Zeitenbrüche - Wolfgang Maderthaner - E-Book

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Wolfgang Maderthaner

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Beschreibung

Soziale Revolten und revolutionäre Erhebungen gehen stets mit Zeitenbrüchen in Ökonomie und Gesellschaft einher und lassen Visionen eines anderen Besseren greifbar scheinen, einer Welt der Gerechtigkeit und Gleichheit im Zeichen eines »radikalen Willens zum Paradies auf Erden« (Ernst Bloch). Wolfgang Maderthaner beleuchtet in diesem Buch fünf heute in Vergessenheit geratene, doch spektakuläre sozialrevolutionäre Aufstände in den habsburgischen Ländern seit dem späten Mittelalter. Das Panorama reicht dabei von der Welt der böhmischen Taboriten des frühen 15. Jahrhunderts über die ungarischen »cruciferi« von 1514, die innerösterreichischen Bauern und Bergknappen von 1525, die Kuruzzen-Guerilla des Fürsten Rákóczi zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu den polnischen Leibeigenen in Galizien (heute: Ukraine) am Vorabend der Revolution von 1848.

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Seitenzahl: 378

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Wolfgang Maderthaner

Zeitenbrüche

Sozialrevolutionäre Aufstände in habsburgischen Landen

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Soziale Revolten und revolutionäre Erhebungen gehen stets mit Zeitenbrüchen in Ökonomie und Gesellschaft einher und lassen Visionen eines anderen Besseren greifbar scheinen, einer Welt der Gerechtigkeit und Gleichheit im Zeichen eines »radikalen Willens zum Paradies auf Erden« (Ernst Bloch). Wolfgang Maderthaner beleuchtet in diesem Buch fünf heute in Vergessenheit geratene, doch spektakuläre sozialrevolutionäre Aufstände in den habsburgischen Ländern seit dem späten Mittelalter. Das Panorama reicht dabei von der Welt der böhmischen Taboriten des frühen 15. Jahrhunderts über die ungarischen »cruciferi« von 1514, die innerösterreichischen Bauern und Bergknappen von 1525, die Kuruzzen-Guerilla des Fürsten Rákóczi zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu den polnischen Leibeigenen in Galizien (heute: Ukraine) am Vorabend der Revolution von 1848.

Vita

Wolfgang Maderthaner HR, PD Dr. phil., ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs i.R. und Präsident des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.

»Solche uffrür aber (glych wie ander alle) ist mit tyranny gelegt und gestillet worden; dan tyranny und uffrur gehorend zusamen; es ist deckel und haffen zamen.« (Johannes Stumpf 1525)

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Prolog

Žižkas Trommel: Böhmen 1419

Piccolomini

Allianz- und Konfliktbindungen

Apocalypse Now

Bruder Jan vom Kelch

Die böhmischen Brüder

»Verrucht ist die Armut und schamlos, Feind jeder edleren Sitte«: Ungarn 1514

Das düstere Fest des Todes

Taurinus

Ein Kreuzzug der Christenheit

Evocates crucis

Retorsion

Der Kampf um Wald und Weide: Innerösterreich 1525/26

Stara pravda

Schladming und die revolutionäre Landschaft Salzburg

»mit spiessen und schinten, viertaillen und aller grausamen straff«

Die Erfindung der Guerilla: Ungarn 1704

Pál Kéri – ein Panorama der Obsession

Neoacquistica

Die Malkontenten

Kuruzzen-Guerilla

»Aber ich habe ein Gedächtnis«: Galizien 1846

Sacher-Masoch

Habsburgs Peripherie

Galizische Revolutionen

Prolog

»Der Bauer trägt das ganze Land / auf dem gebeugten Rücken / muß sich stets tiefer bücken / für Fürst und Pfaffenstand / Je mehr die Herren sich schmücken / je härter drückt die Hand / Da hilft kein zorniger Gott / der Teufel wohnt im Schloß / Da ist des Bauern Not so groß / des Bauern große Not.« So sangen die Schmetterlinge 1976 im ersten Aufzug ihres politischen Oratoriums Proletenpassion, uraufgeführt im stillgelegten Schlachthof St. Marx in Wien-Simmering, im Rahmen der Wiener Festwochen. Eine Art öffentlicher Generalprobe vor ebenso fasziniertem wie enthusiasmiertem Publikum hatte im völlig überfüllten Festsaal meines kleinen niederösterreichischen Heimatstädtchens stattgefunden. Von da an sollte mich die Thematik der (vereinfachend so bezeichneten) Bauernkriege sowie jener sozialen und ökonomischen Umwälzungen, deren Ursache und Folge sie sind, nie mehr ganz loslassen.

Stets ist der Zerfall bestimmter historisch-ökonomischer Formationen, stets ist der Übergang von einem – wie es die französischen Regulationstheoretiker um Michel Aglietta bezeichnen – Produktions- und Regulationsregime zum nächstfolgenden von massiven gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen begleitet, durchsetzt von brachialen Akten kollektiver wie individueller Atrozität, von einer schier endlos scheinenden Abfolge von Krisen und humanitären Katastrophen sonder Zahl. Immer, wenn das Neue, Kommende, konkret bereits Erdachte, Vorstellbare, Geahnte, noch nicht zu vollem Durchbruch gereift, und das Alte, überlebt, anachronistisch, dem Zerfall preisgegeben, noch wirkmächtig bleibt und mit aller Macht seine Dominanz zu behaupten gewillt ist, erschüttern Eruptionen exzessiver Grausamkeit das hergebrachte soziale Gefüge bis in sein Innerstes. Im gegenständlichen Fall steht ein martialisch anmutender, strukturell gewaltbesetzter Transformationsprozess zur Debatte, der am präzisesten wohl mit dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation gefasst wird. Von Marx in Anlehnung an ein von Adam Smith erarbeitetes Konzept der previous accumulation entwickelt, von Karl Polanyi in dessen Hauptwerk am englischen Beispiel ebenso brillant wie zwingend dargelegt, bezeichnet der Terminus den Ablauf und Fortgang der Anhäufung von Kapital, nicht als Resultat einer qualitativ neuen Produktionsweise, sondern als deren Ausgangspunkt. Und so gut wie in allen Fällen ist dieser Vorgang mit der Überführung von Gemeinschaftsgütern in privates Eigentum bzw. der Enteignung von vordem gemeinschaftlich bearbeitetem Grund und Boden verbunden – ein Vorgang, der auf »Raub, Diebstahl, Machtmissbrauch« (David Harvey) beruht, mithin auf der Anwendung von politischen, rechtlichen und physischen Zwangsmitteln. Der ökonomische Fortschritt vollzieht sich in Form einer tendenziellen Verelendung und beinahe gänzlichen Entrechtung der bäuerlichen Bevölkerung, es kommt zu massiven Einschränkungen von traditionellen Nutzungsrechten an Wäldern, Weide- und Ackerland, zu förmlichen Massenexpropriationen mit entsprechend weitreichenden sozialen Folgewirkungen.

Wieder und wieder erhebt sich die fronende, hörige, ihrer persönlichen Freiheit enthobene Bauernschaft gegen herrschaftlichen Raub und autoritäre Anmaßung. Ihr zur Seite treten, als militärische, strategische, programmatische Führungskader und Avantgarde, Bergknappen und kleine Gewerken, Teile der städtischen Bürgerschaft, des qualifizierten Handwerks, des niederen Adels; unterbäuerliche Schichten und städtische Plebejer stellen in vielen Fällen das radikale, vorwärtstreibende, wenn auch in seinen Aktionen und Ambitionen häufig ambivalente soziale Element. Ein um das andere Mal wird auf ihr sozialrevolutionäres Aufbegehren mit aller nur erdenklichen Demütigung, Folter, willkürlicher Exekution und massenhafter Hinrichtung reagiert, werden ihre geschändeten, zerrissenen, zu Tode gequälten Leiber zu Abschreckungs- und Demonstrationszwecken an öffentlichen Orten oft wochenlang zur Schau gestellt. Sengend und brennend, Tod und Verderben bringend zieht das Strafgericht der kaiserlichen Söldnerheere über das Land, durch die Dörfer, Städte und Montanreviere. In diesen von wildem, ungezügeltem Furor angetriebenen Strafexpeditionen realisiert sich die ursprüngliche Akkumulation ihrem eigentlichen Sinne nach. Darin erst wird ein neues gesellschaftliches Kapitalverhältnis in seinen ersten Konturen in Gang gesetzt, dadurch erst die soziale Hegemonie und die unermesslichen materiellen Besitztümer von Adel und Kirche langfristig gesichert.

Doch tut sich in dem wie immer widersprüchlich verlaufenden Prozess des Übergangs zu Warenproduktion und Marktwirtschaft sowie der damit ursächlich verbundenen fundamentalen Umwertung aller Werte zugleich auch durchaus Anderes auf: Visionen eines alternativen Besseren, einer Welt der Gerechtigkeit und Gleichheit, jenseits aller vorgegeben und unumstößlich scheinenden Hierarchien von Stand und Geburt. In konkretem Aufruhr und allseitiger Loyalitätsverweigerung manifestiert sich der unbedingte, allumfassende »Wille zum Paradies auf Erden« (Ernst Bloch), wird mit ungeheurem Nachdruck der »ewige« Menschheitstraum eines gottgefälligen irdischen Daseins in Freiheit und Frieden mobilisiert, von aller feudalen Last und Fron, von jeglicher Untertänigkeit der Person, jeglicher Form der verhassten Leibeigenschaft für immer und alle Zeit befreit.

Es scheint in eben diesem Zusammenhang – und nicht allein der zeitlichen Einordnung wegen – zweckmäßig, an den Anfang der vorliegenden Publikation eine Studie über ein chiliastisches Experiment zu stellen, das in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts das feudale Europa in seinen Grundfesten erzittern ließ. Die Häresie der südböhmischen Kommune Tabor, puritanisch ihrer Essenz nach, forderte die unabdingbare, absolute soziale Gleichheit Aller ein und zog, einem Magneten gleich, Visionäre, Utopisten, Apokalyptiker jedweder Schattierung in ihren Bann. Stimuliert von manifesten Erlösungs- und Endzeitphantasien wurde aller bestehenden Gesellschaft im Namen des gerechten und rächenden Gottes der Krieg erklärt, war die innere Organisation des taboritischen Gemeinwesens an den Vorgaben solch permanenter Kriegführung ausgerichtet – sein Schicksal, sein Ruhm und letztlich sein Verhängnis. Unfassliche anderthalb Jahrzehnte vermochte Tabor sich zu behaupten, ganzen fünf von Papst und Kaiser ausgerufenen und organisierten Kreuzzügen wurde in »glorreichen« Schlachten, die den dauerhaften Ruf der in allgemeiner Wehrpflicht stehenden Frauen und Männer der Kommune begründeten, widerstanden.

Ein knappes Jahrhundert später findet, gleichfalls in Konnex mit einem Kreuzzug, der Aufstand der böhmischen Gotteskrieger, ihr apokalyptisch grundierter, in eine widerspruchsfreie Zukunft gerichteter Gesellschaftsentwurf seinen Widerhall in den Weiten der ungarischen Tiefebene. Der erste Medici-Papst hatte seinen gewichtigsten Gegenspieler, den magyarischen Kardinalprimas, mit der Durchführung einer Kampagne zur Wiedergewinnung Konstantinopels beauftragt. Die massenhaft aus den Reihen der agrarischen Unterschichten rekrutierten, nunmehr entsprechend bewaffneten cruciferi (»jene, die das Kreuz nehmen«) werden das heilige Unternehmen in einen fürchterlichen Rachefeldzug, in eine barbarisch anmutende, blutrünstige Jacquerie umschlagen lassen, der ein bedeutender Teil des landbesitzenden Adels zum Opfer fällt. Zeitlich auf die Sommermonate des Jahres 1514 begrenzt, scheitert die Rebellion am vergeblichen Versuch einer Einnahme Timișoaras/Temeswars. Die vom Wojwoden Siebenbürgens, Jan Szapolyai, angeführte Adelsreaktion fällt drakonisch, ja bestialisch aus, die Leibeigenschaft und völlige Rechtlosigkeit der ungarischen Bauernschaft wird »auf ewig« festgeschrieben.

Ganz offensichtlich unter dem Einfluss des ungarischen Aufstands erheben sich die windischen Bauern Kärntens, Krains und der Südsteiermark lediglich ein Jahr später im Zeichen der Stara pravda, des »alten Rechts«, der überbrachten »Gerechtigkeit« – angeleitet offenbar von allgemein geteilten, weithin internalisierten Werten einer »moralischen Ökonomie« (E.P. Thompson), also einer sehr präzisen Vorstellung davon, was rechtens sein müsse und was nicht. Über solche Beschwörung eines idealisierten Vergangenen weist das revolutionäre Aufbegehren der Tiroler, Ennstaler und Salzburger Montanarbeiterschaft im Rahmen des Großen Deutschen Bauernkriegs von 1525 weit hinaus. Es begibt sich im damals »modernsten« Industrierevier des Kontinents, und erstmals bieten die Bergknappen die rebellierenden Bauernmassen auf, erstmals bleibt, in der denkwürdigen Schlacht von Schladming, ein Bauernheer über das landesfürstliche Söldneraufgebot siegreich. Zwei herausragende, in Qualität und Perspektive einzig dastehende Manifeste – Michael Gaismaiers Tiroler Landesordnung und die anonym verfassten Vierundzwanzig Artikel gemeiner Landschaft Salzburg – loten die Grenzen des zu dieser Zeit gerade noch Denkmöglichen aus. Analyse und Handlungsanleitung zugleich, wird nicht nur ein überzeitliches Widerstandsrecht postuliert, die kompromisslose Auflösung des Feudalsystems überhaupt steht zur Debatte.

Weitere zwei Jahrhunderte später ist von solch utopischem Überschuss nur mehr wenig geblieben. Eine unerträglich bedrückende habsburgische Fremdherrschaft ist es, die die hörige ungarische Bauernschaft eine von Ferenc Rákóczi angeführte Magnatenrebellion rückhaltlos unterstützen lässt. Wobei es an dieser Stelle angebracht erscheint, auf eine kleine Ungenauigkeit in der Titelgebung der vorliegenden Publikation hinzuweisen. Deren geographisches Bezugsfeld ist Zentral- und Ostmitteleuropa, umfasst also Gebiete und Territorien, die dem Verband des Habsburgerreiches zuzuzählen sind oder dies in absehbarer Zeit sein werden. Zum gleichen Zeitpunkt wie Böhmen war Ungarn an die Habsburger gefallen (1526), doch erstreckte sich hier deren realer Herrschaftsbereich zunächst bestenfalls auf Ober- und Westungarn, während der weitaus größere Teil des Landes unter türkischer Suprematie stand, mit einem halbautonomen, dem osmanischen Reich jedenfalls tributpflichtigen Transsylvanien/Siebenbürgen. In zäher und überaus mühsamer Kampagne, die Züge massiver kolonialer Unterdrückung aufwies und erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu ihrem Ende gebracht werden konnte, musste der Herrschaftsanspruch des Hauses Österreich durchgekämpft werden. Dagegen nun organisierte Rákóczi, in beispielloser Koalition, die »proto-nationale« Insurrektion. Er kann dabei auf die spezifischen Kampfpraktiken berittener Krieger-Hirten, der sogenannten Kuruzzen zurückgreifen, die bereits 1514 als Haiduken eine herausragende Rolle gespielt hatten und ein Jahrhundert vor dem spanischen Widerstand gegen Napoleon überaus effizient Guerilla-Taktiken in Anwendung brachten.

Abschließend widmet sich eine Fallstudie der archaischen Auflehnung der polnischen Leibeigenen gegen die polnischen Großgrundbesitzer im österreichischen Kronland Galizien (heute Südpolen und Westukraine) am Vorabend der gesamteuropäischen Revolution von 1848. Jahrhundertelang in tiefster feudaler Hörigkeit, in Unwissenheit und Alkoholsucht gehalten, entwickelt sich ihr Aufbegehren zu einem von Gewaltexzessen durchsetzten, grotesk-makabren Rachefeldzug. Der galizische Literat Leopold von Sacher-Masoch hat in seinem Erstlingsroman dieser »größten Jacquerie seit der Französischen Revolution« (Eric J. Hobsbawm) ihr grandioses Narrativ gegeben und deren leitende Idee formuliert: »Ich aber habe ein Gedächtnis.«

Wie es überhaupt literarische Hervorbringungen, zeitgenössisch oder zeitversetzt, sind, die jedes einzelne Kapitel des Buches (ein-)begleiten, rahmen, und anleitend, konstitutiv, ja paradigmatisch geworden sind für die Formierung einer ganz bestimmten Erinnerungskultur und Überlieferungstradition. Die Historia Bohemica des Aeneas Silvius Piccolomini, des späteren Papstes Pius II. etwa, die dem erblindeten Heerführer der taboritischen Scharen, den für unbesiegbar gehaltenen apokalyptischen Revolutionär Jan Žižka von Trocnov so breiten Raum widmet und diesen ganz unzweifelhaft im Bündnis mit allen nur denkbaren bösen Mächten sieht. Noch Voltaire und Friedrich II. sollten über Žižkas Trommel, deren Legendenstatus und Auffindung in einer schlesischen Burg Korrespondenz führen. Oder die Stauromachia des Neulateiners Stephanus Taurinus Olomucensis, ein Versepos, 1519 in Wien gedruckt, das die Symbol- und Führungsfigur des magyarischen antifeudalen Kreuzzugs, György Dózsa Székely, in Grund und Boden verdammt, und implizit doch, seiner überragenden militärischen Fähigkeiten wegen, Bewunderung zollen muss. Oder aber auch der zunächst unscheinbare, in einer österreichischen Untergrundzeitschrift in Paris 1940 erschienene Text des Budapester Emigranten Pál Kéri, der, von einem »revolutionär-sozialistischen« Standpunkt aus, am Beispiel des Freiheitskampfes Rákóczis eine Fülle entsprechender national-magyarischer Clichés debattiert.

Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet lediglich die Auseinandersetzung mit der innerösterreichischen und Salzburger Rebellion von 1525/26, wo die strategisch-taktische Leistung des Gewerken und späteren Renegaten Michael Gruber in der Schlacht von Schladming und bei der Belagerung der Hohenfeste Salzburg sowie das in schierer Bestialität, mit spiessen und schinten, viertaillen und aller grausamen straff ablaufende landesfürstliche Strafgericht im Zentrum stehen. Wie überhaupt die zu Abschreckungszwecken üblicherweise in aller Öffentlichkeit an den Leibern der Delinquenten ausgeführte und abgehandelte Folter, wie überhaupt qualvolle Exekution und Zurschaustellung der zerschundenen, zerrissenen Leichen jener, die der Insubordination wider Gott und weltliche Autorität für schuldig befunden worden waren, geradezu ein Wesenselement jener gewaltigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Vorschein der Moderne darstellen. Die bis in das kleinste, grausame Detail durcharrangierte Hinrichtung des »Bauernkönigs« Dózsa als düsteres Fest des Todes, das mit abgründigem Zynismus vom habsburgischen General Caraffa in Szene gesetzte Eperjenser Blutgericht, das dämonische, noch heutzutage in regelmäßigen Laientheateraufführungen erinnerte Frankenburger Würfelspiel, das in der innerösterreichischen Bauernschaft ein letztes, von Stephan Fadinger angeführtes heroisches Aufwallen von Selbstbehauptung und revolutionärer Leidenschaft auslösen wird – lediglich drei, wenn auch besonders markante Beispiele aus einer nicht enden wollenden Serie der Gräuel und des Schreckens, die jene sich über vier Jahrhunderte hinziehenden Revolten und Rebellionen als konstitutives Element in sich tragen sollten. Sie alle haben mit Niederlagen der sich aufbäumenden Bauern, Knappen, Bürger, Kleinadeligen geendet und doch, in der langen Perspektive, ganz wesentlich den Zerfall des europäischen Feudalsystems befördert.

Als junger Student habe ich, im Gefolge der Aufführungen der Proletenpassion, ein Werk Karl Kautskys mit dem wenig ansprechenden Titel »Vorläufer des neueren Sozialismus« gelesen. Ich war von der Lektüre schlicht hingerissen, ja euphorisch, tat sich doch eine völlig unbekannte Welt der späten Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf, die mich den Entschluss fassen ließ, »den Kautsky« bei erstbester Gelegenheit mit den Mitteln gegenwärtiger Geschichtswissenschaft neu zu fassen. Nun, die Gelegenheit dazu ergab sich schließlich in den späten Jahren meiner Berufskarriere, allerdings thematisch und zeitlich auf die habsburgischen Lande eingeschränkt. Maßgeblich unterstützt hat mich bei diesem Unterfangen Dr. habil. Lutz Musner, mit dem gemeinsam ich vor knapp einem Vierteljahrhundert eine Publikation über Das andere Wien um 1900 bei Campus vorgelegt habe, und mit dem es mir vergönnt war, auch und gerade in der Pandemiezeit jedes einzelne der Kapitel bis ins Detail zu debattieren. Frau Dr. Christine Scholten hat mich an ihrem enormen historischen Wissen teilhaben lassen und mich ebenso nachsichtig wie bestimmt auf faktische und stilistische Ungenauigkeiten aufmerksam gemacht. Gleiches gilt, in bewährter Weise, für Frau Mag. Elfriede Pokorny. Mit Prof. Dr. Richard Saage, dem führenden deutschsprachigen Utopieexperten, konnte ich in einen überaus anregenden und erhellenden Gedankenaustausch über utopischen Gehalt und Überschuss sozialrevolutionärer Aufstandsbewegungen eintreten. Ihnen vor allem gilt mein ausdrücklicher und herzlicher Dank. Der methodische Ansatz der Arbeit folgt im Wesentlichen einer historisch angeleiteten und kulturwissenschaftlich erweiterten politischen Ökonomie – ein Ansatz, den ich im ständigen Diskurs mit meiner Frau, Univ.Prof. Dr. Andrea Grisold, heterodoxe Ökonomin an der WU Wien, präzisieren und weiterentwickeln konnte, wofür ich zu besonderem Dank verpflichtet bin. Die Zusammenarbeit mit Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi und Herrn Jürgen Hotz vom Campus Verlag erwies sich als ebenso produktiv wie angenehm und kollegial.

Žižkas Trommel: Böhmen 1419

Piccolomini

In hohem Maße Ungewöhnliches begab sich im Juli des Jahres 1451, da der Bischof von Siena und königliche Legat Aeneas Sylvius Piccolomini auf seinem Weg zum und vom Ständetag in Beneschau/Benešov für zwei zeitlich eng begrenzte Aufenthalte der südböhmischen Stadt Tabor Besuch abstattete. Jenem Tabor, das vor kurzem noch als das unbestrittene Zentrum eines egalitären, apokalyptisch-anarchischen Aufbegehrens gegolten hatte, jenem Tabor, das unter Berufung auf ein idealisiertes, »unverfälschtes« Urchristentum in jedem und allem die radikale Antithese zur feudalen Welt- und Gottesordnung darstellte, und das in einen permanenten Heiligen Krieg mit eben dieser Welt eingetreten war. Noch im August fertigte Aeneas, der spätere Papst Pius II., einen ausführlichen Bericht an, den er von Wiener Neustadt aus an den führenden Diplomaten der römischen Kirche, Juan Carvajal, Kardinaldiakon von Sant‘ Angelo, sandte: Ein historisches Dokument von eminentem Rang, handelt es sich dabei doch um einen der durchaus raren Augenzeugenberichte über Verfasstheit, innere Struktur und Bevölkerung Tabors – auch wenn die nunmehr pazifizierte und in gewisser Hinsicht erschöpfte Handwerksstadt lediglich sehr bedingt Gemeinsamkeiten mit dem einstigen sozialrevolutionären Kristallisationspunkt der »chiliastischen Etappe« einer in ihrer Unerbittlichkeit und Konsequenz unvergleichlichen Häresie aufweisen sollte.1

1405 in Corsignano als Sohn einer verbannten Sieneser Familie geboren und in vergleichsweise bescheidenen Umständen aufgewachsen, durchlief Enea Silvio de‹ Piccolomini eine beachtenswerte Karriere, die ihn durchgehend nahe oder mitten in den Zentren der weltlichen und geistlichen Macht seiner Zeit positionierte. Erstmals trat er 1433 als Begleiter von Kardinal Domenico Caprianica in Basel hervor, und trug Wesentliches zur Überlieferung der wichtigsten Dokumente jenes Konzils bei, das mit den sogenannten Kompaktaten einen, wenn auch nur kurze Zeit gültigen modus vivendi zwischen Römischer Kirche und den tschechischen (gemäßigten) Utraquisten aushandeln konnte. Mit 35 wird er Sekretär des Gegenpapstes Felix V., korrigiert diesen Lapsus aber rasch und tritt anfangs 1443 in die Dienste König Friedrichs III., der seinerseits Papst Eugen IV. loyal verbunden geblieben war. Mit knapp 40 Jahren wechselt der mehrfache Vater, Hof- und Lebemann, Verfasser erotischer Literatur, der Gelehrte, Humanist, Historiker und glühende Verehrer Boccaccios in den geistlichen Stand; kurz darauf ist er Bischof von Triest, zwei Jahre später Bischof von Siena. Seit April 1452 steht er zunächst als Legat, später als Nuntius für Böhmen zudem in päpstlichen Diensten, und durchläuft rasant die amtskirchlichen Hierarchieebenen, bis er im August 1458 in einem dreitägigen Konklave als Nachfolger Calixtus’ III. zum Papst gewählt wird, als der er, in Anspielung auf Vergils pio Enea, den Namen Pius II. annehmen wird. Es ist, ganz entsprechend seiner Persönlichkeit, ein zwieschlächtiges Pontifikat, ein Restaurationspapsttum.2

Pius II. forciert und stärkt das päpstliche Primat gegenüber dem Konzil, er annulliert auch formal die Basler (Prager) Kompaktaten, die dem gemäßigten Flügel der Hussiten den Wiedereintritt in die römische Kirche offen gestellt hatten. Seine Geburtsstadt lässt er im Sinne der erstmaligen Realisierung einer Idealstadt der Renaissance zu Gänze neu bauen und gibt ihr den Namen Pienca; die Überschreitung um das Doppelte der veranschlagten Kosten durch den beauftragten Architekt wird auf wohlgefällige Akzeptanz stoßen, könne doch nur auf diese Weise wahrhaft Großes und Dauerhaftes geschaffen werden.3 Geradezu obsessiv aber verfolgt Pius den Plan einer Rückeroberung des 1453 von den Osmanen eingenommenen Konstantinopel, der, wie er zu betonen nicht müde wurde, in die Hände eines unzivilisierten, barbarischen, ungläubigen Gegen-Europas gefallenen Metropole des spirituellen, kulturellen Ostchristentums, der »natürlichen« Synthese zwischen antikem Erbe und abendländischem Christentum. Der gelehrte Humanist lebt so den Krieg, propagiert den Kreuzzug, träumt von einer gesamteuropäischen Armee, allen Rückschlägen und Misserfolgen zum Trotz, bis hin zur Selbstaufopferung. Vom nahen Tode gezeichnet, begibt er sich 1464 nach Ancona, um das dort versammelte, eher klägliche Söldneraufgebot persönlich anzuführen. Der Papst verstirbt, noch ehe die Expedition ihren Anfang nehmen kann.

Aeneas ist eine typische, wiewohl hoch komplexe Figur des Übergangs, eine, wie Hans Rothe bemerkt, »merkwürdige Mischung aus Mittelalter und Neuzeit«,4 in Einem Repräsentant der italienischen Renaissance wie der mittelalterlichen Ordnungskonzeptionen, ein paradigmatischer Humanist im vollen Bewusstsein über das notwendige Aufbrechen eben dieser Vorstellungen und Gewissheiten, die er doch, als Mann der Ordnung, in die neue Zeit zu übertragen und an diese zu adaptieren gedachte. Vor allem auch ist er ein herausragender Literat, ein Virtuose des Wortes, ein feinsinniger, gebildeter Stilist, ein Meister des subtilen Sprachspiels und der Mehrdeutigkeit. Er perfektioniert geradezu das Genre der Korrespondenz: Briefe, die – von seinen Schülern in Wien, Prag, Krakau, Pécs etc. unzählige Male kopiert – in der europäischen Gelehrtenwelt zirkulieren und seinen Ruf als einem der führenden Intellektuellen des Kontinents begründen. Er ist, in dieser Hinsicht ganz Geschöpf der Renaissance, der Autor einer Autobiographie und verfasst in jüngeren Jahren erotische Gedichte, die, wie er sich rühmte, in nichts den gewagtesten Schöpfungen eines Ovid oder Properz nachstünden. 1442 krönte ihn der deutsch-römische König und nachmalige erste Habsburgerkaiser Friedrich III., dessen überaus einflussreicher Berater Aeneas wurde, in Frankfurt zum poeta laureatus.5 Eine Historia Austrialis und eine Historia Friderici III. imperatoris sind in gewisser Weise wohl Ausdruck dieses persönlichen Nahverhältnisses, wie sie zugleich einen über weite Strecken gebrochenen, zwischen Faszination und Abscheu changierenden Bezug zur »großen Stadt« Wien evident werden lassen: eine der Genusssucht verfallene Stadt der Phäaken und der Libertinage. Beinahe ausnahmslos alle Bürger, so Piccolomini, verfügten hier in ihren Häusern über Weinschenken, bevorzugter Treffpunkt der städtischen Demi-Monde, Säufer und Dirnen, deren Zahl nirgendwo größer sei als in Wien. Wie überhaupt kaum eine Frau sich mit nur einem Mann begnüge, und Ehen in der Regel ohne Zustimmung der Brautväter geschlossen würden. Ein bunter, tendenziell egalitärer, klassenübergreifender und sozial durchlässiger Reigen der Geschlechter und Generationen dominiere in dieser Stadt der Fremden und Zuzügler, die ihrerseits binnen kurzem den Aufstieg in die geachtete und wohlsituierte Stadtbürgerschaft schafften; alte Familien gäbe es dieserart kaum. Man lebe »ohne geschriebenes Gesetz«, wohl aber nach den »alten Sitten«, die man allerdings nach dem jeweiligen Gutdünken und Bedürfnis auslege. Und wie die übrige Bevölkerung widme sich auch die Studentenschaft überwiegend dem »sinnlichen Genusse, dem Essen und Trinken.«6

Gleiches oder zumindest Vergleichbares attestiert Aeneas den Tschechen, lediglich dass hier neben Trunksucht und Fresslust auch noch der »Aberglauben« dominiere. Zudem gäbe es vermutlich kein Königreich »unserer Zeit«, so befindet er in der großen Geschichte Böhmens von 1458, in dem dermaßen gehäuft Umbrüche, Kriege, Schlachten und Metzeleien, aber auch Mirakel und sonstig Wundersames aufgetreten seien.7 Die Historia Bohemica ist, neben seinen Beiträgen zur Kosmographie De Europa und De Asia, das vermutlich bedeutendste, jedenfalls aber das populärste und am meisten rezipierte Werk des späteren Papstes.8 Ein eminentes, ja richtungweisendes historiographisches Meisterwerk zweifellos, eine, wie die Kritik noch im beginnenden 21. Jahrhundert festhielt, »von humanistischer Sensibilität durchdrungene«, wohl organisierte, zudem elegant formulierte erste Landeskunde – und doch bleibt Piccolomini, seinem ambivalenten Charakter gemäß, in de facto allen relevanten Deutungs- und Wahrnehmungskriterien merklich dem spätmittelalterlichen Kanon verhaftet. Anhand der böhmischen Geschichte zeige sich – exemplarisch und im 15. Jahrhundert vorläufig erfolgreich – der in Permanenz unternommene Versuch, aus dem Innersten des Sanctum Imperium heraus ein »Gegenreich« zu formieren. Zweierlei Strukturprinzipien liegen dem als geschichtsmächtige und formative Kraft zugrunde. Zum einen ist es die »Lüsternheit des Weibes«, die Libido, das ungehemmte sexuelle Begehren der Frau, die im Wege ihrer erotischen Macht in die Sphäre des Politischen drängt, dazu jedoch nicht befähigt ist. Zum anderen sind es die prinzipiell vernunftbegabten und mit Sachkompetenz ausgestatteten Männer, die gleichwohl einem fortgesetzten Populismus, einem ständigen Bemühen »um die Gunst des Volkes« unterliegen.9

Mithin ist es wenig überraschend, dass sich mehr als die Hälfte der Kapitel der Historia Bohemica mit der Häresie des kämpfenden Hussitentums auseinandersetzen (worauf noch näher einzugehen sein wird). Mit kaum verhohlener Faszination und zugleich vorgenommener rigider Distanzierung, mit der durchaus feindseligen Dämonisierung des hussitisch-taboritischen Warlords Jan Žižka bei gleichzeitig unumwundener Bewunderung für dessen militärisches Genie wird zudem eine ebenso mitreißende wie erhellende Fallstudie vorgelegt, eine biographische Skizze, in ihren ambivalenten Bedeutungszuschreibungen wie in ihren psychologisierenden Passagen gleichermaßen bemerkenswert. Gleiches gilt für die Darstellung der einzigartigen militärischen Kampfkraft der taboritischen Heerscharen, und es ist mit gutem Grund vermutet worden, dass dies in direktem Zusammenhang mit den Kreuzzugsplänen Piccolominis und der möglichen Rekrutierung von böhmischen Söldnern, die lange im Rufe der absoluten Unbesiegbarkeit gestanden waren, zu sehen sei.10

In diesem Sinn darf der an Carvajal gesandte »Visitationsbericht« von 1451 als eine Art Vorstudie zur Historia Bohemica gelten; die Auflistung etwa der »Waldensischen« Irrungen und ketzerischen Prinzipien im religiösen Leben Tabors ist in beiden Fällen sowohl inhaltlich als auch sprachlich weitgehend ident. Und doch ist es zugleich ein komplexes Memorandum von darüber hinausweisender Bedeutung und Intention, vielschichtig, mehrdeutig, multifunktionell. So sehr es offensichtlich der Selbstvergewisserung und Glaubensversicherung des Autors dient, so ist es auch ein Dokument einer versuchten Bewältigung nach wie vor akuter Traumata – angesichts der massiven spirituellen, moralischen und nicht zuletzt materiellen Einbrüche, die von der »rechtgläubigen« Amtskirche im Zuge der hussitischen Revolution hinzunehmen waren und die sie in böhmischen Landen an den Rand ihrer weiteren Existenz geführt hatten. Es ist zudem, in gewisser Weise, ein Zeugnis der Angstprojektion: Sollte der Schoß, aus dem das Ungeheuerliche gekrochen war, am Ende noch fruchtbar sein, oder war sein abgründig-zerstörerisches Potenzial letztlich erloschen? In diesem Zusammenhang und vor allem anderen aber ist es, seinem durchgängig inquisitorischen Habitus gemäß, ein Manifest der gänzlichen Verdammung. Noch bevor er nach Tabor aufbrach, hatte Aeneas in Jinřichův Hradec/Neuhaus Halt gemacht, wo er in einen ausführlichen Dialog mit dem abgefallenen utraquistisch-hussitischen Priester Jan Papoušek von Soběslav eingetreten war: Eine umfassende Auseinandersetzung mit der inneren Geschichte und der Ideologie des (radikalen) Hussitentums, und, wie Howard Kaminsky folgerichtig bemerkt, ein sinnfälliges, wenn auch frühes Beispiel für die einflussreich und wirkmächtig gewordene Interpretation einer Revolution durch einen ihrer Renegaten.11

Die »Höhle des Löwen«, in die Aeneas 1451 – ein Jahr vor deren Unterwerfung durch Jiří z Poděbrad – einzudringen wagte, hatte mit dem anarchisch-chiliastischen Experiment von 1420 oder dem Hauptquartier jener militärischen Formationen, die in »glorreichen« Feldzügen bis zum Ende des Jahrzehnts den Großteil Zentraleuropas heimsuchten, nur mehr sehr bedingt zu tun. Vielmehr traf er auf eine solide, handwerklich strukturierte Stadt, deren Häuser aus Lehm oder Holz ohne weitere erkennbare Ordnung willkürlich zusammengefügt schienen. An einem der Stadttore entdeckte er ein Bildnis eines Engels mit Kelch, ein anderes war mit einem solchen Jan Žižkas versehen, der offensichtlich den Status eines Heiligen genoss – wiewohl nicht einmal dem Abbild Christi selbst solche Ehren zuteil geworden waren.12 Großzügig wurde Gastfreundschaft gewährt und Verpflegung im Überfluss angeboten, obgleich man, so Aeneas, ohne Beachtung von Etikette oder sozialer Hierarchie, form- und respektlos, in einer rustikalen, ja »barbarischen« Art und Weise empfangen worden war. Die Zeiten eines selbstbestimmten Kollektivismus aber, eines am »primitiven« Urchristentum ausgerichteten »Kommunismus«, so ein erstes Resümee, waren jedenfalls vorbei. Besitzdenken, Vorteilnahme, »Habsucht« hatten Einzug gehalten, nur kurz währte das »Feuer der Nächstenliebe«, nur kurz die Periode, da den Idealen der Apostelgemeinde nachgelebt wurde. In den Häusern selbst würde zum Teil kostbarer Hausrat und großer Reichtum gehortet, zusammengetragen aus der »Beute zahlreicher Völker«: »Sie wollten einst in allen Dingen nach der Art der Urkirche leben und hielten alles gemeinsam; sie nannten sich gegenseitig Brüder, und was dem einen fehlte, das erhielt er von dem anderen.« Nunmehr aber lebe jeder für sich, »die einen hungern, indes die anderen schwelgen«. Über gezählte viertausend waffenfähige Männer verfüge diese Stadt, doch würden diese mittlerweile als »zum Kriege untauglich« gelten. Vielmehr waren aus ihnen Handwerker, größtenteils Wollweber, geworden; und da ihnen die Fähigkeit zum kriegerischen Raubzug (und das damit eng zusammenhängende, grundsätzliche Verständnis von Beute- als Gemeingut) abhanden gekommen sei, so strebten sie neuerdings eben nach Handelsprofiten und »ergeben sich niederem Erwerb«.

Wenn so die ökonomische Dynamik selbst den aggressiven Kriegsgeist und die außergewöhnliche militärische Kampfkraft Tabors sukzessive unterminiert, schließlich gar aufgehoben hat (Aeneas spricht wörtlich von »Erschlaffung«), so barg doch der in allen nur erdenklichen Aspekten vollzogene Abfall von der römischen Doktrin, die nach wie vor ungebrochene ketzerische Praxis der Stadt hinreichend subversives und jedenfalls bedrohliches Potenzial. Lang und explizit ist die Liste der Irrungen, Abweichungen und Verfehlungen, die Aeneas anzuführen vermag – der deviante Glaubenskanon einer »verabscheuungswürdigen«, »abscheulichen«, »tödlichen« Sekte, die größtmögliche Bestrafung verdiene. Zunächst und zuvorderst werde die Suprematie der römischen Kirche und des ihr zugehörigen Klerus in Abrede gestellt. Man zerstöre Abbildungen Christi und verneine die Existenz des Fegefeuers ebenso wie den Nutzen von Totengebeten und Anrufungen der Heiligen. Mit Ausnahme der Sonntage und des Osterfestes gäbe es keine Feiertage, das Messopfer in Form von Brot und Wein würde selbst an Kinder und Geistesschwache verabreicht. Niemals wechselten die Priester für die Feier der Heiligen Eucharistie ihre Alltagskleidung, wie sie überhaupt kein liturgisches Gewand akzeptierten; einige von ihnen würden in ihrer Verblendung (und in »törichtem Gefolge« der Lehren Berengars von Tours) sogar so weit gehen, in der Heiligen Messe lediglich eine Repräsentation und nicht einen Vorgang der Transsubstantiation sehen zu wollen. Von den Sakramenten würden die Taufe, die Ehe, die Priesterweihe und die Eucharistie anerkannt, das Sakrament der Buße lediglich in Teilen, während Konfirmation, heilige Ölung und Ohrenbeichte ebenso wie das Mönchswesen und die Klosterregeln auf entschlossene Ablehnung träfen, letztere gar denunziert als Erfindungen des Teufels. Für die in einfacher Form abgehaltenen Taufen werde kein Weihwasser benötigt, wie auch keine geweihten Friedhöfe existierten und die Toten, wie die Tiere, auf den Feldern verscharrt würden: »In der Tat ist solches für Menschen dieses Schlags nur recht und billig.« Ein Menschenschlag eben, der sogar die Weihe von Kirchen verweigere und die heilige Kommunion unterschiedslos an allen nur denkbaren Orten zelebriere.13

Alles in allem wäre ein gewisser naiver religiöser Enthusiasmus nicht zu verkennen, und die Taboriten kannten kein größeres Anliegen als das »Wort Gottes« im Rahmen der tagtäglich von ihren Priestern gehaltenen didaktischen Predigten zu vernehmen; die Absenz Einzelner aus welchen Gründen auch immer wurde keinesfalls geduldet und die Teilnahme unter Androhung von Gewalt nötigenfalls erzwungen. Für ihre Priester hatten sie aus öffentlichen Mitteln ein eigenes, mit Brennholz und der notwendigen Inneneinrichtung ausgestattetes sowie mit Proviant in Form von Getreide, Bier, Schweineschmalz und Gemüsen versehenes Gebäude bereitgestellt – eine offensichtliche Fortführung der »Gemeinschaftskästen« der konsumkommunistischen Frühzeit der 1420er Jahre, umso mehr, als die Priesterschaft zusätzlich mit geringen (gleichfalls von der Gemeinschaft bereitgestellten) Geldmitteln für den Eigenbedarf subventioniert wurde.14

Dennoch: So sehr sich Aeneas auch um eine Systematisierung und Verallgemeinerung der konstitutiven Elemente der taboritischen Häresie bemühte, sie wollte (und konnte) nicht gelingen, sah er sich dabei doch mit einem strukturellen Moment konfrontiert, das zu ergründen und zu verstehen ihm schlicht unmöglich war: die absolute Toleranz in Fragen der Religionszugehörigkeit, die radikale Diversität der Glaubensrichtungen und Heilserwartungen. Man treffe in diesem Zufluchtsort, in diesem »Bollwerk« aller nur möglichen im Schoße des Christentums herangereiften Ketzereien, die hier Aufnahme und Schutz gefunden hatten, auf Nikolaiten, Arianer, Manichäer, Armenier, Nestorianer, Berengarier, Arme von Lyon und dergleichen mehr. Vor allem aber wäre es ein Refugium des Waldensertums, jener in den ökonomisch hochentwickelten, frühindustriellen Zentren Südfrankreichs und des Piemont entstandenen, in Geheimbünden organisierten, radikal egalitär-demokratischen Sekte, die eine Art platonischen Kommunismus und nicht zuletzt die absolute Gleichstellung von Mann und Frau propagierte – Todfeinde, wie Aeneas konstatiert, des Heiligen Stuhls und des Stellvertreters Christi auf Erden. Unausweichliche Konsequenz: »Da sie [die Taboriten] jegliche übergeordnete Autorität zurückweisen und Freiheit predigen, müssen sie notwendigerweise alle Abirrungen auch akzeptieren.« Um herauszufinden, wie viele Häretiker eigentlich an diesem Ort versammelt waren, würde es genügen, die einzelnen Köpfe zu zählen. Die Freiheit bestünde darin, dass alle glauben konnten, was immer ihnen auch beliebte: »… ubi tot sunt haereses, quot capita et libertas est, quae velitis credere.«15

Aber konnten, durften solch »Monstren des Unglaubens und der Blasphemie« länger der Christenheit, mehr noch, der menschlichen, »zivilisierten« Gemeinschaft überhaupt, zugezählt werden? Die Antwort des kommenden Papstes ist unzweideutig: War er zunächst davon ausgegangen, dass es sich vornehmlich um rituelle, im Wesentlichen um die Praxis der Kommunion und des Messopfers zentrierte Differenzen handle, so hatte sich nunmehr die Überzeugung verfestigt, es mit »Rebellen gegen Gott, unfähig der Rechtgläubigkeit« zu tun zu haben.16 Zu deren Darstellung und Charakterisierung bedient er sich (bewusst oder unbewusst) eines Verfahrens, das im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert als Praxis der »diskursiven Zurichtung« gekennzeichnet wird. Aeneas beschreibt die Taboriten in den Kategorien des Animalischen, an der Grenze zwischen Mensch und Tier, als Gestalten minderen Seins, »exotisch«, unterentwickelt, der Vernunft kaum teilhaftig. Seine erste Wahrnehmung bereits vermittelt einen von Abscheu diktierten Eindruck der Deformation: Einarmige, Einäugige, verwüstete Gesichter, abgeschnittene Ohren, verstümmelte Nasen, obszöne Narben. Ein Eindruck, der sich sukzessive zu einem förmlichen Albtraum verdichtet, nämlich unter »Barbaren jenseits der Sarmaten und des Eismeeres« gefallen zu sein, unter »Menschenfresser« oder die »Ungeheuer Indiens und Libyens«. In der gesamten bekannten (»von den Amphitriten eingefassten«) Welt gäbe es keine monströseren Geschöpfe als die Einwohnerschaft Tabors; während aber Äthiopier, Skythen oder Taprobaner [Urbevölkerung Sri Lankas] aufgrund körperlicher Defizite missgestaltet seien, sind es ein verkommener Geist und unzählige seelische Makel bei den Taboriten. »Als ich abgereist war, schien es mir wie eine Rückkehr aus den unteren Tiefen der Hölle.«17 Dieser, seiner Zahl nach eigentlich unbedeutende »menschliche Abschaum«, diese »Hefe des böhmischen Volkes« kontaminiere die Bevölkerung eines ganzen Landes. Aeneas Sylvius Piccolomini, der Neulateiner und Epikureer, der hochgebildete, feingeistige Literat, Humanist und katholische Karrierist, hält denn auch Lösungsoptionen parat, die unmittelbar Assoziationen an singuläre Szenarien des Grauens und des Unfasslichen ein halbes Jahrtausend danach – sei es in den KZs der Nazis, sei es in den Gulags des Stalinismus – wachrufen: Ausrottung, oder von der menschlichen Gemeinschaft abgesonderte Strafarbeit in Steinbrüchen.18

Zweifellos hatte die »Hölle« ihre Schrecken zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend eingebüßt. Allein, selbst die Trümmer noch des einstigen sozialrevolutionären Aufbegehrens erwiesen sich als fortwirkende reale wie symbolische Bedrohung, als nicht hinnehmbare Manifestation eines konkret Anderen, als inakzeptabler »lebendiger« Verweis auf eine utopisch angeleitete Realisierung eines alternativen Gesellschaftsentwurfs. Ein Jahr nach Piccolominis Visitation brachte der soeben von den Ständen zum Landesverweser gewählte Jiří z Poděbrad, Repräsentant der böhmischen Utraquisten und Calixtinischen Nationalpartei, seine Truppen vor Tabor in Stellung. Er hatte im Alter von vierzehn Jahren bereits auf Seiten dieser »gemäßigt-hussitischen« Adels- und Patrizierkoalition an der Schlacht bei Lipan teilgenommen, die 1434 das unwiderrufliche Ende der bisherigen militärischen Dominanz Tabors besiegeln sollte. Als einziger nicht-katholischer König Böhmens (ab 1458) wird Poděbrad in einen erbitterten und unauflöslichen Gegensatz zu Papst Pius II. geraten, ebenso wie er mit der mitleidlosen Verfolgung der aus der taboritischen Ketzerei hervorgegangenen, pazifistischen Böhmischen Brüder als eine Art Gegenreformator agiert. Im Sommer des Jahres 1452 vor Tabor verlangt er vor allem anderen die Auslieferung der örtlichen Priesterschaft, nach nur drei Tagen der Belagerung ist er am Ziel; die Republik, der Stadtstaat Tabor verliert jegliche Sonderstellung und Selbständigkeit, eines für seine Zeit und in seiner sozialen Rigorosität wie kriegerischen Unerbittlichkeit singuläres Experiment hatte einen wenig rühmlichen Abschluss gefunden.

Karl Kautsky – der in seiner grandiosen, erstmals in der politischen Ökonomie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit verankerten historischen Darstellung zwingende Analogien zwischen dem Schicksal Tabors und jenem des Jakobinertums der Französischen Revolution erkennt – sieht sich angesichts dieses »jämmerlichen Ausgangs« zu einem elegisch-resignativen Abgesang veranlasst: Schwerlich nur könne man den Wunsch unterdrücken, »Tabor wäre gleich Münster im Glanze seiner kommunistischen Jugend gefallen und nicht in der Erbärmlichkeit bürgerlicher Altersschwäche dahingesiecht.«19

Allianz- und Konfliktbindungen

Was genau aber bezeichnete, was bedeutete der von Kautsky geradezu pathetisch beschworene »jugendliche Glanz«, was die empathisch adressierte »Freistatt der Demokratie« inmitten des vorgeblich gottgegebenen (zentral-)europäischen Feudalwesens? Die Niederlage im großen englischen Bauernaufstand von 1381 hatte auch auf dem Kontinent schwere Verfolgungen von allem, was im Verdacht der Ketzerei und der renitenten Abweichung stand, nach sich gezogen; gegen Ende des Jahrhunderts waren im besonderen Begharden und Waldenser wo auch immer auf kleine, verzweifelt um ihr bloße Existenz ringende, im Graubereich des Untergrunds und der Illegalität agierende, von der Inquisition erbarmungslos gejagte Glaubens- und Lebensgemeinschaften reduziert. Und doch, so Kautsky, eröffnete sich, für die »Verfolgten und Niedergetretenen« und »inmitten der höchsten Trübsal«, mit den Hussitenkriegen plötzlich eine »Zeit des Triumphs«, ein »Heldenzeitalter« allemal, das nichts anderes als den Nachweis erbringen sollte, »wie groß Gott in den Kleinen« eigentlich zu wirken vermag.20

In der Tat handelt es sich – in den Formen und mit den Mitteln des Religiösen – um eine ökonomische, soziale und kulturelle Revolution, um die erste der gewaltigen Erhebungen, die Europa aus dem Mittelalter in die »Moderne« der Neuzeit überführten. Sie steht am Anfang einer Reihe substanzieller Erschütterungen, die, einem Seismographen gleich, den Fortgang dieses monumentalen Transformationsprozesses anzeigten und ihn ihrerseits beschleunigten. Religiöser Reformeifer, Sektierereien und Häresien jeglicher Art, Säkularisierungstendenzen und Antiklerikalismus, sozialrevolutionäre wie nationale Leidenschaften, Massensuggestion und affektbestimmter Aktionismus, chiliastische und millennaristische Welterlösungsphantasien – mit einem Wort: all jene zutiefst verstörenden Faktoren, die eine Welt im labilen Stadium des strukturellen Übergangs kennzeichnen, fügen sich hier in geradezu exemplarischer Weise zu einem widerspruchvollen Ganzen. Es ist eine Welt, in der das kommende Neue, als Vorschein zumindest, bereits wirkmächtig zu werden beginnt, während das krisengezeichnete Alte, wie immer retardierend, seine Präsenz und Dominanz weiterhin zu behaupten sucht. Tabor, das alle Stadien der Ketzerei, des Schismas, der kriegerischen Revolte durchläuft, hin zu einem autonomen, egalitäreren, als Stadt-Staat organisierten Gemeinwesen in absoluter, militanter Distanz zur umgebenden Welt des Mittelalters, steht dafür als Symbol und Synonym zugleich.

Von England abgesehen, hat vermutlich kein anderes europäisches Land im 14. Jahrhundert eine ähnlich dynamische ökonomische Entwicklung genommen wie eben Böhmen, das mit gutem Grund den reichsten und mächtigsten Königreichen des Kontinents zugezählt werden konnte. Hauptverantwortlich dafür zeichnete – neben der Goldgewinnung an Lužnice und Moldau – vor allem die Ausbeutung der 1237 erschlossenen Silberminen in Kuttenberg/Kutna Hora, als europaweit reichstes Bergwerk seiner Art ein mächtiges Instrument ursprünglicher Akkumulation. Auf ihm beruhte der Glanz der Herrschaft Ottokars II. Přemysl wie auch Karls I. (als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs: Karl IV.), die allgemeine Blüte von Handel, Industrie, Künsten und Wissenschaften sowie, nicht zum Geringsten, die architektonische, städtebauliche und intellektuelle Sonderstellung des Goldenen Prag. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat das deutsche Bevölkerungselement genommen. Unter der Regentschaft der letzten Přemysliden wurden die Länder der böhmischen Krone in bedeutendem Maße von der gesamteuropäischen Kolonisationswelle erfasst, mehr noch, der Zuzug deutscher Patrizier, Bauern und Bergknappen wurde seitens des Königshauses massiv befördert. Seit dem 12. Jahrhundert gründeten deutsche bäuerliche Siedler-Kolonisten, von den Randgebieten Böhmens her und im Zuge groß angelegter Rodungen, Freidörfer und Märkte, während mit der anhebenden Bergbaukonjunktur eine Reihe rein deutscher Städte entstand, so u.a. Kuttenberg, Iglau, Deutsch Brod etc. Der Reichtum eines neu aufgestiegenen Bürgertums, der prägende Einfluss der deutschen Kultur auf Königshof und Adel, die fürstliche Protektion, die nicht zuletzt auch von den Luxemburgern geübt wurde, also jenem Herrscherhaus, das die böhmische Krone mit der römischen Kaiserwürde vereinigte und Prag zur Hauptstadt des deutschen Reiches machte: All dies, seine ökonomische Dominanz wie seine soziale Sonderstellung, verlieh dem deutschen Segment eine enorme Machtstellung – ein Milieu, vornehmlich repräsentiert durch eine im Entstehen begriffene Handelsbourgeoisie, durch das gehobene »vornehme« Handwerk, durch die hoch spezialisierten Luxusgewerbe; ein Milieu, das die Ratsvertretungen der überwiegenden Mehrzahl der Städte ebenso beherrschte, wie es die zentralen Positionen der Prager Universität einnahm. Die »geringen« Handwerke hingegen, die unfreie, fronpflichtige Bauernschaft, das städtische Proletariat und Plebejertum, die Masse der Taglöhner und des sonstigen »niederen Volks« waren in der Regel (wenn auch nicht ausschließlich) der tschechischen Bevölkerungsmajorität zuzurechnen. Wenn etwa die Prager Neustadt seit ihrer Gründung einen weitgehend »tschechischen« Charakter hatte, so bestimmte deren ethnische Zusammensetzung auch hier ihre Sozialstruktur, als die dort ansässigen Deutschen beinahe ausnahmslos hoch spezialisierte und entsprechend nachgefragte Tätigkeiten ausübten.21

Doch wenn auch die ins Land geholten deutschen Zuwanderer die soziale Basis für den geschichtsmächtigen Umbruch von der Naturalwirtschaft zur warenorientierten, proto- und frühindustriellen Produktion und der damit korrespondierenden Transformation eines gesamten Weltbildes stellten, so schafft ihre Vorherrschaft zugleich, in eigentümlich dialektischer Wendung, sich selbst ihre Totengräber. Denn jeder Fortschritt in Handel, Gewerbe und Bergbau bedeutet zugleich eine Verbreiterung von Warenproduktion und Warenzirkulation, somit die Beförderung jenes ökonomischen Wandels, der hier (wie überall) mit einer profunden Revolutionierung der Geister, mit einer radikalen Umwertung aller tradierten Werte korreliert. In dem reichen und hochentwickelten Böhmen setzt dieser Prozess früher als anderswo ein, artikuliert sich nicht zuletzt entlang von Bruchlinien, die man heute als ethno-sozial bezeichnen würde, und nimmt, in diesem Kontext, die Form eines gegen ein (ökonomisch wie kulturell) dominantes Deutschtum gerichteten, zunächst noch vagen, gleichsam »proto-nationalen« Empfindens an. Es ist in der Tat ein qualitativ neuartiges Phänomen, das sich in konkreten Prozessen der soziokulturellen Inklusion wie Exklusion ausdrückt und damit einen Vorschein der Nationalisierung der Massen im 19. und 20. Jahrhundert bildet. Eine korrespondierende Historiographie wird der Hussiten-Bewegung eine »national-tschechische« Empörung gegen die allgegenwärtige deutsche Hegemonie einschreiben.

Die gesellschaftliche Spaltung äußert sich, dem Zeitalter gemäß, zunächst und zuvorderst im religiösen Dissens. Die römische Kirche, von Kautsky schlicht als »Ausbeutungsinstitut zugunsten der Deutschen« klassifiziert,22 war der mit Abstand größte Feudalherr im vorhussitischen Böhmen; um die Mitte des 14. Jahrhunderts ist knapp die Hälfte des gesamten urbar gemachten Bodens ihrem Besitz zuzurechnen, während der Adel in etwa ein Drittel, und der König ein Fünftel aller grundherrlichen Güter hielt. Die riesigen, überdimensionierten kirchlichen Latifundien waren durchaus geeignet, gleichsam aus sich selbst heraus einen »casus belli« zu liefern; jedenfalls haben sie die Säkularisierungsintentionen des hohen weltlichen Adels entsprechend befördert, und dies umso mehr, als der akkumulierte kirchliche Reichtum, zur allseits nachvollziehbaren Verdeutlichung realer irdischer Macht, repräsentativ und demonstrativ zur Schau gestellt wurde. Aeneas Sylvius: »Ich glaube, zu unserer Zeit gab es in Europa kein Land, in dem so viele, so großartige, so reich geschmückte Gotteshäuser zu finden waren wie in Böhmen, die Kirchen geradezu in den Himmel ragend (…) Die hohen Altäre voll Gold und Silber, darin eingelassen die Heiligenreliquien, die Priestergewänder mit Perlen bestickt, die ganze Ausstattung reich, die Geräte aufs kostbarste gefertigt (…) Und nicht nur in den Städten und Märkten konnte man derlei bewundern, sondern selbst in Dörfern.«23 Auch hier, wie spätere hussitische Kampfschriften nicht zu betonen müde wurden, der »nationale« Aspekt: Die Bistümer und Klöster, die Pfründen in den Kapiteln befanden sich beinahe ausschließlich in deutscher Hand, während die weniger betuchten bis armseligen Pfarrstellen »tschechisch« geblieben waren.

Dazu trat ein in seinem wahrhaft »gotteslästerlichen« Zynismus nur schwer zu überbietender moralischer Verfall. Wie eine Ende des 14. Jahrhunderts abgehaltene Visitation des Prager Klerus ergab, waren Ablasshandel und Simonie (An- und Verkauf geistlicher Ämter) selbstverständlich geübte Praxis, unter den Pfarrern, die häufig mehrere Benefizien gleichzeitig innehatten, Trunksucht, Glücksspiel, »Völlerei« notorisch; einige hatten Gaststätten und Freudenhäuser angekauft, andere lebten mit Prostituierten in offener Gemeinschaft. Überhaupt schienen landesweit Klöster von Bordellen oft nur mehr schwer unterscheidbar, praktisch überall befand sich die geistliche Disziplin in offenem Verfall, herrschten Korruption und »Verderbnis der Sitten«.24 Der Aufschrei gegen die »reiche, die verkommene, die zu »Babylon gewordene« römische Kirche ist allgegenwärtig, radikal, vielstimmig, unüberhörbar und wird sich in die revolutionären Stürme des Hussitentums verdichten. An Gott solle man glauben, und nicht an die Kirche, so predigt der große Reformator Jan Hus zu Prag, und fordert im Sinne John Wycliffs Purifikation, »Reinigung«, die Rückkehr zur apostolischen »armen Kirche« ein. Das hochentwickelte Böhmen ist es zunächst, das zu einem ersten Zentrum reformatorisch-revolutionärer Aktion, zum »gelobten Land der Ketzer« wird.

Gleichwohl ist das um 1400 evident werdende soziale (und kulturelle) Krisenszenario vielschichtiger, mehrdeutiger, komplexer. Nicht zuletzt erwies sich die forcierte, mittlerweile vom Handelskapital (und nicht länger von der Bergknappenschaft) organisierte Hebung und Nutzbarmachung der Kuttenberger Silberminen in ihrer langfristigen Wirkung als durchaus ambivalent, vergleichbar dem »Bergsegen« in Sachsen und Tirol ein Jahrhundert, oder der skrupellosen Ausbeutung der in der Neuen Welt erbeuteten Gold- und Silberressourcen eineinhalb Jahrhunderte später. Ein den Zeitgenossen weitgehend unverständlich bleibender Inflationsdruck, ein Steigen aller Warenpreise, eine »Preisrevolution« begann das gesellschaftliche Gefüge zu unterminieren. Während, wie Norman Cohn nachweisen konnte, Löhne und Einkommen auf dem Niveau von 1380 stagnierten, zogen die Preise kontinuierlich und markant an, sodass um 1420 die Mehrheit der in Prag und anderen Städten lebenden Bevölkerung auf das bloße Subsistenzniveau zurückgeworfen war, verstrickt in einen alltäglichen, kontinuierlichen Kampf um ihr nacktes materielles Dasein.25 Die zahlenmäßige Stärke der Stadtarmut, der chudina, wird auf durchschnittlich 30-40 Prozent geschätzt: »ewige« Gesellen, Taglöhner, Gelegenheitsarbeiter, ergänzt durch das sogenannte »Lumpenproletariat« am untersten Ende der gesellschaftlichen Skala, Bettler und Bresthafte, Huren, Spieler, Gaukler etc. Zusammen mit jenem Segment, das man heutzutage wohl der unteren Mittelschicht zurechnen würde, stellten sie – bei fünf bis maximal zehn Prozent, die der herrschenden Oligarchie zugezählt werden können – gut und gern zwei Drittel der städtischen Einwohnerschaft.26 Sie neigten zu spontanem Aufruhr, zur »direkten Aktion«, zeigten sich anfällig für Massenpsychosen aller Art; der radikale Flügel des Hussitentums wird sich wesentlich aus diesen Schichten rekrutieren.27

Zugleich zeitigte die allgegenwärtige »Münzverschlechterung«, der stets fortschreitende Verfall des Realwerts der Münze markante Rückwirkungen auf die mächtigen und wohlsituierten böhmischen Stände, auf die großen weltlichen Grundherren, die sich zum einen entschlossen zeigten, den rezenten Umbruch im Allgemeinen Normen- und Wertekanon in ihrem ureigenen Interesse (und im Wortsinn) zu »kapitalisieren«, zum anderen aber ihre Feudalrente nicht länger in hinreichendem Ausmaß garantiert sahen. Die »archaischen« Formen der Leibeigenschaft waren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend obsolet, abgelöst von einer »Verdinglichung« untertäniger Abhängigkeit, dem massenhaften Übergang zur Geldform der Feudalrente; so etwa entrichteten alle 26 Dörfer des späteren Kreises Tabor, dem Territorium der Rosenberger zugehörig und künftiger Brennpunkt der Revolution, ihre feudalen Lasten ausschließlich als Geldzinsen.28 Dementsprechend wurde seitens der Grundherrschaft versucht, die entstandenen Verluste mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, im Wege ständig neuer und weit über das schriftlich fixierte Maß hinaus erhöhter Abgaben zumindest auszugleichen. Selbst der mit der Bauernschaft alles andere als sympathisierende Chronist Thomas von Štítné spricht in diesem Zusammenhang von »toll gewordenen Herren« und einer mit zynischer Offenheit ins Werk gesetzten Ausbeutung großen Stils.29 Jede dieser Maßnahmen traf auf erbitterten bäuerlichen Widerstand, im Besonderen auch die sogenannte »Todfallabgabe«, eine Art wiederbelebtes Relikt aus Zeiten eines vergangen geglaubten Untertanenjochs, das bei Ableben den Einzug bäuerlichen Landes oder entsprechende Kompensationszahlungen/Naturalleistungen vorsah. Freie Menschen, freie Eigentümer mit Recht auf Vermächtnis und Vererbung ihres Besitzes wollten sie sein – nunmehr freilich vollzog sich eine Entwicklung in Form einer tendenziellen Verelendung breiter bäuerlicher Massen, die diese stets auf das Neue mit Unsicherheiten, Unbilligkeiten und Demütigungen jeglicher Art konfrontierte. Und in noch stärkerem Ausmaß traf dies auf die Kleinhäusler, die Hintersassen, das Gesinde, die Landlosen und Taglöhner, kurz: die unterbäuerliche Dorfarmut zu, ein in sozialer und religiöser Hinsicht überaus leicht erreg- und mobilisierbares Element, das, verlässlichen Schätzungen zufolge, bis zu einem Drittel der dörflichen Bevölkerung ausgemacht haben dürfte. Sie stellen, jedenfalls ihrer großen Zahl nach, das Rückgrat jener massenhaften Auflehnung, kollektiven Verweigerung und sozialutopisch anmutenden Endzeiterwartung dar, die in Südböhmen ihren ersten und radikalsten Angelpunkt finden sollte – im Herrschaftsgebiet des Klosters Zlatá koruna, auf den Domänen des Adelsgeschlechts der Rožmberk, oder etwa auch in Plzěn, wo sich der dem Patriziat entstammende Armenprediger Václav Koranda an die Spitze des örtlichen Plebejertums setzt, die Herrschaft in der Stadt an sich reißt und mit ersten gewaltsamen Angriffen auf die umgebenden Klöster beginnt.30