Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, die in Freiwaldau im Sudetenland lebte und arbeitete. Sie erlebte die Wirren des Krieges. Nach dem Krieg 1945 flüchtete sie, vor der Einlieferung ins Arbeitslager, in einen Wald. Als sie zurückkam, erfuhr sie, dass ihr 14-jähriger Bruder in ein Lager gebracht worden war. Sie versprach ihrer Mutter, dass sie ihn wieder herausholt. Sie besorgte sich sämtliche Papiere, die dazu benötigt wurden. Sie heuerte eine Tschechin an, ihr zu helfen, diese gefährliche Reise anzutreten. Nach vielen aufregenden Erlebnissen schaffte sie es und brachte ihrer Mutter ihren Sohn zurück. Dann wurde ihre Familie vertrieben, mit dem Zug in den Westen gebracht und dort angesiedelt. Es begann ein neues Leben. Eine wahre Geschichte, die von Zeitzeugen berichtet wurde.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 93
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Zeitabschnitt des Schicksals
Untersuchung
Erinnerungen
Wie es dazu kam
Evakuierung
Dunkle Vorzeichen
Verstecken
Schlechte Neuigkeiten
Endlich zurück
Die neue Stelle
Abholung
Verschärfung
Jauernig
Befreiung von Horst
Aussiedlung in den Westen
Aufbruch
Was ist Heimat?
Das Lager in Niklasdorf
Der Transport
Neue Heimat
Ende gut, alles gut
Zitate aus folgenden Büchern
Über die Autorin
Impressum
Susanne Rennert
Das Licht schien mir ins Gesicht. Ich musste die Augen schließen. Mit meinen 85 Jahren lag ich schon wieder im Krankenhaus.
Es war heiß. Einer der heißesten Sommer seit Jahren. Das Zimmer war klein. Es passten zwei Betten nebeneinander hinein. Ein Bad mit Toilette konnten wir unser eigen nennen, mussten es jedoch mit dem Nachbarzimmer teilen. Das war der Vorteil, wenn man privat versichert ist, dann musste man nicht mit so vielen Patienten in einem Zimmer liegen, von denen mindestens einer schnarchte. Ich wäre am liebsten zuhause.
Die Tür ging auf. „Hallo Frau Rennert. Kommen Sie bitte mit. Der Arzt möchte Sie noch einmal sehen.“
Es war die Schwester. Sie half mir aus dem Bett, zog mir den Bademantel über und führte mich drei Türen weiter in das Arztzimmer zur Untersuchung. „Hier setzen Sie sich bitte auf den Drehstuhl. Der Arzt kommt gleich: „Die Schwester ging und ließ mich alleine. Vor mir auf dem Tisch stand dieses riesige Untersuchungsgerät auf sein nächstes Opfer wartend. Dieser typische Krankenhausgeruch von Desinfektionsmittel kroch mir in die Nase.
Der grüne und der graue Star hatten die Sehfähigkeit meines rechten Auges zerstört. Damit sah ich nur noch Licht und Schatten. Das sollte mir mit meinem anderen Auge nicht passieren. Ich hatte mir die ganze Farbpalette an Krankheiten ausgesucht. Halbe Sachen habe ich noch nie gemacht.
Die Tür öffnete sich und der Oberarzt kam herein. Er gab mir freundlich die Hand. „Wir wollen nochmal nachschauen, wie der Innendruck heute ist. Wenn alles in Ordnung ist, kann die Operation morgen stattfinden. Legen Sie bitte hier Ihr Kinn auf.“ Ich tat was der Arzt sagte. „Schauen Sie bitte hier durch. So ist gut. Sie kennen das ja schon.
Heiß heut, nicht wahr?“ Ich nickte zustimmend.
Er schaute mir durch dieses Gerät in das Auge. Ein Lichtstrahl durchleuchtete mein Auge. „Na, das sieht doch gut aus. Die Tropfen haben angeschlagen. Der Innendruck ist auf 12. Alles bestens. Wissen Sie noch, als Sie zu uns kamen, war er über 40. Das war sehr gefährlich, wenn Sie nicht gekommen wären, hätten Sie erblinden können.
Dann kann ja morgen nichts mehr schief gehen. Morgen ersetzen wir dann die degenerierte Linse und sie werden sehen, wie Sie wieder besser sehen können.“ Er lachte über seinen Witz, den er scheinbar schon öfters bei seinen Patienten erzählt hatte.
„Die Sehfähigkeit ist jetzt auf 18 %. Lassen Sie sich überraschen. Die Schwester führt Sie zurück auf Ihr Zimmer, ich lasse sie rufen. Auf Wiedersehen, bis morgen.“
So schnell er kam, verschwand er auch wieder.
Zurück in meinem Zimmer und in meinem Bett liegend, wartete ich, dass die Zeit verging. Ich starrte an die kalkfarbene Decke. Meine Zimmernachbarin schlief. Fernsehen ist nichts, ich konnte sowieso nichts erkennen. Schlafen konnte ich auch nicht die ganze Zeit.
Ich schloss die Augen. Das war am angenehmsten. Doch dann tauchten wieder Bilder vor meinen inneren Augen auf. Wenn ich auch in der Außenwelt wenig erkennen konnte, waren die inneren Bilder vor meinen geistigen Augen klar und deutlich. Wenn ich mich auch an vieles, was jetzt passierte, nicht erinnern konnte, so wusste ich doch noch alles bis ins kleinste Detail, was früher geschah.
Es tauchten Bilder auf, Häuser waren zu sehen und Menschen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe und die schon alle tot waren.
Ein Zucken und Schaudern zog durch meinen ganzen Körper. Ich öffnete die Augen. Ich war immer noch im Krankenhaus. Neben mir lag meine schlafende Nachbarin. Draußen hörte ich ein vorbeifahrendes Auto und ein über uns wegfliegendes Flugzeug. Sogar einen Vogel hörte ich zwitschern in einem nahegelegenen Baum. Im Gang hörte ich die Schwestern herum klappern. Dann war ich wieder ganz bei mir und versank erneut. Wenn ich so da lag und nichts zu tun hatte, war alles wieder da, alle Bilder und Schmerzen von früher.
Es war Mai 1945. Das bedeutete Kriegsende. Die rote Armee marschierte in Prag ein. Das schreckliche Morden und Foltern sollte für viele Menschen ein Ende haben. Endlich.
Aber nicht für uns aus dem Sudetenland. Sind wir im Krieg weitgehend verschont geblieben, bombardiert zu werden, fing für uns das Morden erst an. Oder sagen wir so, es erklomm neue Spitzen. Die Quälerei hatte noch kein Ende.
Ich war 20 Jahre jung, stand in der Blüte meines Lebens und lebte im Sudetenland in Freiwaldau. Ein schönes Fleckchen Erde. Die Stadt liegt unterhalb der polnischen Grenze im Osten der Tschechoslowakei, ab 1938 zu Deutschland gehörend. Wir sind die Sudetendeutschen.
Mein Vater sang immer: „Das Sudetenland ist mein Heimatland, wo meine Wiege stand.“
Oberhalb von Freiwaldau liegt der Gräfenberg. Vincent Priesnitz hatte hier eine Heilstätte mit Kaltwasser geschaffen. Im Josefgarten stand ein großes Denkmal für ihn, da er so vielen Menschen geholfen hatte. Von überall her kamen die Patienten, um hier Heilung zu bekommen.
Dort bekam ich ein Zimmer mit Verpflegung. Es war eine schöne Zeit.
Meine Tante war eine drahtige und geschäftstüchtige Frau. Sie war fleißig und arbeitete von morgens bis abends. Für die damalige Zeit war sie sehr emanzipiert. Wo gab es das schon, als alleinstehende Frau mit Kind, ein Geschäft zu führen. Ich bewunderte sie.
Meine Tante war die Köchin. Da das Sudetenland früher zu Österreich gehörte, prägte die österreichische Küche ihren Kochstil. Es gab Marillenknödel, Wiener Schnitzel, die leckeren Buchteln mit Weinschaumsoße waren ein Gedicht. Onkel Henry, der nach Amerika Philadelphia auswanderte, sagte stets, als er sie aß: „Oh, mein Gürtel ist ja noch zu. Den muss ich aufmachen, dann passt noch einiges hinein.“
Das Hotel hatte mehrere Gästezimmer und ein gutgehendes Lokal. Abends tagte der Stammtisch, an dem auch der Bürgermeister anwesend war. Hedl gesellte sich gerne dazu. Bis zu 120 Gäste gab es an manchen Tagen.
Politik interessierte mich nicht besonders. Es war halt Krieg. Das ging natürlich nicht spurlos an einem vorüber.
Und dann hat man sich auf ihn eingelassen und bekommt ein Kind von ihm. Ich hielt mir die Männer lieber auf Abstand. Das war besser so.
Ab Mai 1945 änderte sich alles für uns. Die Deutschen hatten den Krieg verloren.
Der Hass der Tschechen war grenzenlos. Frauen, Kinder, Männer sowieso, alte Menschen wurden ermordet, vertrieben, geschändet, alles was Hitlers Anhänger an Gräueltaten verübt hatten, wurde an uns gerächt.
Das Sudetenland war das Herzland Europas. Schon Bismarck sagte: „Der Herr von Böhmen ist der Herr von Europa“.
Bis 1918 gehörte das Gebiet zu Österreich- Ungarn. Durch den verlorenen ersten Weltkrieg wurde das Gebiet aufgeteilt. Es wurde der Staat Tschechoslowakei gegründet. Das Sudetenland gehörte zu diesem Land.
Durch diese verhängte Fremdherrschaft ergab sich eine Unterwanderung des jahrhundertealten Siedlungsgebietes. Tschechen wurden Beamte, Polizisten, Forstleute, Ingenieure, Techniker, Ärzte, Richter. Sprich: Sie übernahmen alle wichtigen Posten. In 30 Jahren würde es keine deutschen Gebiete mehr geben. Waren es 1918 noch 3 1/4 Millionen Deutsche, so würden es, durch die Tschechisierung noch 2 Millionen Deutsche sein. Im Gegensatz dazu würden es 9 Millionen Tschechen geben. Die Sudetendeutschen litten unter diesen Existenzängsten.
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20 er Jahre tat ihr Übriges. Die Arbeitslosigkeit stieg. Es gab nicht genug zu essen. Sie waren vom Verhungern bedroht. Da wurde es begrüßt, dass ein Befreier kam, um alle zu retten.
1938 kam Hitler als großer Befreier. Sein Motto hieß: "Heim ins Reich". Er besetzte das Gebiet und garantierte nach jahrhundertelangen Streitigkeiten den Bürgern Frieden. Sie gehörten nun zum Großdeutschen Reich. Dies geschah beim Münchner Abkommen.
Die Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands trafen sich und unterzeichneten diesen Vertrag. Das sollte die friedliche Lösung für die Sudetenkrise sein, ohne einen Krieg anzufangen, so hofften sie.
Die Tschechoslowakei sollte nicht dabei sein.
Das Abkommen beinhaltete, die Eingliederung des Sudetenlandes, dessen Bevölkerung überwiegend deutschsprachig war. Es wurde dem staatlichen Anschluss an den übrigen deutschsprachigen Raum zugestimmt. Somit erfolgte die militärische Besetzung des Sudetenlandes.
Das bedeutete das Ende des multinationalen tschechischen Staates, des Vielvölkerstaates. Gleichzeitig wurde das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen.
Der Staatspräsident der Tschechoslowakei Beneš fühlte sich verraten. Er trat zurück und ging ins Exil.
Nach dem Anschluss der Tschechoslowakei an das Großdeutsche Reich profitierte der deutsche Staat an vielen Rohstoffen. Die Besetzer bekamen Vorräte an Waffen, Munition und Devisen. Die Tschechoslowakei besaß die Skoda-Werke, die mit die größten Maschinenbauer und Waffenhersteller Europas waren. Die tschechische Armee war eine der stärksten Europas. Hitler hatte also noch andere Absichten gehegt und gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Nachdem das Sudetenland zu dem Deutschen Reich gehörte, kam nach der Befreiung der Fremdherrschaft der wirtschaftliche Aufschwung, zumindest für kurze Zeit. Es gab kaum mehr Arbeitslose. Doch dann kam der Krieg im September 1939. Die Menschen zogen in den Krieg. Viele zum zweiten Mal. Ab 1941 waren viele Verluste zu beklagen.
Das Sudetenland wurde von Luftangriffen zum größten Teil verschont.
Nach dem Sieg der Sowjets an der Weichsel kamen die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Osten.
Ab März 1945 hörten wir Kanonendonner. Menschen und Tiere wurden in den östlichen Gebieten evakuiert. Die Bauern konnten es oft nicht einsehen, diese Notwendigkeit umzusetzen.
Schon einige Zeit vor Kriegsende als die rote Armee begann, den Osten zurückzuerobern, zogen lange Flüchtlingstrecks durch unsere Stadt. Es war eine düstere Stimmung und angsteinflößend, die Elend Trecks mit Frauen und Kindern und alten Menschen zu erleben.
Die Männer waren im Krieg. Manche waren nur mit einem Handwagen unterwegs, und hatten das bei sich, was sie tragen konnten. Sie waren gen Westen unterwegs.
Manche hatten Tiere bei sich oder fuhren mit Planwagen oder Pferdefuhrwerken oder mit überladenen Fahrrädern. Oft kam es vor, dass sie unterwegs noch beraubt wurden und ihnen ihre letzten Habseligkeiten genommen wurden.
Tiere wurden mitgenommen und hunderte Kilometer mitgetrieben in der Hoffnung, Freiheit zu finden. Ein schier endlos erscheinender Fußmarsch, auf dem alle Hunger litten.
Die, die ihr ganzes Leben lang sesshaft waren, mussten nun ihr Haus und ihren Hof verlassen.
Auch Soldaten flüchteten vor den Russen. Sie hatten riesige Angst in russische Gefangenschaft zu gelangen. Sie fuhren mit vollbesetzten Lastwagen, Motorrädern oder waren einfach zu Fuß unterwegs. Hauptsache weg von der Front, die täglich immer näher kam. Niemand wollte den Russen in die Hände fallen.
Es wurde das Nötigste mitgenommen. Es wurde Kleidung eingepackt, Lebensmittel, Futter für die Tiere und Treibstoff. Mir ist es ein Rätsel, wie alle diese Tiere und Menschen genug zu essen bekommen konnten.
Sie übernachteten in den nahegelegenen Wäldern, um sich dort zu verstecken.
In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 war es dann soweit. An diesem Tage war das Wetter schlecht. Es gab Regen mit Schnee vermischt. Die Russen belagerten Freiwaldau. Der Bürgermeister Karl Bittmann wurde in russische Gefangenschaft verschleppt. Eigentlich sollte die Stadt noch am 6. Mai evakuiert werden. Es standen aber nicht genug Lastwagen und Züge zur Verfügung. So überließ er der Bevölkerung die Entscheidung.
Die Russen kamen von Reihwiesen aus dem Osten in die Stadt und nicht wie angenommen über Niklasdorf.
Es waren Schüsse zu hören. Frauen und Mädchen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten, wurden geschändet und missbraucht. Überall wurde geplündert. Die Tschechen entfernten deutsche Straßenschilder. Deutsche Bücher mussten abgeliefert werden.
Fensterscheiben wurden zerstört, geplündert und Brände gelegt.
Und das alles war noch nichts dagegen, was tschechische Partisanen mit uns Deutschen taten, als sie kamen.
Viele Menschen verließen so schnell sie konnten die Stadt. Sie kehrten später, als der Ansturm vorbei war, zurück.
Bevor die Russen einmarschierten, packte auch ich mir ein paar Sachen ein in einen Bollerwagen und lief nach Lindewiese zum Bahnhof. Ich fuhr zu meiner Familie nach Friedeberg. Dort lebte meine Mutter. Ich wollte sehen, wie es ihr geht. Mein Vater kämpfte im Krieg und meine Schwester lebte in Wien, von wo sie allerdings flüchten musste.
Friedeberg war eine ansehnliche Stadt mit 1287 Einwohnern. Davon waren 76 Tschechen.