instrumentalmusik; er hält bei »geheim« inne und eröffnet bei »Wie«, dem zweiten entscheidenden Wort, durch seine Kunst der Instrumentation eine neue Welt.1

»Unsere Erfahrung der Zeit konfrontiert uns also mit dem Altern und der Sterblichkeit«, kommentiert Rüdiger Safranski (2015) den Monolog der Marschallin. »Aber es kommt noch etwas hinzu: Wir erleben ja nicht nur die lineare Zeit des Nacheinander, des Früher und Später, sondern wir erleben eine dreidimensionale Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das bedeutet: Wir erfahren das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht, was gewiß eine Bereicherung ist, aber doch auch eine schwierige Berührung mit dem Nichtwirklichen, entweder, weil es vergangen ist oder weil es künftig ist. Vollkommen wirklich ist eigentlich nur die Gegenwart« (Safranski 2015).

Der Gedanke von der Dreidimensionalität der Zeit bewegt die Menschheit seit Langem. Schon Augustinus hielt fest: »Aber auf welche Weise können denn diese beiden Zeiten sein, die Vergangenheit und die Zukunft, wenn doch das Vergangene schon nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist? Eine Gegenwart aber, die immer gegenwärtig bliebe und nicht überginge in die Vergangenheit, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit« (Augustinus 1989, S. 314). Mit anderen Worten: Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft müssen genauso real sein wie Ereignisse in der Gegenwart – und es gibt in der Tat physikalische Erkenntnisse, denen zufolge eine Aufteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnlos ist. »Eine Gegenwart aber, die immer gegenwärtig bliebe und nicht überginge in die Vergangenheit, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit« (Davies 1995, S. 79). Der Gedanke führt zu Hermann Minkowski, einem der Professoren Albert Einsteins an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, der bei einem Vortrag über die drei Jahre zuvor veröffentlichte Relativitätstheorie seines früheren Studenten unter Hinweis auf die Zeit als Vierte Dimension anregte, diese »nach Art des Raumes darzustellen« (ebd., S. 80). Das und die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führten zum Begriff des »Zeitbildes«, also zur Vorstellung, die Zeit wie ein Bild zu sehen, das vor uns liegt. Dieses philosophische Gedankenexperiment der »statischen Zeit« wird in einigen Schlüsselwerken der Musikgeschichte Wirklichkeit. In seinem 1995 erschienenen, lesenswerten Buch »Die Unsterblichkeit der Zeit. Die moderne Physik zwischen Rationalität und Gott«, das aufgrund seiner Zusammenfassung und Erklärung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nach Einstein und der peniblen Quellenangaben eine wichtige Grundlage für diesen Vortrag bildete, stellt Paul Davies, Professor für mathematische Physik und Wissenschaftsphilosophie an der Universität von Adelaide, die Frage: »Kann ein Mensch der Zeit wirklich entfliehen und die Ewigkeit schauen?« (Davies 1995, S. 24).

Einer, der dies konnte, ist das neben Joseph Haydn verkannteste Genie der Musikgeschichte: Franz Schubert. Es gibt viele Stellen in seinem Œuvre, die Ewigkeit erahnen lassen – nicht zufällig hat Robert Schumann von der »himmlischen Länge« (Schumann 1854, S. 201) bei Schubert gesprochen. Ich möchte nur auf ein einziges Beispiel hinweisen, die letzte Nummer des Liederzyklus »Die schöne Müllerin«. Der arme Müllerbursche hat seine Wanderung vollendet, sein Selbstmord wird durch kein Menschen- oder Engelswort kommentiert, sondern durch »Des Baches Wiegenlied«:

»Gute Nacht, gute Nacht! Bis alles wacht,

Schlaf aus deine Freude,

Schlaf aus dein Leid!

Der Vollmond steigt,

Der Nebel weicht,

Und der Himmel da oben, wie ist er so weit!«

So schließt das Gedicht, schließt Schubert den Zyklus (den Wilhelm Müller mit einem Epilog beendete). Der Komponist überhöht noch diesen genialen dichterischen Einfall in der für ihn charakteristischen Doppelbödigkeit, die es so schwer macht, ihn zu begreifen: Es ist die herrlichste Musik, ein Wiegenlied, das die Zeit stillstehen lässt und in die Unendlichkeit weist – aber gleichzeitig suggeriert das tranceartige Insistieren auf derselben Tonfolge, wie weit, weit weg dieser »Himmel da oben« ist. Woher kommen wir? Wozu sind wir? Wohin gehen wir? Die Angst hinter dieser dreidimensionalen, wichtigsten Frage der Menschheit (die übrigens auch bereits eine der ältesten erhaltenen Dichtungen der Welt, das babylonische Gilgamesch-Epos, zum Gegenstand hat) wird in dieser Vertonung auf einzigartige Weise sublimiert. Aber es wäre nicht Schubert, würde er nicht (zumindest) eine zusätzliche Dimension eröffnen: Ist »der Himmel da oben« wirklich so weit weg – oder führt uns Schubert in die Weite des Himmels?2

Befassen wir uns noch ein wenig mit dem Begriff des »Zeitbildes«. Wird durch die Interpretation »nur« die Partitur eines längst verstorbenen Komponisten zum Klingen gebracht oder werden nicht vielmehr Mozart, Schubert, Beethoven und sie alle, die großen Meisterinnen und Meister, durch die klangliche Realisierung ihrer Gefühls- und Gedankenwelt zum Leben erweckt? Sind wir ihnen womöglich näher, als es die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen je waren, obwohl (oder vielmehr: weil) wir ihnen ausschließlich auf metaphysischer Ebene begegnen? Es ist dies eine Vorstellung, die wir im Mythos ebenso antreffen wie in den diversen Religionen und ihren Riten, nicht zuletzt im Glauben der Katholischen Kirche, die ja – im Gegensatz zu Protestantinnen und Protestanten sowie Altkatholikinnen und Altkatholiken – in jedem Messopfer die Wiederholung des Kreuzesopfers Christi sieht. »Hieraus ergibt sich zweifellos, daß die Welt nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit zusammen erschaffen worden ist« (Augustinus 1979, S. 715ff.), meint Augustinus. Und Rüdiger Safranski hält fest: »Wenn man sich aber ein Bewußtsein vorstellt, das alles Sein enthält, dem kein Ereignis ins Nicht-Sein entgleitet, dann ist der Name für dieses alles Sein umfassende und deshalb alles im Sein haltende Bewusstsein – Gott. So jedenfalls hat man ihn sich in den Religionen vorgestellt, als Herrn der Zeit« (Safranski 2015).

Im Gegensatz dazu müssen wir uns nun mit einer Sichtweise der Zeit befassen, die mehr als zwei Jahrhunderte lang das Denken der Menschen beherrschte (und diametral zum herkömmlichen Gottesbild stand): »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand« (Newton zit. nach Weyl 1982, S. 130), erklärte Isaac Newton 1686 in seinen »Mathematischen Grundlagen der Naturwissenschaft« (»Philosophiae Naturalis Principia Mathematica«). Einer weiteren fundamentalen Erkenntnis Newtons zufolge bewegen sich materielle Körper auf berechenbaren Bahnen durch den Raum aufgrund von Kräften, die sie nach Gesetzen beschleunigen, von denen man meinte, sie wären auf alle physikalischen Vorgänge im gesamten Universum anwendbar. Die Einbeziehung der Zeit in die Newton’schen Gesetze (Trägheitsgesetz, Aktionsprinzip und Wechselwirkungsprinzip) führte zur Vorstellung des Kosmos als riesiges Uhrwerk, das in allen Details berechenbar und daher voraussehbar ist und das berühmte Bild von Gott als Uhrmacher förmlich aufdrängte.

Von dieser mechanistischen Weltsicht zum Laplace’schen Dämon ist im Grunde kein weiterer Schritt notwendig, und Pierre de Laplace konnte Napoleon folgerichtig hinsichtlich der Frage über Gottes Handeln in Newtons Universum kurzerhand erklären, »er brauche diese Hypothese nicht« (Davies 1995, S. 31). Die Hypothese allerdings, aus dem momentanen Bewegungszustand des Universums seine gesamte Vergangenheit und Zukunft berechnen zu können, erweiterte er um die Vorausberechenbarkeit auch des letztlich auf Materie basierenden menschlichen Geistes und Willens, eine Ansicht, welche die Existenz einer Weltformel zur immerhin theoretischen Möglichkeit erhob.

Dann änderte sich alles. Vielleicht bewirkte in der gesamten Neuzeit nur das Erdbeben, welches Lissabon am 1. November 1755 vernichtete und Philosophen wie Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau und Voltaire, Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe und Gotthold Ephraim Lessing und überhaupt das Weltbild der Aufklärung erheblich beeinflusste, eine vergleichbare Erschütterung wie Albert Einsteins »annus mirabilis« 1905: Newtons universelle Zeit wurde zunächst durch Beobachtungen und Schlussfolgerungen aufgrund der Bewegung von Körpern und Lichtsignalen und schließlich durch die Relativitätstheorie hinweggefegt.

In der Geschichte der Musik, in der Geschichte der Kunst überhaupt, ist immer wieder zu beobachten, dass schöpferische Genies der Wissenschaft vorauseilen. Den vielen Unzulänglichkeiten des Menschen, die sich im Extremfall in Krieg, Terror und hemmungsloser Ausbeutung der Natur manifestieren, steht ein Bereich entgegen, in dem wir Vollkommenheit erfahren können: die Kunst. Ob es sich um die »Pietà« handelt oder um die »Odyssee«, um den »Taj Mahal« oder die »Divina Comedia«, um die »Totenmaske des Tutanchamun« oder »Die Zauberflöte« – in den großen Kunstwerken werden wir jedes Mal, wenn wir uns ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen, Neues entdecken. Mit anderen Worten: Die großen Kunstwerke lassen uns, weil vollkommen, bereits in dieser Welt eine Ahnung von Unendlichkeit erfahren.

Es gibt in der Musikgeschichte ein grandioses Beispiel, das sich mit der Vermessung der Zeit auseinandersetzt und sie gleichzeitig konterkariert. Ludwig van Beethoven hat immerhin einen seiner 37 Symphoniesätze, das Allegretto scherzando der »Achten«, dem Metronom gewidmet, das der aus Regensburg stammende Erfinder und Konstrukteur Johann Nepomuk Mälzel, der 1792 Bürger von Wien wurde, im Jahre 1815 erfand. Wenn wir auf die Blasinstrumente hören, werden wir an Newton erinnert: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand« (Newton zit. nach Weyl 1982, S. 130). Gleichzeitig aber umspielen die ersten Violinen das rigide rhythmische Gerüst mit einer (variierten) Melodie von bezauberndem Charme, die gleichsam den Triumph der Freiheit über die Gebundenheit an die Zeit und somit auch die Freiheit der Interpretation symbolisiert. »Denn was ist das Höchste in der Kunst? Das, was auch in der Manifestation des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes. Nicht nur Musikstücke also, in der Fülle jenes Selbstbewußtseins componirt, sondern auch der bloße Vortrag kann als das künstlerisch Höchste betrachtet werden, wenn uns daraus jener Unendlichkeithauch anweht, der unmittelbar bekundet, daß der Executant mit dem Tondichter auf derselben freien Geistesstufe steht und er ebenfalls ein Freier ist«, schrieb die Wiener Allgemeine Theaterzeitung im März 1844 anläßlich des sechsten Konzerts der Philharmoniker (Allgemeine Theaterzeitung 1844, S. 260).

»Einsteins Relativitätstheorie führte den Begriff einer an sich flexiblen Zeit in die Physik ein. Er stellte zwar nicht ganz die alten mystischen Vorstellungen von der Zeit als im wesentlichen persönlich und subjektiv wieder her, verband das Erleben der Zeit jedoch fest mit dem einzelnen Beobachter. Es war nicht mehr möglich, von der Zeit zu sprechen, nur noch von meiner Zeit und deiner Zeit, je nachdem, wie man sich bewegt. Das Schlagwort lautete: Zeit ist relativ« – erklärt Paul Davies (1995, S. 33f., Hervorhebungen i. O.) Einsteins Zeit. Das Tempo im Allegretto der »Achten« ist genau vorgegeben, die Zeit wird quasi mechanistisch in exakt gleiche Einheiten aufgeschlüsselt, aber der »Unendlichkeitshauch« der Inspiration schwebt über den Wassern – erklärt Beethoven und unterbricht beziehungsweise beendet schließlich den Satz mit jenem homerischen Gelächter, das für ihn laut zeitgenössischen Berichten durchaus charakteristisch war.3

Kehren wir noch einmal zurück zur Ewigkeit – eine Formulierung, die nicht vor jeder Philosophin, jedem Philosophen bestehen könnte. Hält man sich an Plato, dem zufolge Ideen nicht bloße Vorstellungen des menschlichen Geistes sind, sondern objektive metaphysische Realität, können wir gar nicht zur Ewigkeit »zurückkehren«, da wir ohnehin ein Teil von ihr sind. Laut seinem »Timaios« ist unser Erleben nur ein unvollkommenes »bewegliches Bild der Unvergänglichkeit […] der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit«, die wir jedoch missverstehen: »[…] das war und wird sein sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst unbewußt, unrichtig auf das unvergängliche Sein übertragen« (Plato 1959, S. 160).

Viele der großen schöpferischen Genies empfanden dies ebenso. Richard Wagner ließ bereits 1882, also 23 Jahre vor Einstein, auf die erstaunte Feststellung des jungen Parsifal: »Ich schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit«, den Gralsritter Gurnemanz antworten: »Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.« T. S. Eliot erkannte: »Denn Ende und Anfang bestehen von jeher / noch vor dem Anfang und noch nach dem Ende. / Alles ist immer jetzt« (Eliot 1951, S. 95). Es ist dies ebenso Ausdruck der urmenschlichen Sehnsucht nach der Flucht aus der Zeit, wie Reaktion auf das Unbehagen, welches die Diskrepanz zwischen der angenommenen Ewigkeit Gottes und der offenkundigen Zeitlichkeit des physischen Universums hervorruft. Die Sehnsucht nach der Zeit vor der Zeit! Sie kommt in den Mythen ebenso zum Tragen wie in Ritualen bis hin zu rituellen Gesten oder im Glauben an Zeitzyklen, wofür der Theologe und Literaturwissenschaftler Walter Jackson Ong eine überzeugende Erklärung fand: »Der Rückzug in die Mythologie, die zeitliche Ereignisse mit dem Zeitlosen verbindet, entwaffnet die Zeit und mildert deren Bedrohung ab« (Ong 1982, S. 220).

Für die »Zeit vor der Zeit« gibt es ein bestechendes musikalisches Beispiel. Es beginnt mit der berühmtesten Dissonanz der Musikgeschichte – dem »Tristan«-Akkord. Die Sensation war ja nicht die Dissonanz, deren gab es auch vor Wagner zur Genüge, sondern die Tatsache, dass ihre Auflösung ein Dominantseptakkord ist, also wiederum eine Dissonanz, die aber, ein Phänomen für sich, nicht als solche empfunden wird. Die Tatsache, dass die Grundtonart des Vorspiels, a-Moll, nie erklingt, hat Analytikerinnen und Analytiker dazu veranlasst, vom Beginn der Auflösung der Tonalität zu sprechen. Eine Auseinandersetzung mit dieser These ist für diesen Beitrag nicht relevant; von größter Bedeutung ist aber, dass wir während des gesamten Vorspiels a-Moll empfinden, ohne den Dreiklang zu hören. Das Universum, das diese Tonart eröffnet, hat daher auch nie begonnen: Mit den beiden ersten Tönen der Partitur, einer kleinen Sext, werden wir vor den Beginn des Werkes versetzt, suggerieren sie doch, dass wir uns in einem a-Moll befinden, das nicht konkret nachweisbar ist, aber immer schon da war.

Von diesem a-Moll »vor der Zeit« führt der Weg der (mit Pausen) fünfstündigen Oper zum H-Dur des Schlussakkords; der – nach irdischen Maßstäben – eigentliche Höhepunkt ist aber bereits zuvor erreicht. Beginnend mit dem prä-existenten, aber nie erklingenden a-Moll des Vorspiels wird mittels verschiedener harmonischer Stufen die Tonart E-Dur umspielt. Und sie kommt, wie es ein Höhepunkt verlangt, nur an einer einzigen Stelle der riesigen Partitur vor: im dritten Aufzug, als Tristan inmitten der Raserei des Fieberwahns Isolde in einer Vision vor sich sieht.

TRISTAN

langsam wieder zu sich kommend

Das Schiff? Siehst du’s noch nicht?

KURWENAL

Das Schiff? Gewiss,

es naht noch heut;

es kann nicht lang mehr säumen.

TRISTAN

Und drauf Isolde,

wie sie winkt,

wie sie hold

mir Sühne trinkt.

Siehst du sie?

Siehst du sie noch nicht?

Wie sie selig,

hehr und milde

wandelt durch

des Meers Gefilde?

Auf wonniger Blumen

lichten Wogen

kommt sie sanft

ans Land gezogen.

Sie lächelt mir Trost

und süsse Ruh,

sie führt mir letzte

Labung zu.

Ach, Isolde, Isolde!

Wie schön bist du!