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Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Was uns angeht: Zum zehnjährigen Jubiläum der ZfM gestaltet die Redaktion einen Heftschwerpunkt und fragt nach aktuellen Bedingungen und situierten Ausgangspunkten des Forschens, Unterrichtens und Publizierens an Universitäten und im außerakademischen Raum. Gespräche mit Kollektiven und Gestalter_innen folgen auf Reflexionen zur Hochschulkultur damals und heute. Zusammen mit Ko-Autor_innen werden Fragen zur Arbeit an und Verfügbarmachung von verschiedenen Forschungsformaten auf lokaler und global-kapitalisierter Ebene untersucht. Außerdem geht es um Unterströmungen und pathische Momente von academia: Macht und Begehren, die Ambivalenz von safe spaces und den Umgang mit Tabuthemen in der Wissenschaft.
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Seitenzahl: 387
1/2019GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)
Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.
Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.
Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA, das von einer Gastredaktion konzipiert wird; als Jubiläumsausgabe macht Nr. 20 hier eine Ausnahme. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und/oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.
Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Die Veröffentlichung der Aufsätze erfolgt nach einem Peer-Review-Verfahren. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Beiträge in den Web-Extras, der Gender-und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.
ULRIKEBERGERMANN, DANIELESCHKÖTTER, MAJAFIGGE, PETRALÖFFLER, KATHRINPETERS, FLORIANSPRENGER, STEPHANTRINKAUS, THOMASWAITZ, BRIGITTEWEINGART
Editorial
WAS UNS ANGEHT
ZFM-REDAKTION
WAS UNS ANGEHT Zur Einleitung
THOMAS WAITZ
Nach der Maschine Über «Uni-Angst und Uni-Bluff»
ULRIKE BERGERMANN/NANNA HEIDENREICH
«Intimacy expectations» Wissenslust, sexuelle Gewalt, universitäre Lehre
NAOMIE GRAMLICH/ANNIKA HAAS
Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen
LENA APPENZELLER/PAOLO CAFFONI und JANINE SACK im Gespräch mit PETRA LÖFFLER und KATHRIN PETERS
Hefte machen Ein Round Table über Grafikdesign, E-Publishing und die ZfM-Produktion
STEPHAN TRINKAUS
Mit-Schreiben Versuche einer kleinen medienwissenschaftlichen Empirie
ROSALIND C. MORRIS im Gespräch mit DANIEL ESCHKÖTTER
Versuchszonen des Spätindustrialismus Goldabbau in Südafrika
BRIGITTA KUSTER und BRITTA LANGE im Gespräch mit PETRA LÖFFLER
Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens
BRIGITTE WEINGART
«Dear White People»? Notizen zu Arthur Jafas Black Cinema und Fragen der Adressierung
BILDSTRECKE
BLACK ATHENA COLLECTIVE
From what distance are things clear?
EXTRA
DENNIS GÖTTEL
Historiografie der Filmarbeit Making of, up&out («Cruising»)
DREHLI ROBNIK
Reines Warten und im Kino bleiben Maintenances von Momenten von Demokratie
DEBATTEN
Methoden der Medienwissenschaft
CHRISTOPH ENGEMANN/TILL A. HEILMANN/FLORIAN SPRENGER Wege und Ziele. Die unstete Methodik der Medienwissenschaft
«Free speech» und rechter Populismus
JEANNE CORTIEL/CHRISTINE HANKE Universität und Neue Rechte. Geisteswissenschaftliche Positionierungen
BESPRECHUNGEN
NANNA HEIDENREICH Medialisierungen des Meeres. Aquariengeschichten
STEPHAN TRINKAUS Prekäre Ökologien
AUTOR_INNEN
BILDNACHWEISE
IMPRESSUM
Korrekturfahnen der 2. Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2010
«Was uns angeht», «was uns angeht», «was uns angeht» – der Titel des 20. Heftsder Zeitschrift für Medienwissenschaft lässt sich auf (mindestens) drei Weisen lesen. Mit dieser Jubiläumsausgabe beziehen wir Positionen zu Wissenschaft und Wissenschaftspolitik, diskutieren Fragen der Verantwortung und der Sorge, reflektieren das eigene Tun als Forscher_innen, als Schreiber_innen, Gestalter_innen – eben als Redakteur_innen einer medienwissenschaftlichen Zeitschrift, die nicht nur Redakteur_innen einer medienwissenschaftlichen Zeitschrift sind. Die ZfM ist das, was uns verbindet, das, was uns gemeinsam angeht, immer wieder, Jahr für Jahr. Uns hat sich in der Routine, mit der die Produktion jedes Heftes einhergeht, die Frage gestellt, worum es uns dabei geht. Eine Frage, die wir nicht so einfach beantworten wollten und konnten: Denn es geht nicht um einen bestimmten Inhalt, nicht um eine spezifische Bedeutung von Medienwissenschaft und erst recht nicht um eine Botschaft, sondern natürlich um eine mediale Konstellation, ein Gefüge: «Was uns angeht». Mit diesem Schwerpunkt versuchen wir eine Öffnung der ZfM auf diesen sie selbst und das Fach konstituierenden Prozess – kurz: Wir versuchen, die Zeitschrift selbst zu einem Ort zu machen, an dem sich dieses «was uns angeht» auf mehrfache Weise artikulieren kann.
«Was uns angeht» – die erste Lesart betont das Angehen, sie klingt nach Dingen von Belang. Mit der Wendung matters of concern hat sich Bruno Latour von seiner Beschäftigung mit matters of facts abgewandt. Nachdem er seine jahrzehntelange Kritik an Positivismus und Faktenherrschaft von Leuten aufgegriffen sah, die ganz andere politische Ziele verfolgen – lässt sich mit dem Hinweis auf die Konstruiertheit wissenschaftlicher Fakten die Erderhitzung bagatellisieren? –, sah er die Notwendigkeit, den Fakten die Belange, die Sorge und die Verantwortung zur Seite zu stellen.1 Dass Latour in Elend der Kritik auf Donna J. Haraways Wissenschaftsverständnis zurückgreift, muss zwischen den Zeilen gelesen werden. Aber der Bezug ist aufschlussreich, denn Haraway erweist sich hier einmal mehr als die kühnere Kritikerin. Für sie ist die Unterscheidung von Fakten und Belangen selbst nicht von Belang: So geht es ihr gerade nicht um die Verwerfung von Objektivität – das wäre eine relativistische Position –, sondern um eine im Begriff «situated knowledges» angeschriebene Pluralisierung und Vervielfältigung von Objektivität, die immer concerned ist – selbst dann, wenn ihre Verfechter_innen es gar nicht wissen und ihre eigene Dominanz für Neutralität halten. Denn soziale Kontexte, Sprech-Positionen und Forschungsagenden sind stets Teil von Wissensordnungen.2 Daran, dass Haraways programmatischer Aufschlag nun 30 Jahre her ist, erinnern NAOMIE GRAMLICH und ANNIKA HAAS in ihrem Beitrag und fragen sich, wann es denn nun endlich losgeht mit der Situiertheit und der Vermehrung der Positionen bzw. Perspektiven. Die beiden Medienwissenschaftlerinnen, die alle paar Monate die Redaktionsassistenz der ZfM übernehmen, schreiben hier über das eigene Schreiben, das, wie wir zwar alle wissen, aber selten thematisieren, die vorwiegende Arbeit der (Geistes-)Wissenschaften ist. Mit Haraway und Hélène Cixous schlagen beide einen Problemkatalog vor, der von feministischen Genealogien und dem Lachen handelt – und der weiterzuschreiben ist.
Schreiben ist eine Praxis wie andere auch, eingebunden in Gefüge, verknüpft mit anderen, dialogisch, (un-)bestimmt – eben situiert. Und dennoch produziert die veröffentlichte Schrift den Anschein einer Finalität, eines Zustands, eines Texts, der gelesen werden, auf den zurückgekommen werden kann. Eine Idee dieses Schwerpunkts ist es, diese Kollektivität des Schreibens zu mobilisieren und sichtbar zu machen, in die wir beim Redigieren der Texte und der Gestaltung des Hefts immer wieder eintauchen. So probiert STEPHAN TRINKAUS in seinem Beitrag, der Teil eines empirischen Projekts ist, Schreibweisen aus, die den Prozess des Forschens offenhalten sollen für andere Verbindungen, die andere Kollektive möglich machen als die der Herstellung wissenschaftlicher Autorität. Schreiben ist eine wissenschaftliche Praxis, eine Empirie – und vielleicht auch eine Methode.
Als hochschulpolitische Instrumente oder als Forderung von Drittmittelgebern wirkt die Forderung nach Methoden disziplinierend, während sich die Medienwissenschaft im Hinblick auf digitale Kulturen gleichzeitig mit Gegenständen konfrontiert sieht, durch die Medien selbst zu Methoden ihrer Erforschung werden. Der Beitrag von CHRISTOPH ENGEMANN, TILL HEILMANN und FLORIAN SPRENGER eröffnet in dieser Hinsicht eine Debatte über den methodischen wie wissenschaftspolitischen Ort der Medienwissenschaft.
«Was uns angeht» lässt sich aber auch als Angegangenwerden verstehen. Das geht uns an, macht Vorwürfe oder Vorhaltungen, das bedrängt uns, kommt uns zu nah, grabscht. ULRIKE BERGERMANN und NANNA HEIDENREICH spielen in ihrem Beitrag das Verhältnis von Wissenslust, sexueller Gewalt und universitärer Lehre durch, das dringend angegangen werden muss – hochschulpolitisch, theoriepolitisch und ganz persönlich. Denn Universitäten sind Orte von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, deren Sexualisierung eine lange Geschichte hat und unter Gendervorzeichen steht, die sich verändern. Auch Bergermann und Heidenreich plädieren für Verantwortung und Sorge, die wir zu übernehmen haben für die Strukturen, in denen wir arbeiten. Was zählt – matters im Sinne Judith Butlers –, sind schließlich die Körper, mit den in ihnen sich materialisierenden Bedeutungen und Konventionen, die uns allererst zu Subjekten machen, unterworfenen und ermächtigten zugleich.
«Was uns angeht» – mit «uns» meinen wir im engeren Sinn die Redaktion. Jedes Wir, mit dem gesprochen und geschrieben wird, operiert mit impliziten Ein- und Ausschlüssen, schafft sich einen unsichtbaren Chor der Unterstützenden. Das ist bei uns nicht anders, nur dass wir es hier und jetzt explizit machen. Im nunmehr 20. Heft verfassen die Personen, die alle sechs Monate eine Ausgabe der ZfM herausbringen, selbst Beiträge, allein, in Ko-Autorschaft oder in Gesprächen mit Wissenschaftler_innen, Expert_innen und Aktivist_innen. PETRA LÖFFLER und KATHRIN PETERS sprechen mit der Grafikerin der ZfM, LENA APPENZELLER, die seit sechs Jahren die Hefte layoutet, Texte setzt, mit Lektorat, Verlag und Druckerei kommuniziert, bis aus Word-Dokumenten ein Heft entstanden ist. Mit dabei sind JANINE SACK, Künstlerin, Grafikerin, außerdem E-Book-Verlegerin und durchaus auch Aktivistin, nämlich für unabhängige Verlage, und PAOLO CAFFONI vom – außerakademischen – Veranstaltungsort und Verlag Archive Books. Im Gespräch geht es um Produktionsabläufe, Print- und Onlinepublikationen und die Besonderheiten der Gestaltung wissenschaftlicher Zeitschriften. Eine Erkundung des eigenen Schreibtischs, Arbeitsplatzes und politischen Einsatzes, mit dem sich kleine Verlage und Kollektive mit gestalterischen Konzepten und künstlerischen Kollaborationen mehr als bloß eine Nische geschaffen haben.
THOMAS WAITZ schreibt vom Einstieg in das Akademische als einem gleichermaßen sozialen wie politischen Raum, in den niemand mit Ausgabe des Studierendenausweises eingemeindet ist, sondern der über lange Zeit oder, besser gesagt, strukturell mit Ausschlüssen arbeitet, sodass auch die, die drinnen sind, sich ständig vom Ausgeschlossen-Werden bedroht fühlen – zeitvertragsbedingt oder weil auffliegt, das man nichts weiß, was auch für fortgeschrittene Karrieren konstitutiv sein kann. Uni-Angst und Uni-Bluff heißt das Buch, das Waitz 1993 beschäftigte, das er heute noch einmal liest und dessen wechselhafte Editionsgeschichte Ausdruck einer sich verändernden Hochschullandschaft ist.
«Was uns angeht» – mit der Betonung auf dem Was geht es um das, wofür Sorge getragen und Verantwortung übernommen wird. In Archiven, Sammlungen, Bibliotheken und Museen versammelte Dinge gelten besonders in der westlichen Welt als kulturell wertvolle Güter, um die sich diese Institutionen und ihre Mitarbeiter_innen ebenso wie Vertreter_innen von Wissenschaft und Kulturpolitik sorgen. Gleichfalls geht uns ihre Herkunft und oft koloniale Vergangenheit an – eine Vergangenheit, die viel zu lang kategorisch übersehen und geleugnet wurde. Mit den vielfach vorgetragenen Forderungen nach der Restitution kolonial angeeigneter Kulturgüter wird nicht nur die Möglichkeit eröffnet, anders über Besitzansprüche und eine Neuordnung von Archiven, Sammlungen und Museen nachzudenken, sondern auch Kultur- und Wissenschaftspolitik auf ein ethisches Fundament zu stellen, das die Interessen und Werte einer jeden Kultur gleichberechtigt be- und verhandelt. BRIGITTA KUSTER, BRITTA LANGE und PETRA LÖFFLER sprechen über Perspektiven einer neuen Archivpolitik, über die Digitalisierung von Sammlungen und die Herausforderungen, die daraus für die Formation von Wissen erwachsen, und – nicht zuletzt – über Fragen der Verantwortung und der Pluralisierung von Erzählungen und Wissensformen im Sinne Donna J. Haraways und Isabelle Stengers’.
Das Was des Erbes und der Gegenwart kolonialer, rassistischer und segregistischer Gewaltgeschichte und Ausbeutungspraktiken ist auch Hintergrund und Horizont des Gesprächs, das DANIEL ESCHKÖTTER mit der Anthropologin und Kulturtheoretikerin ROSALIND MORRIS über ihre Forschung im Umfeld zuerst industrieller, später dann stillgelegter und von illegalisierten Migrant_innen wieder geöffneter und illegal ‹bewirtschafteter› Goldminen in Südafrika geführt hat. An der Ökologie der spätindustriellen Minenmilieus entzünden sich Fragen, die von dieser nur scheinbaren geografischen und ökonomischen Peripherie ins Zentrum gegenwärtiger Diskussionen über extraktivistische und postextraktivistische Ökonomien und (Medien-)Ökologien führen. Die Goldmine in Südafrika war und ist ein emblematischer Schauplatz für ein gefährdetes Leben, für Existenzen – aber mit ihnen natürlich auch Fragen und Forschen – auf ‹unsicherem Grund›. Gold, Mine, Bergbau: Sie sind auch immer verführerische Chiffren für tektonische Verschiebungen, deren Effekte nicht nur in musealisierbaren postindustriellen Ruinenspektakeln zur Aufführung kommen, sondern die auch schwerer greifbare, dynamischere mediale, politische, soziale, ökonomische Szenen produzieren, die Morris bei den marginalisierten informellen Berg- und Wanderarbeiter_innen der Zama Zama auf- und in ihren Arbeiten in Bild, Text und Ton zu setzen versucht.
Den Schwierigkeiten, an der Grenze des Was, wenn nicht medienwissenschaftlicher, so doch vielleicht der eigenen Zuständigkeit zu operieren, sind schließlich die Notizen gewidmet, die sich BRIGITTE WEINGART beim Nachdenken darüber gemacht hat, inwiefern sie die Arbeiten des afroamerikanischen Medienkünstlers Arthur Jafa eigentlich etwas angehen – ist doch die Faszination, in ihrer unhintergehbaren Eingebundenheit in koloniale Blickregime, hier eher Teil des Problems als eine mögliche Legitimationsgrundlage. Wie für diesen Beitrag gilt auch für alle anderen in diesem Heft, dass sie einen Austausch anregen, Debatten anzetteln möchten: Reaktionen – von Leser_innenbriefen über Respondenzen bis zu Vorschlägen für künftige Schwerpunkte der Zeitschrift – sind sehr willkommen.
ULRIKEBERGERMANN, DANIELESCHKÖTTER, MAJAFIGGE, PETRALÖFFLER, KATHRINPETERS, FLORIANSPRENGER, STEPHANTRINKAUS, THOMASWAITZ, BRIGITTEWEINGART
1 Vgl. Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich 2007.
2 Vgl. Donna J. Haraway: Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, Vol.14, Nr. 3, 1988, 575–599.
Im April 1993, an einem frühen Vormittag, stehe ich auf dem grauen, fensterlosen Gang der Universität. Mit mir, sich an ihren Umhängetaschen festhaltend, auf den Boden blickend, warten vielleicht 40 andere. Einige lehnen an der Wand, schauen unbeteiligt, manche rauchen, jede und jeder für sich allein, niemand spricht, es ist seltsam still. Wir blicken durch die geöffneten Türen in einen leeren Seminarraum hinein, doch niemand wagt, ihn zu betreten. Dann kommt die Dozentin, passiert wort- und grußlos die Wartenden, betritt den Raum und legt ihre Tasche auf dem Pult ab. Langsam, immer noch stumm, folgen ihr die Studierenden. Und so setze schließlich auch ich mich in Bewegung, um wie die anderen einen Platz einzunehmen. Von da an verlässt mich meine Erinnerung. Doch was ich genau weiß, ist, wie das nahezu alles überwältigende Gefühl einer erdrückenden Einsamkeit mich viele Jahre begleitet hat. Zugleich war dieses Gefühl mit einem zweiten Empfinden verbunden: einer freudigen Erwartung, die später immer mehr zu einer Gewissheit wurde, ohne sie ganz zu erreichen, nämlich, ein Teil dieser Institution Universität zu sein, teilzuhaben an einem ungeheuren Bildungserlebnis.
Die unvermittelte Gleichzeitigkeit dieser beiden Gefühle war mir kaum begreiflich, jedenfalls so lange, bis ich nach einigen Wochen auf ein Buch stieß, das meiner Erfahrung Ausdruck verlieh; ein Buch, das meine Empfindungen nicht nur in Worte zu fassen schien, sondern auch eine ganze Reihe mal beruhigender, mal empörender Erklärungen für meine Situation anbot. Ich erfuhr, dass ich in meiner Erfahrung nicht allein war, dass der Autor seine eigenen Anfänge an der Universität in ganz ähnlicher Weise erlebt hatte: «Ich fühlte mich elend und erhaben zugleich. Elend, weil einsam und irgendwie ungenügend. Erhaben, weil ich jetzt einer von jenen war, zu denen ich all die Jahre aufgeschaut hatte.»1 Es fanden sich darin aber auch Sätze wie folgender, eine Seite weiter, in dem ich mein eigenes Begehren wiederzuerkennen vermochte: «Ich wollte die Theorienetze, in denen sich – so schien mir – die bedrohlich unverstandene Wirklichkeit fangen und bannen ließ, verstehen und solche Sätze selbst flechten können».2
Dieses Buch ging mich an. Mit diesem Buch, das war mir sofort klar, war ich gemeint. Sein Titel: Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren.3 Geschrieben hatte es Wolf Wagner, ein Autor, in dessen Biografie sich die Lebenswege einer ganzen Generation abbilden: anti-autoritärer Sponti, politischer Aktivist, Mitglied einer sozialistischen Assistenten-Zelle am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und, nach einigen Um- und Irrwegen und dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten, Professor und Rektor einer ostdeutschen Fachhochschule.4
Den Hinweis auf Uni-Angst und Uni-Bluff fand ich in einer fotokopierten Broschüre der Fachschaftsvertretung Germanistik. Auf den Büchertischen im Mensafoyer, wo es einen selbstverwalteten Buchladen gab, der dort bis zu jenem Zeitpunkt existieren sollte, an dem die Mensa im Stile einer Firmenzentrale umgestaltet und sämtliche Reminiszenzen an studentischen Aktivismus getilgt wurden, lag dieses Buch griffbereit auf einem kleinen Stapel, daneben Bühnenprogramme von Matthias Beltz und preisreduzierte Mängelexemplare von Haffmans und Wagenbach.
Auf dem rot-grünen Einband findet sich eine Zeichnung von Gerhard Seyfried. «Welcome to the Machine» – so ist eine schematische Darstellung überschrieben, welche die Universität als Fabrik zeigt. Ein männlicher Studienanfänger ist vielfältigen Bearbeitungsprozessen, die sich als fordistische Disziplinierung beschreiben ließen, ausgesetzt. Am Ende dieser Zurichtung verlässt er, sofern er nicht durch einen mit «Berufsverbot» beschrifteten Greifarm vom Fließband aussortiert wurde, die Universität als biederer Angestellter mit Hut.
Anfang der neunziger Jahre erschien mir diese Zeichnung wenig treffend. Ich war sehr gerne an die Universität gegangen, und so naiv, wie mir der Studienanfänger in der satirischen Darstellung schien, war ich ja wohl kaum – zumindest bildete ich mir das ein. Ich verbuchte die Zeichnung als Teil einer linken Nostalgie, die mich überall umgab, die mir nahe war, deren theoretische Sinnstiftungsangebote mir für mein eigenes Leben jedoch kaum mehr zutreffend schienen.5 In einer späteren Ausgabe des Buches war die Zeichnung dann vom Cover verschwunden. Doch was ich im Inneren las – das fesselte nicht nur mich.
Uni-Angst und Uni-Bluff war in den achtziger und neunziger Jahren ein Bestseller – zumindest in linken, studentischen Kreisen. Der Rotbuch Verlag hat über 200.000 Exemplare verkauft. Heute hingegen scheint das Buch fast vergessen. In den Buchgeschäften, die sich an der Peripherie der Universität über Wasser halten, ist das einstige Standardwerk nicht mehr vorrätig. Bei Amazon finden sich im Segment «Allgemeine Studienratgeber» unzählige Bücher, die handfeste Lebenshilfe bieten und konkrete Bewältigungsstrategien in Aussicht stellen – so etwa die vielen Bände aus dem Studienscheiss Verlag, der sich mit Büchern wie Bachelor of Time: Zeitmanagement im Studium oder dem Arschtritt-Buch: Selbstmotivation im Studium nassforsch an Studierende herankumpelt. Vom vorlauten Bescheidwissen und patenter Anwendungsorientierung war Uni-Angst und Uni-Bluff weit entfernt. Jene Fassung, die ich 1993 im Mensafoyer kaufte und die mir wie ein Wegweiser schien, hat eine längere Geschichte. Ihr Ursprung liegt in einem Aufsatz, den Wagner 20 Jahre zuvor unter dem Titel «Der Bluff» in Prokla veröffentlicht hatte.
In der Artikel «Der Bluff» fragt Wagner danach, wie Universitäten zum «Lernzusammenhang solidarisch agierender Studentengruppen werden können»,6 und analysiert, wie sich das Miteinander demgegenüber tatsächlich gestalte. Die Absicht, so heißt es etwas angestrengt in den ersten Absätzen, liege darin, zu zeigen, «daß sich die besonderen universitären Verkehrsformen mit Notwendigkeit aus der Rolle ergeben, die der Universität im Reproduktionsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft zufällt» – ein Prozess, den es im Sinne des «objektiven Interesse[s] des Proletariats an der Aufhebung dieser bürgerlichen Gesellschaft»7 zu beenden gelte. Wenn der Aufsatz in Folge analysiert, «[w]elche Einstellungen und Verhaltensdispositionen […] die Wahrscheinlichkeit von Erfolg im universitären Bereich» erhöhen, dann nicht als Handreichung zum beruflichen Erfolg. Dem Aufsatz geht es vielmehr darum, die Prozesse, über die sich Herrschaft reproduziert, am Beispiel der Universität zu verstehen und zu unterbrechen.
In «Der Bluff» entwickelt Wagner erstmals jene These, die auch für Uni-Angst und Uni-Bluff zentral sein wird, nämlich, dass für den Erfolg im akademischen Betrieb gerade nicht formale Kriterien (etwa bestandene Prüfungen, erreichte Qualifikationsstufen oder Forschungsleistungen) bestimmend seien, sondern die Fähigkeit, eine ganz bestimmte Umgangsweise mit den eigenen «unbewußten und unkontrollierten Bedürfnisse[n] und Ängste[n]»8 zu erlernen, zu perfektionieren und als Selbstverhältnis zu verinnerlichen – der titelgebende «Bluff», der im Laufe der Zeit immer mehr die Form eines Selbstbetrugs annehme. Nur jene, die «die Blufftechniken bis zur Perfektion erlernt und geübt»9 haben, seien in der gegenwärtigen Universität erfolgreich. Doch der von allen reproduzierte Bluff habe, so Wagner, weitreichende Folgen: Er reproduziere nicht nur eine «allgemeine Konkurrenzsituation, die sich allein schon aus der Hierarchie des Wissens ergibt, [sondern auch] die ständige Angst vor dem anderen, der den Bluff durchschauen könnte».10
Als ich auf diesen Gedanken in Uni-Angst und Uni-Bluff stoßen sollte, würde er mir unverständlich bleiben. Es brauchte viele Semester, um zu verstehen, was damit gemeint war. Und erst Jahre später – ich war mittlerweile selbst Lehrender – würde ich beobachten und am eigenen Körper spüren können, dass die größte Angst in vielen mündlichen Prüfungen nicht die Studierenden, sondern die Prüfer_innen haben – vor dem Urteil der Kolleg_innen, vor dem abschätzigen Blick, mit dem die mehr oder weniger unzureichenden Leistungen des ‹Prüflings› und die betreuende Person in eins gesetzt werden. Der Bluff, so Wagner, sei eine Strategie der Angstabwehr, von allen geteilt und reproduziert – und mit weitreichenden negativen Folgen, wie er am Beispiel von Diskussionen nach Fachvorträgen verdeutlicht. Die Angst der Diskutierenden, so schreibt Wagner 1973, verschwinde erst,
wenn klar ist, daß der andere zu wenig weiß, um gefährlich zu werden. Da der andere aber eben dies fürchten muß, muß er die Kommunikation in Bahnen halten, in denen es auf gar keinen Fall zu einer solchen Entlarvung kommen kann. Ein Gespräch kann sich also nur als beinahe ritualisiertes, ganz vorsichtiges Abtasten entwickeln. Das Resultat ist gegenseitige Isolierung, die äußerlich meist als Arroganz erscheint.11
In der Folge erweitert Wagner die Thesen und Beobachtungen aus «Der Der Bluff» zum Buch. 1977 erscheint die erste Auflage; viele weitere folgen in kurzer Zeit. Über den Verlauf von 30 Jahren überarbeitet Wagner Uni-Angst und Uni-Bluff zwei Mal so gründlich und umfassend, dass die 1992 und 2007 erschienenen Ausgaben getrost als Neufassungen durchgehen können. Über seine Editionsgeschichte hinweg lässt sich das Buch als Ausdruck einer sich wandelnden Struktur von Universität und den sich gleichermaßen verändernden Selbstverhältnissen ihrer Angehörigen lesen. Und bis in die Gegenwart verwebt sich diese Geschichte mit meinem eigenen Leben in der Institution.
Anfang der neunziger Jahre zog mich vor allem eines an die Universität: Die Aussicht auf eine besondere Art zu leben, eine intellektuelle, auf Gemeinschaft beruhende Form des Miteinanders, die ich aus campus novels kannte, die ich begeistert las. Der Kontrast zur Universität im Ruhrgebiet, die ich besuchte, stolzes Ergebnis sozialdemokratischer Bildungspolitik der sechziger Jahre, hätte nicht größer sein können. Wie die Autofabrik, deren Gelände kurz hinter den Wohnheimen der Studierenden anfing, lag sie an der Peripherie der Stadt. Das Campusleben, das ich mir ausgemalt hatte, gab es nicht. Die Stadt war damals vieles, aber sicher keine Universitätsstadt. Am Abend fuhren alle, Studierende und Lehrende, zurück in die Vororte, in denen sie wohnten – so auch ich.
Mit der Erfahrung von Vereinzelung und Einsamkeit beginnt Uni-Angst und Uni-Bluff, und vielleicht fand das Buch in mir auch deshalb einen aufmerksamen Leser, weil ich bei allen Unterschieden zur Biografie des Autors in seinen Überlegungen meine eigenen Fragen wiedererkannte: Was war das für ein seltsames System, in das ich da hineingeraten war? Was machte es mit mir und den anderen? Und was hieß es für das Vorhaben eines ‹eigenen› Studiums? Wagner trifft zwei grundlegende Unterscheidungen. Auf der Ebene des wissenschaftlichen Arbeitens stellt er dem «Entstehungs-» einen «Rechtfertigungsprozess»12 gegenüber; mit Blick auf die gesellschaftliche Aufgabe der Institution unterscheidet er «Aufstiegs»- und «Problemlösungsfunktion» von Universität. Diese Gegenüberstellungen ermöglichen es Wagner, jene Probleme zu bestimmen, die erklärten, warum es den «Bluff» gebe. Und sie erlauben ihm, potenzielle Auswege aus der jeweils gegenwärtigen Universität zu skizzieren.
Das Problem, so Wagner, sei, dass Studierende einerseits zu selten vom unordentlichen, offenen, unklaren und von Zufällen abhängigen Entstehungsprozess von Wissenschaft erführen. Denn hinter der Sprache der Wissenschaft – elaborierte Texte, deren Sound ich in meinen ersten Seminararbeiten zu imitieren versuchte – stecke die absichtsvolle Strategie, all dies zu verdecken. Und zweitens führten der Wettbewerb und Konkurrenzdruck im wissenschaftlichen Betrieb zur Ausbildung eines Habitus, der auf Selbst- und Fremdbetrug beruhe und der letztlich jegliche Freude am Entdecken und Forschen zu zerstören drohe. Die «Problemlösungsfunktion», so Wagner, trete mit dem Einfinden in das akademische Miteinander und der eigenen Karriere immer stärker hinter die «Aufstiegsfunktion» von Wissenschaft zurück. Wettbewerb, ‹Leistung›, der Erwerb von Reputation: Wissenschaft werde zum bloßen Mittel des Aufstiegs. Und diese «Aufstiegsfunktion» sei es, die neben der Wissenschaftssprache den Bluff provoziere, denn «will man aufsteigen, dann darf man sich nicht so mängelbehaftet darstellen, wie man als Mensch nun einmal unvermeidlich ist».13 Der Bluff «zementiere» die Angst, und raube so die Freude am Nachdenken oder am Sichvertiefen in Probleme. Darin bestünde zwar der «offizielle Zweck» der Universität.14 Doch weil der Wunsch nach Aufstieg und Exklusivität die Kommunikation in Lehre und Forschung beherrsche, entstehe «der heimliche Lehrplan ‹Überlegenheit›» – der Akademikerhabitus. Dieser «‹heimliche Lehrplan›», so Wagner, sei «viel wichtiger als die Ergebnisse des inhaltlichen Studiums».15
Ich war fasziniert – von Wagners Thesen und Erklärungen, und von meiner eigenen Aufgeklärtheit, die ich Wagner zu verdanken hatte. Aber vielleicht war ich auch ein bisschen zu sehr fasziniert. Denn dass gesellschaftlicher Aufstieg ein doch ziemlich legitimes Bedürfnis darstellt, kam mir nicht in den Sinn. Ich richtete mich in einer Haltung ein, in der ich in vermeintlicher Abgeklärtheit auf die Universität blickte. Und, ohne es zu bemerken, reproduzierte ich auf diese Weise genau jenes Selbstverhältnis, das sich die Angehörigen des akademischen Betriebs abfordern. In gewisser Weise bluffte ich selbst, trotz oder gerade wegen der Lektüre.
In späteren Textfassungen hat Wagner versucht, deutlicher zu machen, was er mit dem Begriff des «Bluffs» beschreiben wollte. Während der Prokla-Aufsatz noch nahezulegen scheint, dass der Bluff eine ‹Täuschung› oder ‹Vorspiegelung› ist, die jeglicher Substanz entbehrt, stellt Wagner in Uni-Angst und Uni-Bluff klar, dass es um etwas anderes gehe.16 Tatsächlich funktioniere der Bluff wie ein Pokerspiel: Gute Spieler_innen blufften eben nicht, wenn sie ausschließlich schlechte Karten hätten – «das wäre viel zu riskant». Wagner führt eine Spielsituation an, in der die Spielenden ungefähr gleich gute Karten haben; eine Situation, in der geringe Unterschiede den Gewinn bedeuten können und bereits ein überzeugendes Lächeln möglicherweise vermag, die anderen zum Aufgeben zu bewegen. Es sei diese «subtile Form» des Bluffs, um die es beim «Uni-Bluff» gehe.17 Dieser Bluff – Wissenschaftler_innen geben sich ein wenig besser, klüger, belesener, kundiger, als sie tatsächlich sind – geschehe «aus einem tausende Male eingeübten Reflex zur Absicherung und Aufwertung der eigenen Darstellung […]. Es geht also normalerweise um gewohnheitsmäßiges Imponiergehabe, selten um Hochstapelei».18
Allerdings, so Wagner weiter, bedürfe es einer besonderen Einübung in diesen Bluff, damit er nicht nur akzeptiert, sondern als gleichsam ‹natürliche› Erscheinung einer akademisch gebildeten Person, als deren begründetes und wohlgewähltes Ausdrucksmittel, als gelungene Einpassungsleistung wahrgenommen werde: «das richtige Auftreten, die souveräne Lässigkeit, die den Akademikerhabitus prägt».19 Die Universität als Fabrik und «Maschine» – sie war offenbar niemals zu denken ohne die Selbstzurichtung der sie bewohnenden Subjekte.
Wagner beschreibt, wie sich die Universität als Ort erweist, an welchem am besten diejenigen zurechtkommen und als Professoren Karriere machen,20 die in der Lage seien, «Antennen für die unausgesprochenen Verhaltensanforderungen ihrer Umwelt zu entwickeln», etwa Menschen mit einer «nie gesättigten Sucht nach Selbstbestätigung» oder «narzißtisch Gestörte».21 Und gerade dies erkläre, weshalb diese Menschen die dreifache Entfremdung – «vom Stoff, von den anderen und von sich selbst» –, die «an der Universität immer wieder neu hergestellt»22 werde, so klaglos ertrügen: «Alle Inhalte und Beziehungen sind ihnen sowieso nur Mittel, um im wertenden Vergleich das in Frage gestellte ‹Selbstwertgefühl› immer wieder zu sichern».23
Rückblickend kann ich die Folgen des Bluffs nicht nur an meinen ersten eigenen Seminararbeiten ablesen, die mir heute wie unfreiwillige Parodien auf den «überschüssige[n] Argumentationsaufwand, die Umständlichkeit und Gespreiztheit […] und das großspurige akademische Gehabe»24 der allermeisten Texte erscheinen, die ich im Studium las. Formen der «überschüssigen Selbstdarstellung, die verschleiernde, imponieren wollende Wissenschaftssprache»25 begleiten mich als Leser und Verfasser wissenschaftlicher Texte bis in die Gegenwart.
Die Konsequenzen des allgegenwärtigen Bluffs gehen tief, so Wagner, und sie berühren mehr als Fragen des Stils.
Das Problem beim Uni-Bluff ist, dass man ständig aufgeplustert bleibt, den Akademikerhabitus zur zweiten Natur werden lässt. Dann steht man sich selbst im Weg, kann seine normale inhaltliche problemlösende Arbeit nicht erledigen und jagt anderen Menschen Angst ein oder sendet Wettkampfsignale, auch in Situationen, in denen man das gar nicht will und es völlig unangebracht ist, etwa beim Flirten oder Feiern.26
Wer Pausengespräche auf Tagungen kennt, weiß, wovon die Rede ist. Ich habe solchen Performances nicht nur beiwohnen dürfen, sondern ganz sicher, in der ein oder anderen Weise, an ihnen mitgewirkt.
Allerdings griffe es gleichfalls zu kurz, Wagners Argumentation darauf zu reduzieren, problematische Umgangsweisen der Angehörigen der Universität benennen zu wollen. Uni-Angst und Uni-Bluff kennzeichnet ein egalitäres Anliegen, das sich gegen die akademische Elite (respektive jene, die sich darunter verstehen) richtet. Dass das Buch ein «Manifest auf das Recht auf Durchschnittlichkeit»27 gewesen sei, wird Wagner in seiner Autobiografie später schreiben und betonen, dass dahinter keineswegs intellektueller Kleinmut gesteckt habe. Ihm sei es zuallererst darum gegangen, so Wagner, «Menschen wie mir ein Recht auf gleichberechtigtes Lernen und Leben an der Uni [zu] ermöglichen: Wenn man etwas nicht verstand, dann sollte man sich nicht die Schuld daran geben müssen». Für viele im akademischen Betrieb, so Wagner weiter, sei diese Proklamation des «Rechts auf Durchschnittlichkeit» ein Skandal gewesen: «Sie empfanden sie als Angriff auf ihre Intellektualität und als Versuch, die traditionelle deutsche Universität der Eliten zu zerstören. Und sie hatten recht damit».28
Wie sehr die Universität und ich selbst in diesen Klassenkampf – «kein Kampf zwischen links und rechts, sondern zwischen den seit Generationen akademisch Gebildeten und denen, die ebenfalls teilhaben wollen an der höheren Bildung»29 – verwickelt waren und sind, habe ich zunächst nicht begriffen. Aber ich hätte es bemerken können, denn gerade an der einstigen ‹Arbeiteruniversität› im Ruhrgebiet bildete sich dieser Kampf in prototypischer Weise ab.
In den nuller Jahren – ich studierte immer noch vor mich hin und arbeitete nebenher (oder umgekehrt) – war es auch offiziell mit dem sozialdemokratischen Versprechen der ‹Bildung für alle› vorbei. Nach Studiengebühren, die ich als Langzeitstudierender zu entrichten hatte, kam die sogenannte Exzellenzinitiative. Die Universität plante, sich zu bewerben. Dem NDR-Satiremagazin extra 3 war das einen Beitrag wert, der sich unverblümt befleißigte, diese Absicht als idiotisch und die Universität als tristen Sanierungsfall darzustellen. Zwar war mir die ganze Idee der ‹Exzellenz› zuwider (und hier traf die Kritik, die der Fernsehbeitrag formulierte, ins Schwarze). Zugleich wurde jedoch victim blaming betrieben und dadurch, im Umkehrschluss, die Idee der ‹Exzellenz› bestätigt. Ein paar Jahre später war die Ruhrgebietsuniversität dann tatsächlich ‹exzellent›. Für die Begehung waren jene Teile des Sichtbetons, die den Gutachter_innen ins Auge stechen mussten, gesäubert worden, während der nicht sichtbare Rest verschmutzt blieb. So lernte ich, auch wenn mir die theoretischen Begriffe oft fehlten und meine politische Einordung bruchstückhaft bleiben musste, viel über den Klassenkampf von oben, über ‹Exzellenz› und über den klassistischen Kern eines elitären, romantischen Bildungsbegriffs, dessen Apologeten bis heute daran zu erkennen sind, dass sie über Studierende schimpfen, die immer blöder würden. «Das waren die Klassenkämpfe der folgenden vierzig Jahre und sind es heute noch»,30 wird Wagner später resümieren.
Zwischenzeitlich warf ich mein Exemplar von Uni-Angst und Uni-Bluff allerdings fort. Mein Buchregal war zu klein geworden; die ganzen Bücher, die ich gekauft hatte, um sie nicht zu lesen, nahmen zu viel Platz weg. Und vermutlich dachte ich auch, dass ich bereits alles verstanden hätte und das Buch inzwischen irrelevant wäre. Als ich Uni-Angst und Uni-Bluff in einer Art Spurensuche in eigener Sache erneut lesen wollte, musste ich mir die Neuausgabe kaufen – um festzustellen, dass ich ein anderes Buch vor mir liegen hatte.
In seiner Autobiografie beschreibt Wolf Wagner eine Reihe jener Gründe, die ihn in den achtziger Jahren dazu bringen, die Universität zu verlassen. Frustriert vom akademischen Betrieb und, so seine damalige Einschätzung, ohne Zukunftsperspektive in der Wissenschaft, flieht er zunächst auf eine griechische Insel, um wenig später, ernüchtert von der dörflichen Enge, nach Deutschland zurückzukehren. Dort wendet er sich Esoterik, Psychotechniken und New Age zu – bis hin zu einer Ausbildung als Körpertherapeut und Heilpraktiker. Doch die deutsche Einheit ändert noch einmal alles, und vom «Irrtum» seiner «Rundreise durch die Psychowelt»31 geläutert, wird Wagner Professor für Soziale Arbeit an einer ostdeutschen Fachhochschule. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird er schließlich zum Rektor gewählt. Doch auch in dieser Position, so schreibt Wagner, «überfielen mich wieder die gleichen Redeängste, wenn ich im Plenum der Hochschulrektorenkonferenz vor den anderen Rektorinnen und Rektoren etwas sagen sollte. Die Uni-Angst hörte nie auf und hielt so auch die Angstabwehr, den Uni-Bluff, lebendig».32
2007, 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung, erscheint eine völlig veränderte Neuausgabe von Uni-Angst und Uni-Bluff. Mit dem ursprünglichen Buch hat sie nicht mehr viel gemeinsam. Zwar bleibt Wagner bei seiner grundlegenden These eines alles durchziehenden Bluffs. Zugleich revidiert er seine Argumentation jedoch an einer entscheidenden Stelle. In allen früheren Fassungen endete das Buch stets mit einer Ermunterung – es gehe darum, das Bluffen zu unterlassen, sich den eigenen Ängsten zu stellen, sie zu offenbaren und so ein solidarisches Miteinander zu ermöglichen, das einem gemeinsamen Lernen vorausliegt. Aber während Wagner im Prokla-Aufsatz noch davon spricht, dass der Bluff eine eben nur «beinahe allgemeine Notwendigkeit»33 sei, um in der Folge über eine andere Universität und ein anderes Studieren, «ohne sich zu verlieren», nachzudenken, zieht er in der Neufassung von Uni-Angst und Uni-Bluff den gegenteiligen Schluss. 30 Jahre und eine Hochschulkarriere später resümiert er: «In der Urfassung war ich noch der Auffassung, es gehe auch ohne Bluff. Jetzt denke ich, es geht gar nicht ohne und versuche Wege aufzuzeigen: Wie bluffen, ohne sich selbst zu bluffen.»34 Und so ist das Buch in seinen drei Fassungen nicht nur eine Reflexion von Wagners eigener Laufbahn im Wissenschaftsbetrieb. Die Editionsgeschichte bildet auch einen weitreichenden Wandel von Universität selbst ab.
Nicht nur fällt auf, dass die späteren Fassungen von Uni-Angst und Uni-Bluff viel stärker auf Fragen bildungspolitischer Entwicklungen abheben. Ausführlich widmet sich Wagner in der Neuausgabe von 2007 der Hochschulpolitik: Bologna-Reform, Exzellenzinitiative, die argwöhnische Konkurrenz von Universitäten und Fachhochschulen in einem System, das immer mehr Menschen postsekundäre Abschlüsse ermöglichen soll, aber von elitären Bildungskonzepten nicht lassen mag. Auch die Frage nach Klassenverhältnissen gelangt (im Gegensatz zur Genderdimension, die von Anfang an thematisiert wird) erst in der neuesten Ausgabe vollständig in den Blick. Und während in den ersten beiden Fassungen des Buches – und insbesondere im Prokla-Aufsatz – die Rede von einer grundlegenden «Entfremdung» ist, die alle Angehörigen der Universität erfasse,35 verschwindet dieser Begriff in der dritten Ausgabe völlig. Ganz ohne Serviceorientierung für eine neue Generation von Studierenden geht es auch nicht: Das ursprüngliche Kapitel «Gegenstrategien» trägt nun den Titel «Wie genussvoll und effektiv studieren».36
Die wichtigste Veränderung schließlich betrifft jedoch die Bewertung der «Aufstiegsfunktion» von Universität. Während Wagner noch in der zweiten Fassung des Buches die Auffassung vertritt, es sei ein Fehler, anzunehmen, dass alle Menschen nach Aufstieg strebten und ihren Selbstwert an ihrer Stellung in der Hierarchie messen würden,37 schlussfolgert er in der Neuausgabe, zwar möge es viele Studierende und Lehrende geben, die nur um der Sache willen studierten, forschten und lehrten und nicht, weil sie sich einen sozialen Aufstieg oder Reputationsgewinn von dieser Tätigkeit erhofften – er, Wagner, habe «so jemanden allerdings an der Hochschule nie getroffen».38 Am Ende der dritten und vermutlich letzten Fassung von Uni-Angst und Uni-Bluff stehen daher eine Vielzahl von Tipps zum sozialen Aufstieg in der Institution. Heute gehe es nicht mehr darum, dem Bluff abzuschwören, sondern ihn strategisch einzusetzen – etwa dort, wo sich die didaktische Hilflosigkeit vieler Lehrender für das eigene Fortkommen nutzen ließe.39
Nicht nur als Illustration auf dem Einband von Uni-Angst und Uni-Bluff ist die Fabrik verschwunden. Auch die Autofabrik, deren helle Lichter nachts bis zu den Türmen der Wohnheime hinüberschien, ist geschlossen und demontiert worden. Wie die Gründung der Universität war sie Ausdruck der Hoffnung auf einen Strukturwandel in einer Stadt, die nach dem Ende der Montanindustrie eine Zukunft suchte und immer noch sucht.
Nie habe ich meinen eigenen Eingang in die Universität vergessen – jenen Moment, in dem ich mit den anderen vor der offenen Tür des Seminarraums wartete. Dass mir dieses welcome to the machine heute noch so präsent ist – auch wenn diese Maschine schon damals wohl weniger in den Begriffen von Marx und Ford zu bestimmen gewesen wäre als mithilfe derer von Deleuze und Guattari –, hat einen einfachen Grund. Ich hatte mir vorgenommen, ihn nicht vergessen zu wollen.
Zu Beginn des Semesters gehe ich an den Wartenden vorbei und betrete den Seminarraum. Die Studienanfänger_innen sind vor der Tür stehen geblieben, wartend, mit ihren Smartphones beschäftigt, über Social-Networking-Sites jederzeit integriert in einen unablässigen Strom von Konversationen, der, einer Rettungsleine gleich, eher aus der Universität hinaus- als hineinzuführen scheint. Was hätte Uni-Angst und Uni-Bluff ihnen heute zu sagen? Was habe ich ihnen zu sagen?
1992 schließt Wagner sein Buch mit dem Hinweis, es sei für das Vorhaben, zu studieren und sich nicht zu verlieren, «möglicherweise recht nützlich […], bei allem Bemühen um ein sinnvolles Studium den Sinn des Lebens doch außerhalb der Universität zu suchen».4015 Jahre später ist der Hinweis verschwunden. Die Vorstellung einer «Wissenschaft als Lebensform»41 dürfte den allermeisten der gegenwärtigen Studierenden eher seltsam anmuten. Sie sehen ihr Studium als notwendige Übergangsphase zwischen Schule und Beruf.42 Ich bin mir nicht sicher, ob das unbedingt eine schlechte Entwicklung ist.
Wenn ich den Raum betrete, um die Studienanfänger_innen zu begrüßen, klappe ich meinen Laptop auf, schließe die Tonanlage an und spiele Musik. Es ist noch etwas Zeit, bis es losgeht – zwei, drei Stücke, die, so würde ich mir wünschen, für einen Moment eine angenehme Atmosphäre schaffen, die es denen, die gekommen sind, etwas leichter macht, das Schweigen zu brechen. Auf dem Brachland der einstigen Autofabrik stehen jetzt große Tafeln. Sie künden von einer Zukunft, die es noch nicht gibt und von der unklar ist, wie sie aussehen wird.
1 Wolf Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren, vollständig überarbeite Neuauflage, Berlin 1992, 7.
2 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 8.
3 Vgl. ebd.
4 Wagner hat seiner eigenen Biografie den etwas koketten Titel Ein Leben voller Irrtümer gegeben. Vgl. ders.: Ein Leben voller Irrtümer. Autobiografie eines prototypischen Westdeutschen, Tübingen 2017.
5 Ausführlich zu dieser Zeichnung vgl. Gerald Raunig: Fabriken des Wissens. Streifen und Glätten I, Zürich 2012, 42ff.; dazu wiederum kritisch: Susan Kelly: Is the University a Factory?, in: Mute, Oktober 2013, www.metamute.org/editorial/reviews/university-factory, gesehen am 22.2.2015.
6 Wolf Wagner: Der Bluff. Die Institution Universität in ihrer Wirkung auf die Arbeitsweise und das Bewußtsein ihrer Mitglieder, in: Prokla, Nr. 7, Mai 1973, 43–81, hier 43.
7 Ebd., 57.
8 Ebd., 59.
9 Ebd., 75.
10 Ebd., 61.
11 Wagner: Der Bluff, 6.
12 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 77f.
13 Wolf Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren, aktualisierte und vollständig überarbeite Neuausgabe, Berlin 2007, 58.
14 Ebd., 63.
15 Ebd.
16 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 54.
17 Ebd., 55.
18 Ebd.
19 Ebd., 63.
20 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 50.
21 Ebd., 41f.
22 Ebd., 21.
23 Ebd., 42.
24 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 55.
25 Ebd.
26 Ebd., 115.
27 Wagner: Ein Leben voller Irrtümer, 140.
28 Ebd.
29 Ebd., 167.
30 Wagner: Ein Leben voller Irrtümer, 140.
31 Ebd., 174.
32 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 49.
33 Wagner: Der Bluff, 60.
34 Wolf Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren. Text der Erstausgabe von 1977, online unter www.fh-erfurt.de/soz/fileadmin/SO/Dokumente/Lehrende/Wagner_Wolf_Prof_Dr/Publikationen/unibluffurfassung.pdf, gesehen am 4.12.2018.
35 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 21.
36 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 115–146.
37 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 30.
38 Wagner: Uni-Angst und Uni-Bluff [2007], 58.
39 Vgl. ebd., 147f.
40 Wagner, Uni-Angst und Uni-Bluff [1992], 117.
41 Vgl. Jürgen Mittelstraß: Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität, Frankfurt/M. 1982.
42 Vgl. Raunig: Fabriken des Wissens, 45.
Seit 2017 haben uns #MeToo und die Frage nach sexueller Belästigung in der Universität umgetrieben,1 was schon mit der Frage anfing, wie man eigentlich nennen soll, worum es geht. Dass sexualisierte Gewalt in der Akademie wie überall zu bekämpfen ist (drei Viertel aller Professor_innen sind männlich, d.h., die Positionen, aus denen aufgrund des Machtgefälles besonders leicht die Möglichkeit erwächst, sich sexuelle Vorteile zu verschaffen, sind mehrheitlich mit den üblichen Verdächtigen besetzt), versteht sich, aber damit erübrigt sich das Thema nicht. #MeToo war und ist deswegen so brisant, weil sich hier die verschiedensten Geschichten zusammenfanden, ohne Rücksicht auf den Grad der Gewalt, von der Vergewaltigung über die Anmache bis zu einem diffusen sexistischen Klima, oder besser: mit maximaler Rücksicht auf den Grad der Gewalt, nämlich als Beginn einer Reflexion über die Facetten von rape culture. Wie fragt man danach in der Universität?
Wir beginnen unsere Überlegungen zunächst mit der Frage nach den Voraussetzungen: Wie ist die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland? Welche Stellen, welche Regularien, welche Interventionsmöglichkeiten sind im deutschen Hochschulsystem für Fälle von Diskriminierung, sexueller Belästigung und Machtmissbrauch vorgesehen? Die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) 2015 in Auftrag gegebene Studie zu sexueller Belästigung im Hochschulkontext thematisiert die «Schutzlücke», nach der das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), besser bekannt als Antidiskriminierungsgesetz, für Studierende keine Geltung hat. Im 2018 publizierten «Leitfaden: Diskriminierungsschutz an Hochschulen» der ADS wird zudem festgehalten, dass «[b]islang […] keine systematischen Daten über Diskriminierungserfahrungen von Studierenden an deutschen Hochschulen vor[liegen]».2 Für Hochschulen gelten die Bestimmungen des AGG nur, insofern ihre Funktion als Arbeitgeberin betroffen ist. Danach müssen sie erforderliche Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligung ergreifen und eine Beschwerdestelle sowie ein Beschwerdeverfahren einrichten. Bei Benachteiligung von Studierenden findet das AGG zwar Anwendung, bleibt aber ohne Rechtsfolgen (anders bei privaten Hochschulen, die zivilrechtliche Verträge mit den Studierenden abschließen). Auf Ebene der Länder existieren vereinzelt Regelungen in Landeshochschulgesetzen sowie die Landesgleichstellungsgesetze, die den Hochschulen bestimmte Maßnahmen auferlegen. Möglich sind auch Zielvereinbarungen einzelner Hochschulen mit Landesbehörden. Anlauf- und Beratungsstellen sind ebenfalls je nach Hochschule unterschiedlich aufgestellt: von der Allgemeinen Studierendenberatung, den Vertrauensdozent_innen und der Konfliktberatung über Ombudsleute und den Personalrat bis zur Studierendenvertretung und den Gleichstellungs- und Schwerbehindertenbeauftragten. Kurz: Es gibt keine einheitliche Regelung an deutschen Hochschulen, die ihre Mitarbeiter_innen, Lehrenden, Angestellten sowie die Studierenden vor Diskriminierung und damit auch vor sexueller Belästigung und Machtmissbrauch schützt. Anders in den USA: Dort gilt Title IX, der Paragraph 9 des United States Education Amendments von 1972; dieser betrifft alle Bildungseinrichtungen, die finanziell von der US-Regierung unterstützt werden, was auf fast das gesamte (Hoch-)Schulsystem zutrifft. Nach Title IX darf keine Person in den USA aufgrund ihres Geschlechts von der Teilnahme an Bildungsprogrammen ausgeschlossen bzw. dürfen ihr die Vorteile solcher Programme nicht vorenthalten werden – ein «civil antidiscrimination law designed to bar sex/gender discrimination in education».3 Seit den 1990er Jahren wurde der Geltungsrahmen des Gesetzes weiter ausdifferenziert und beinhaltet nun auch dezidiert, dass Hochschulen und Schulen im Falle von Beschwerden angemessene Maßnahmen ergreifen müssen. Dabei wird in Title IX-Verfahren an Universitäten nicht gefragt, ob ein Verbrechen begangen wurde (beispielsweise eine Vergewaltigung), vielmehr soll mit ihnen festgestellt werden, ob jemand in ihren_seinen Rechten eingeschränkt wurde: Title IX «is not concerned with justice; it is concerned with equity. Have you been violated? Or was it your rights?»4
Dass jedes Lehren und das Wissen darüber ‹lokal› ist, wie Laurent Berlant in «Feminism and the Institutions of Intimacy» schreibt, gilt ebenso für uns.5 Auch in der deutschen Medienwissenschaft haben wir Geschichten von Männern und Frauen,6 Betroffenen und Akteuren, über soziale Räume gehört, in denen Frauen als fuckable or not klassifiziert werden. Als Lesben sind wir nur eingeschränkt fuckable – und dieses Sprechen ‹als› ist hier genauso aufgeladen wie das Sprechen als Frau oder als Professorin, weil wir ja nicht einfach ‹wir› sind7 – was uns aber nicht davor bewahrt hat, die eine oder andere männliche Hand an Knie oder Hüfte vorzufinden und allgemeiner in männlich-normativen Gesprächskulturen unterwegs zu sein. Es gibt viele Ebenen der Dominanzkultur; über Rassismus wird sowieso eher geschwiegen als gesprochen;8 Bildung funktioniert weiterhin und weiter zunehmend nach Klassenherkünften sortiert, und die Realität von class im class room wird konsequent ausgeblendet. Fachspezifisch könnte man auch das Verfahren gegen die New Yorker Professorin Avital Ronell lesen, das 2018 hohe Wellen schlug. Denn Ronell spielt auch in der deutschen Medienwissenschaft eine wichtige Rolle – nicht nur durch ihre Schriften; sie war Beiratsmitglied der ZfM, hielt bei Friedrich Kittlers Beerdigung eine Rede und argumentierte als Entgegnung auf die Anklage unter Title IX, ihre sprachlichen Äußerungen und ihr Verhalten dem Kläger gegenüber seien nur in Verbindung mit ihrer Forschung angemessen einzuordnen.9 Lisa Duggans Blogbeitrag «The Full Catastrophe» zum ‹Fall Ronell› ist nicht zuletzt wegen ihrer Reflexion der Bezüge auf das Medium der Sprache lesenswert:
Reitman [so der Name des Klägers, d. Verf.] wants us to take [Ronell’s] email literally, as evidence of sexual desire and conduct. Ronell understands it as coded, not literally about sex. But why is sex the central factor anyway? The central issue is whether there were boundary violations that could be considered harmful. Advisor intrusions do not need to be sexual to be a problem.10
Ronell selbst bezeichnete den Stil ihrer Kommunikation mit dem Kläger als «flamboyant», als sprachlich von beiden gleichermaßen als Inszenierung begriffene, für die queere Szene nicht unübliche, mit Lust am Theatralischen betriebene Ausdrucksform. In einer solchen, möglicherweise gemeinsamen rhetorischen Inszenierung zwischen Doktorand und Betreuerin lassen sich die gegebenen Hierarchien dennoch nicht ausblenden – hier muss die hierarchisch machtvoller platzierte Person einfach auf den möglichen Spaß verzichten.11 Denn: Es gibt keine Subjektivierung außerhalb der Sprache. Das Subjekt, das sich in theoretische Texte wie die von Ronell einschreibt, bringt sich im Schreiben auch selbst hervor. Es setzt sich in Bezug zu anderen, zu den gelesenen Texten, zum Dekonstruierten, zu möglichen lesenden Adressat_innen. Dass es kein Ich vor der Sprache gibt, das Ich hier dennoch fortwährend genau davon spricht, ist Gegenstand der Forschung, der Lehre und des Betreuungsverhältnisses; zur Debatte stehen sprachliche Formen von Performativität und Möglichkeitsräume von Ironie. Martin Jay schrieb 2011 in Artforum über Ronells kleines Buch Fighting Theory und Astra Taylors Film über sie (Examined Life, USA2008) und thematisierte darin auch die Selbstinszenierung und eine Lehre, die mit «Ansteckung» operiert:
In the classroom, AR practices what she calls the «pedagogy of anacoluthon, of syntactical disturbance,» arriving «on the scene often dressed in a bizarre, postpunk manner, that is, a little outrageous, theatrical.» «Often [making] a point of scandalizing [her] students,» she proclaims herself a devotee of «institutional contamination,» «a renegade, in a way, whose research and publications are sometimes seen as subversive.» Anacoluthonic pedagogy, for those who were not rhetoric majors, means to mimic in one’s teaching a grammatical structure that denies sequentiality and often introduces several different voices in the same passage, defeating the impression that there is a single controlling presence behind the text. In other words, it is the art of the non sequitur, which deliberately tries to thwart coherent meaning and detranscendentalize the subject.12
Gleichzeitig eine Ästhetik der Unterbrechung und eine zentrale Stellung in deren Lehre einzufordern, lässt sich nur als extreme und extrem widersprüchliche Anmaßung der selbst proklamierten Gegensätze sehen. Diese/s Fighting Theory – die Theorie, die kämpft, und das Bekämpfen der Theorie – schöpft ihr Selbstverständnis aus ‹der Dekonstruktion› mit all dem, was in den 1980