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Beschreibung

Zu was befreit Poesie? Was vermag Liturgisches zu öffnen? In Liturgie und Poesie begegnen uns andere Räume und Möglichkeitsformen von Sprache. In Bildhaftem, Klanglichem und Rhythmischen finden sich Gemeinsamkeiten. Vielfältige Beiträge, u. a. von Flicitas Hoppe, Nora Gomringer, Christian Lehnert und Norbert Hummelt, bedenken sowohl Berührungspunkte als auch Differenzen.

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Martin Rüsch (Hg.)

Zeit zwischen Nichts

Martin Rüsch (Hg.)

Zeit zwischen Nichts

Liturgie und Poesie

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH& Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-03409-1

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83409-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83400-4

Inhalt

Martin Rüsch

„Zeit zwischen Nichts“

Christian Lehnert

Von Poesie und Liturgie

Andreas Mauz

„Verbal sanctification“

Franz Dodel

„Wie in allem ein Funke“

Norbert Hummelt

Bestimmte Laute, die wir früh vernahmen

Felicitas Hoppe

„Eine alternde Diva“

Uwe Kolbe

„Öffne mir die Augen“ – Poetische Konsequenzen aus Psalm 119

Klaus Merz

„Eine Treppe dem Wort“

Nora Gomringer

Vor Arvo Pärts „Stabat Mater“ zu rezitieren

„Verwegene Teilchen“

Quellennachweise

Beitragende

Martin Rüsch

„Zeit zwischen Nichts“

Erwägungen zum Thema „Liturgie und Poesie“

Die vorliegende Publikation versammelt verschiedene Beiträge von Lyrikerinnen und Autoren, die sich im Rahmen einer Veranstaltung mit unterschiedlichen methodischen, literarischen wie persönlichen Zugängen dem Thema „Liturgie und Poesie“ annahmen.1 Seitens der Kirche – und in einer Kirche – wurde mit „Liturgie und Poesie“ ein Zusammenhang behauptet, auf welchen aus literarischer Perspektive reagiert wurde. Auf sehr unterschiedliche Weise. Mit Begriffsklärungsversuchen verbunden, tauchte die Frage nach dem Verhältnis von Liturgie und Poesie auf. Mal wurden eigene liturgische Erfahrungen zum Echoraum des Nachdenkens und Schreibens geäußert, mal fügten sich Text, Klang und Stimme zu eigenen „liturgischen“ Setzungen. Die vielseitigen Zugänge bieten auch in Publikationsform, dies wollen wir hoffen, fruchtbare Anstöße, mit neuen Ohren und Augen das kirchlich-liturgische Geschehen wahrzunehmen und zu bedenken. Umgekehrt lassen sich verschiedene liturgische Hintergrunderfahrungen oder gar quasi-liturgische Elemente in Poesie und Prosa entdecken.

Nebst Performances, Lesungen und Referaten gehörten zum „Festival Liturgie und Poesie“ liturgische Feiern, eine Schreibwerkstatt, ein „liturgy slam“ und eine gestalterisch-künstlerische Arbeit. Diese analogen Formate fanden meist in der Wasserkirche der Altstadt statt. Die im Fluss stehende Kirche ist als ein liturgisch gebauter Raum kein schlechter Ort für ein solches Thema. Und im Rahmen dieser Woche war es eine erstaunliche Überraschung, wie markant und zugleich subtil dieser Raum auf alle Formate und Formen einwirkte: visuell, akustisch, aber auch dadurch, dass er bei manchem Beitrag auf seine Weise irritierend hineinspielte. Allein die Wendung „Zeit zwischen Nichts“ irritierte fruchtbar: Sie entstammt dem Plakat zur Veranstaltung, welches Gedichtzeilen verschiedener Lyriker*innen aufführte, wobei diese drei Worte prominent zueinander rückten.

Ausgangspunkt des Projektes bildete die These, dass sich in der Gegenüberstellung von „Liturgie“ und „Poesie“ gerade auch in der Arbeit von Lyrikerinnen und Autoren Entdeckungen machen lassen; vorausgesetzt, dass sowohl in Liturgie als auch in Poesie Sprache – gegenläufig zu den meisten Modi ihres Erscheinens – in einem vielleicht ursprünglichen Sinn zum Zuge kommt. Darum kann der Liturgie eine poetische Qualität eignen, umgekehrt der Poesie liturgische Elemente. Poesie berührt Bereiche der Liturgie. Liturgie bewegt sich im Grenzland der Poesie. – „Liturgie wie Poesie ist überflüssiger Glanz, feinfühlige Verschwendung, notwendiger als das Nützliche.“2

Wenn Poesie Grenzland und Form von Grenzerfahrung ist – also „liminal“3 –, hat sie es stets mit Übergängen, Hinüberwechseln, Absetzen und Übersetzen zu tun. Mit Transgressionen. Poesie sucht „das Entzücken, den Abgrund, Lob, Klage, Liebe, Krieg, eine Welt mit und eine ohne Ich“. Darüber hinaus „bezieht sie sich auf den Redegang als solchen (Sprechen, Verstummen, Schweigen, Stottern) und macht Sprechbarkeit zu ihrem eigensten Prozess.“4 Sie befindet sich stets in einem Zwischen- oder Durchgangsstadium, ist demnach: transgressiv. – In ähnlicher Weise ließe dies sich sagen vom Gebet, insofern es darin um jenes „von Angesicht zu Angesicht“ geht, in radikaler Weise um Existenz oder Nicht-Existenz des Menschen. Oder wir sagen mehr noch: Um das Wagnis des Grenzgangs zwischen Mensch und Gott. Beten (als Anrufung, Klage, Lob, Bitten, Innehalten etc.) oszilliert zwischen Sag- und Unsagbarem, zwischen Schweigen und Singen. Die Sprache selbst gerät dabei gleichsam „aus der Fassung“, greift mitunter zurück auf Bruchstücke frühen Sagens oder kehrt damit vielleicht zu ihrem Ureigensten zurück. Könnte darin etwa die Eigenart und bleibende Inspiration des biblischen Psalmenbuches liegen? Nicht nur dokumentiert dieses sprachliche Grenzgänge, sondern hält je und je wieder zu solchen an. Klagepsalmen oder Hymnen verwickeln insofern schon in Grenzgänge, als ihre Weise des Sagens sich von jeder Alltagssprachlichkeit (als Mitteilung, Information, Kommunikation, Argumentation u. a.) gerade löst. Der Grenzgang ist zudem einer über alle Zeiten hinweg. Wenn Liturgie verstanden werden kann als eine Form, welche der Zeitgebundenheit gerade nicht unterworfen ist, sind doch ihre sprachlichen Grenzgänge stets neu gefordert. In reformiertem Verständnis ist Liturgie daher auch keine in sprachlicher (oder szenischer und gestischer) Hinsicht vollendete und verpflichtende Form (im Gegensatz zu einer orthodoxen Liturgie). Sie ist vielmehr eine Grundform der Gottesdienstgestalt, welche wiedererkennbar und verbindend sein möchte. In sprachlicher Hinsicht ist ihre jeweilige Ausgestaltung aber wenig bis gar nicht definiert. Der Grenzgang wäre demnach ein doppelter: Zum einen ist der Weg einer Liturgie als Gottesdienstgestalt zu begehen, zum andern ist die Sprachform je und je Wagnis der Artikulation innerhalb dieser.

Im Hinblick auf die Beiträge der Autoren und Lyrikerinnen ist denn auch bemerkenswert, wie prägend liturgische Erfahrung mitunter gewirkt haben mag oder sich transformiert weiter erhält. Und auch, wie sehr sich Sprache in ihrem Sprechen zeigt, wo auch individuell, subjektiv und persönlich Wege der Artikulationen gewagt werden.

Eingeladen waren Lyrikerinnen und Autoren. Die Publikation wird selbstredend nur Texte enthalten, also höchstens indirekt auf deren erklungene Stimmen und Gestaltungen verweisen. Keinen Eingang finden die Gespräche. Und auch die Eröffnung ist lediglich in fragmentarischer Form präsent: Für das Duo Nora Gomringer (Performance) und Verena Marisa (Musik) steht einer der vorgetragenen Texte Nora Gomringers. Für die Performance von Ida Dober und Lara Russi haben exemplarisch ein paar Bilder in diese Publikation Eingang gefunden. Und anstelle des summarischen Rückblicks, welchen Dr. Andreas Mauz zum Ende hin vornahm, hat er eigens für diese Publikation einen Essay beigesteuert. Alle anderen Beiträge sind im Hinblick auf die Tagung entstanden und werden in der vorgetragenen Fassung hier abgedruckt.

Zum Ende der Dank: Ich möchte herzlich allen Autorinnen, Lyrikern und Mitwirkenden danken, welche sich auf das Grenzland von „Liturgie und Poesie“ vorgewagt haben, den Projektleiterinnen und Diensten, welche das Projekt begleitet und unterstützt haben, und besonders denen, die durch großzügige Spenden das Projekt – und auch vorliegende Publikation – mit ermöglicht haben. Auf dass Einsichten und Inspirationen sich auf diesem Wege weitergeben möchten!

Anmerkungen:

1 Zürich, 15.–20. Mai 2022.

2 Cristina Campo, zitiert von Philipp Jaccottet, La Clarté Notre-Dame, Paris: Gallimard 2021, S. 33.

3 Ulrike Draesner, Doggerland, München: Penguin-Verlag 2021, S. 155.

4 Ebd.

Christian Lehnert

Von Poesie und Liturgie

Von Poesie und Liturgie möchte ich zu Ihnen sprechen und zwei Fragen verfolgen: Was zeichnet liturgische Sprache aus und in welchem Verhältnis steht sie zur Poesie? Ich will meine Gedanken aus der widersprüchlichen Zugehörigkeit zu zwei Welten entwickeln, als Dichter und als Theologe. Erwarten Sie bitte keinen thesengrundierten Vortrag mit einem bestimmten Lernziel, nein: Ich will Sie einfach in eine assoziative Denkbewegung mitnehmen und Sie in die Unsicherheit der Worte führen, die entsteht, wenn sich Sprache dem unsagbaren Geheimnis Gottes nähert.

Das Springen zwischen den Welten gehört zu meiner Lebenssituation. Ich bin vertraut mit einem destabilisierenden „und“ zwischen Religion und Poesie. Wo immer ich in den Kirchen als Autor aufschlage, sind Leute schnell verstört. Denn da spricht keiner, der mit christlichem Kunsthandwerk erbauen will, sondern vermutlich wirklich aus jener merkwürdigen Spezies der Dichter stammt, die so dunkel und wirr daherreden. Wenn ich allerdings im Literaturbetrieb auftrete, stehe ich als Theologe immer schon unter Ideologieverdacht, und ich kann ein schlichtes Naturgedicht lesen, und alle fragen zumindest nach den mystischen Dimensionen der Beschreibung eines Ameisenhaufens.

Verunsicherung in der Sprache gehört zu meinen Grunderfahrungen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen – es gab in meiner Kindheit in der DDR eine Sprache für draußen, für Kindergarten und Schule, in der es nötig war „Klassenstandpunkte“ einzunehmen und „parteilich“ zu sein. Zu Hause, die andere Sprache: Sie war offener, ideologiefern, und sie verschwieg doch viel. Ich hatte kaum Orientierungspunkte für eine mit Worten gegebene „Wahrheit“, und gelegentlich verwechselte ich die Sphären und schimpfte, wenn ich müde war und schlechte Laune hatte, dass abends in der Küche bei uns der Deutschlandfunk „imperialistische Lügen“ verbreitete. Dann sahen mich meine Eltern unsicher an und schwiegen, sie wollten mich, das Kind, doch schützen ...

Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, wenn sich Sätze wie schwere Masken über das Denken legten und ich darunter sprachlos und verunsichert war, zappelte im Ungewissen, und doch nach außen völlig souverän erschien. Ich war sicher in den fremden Wörtern wie in einem Panzer und zugleich erbarmungslos eingeschlossen. Diese Ambivalenz hat mich geprägt. Eine irritierende Erfahrung war, dass sich die Machtförmigkeit der Sprache meist mit liturgischen Formen verband. Ich bin nicht religiös aufgewachsen und habe bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr kaum eine Kirche von innen gesehen, aber ich war in ausgefeilten Liturgien zu Hause. Wenn ich mit meinen Freunden auf dem Schulweg in den 1980er Jahren mit der Straßenbahn in den Dresdener Stadtteil Übigau fuhr, über die Brücke des Elbflutgrabens, wenn wir dann die kleine Plattenbausiedlung dort auf ewig schlammigen Wegen durchquerten und der Schule näher kamen, war uns allen unausgesprochen klar, dass wir uns selbst zurückließen. Wir hatten mit dem Betreten des Schulhauses Rollen in einem großen öffentlichen Schauspiel inne.

Der Appellplatz: Stillstand – die jugendlichen, die kindlichen Körper standen in Reih und Glied, sommers umschwirrt von Mücken, winters umtanzt vom Schnee. Starr standen wir und warteten auf den Schulleiter oder den Parteisekretär. Still – der Nacken, der Hals, der Schultergürtel. Wir Schüler waren geordnet nach Größe. Disziplinierte Geometrie unter wehenden Fahnen. Das Stillhalten, das Schweigen war ein Confiteor, Bekenntnis unserer Schuld, der mangelnden Disziplin, der Faulheit, der Einflüsterungen des Klassenfeindes, des mangelnden Glaubens an die Doktrin. Dann wurde gesungen, ein Introitus: „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor ...“ Die Lehrer zogen ein, in der Mitte der Schulleiter. Er wurde begrüßt, trat ans Pult und sprach ein Votum: „Seid bereit!“ „Immer bereit“, dröhnte es aus Hunderten Kehlen. Hinter dem Schulleiter war ein Hochaltar aufgebaut. Dort stand eine Fahnenwand mit einem großen Bild des Genossen Erich Honecker, mit Blumen geschmückt.

Wortverkündigung, Reden und Reden und Lesungen folgten ... Ich erinnere sie kaum. Wir waren damit beschäftigt, still zu halten. Das Gefälle war enorm: hier unsere unruhigen Körper, dort der gottverneinende Priester, der uns den Weg wies in eine bessere Welt. Gelegentlich gab es Sakramente: kleine Abzeichen aus Gold oder Silber oder Bronze für die besten Schulleistungen oder für die meisten gesammelten leeren Flaschen und Stapel Altpapier. Man war stolz, man war verwandelt.