Zeitzünder - Hagen van Beeck - E-Book

Zeitzünder E-Book

Hagen van Beeck

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
Beschreibung

Zeitzünder oder: Die vergessene Bombe Jürgen Schmitt ist Mitglied der Hannoverschen Mafia, in der Hierarchie allerdings ganz weit unten. Ansonsten gibt er den braven Arbeitslosen; - und so soll es auch bleiben. Bis eines Tages zweierlei passiert: Eine Frau gerät in sein ansonsten beschauliches Leben und er bekommt einen Mordauftrag! Damit nicht genug! Er erhält Kenntnis vom Standort einer Zeitzünder-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Bevor er seinen ärgsten Feind damit in die Luft sprengen kann, ist noch der Mord zu begehen! Nur, - es stellt sich heraus, dass schon jemand anders seinen Mord begangen hat! War es seine Freundin, die versucht, ihn in der Hierarchie nach oben zu bringen? War es Freddy the Brain, der nur das schlichte Gemüt spielt und ihm dauernd auf den Geist geht. War es Regine, seine 'Beste Freundin', oder gar Anneliese Angermann, seine Nachbarin, die Langeweile hat, weil ihr Mann dauernd auf Montage ist. Und dann ist da noch die Frage, ob der Zeitzünder überhaupt funktioniert, nach so langer Zeit.

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Ähnliche


Zeitzünder

Mafia-Thriller

von

Hagen van Beeck

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-656-7

MOBI ISBN 978-3-95865-657-4

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

KURZINHALT

Zeitzünder oder: Die vergessene Bombe

Jürgen Schmitt ist Mitglied der Hannoverschen Mafia, in der Hierarchie allerdings ganz weit unten. Ansonsten gibt er den braven Arbeitslosen; und so soll es auch bleiben. Bis eines Tages zweierlei passiert: Eine Frau gerät in sein ansonsten beschauliches Leben und er bekommt einen Mordauftrag! Damit nicht genug! Er erhält Kenntnis vom Standort einer Zeitzünder-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Bevor er seinen ärgsten Feind damit in die Luft sprengen kann, ist noch der Mord zu begehen!

Nur, es stellt sich heraus, dass schon jemand anders seinen Mord begangen hat! War es seine Freundin, die versucht, ihn in der Hierarchie nach oben zu bringen? War es Freddy the Brain, der nur das schlichte Gemüt spielt und ihm dauernd auf den Geist geht. War es Regine, seine 'Beste Freundin', oder gar Anneliese Angermann, seine Nachbarin, die Langeweile hat, weil ihr Mann dauernd auf Montage ist. Und dann ist da noch die Frage, ob der Zeitzünder überhaupt funktioniert, nach so langer Zeit.

ÜBER DEN AUTOR

Hagen van Beeck ist 64 Jahre jung und lebt in Bremen. Ein beruflicher Allrounder dessen Lieblingsautoren die der Münster-Tatorte und die der Columbo-Krimis sind, wegen der intelligenten Drehbücher. „Ja, und dann war ich mal mit einem der Jerry Cotton-Schreiber mächtig einen trinken, was mein bemerkenswertestes Literarisches Erlebnis war!“

Zeitzünder

oder: die vergessene Bombe

Tatort: Lehrte bei Hannover und Umgebung

Mittwoch

Die könnte ein wenig Öl gebrauchen, dachte ich, als ich die Tür vorsichtig aufdrückte und dabei meinen Elektro-Pick aus dem Schloss zog. Ab jetzt lief die Zeit. Die Alarmanlage hatte ihre Meldung mit Sicherheit bereits an den Wachdienst oder die Polizei weitergegeben. Bis die da waren, musste ich wieder raus sein. Mit dem Bild, einem Bild von Paula Modersohn-Becker, ‘Die Brücke im Teufelsmoor’.

Wie immer galt mein erster Blick nach dem Eindringen dem Steuergerät der Alarmanlage, manchmal war noch was zu retten, ein paar Minuten vielleicht, oder sie war noch schnell zu deaktivieren. Das erübrigte sich, denn die Anlage war nicht eingeschaltet. Einen Atemzug lang wunderte ich mich, denn wenn einer seine Eingangshalle voller alter Worpsweder Bilder hängen hat, wird er kaum vergessen, des Nachts die Alarmanlage einzuschalten.

Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Ich ließ den Lichtfinger meiner Stablampe über die Bilder gleiten. Der fand den Modersohn-Becker sofort. Sogar in Augenhöhe neben einem Fritz Mackensen. Ich schaltete die Stablampe aus und hängte sie an meinen Gürtel. Diffuses Mondlicht fiel durch die halb zugezogenen Gardinen in den Raum. Fünf Schritte zum Bild und abhängen. Die perspektivischen Fehler des Bildes sprangen mich an wie eine Speinatter den Eindringling in ihr Revier. Paula hatte schon immer Schwierigkeiten mit der Perspektive. Sie hatte es trotzdem soweit geschafft, dass ihre Bilder einen derartigen Wert darstellten, dass sie sogar geklaut wurden. Egal. Raus aus dem Rahmen, rein in die Tasche. Es passte genau, gute Vorarbeit. Schnell weg. In diesem Moment vernahm ich einen Schrei. Laut und gellend peitschte ein „Nein!“ durch die Halle. Eine Frauenstimme in Todesangst. Egal, raus.

Trotzdem, es könnte mich alles kosten, was ich bislang aufgebaut hatte, und die Freiheit dazu. Zwei Schritte in Richtung Tür. Noch ein Schrei. Ich blieb stehen. Der Schrei war aus einer angrenzenden Tür gekommen. Jetzt drang ein leises Wimmern in die Eingangshalle. Um ein guter Dieb zu sein, muss man auch bereit sein, jemanden zu verletzen, im Notfall sogar zu töten; - aber eine Frau leiden zu lassen, steht auf einem anderen Blatt!

Bisher war alles sehr schnell gegangen, ich lag gut in der Zeit, noch eine knappe Minute um mit dem Bild draußen zu sein. Der Teppich schlug eine Welle, als ich meinen Hacken hinein rammte um schnell zu stoppen und zu der Tür zu flitzen, aus der das Wimmern erklang. Soviel Zeit musste sein, ein paar Sekunden waren noch drin, obwohl Frauen vielfach grundlos schreien und wimmern; - aber diesmal nicht. Auf einer jungen Frau lag ein Mann und bewegte konvulsivisch seinen Hintern. Der beträchtliche Hintern eines gewichtigen Mannes. Die Frau sah mich, und ihr Blick war ein einziger Hilfeschrei.

Normalerweise sind Einbrecher maskiert, ich war es diesmal nicht. Ich hieb dem Mann sicherheitshalber meine Stablampe auf den Kopf. Genau auf die Stelle und mit einer Intensität, die nicht den Schädelknochen durchbricht, aber ihm das Licht ausschaltet. Der Mann kippte von der Frau ohne mich gesehen zu haben.

Ich wandte mich zum Gehen.

Die Frau sprang auf.

„Moment mal!“

Sie warf sich ein Kleid über und ergriff eine Reisetasche. Total kaltblütig, gelassen, doch etwas wackelig auf den Beinen wie nach einer Fahrt mit der Achterbahn. Ich war noch nicht an der Haustür, da hatte sie mich bereits eingeholt.

„Nehmen Sie mich mit. Bitte!“

„Wie stellen Sie sich das vor?“ Schnell zum Auto, schnell weg, mit dem Bild. So war es geplant, aber jetzt war die Frau da.

„Ich komme einfach mit Ihnen“, sagte sie absolut gelassen, „zur Polizei will ich nicht, in ein Hotel kann ich nicht. Was bleibt, ist mit Ihnen zu gehen.“ Der korpulente Mann konnte jeden Moment erwachen, eventuell würde er mich dann sehen und womöglich wiedererkennen, möglicherweise hatten die Nachbarn was gemerkt, vielleicht war die Polizei auch schon unterwegs. „Sie haben doch soeben ein Bild geklaut! Ich mache das Bild kaputt, wenn Sie mich nicht mitnehmen!“ Sie hatte meine Tasche schon in der Hand und deutete an, mit dem Knie hinein zu stoßen.

„Na gut.“ Ich gab nach. Ich hatte schon viel zu oft nachgegeben, zuletzt bei meiner Scheidung. Schnell zum Auto, einsteigen, ihre Tasche, meine Tasche auf die Rückbank und starten. Alles war ruhig. Keinem anderen Auto begegneten wir bis zur Schnellstraße Richtung Hannover.

Die Frau neben mir bat mich um eine Zigarette.

„Ich habe nur ohne Filter.“

„Egal.“

Knapp unter der vorgeschriebenen Geschwindigkeit rollten wir durch die Nacht und rauchten. Eigentlich passiert einem Mann so was nur einmal im Leben - wenn überhaupt - dass eine unbekannte, schöne junge Frau einfach ohne Fragen zu stellen und ohne Diskussion einfach mitkommt. Schwarze Haare hatte sie, kurz geschnitten und eine schlanke, jedoch kräftige Figur.

„Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte sie und schnipste die Kippe aus dem Fenster, „zu Ihnen?“

Wieso formulierte sie bereits im ‘wir’?

„Nein, ich muss erst das Bild abliefern. Kunstdiebstahl ist momentan mein Job.“

„Ah, ja.“ Sie nahm es mit einer Gelassenheit, als hätte ich ihr gesagt, ich sei Beamter im mittleren Dienst, KFZ Zulassungsstelle, total ereignisreich. „Durch diese Scheißvergewaltigung lasse ich mir mein Leben nicht durcheinander bringen“, sagte sie gegen die Frontscheibe. „Und ich werde nicht durch diesen verdammten Schlauch von Verhören gehen! Meine Freundin hat das mal mitgemacht, die war anschließend reif für den Psychiater! Das mache ich nicht! Ich fange morgen beim Fitnessstudio ‘Corvus’ an! Und das tue ich auch, und wenn die Welt zusammenbricht! Ich war lange genug arbeitslos!“ Blaue Augen hatte sie, und sie war schätzungsweise ein Vierteljahrhundert jünger als ich.

„Ich werde Sie nicht dran hindern, im Gegenteil!“ Wir schwiegen uns an, bis ich mein Ziel erreicht hatte, der Kiosk der ‘Fritten-Frieda’.

‘Fritten-Frieda’ betreibt zusammen mit ihrem Mann, dem ‘Macho-Mike’ einen Imbiss mit Kiosk. Wer allerdings glaubt, dass die beiden ihren Lebensunterhalt aus dem Imbiss ziehen, der irrt. Die beiden spielen nicht unwesentlich in der Führungsebene der Familie mit, der ich mittlerweile angehörte; - allerdings ganz unten in der Hierarchie.

„Was? Hier? Was wollen Sie denn hier?“

„Das Bild loswerden! - Sie bleiben bitte sitzen und rühren sich nicht, bis ich wieder komme! - Sollten Sie zwischenzeitlich irgendwelche Zicken machen, mache ich ihnen derartige Probleme, dass Sie eine Viertelstunde nachdem Sie bei diesem Corvus angefangen haben, wieder draußen sind! - Ehrlich!“ Sie knurrte nur. Seltsam, dass aus solch einem schönen, jungen Körper ein derart hässliches, tiefes Knurren dringen konnte. Egal. Ich packte das Bild und ging rein.

‘Fritten-Frieda’ zeigte sich hoch erfreut, als ich entlang kam, erhob sich von dem einzigen Tisch, von dem man die gesamte Gaststube des Imbisses überblicken kann, entschuldigte sich bei den beiden Damen, mit denen sie zusammengesessen hatte, wirbelte ihre Perlenkette um die Finger, zog ihr kleines Schwarzes glatt und stöckelte in ihren Theaterschuhen gekonnt auf mich zu.

‘Fritten-Frieda’ ist gelernte Diätköchin und schlank wie eine Gottesanbeterin; - aber nicht auf Grund ihrer Kochkunst, sondern weil sie sich turnusmäßig irgendwo in der Schweiz Fett absaugen lässt. Sie ist dann vierzehn Tage nicht da, sozusagen im ‘Urlaub’. In dieser Zeit lässt ihr Mann die Sau raus, was bei Friedas Heimkehr zu dezenten Komplikationen führt, weil weder Imbiss noch Kiosk während ihrer Abwesenheit nennenswerten Umsatz gemacht haben.

„Hallo Jürgen. Schön dass du mal wieder da bist!“ Wie üblich tat sie so, als wäre ich unversehens reingeschneit, weil ich zufällig in der Gegend war und sich ein dezentes Hungergefühl in mir breit gemacht hatte.

„Ja, ich hatte mal wieder außerordentlichen Appetit auf deine wundervollen Hamburger und maßlose Sehnsucht nach dir.“

„Charmeur!“, hauchte die ‘Fritten-Frieda’ und reckte mir ihre Hand entgegen. Ich verabreichte ihr einen formvollendeten Handkuss, jedoch vermisste ich das leichte Erröten der feinen Dame bei diesen Ehrerbietungen.

„Mike, mach unserem Jürgen doch mal eben einen Hamburger Spezial, und dass du mir nicht wieder die Gurke vergisst!“, rief sie ihrem Mann stattdessen zu.

‘Macho-Mike’ nuschelte etwas wie eine Zustimmung und fuhr mit seiner Tätigkeit fort. Diese sah aus wie Salatschneiden, war aber nicht eindeutig festzustellen, weil der ‘Macho-Mike’ ein extrem breites Kreuz hat, etwa so wie Heckpartie eines Omnibusses, und dieses drehte er mir zu. Die Jacke seines Nadelstreifenanzugs, den er stets trägt, auch wenn er Bierkästen aus dem Lager holt, hatte er ausnahmsweise abgelegt und an die Abzugshaube der Friteuse gehängt. Die Bestellung delegierte er an die kleine Nicole.

Nicole gehört irgendwie zum Inventar, sie heißt ’Baum’ mit Nachnahmen, deshalb wird sie allgemein Bäumchen genannt. Bäumchen hatte sich wie üblich an die Wand gelehnt und ihre Fingernägel betrachtet. Eine hübsche Schürze trug sie, mit der Aufschrift:

Bei Frieda - Kiosk - Imbiss - Toto Lotto

Inh.: Friederike Stemme.

‘Macho-Mike’ indessen schmiss seine Krawatte über die linke Schulter und murmelte mir über die rechte eine Begrüßung zu. ‘Fritten-Frieda’ nahm mich kurz in den Arm und führte mich in ihr Büro. War sehr exklusiv eingerichtet, ihr Refugium, hochwertiger Bauhausstil, allein der Schreibtisch dürfte um die fünftausend Euro gekostet haben.

Im Gegensatz zu ihrem Imbiss; - der wirkte so, als hätte ihn jemand kurz nach dem Krieg in jenem Motelstil eingerichtet, den schlichte Gemüter für feudal halten. Die Zeiten mochten damals etwas anderes gewesen sein, böse Zungen behaupten, ‘Fritten-Frieda’ sei eine uneheliche Tochter Heinz Ehrhards, oder Ludwig Ehrhards; - man weiß es nicht, aber irgendetwas in eine dieser Richtungen schien gelaufen zu sein. Abgenutztes Mobiliar wird seither aus weniger abgenutzten Sperrmüllbeständen turnusmäßig ausgetauscht, was die Lokalität mit einer bizarren Mischung interessanter Stilrichtungen ausstattet.

„Nimm bitte Platz“, sagte ‘Fritten-Frieda’ mit mildem Lächeln und fuhr, nachdem ich mich in die Eckgarnitur gesetzt und sie die Tür geschlossen hatte, in geschäftsmäßigem Ton fort:

„Gab es Komplikationen mit dem Modersohn-Becker?“

„Nein.“ Ich reichte ihr die Tasche mit dem Bild. ‘Fritten-Frieda’ nahm es heraus und betrachtete es ausgiebig.

„Das ist ja grauenhaft“, murmelte sie, „bist du sicher, dass das echt ist?“

„Wie der Tod!“

„Hm. Naja, soll mir egal sein, Hauptsache, es ist Kunst.“ ‘Fritten-Frieda’ öffnete eine kleine Sektflasche mit routinierter Handbewegung und schenkte sich ein. Bäumchen brachte den Hamburger. In Begleitung einer Cola nahm ich ihn mit Genuss zu mir, während wir über Kunst fachsimpelten. Ich war nicht so recht bei der Sache. Als ich das Besteck zur Seite legte, schob ‘Fritten-Frieda’ mir einen Umschlag rüber.

„Der Rest nach Prüfung, wie üblich.“

„Is´ klar. - Danke schön.“

„Sag’ mal, Jürgen, würdest du auch mal größere Sachen durchführen?“ ’Fritten-Frieda’ nahm einen Schluck Sekt. Ich dachte an richtige Kunst, ein richtiges Bild, einen alten Holländer oder so, es musste ja nicht gleich ein Jan van der Heyden sein, oder eines der genialen Werke von Dante Gabriel Rosetti, einem meiner Lieblingsmaler. „Vielleicht hätte ich demnächst was für dich. Bringt auch mehr ein“, fuhr sie fort.

„Natürlich gerne.“ Ich steckte den Umschlag ein und verabschiedete mich. Die junge Frau saß noch in meinem Auto und wirkte erleichtert, als ich einstieg.

„Und nun?“

„Fahren wir zu mir nachhause. Ich hoffe, Sie haben eine Zahnbürste mit.“

„Klar. Ich habe noch gar nicht ausgepackt. Bin gerade erst angekommen und wollte mich ein bisschen hinlegen, schließlich will ich morgen meine neue Arbeit anfangen. War gerade eingeschlafen, da ist dieser Mistkerl über mich hergefallen. Er hat mich auf dem linken Fuß erwischt. Scheiße! Sonst hätte ich den so was von fertig gemacht!“ Ich fragte nicht weiter, ich wunderte mich nur, dass sie die Vergewaltigung so locker wegsteckte. „Ich kann mich jetzt durch nichts blockieren lassen“, fuhr sie fort, als hätte sie meine Gedanken erraten, „ich darf auch nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen! Mist, ich habe meinen Wecker stehen lassen.“

„Ich habe einen.“

Wieder schwiegen wir. Ich bot ihr eine Zigarette an, sie lehnte ab.

„Ich rauche nicht. Das vorhin war nur eine Ausnahme.“

Ich rauchte alleine, bis ich mein Auto auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem ich eine kleine Wohnung bewohnte, abgestellt hatte. Ich lud mir ihre Reisetasche auf die Schulter und wir gingen dergestalt nach oben, dass der unvoreingenommene Beobachter annehmen würde, sie sei meine Cousine, Schwägerin, Schwester oder so was in der Art, die mich mal für ein paar Tage besuchen wollte.

In meiner Behausung angekommen, wollte sie erst mal duschen, alles abspülen. Das konnte ich verstehen, nur zu gut. Während das Wasser rauschte, bezog ich mein Bett frisch und richtete mir meine Bettstatt auf dem Sofa. Noch schnell ein paar Schnittchen, zwei Bier und eine Kerze auf den Tisch. Ich hatte das Feuerzeug gerade weggesteckt, da kam sie rein, mit einem Handtuch umwickelt.

„Oh toll! Sogar Honig!“

Ohne Umschweife setzte sie sich an den Tisch und griff zu.

„Naja, ist keine sonderlich gelungene Kombination, Honigbrote und Bier, aber ich war nicht auf Damenbesuch eingerichtet...“

„Macht nix. Ich liebe Honig, ganz besonders den sogenannten Waldhonig aus Brombeerblüten und Nadelbäumen. Wissen Sie, der hat so einen ganz besonderen, malzigen Geschmack. Ach, ich liebe Honig. Honig ist sehr gesund, weil sehr mineralienhaltig.“

„Das ist ja ganz toll, was sie mir über Honig erzählen, aber ich habe nur ganz normalen Honig. Vor einigen Wochen habe ich mal ein Glas Frühstückshonig in den Einkaufswagen gelegt, weil ich mal wieder Bock auf was Süßes hatte. Behalten sie das bitte für sich, weil ’Süßfrühstücker’ Weicheier sind.“

„Oh, sind sie ein Macho?“

„Ja. Ich bin bekennender Macho! Und dazu stehe ich.“

„Na, ja.“ Ein herausforderndes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ein Honigschnittchen auf ihren Teller legte. Wir aßen schweigend, irgendwann würde sie sich wie eine normale Frau verhalten und mir die ganze Geschichte erzählen, meine Meinung hören wollen und mich in Diskussionen verstricken. Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, eine völlig unbekannte Frau von einer Einbruchstour mitzubringen und ihr zudem noch meinen Auftraggeber zu verraten?

Entweder ich war mit meinem momentanen Job absolut unterfordert und damit zu leichtsinnig geworden, oder das Leben meinte es ausnahmsweise mal gut mit mir. Oder konnte es sein, dass ich im Begriff war, in eine bereits gestellte Falle zu tappen. Fragte sich nur, wer diese gestellt hatte. Die Familie?

Das konnte ich mir nicht vorstellen, denn dazu hätte ein angesehener Lehrter Bürger mit einer Anzeige wegen Vergewaltigung rechnen müssen, zudem hätte er einen Modersohn-Becker aufwenden müssen; - zu viel Investition.

Ich würde es herausbringen.

Langsam begann mein Leben wieder interessant zu werden.

Donnerstag

Eine weitere Variante schien sich zu bestätigen, nämlich die der selbständigen Heiratsschwindlerin, als sie mich am nächsten Morgen bat, sie zum Fitnessstudio zu fahren, aber vorher bei der Volksbank einen Boxenstop einzulegen.

Sie kam mit hängenden Schultern wieder heraus, fluchte fürchterlich über einen gewissen Michael und bat mich, ihr etwas Geld zu leihen, ihr Freund, dieser Scheißkerl, hatte ihr Konto abgeräumt. Verdammtes online-banking, wie, zur Hölle, war er an ihre verfluchte PIN gelangt? Ich zuckte die Achseln und drückte ihr zwei Fünfziger in die Hand. Ihr erleichtertes Ausatmen war ehrlich.

Als sie mir, nachdem wir das Fitnessstudio erreicht hatten, noch einen flüchtigen Kuss wie der, den man seinem langjährigen Lebensgefährten zum Abschied gibt, gut sichtbar aufdrückte, und mich bat, sie um zehn wieder abzuholen, war ich vollends irritiert. Egal, der Alltag riss mich zu sich. Ich fuhr zu Erich Tönjes. Eine gute Zeit, so gegen Mittag. Herrn Tönjes traf ich hinter seinem Haus an einem Tisch unter einem Baum sitzend ein frisch geschlachtetes Huhn ausnehmend an.

„Guten Tag, Herr Tönjes.“ Ich nahm unaufgefordert auf einem der Gartenstühle ihm gegenüber Platz. Es war eigentlich recht idyllisch bei Herrn Tönjes. Er hatte ein altes Bauernhaus geerbt, in das er sechs Wohnungen integriert hatte. Eine bewohnte er selber, von den anderen lebte er, zusammen mit seinen Hühnern.

„Guten Tag, Herr Schmitt. Möchten Sie ein Wasser? Es ist warm heute.“

„Nein, danke, sehr aufmerksam, aber ich möchte Sie mal eben ganz taktvoll an die dreihundert Euro erinnern, die Sie mir schulden.“

„Wollen Sie ein Bier?“

„Danke, es ist noch zu früh. Kein Bier vor Vier. - Aber ich möchte auf die dreihundert Euro zurückkommen, die Sie mir schulden.“

„Herr Schmitt, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich erst einen Mieter finden muss, der auch das Deponat hinterlegt. Dann kann ich Sie natürlich sofort bezahlen.“ Herr Tönjes griff in das Huhn und holte mit verklärtem Gesichtsausdruck etwas Scheußliches heraus. Schien ihm irgendwie Lustgefühle zu bereiten, aber in meinem Magen bewegte sich etwas, obwohl ich halben Hähnchen, recht schön knusperig, oder Safranhähnchen, gut durchgegart, nicht abgeneigt bin.

„Davon war aber nicht die Rede, als ich Ihnen eine der Wohnungen in Ihrem Haus neu und absolut VDE-gemäß installiert habe. Einschließlich Kleinmaterial, Kabel und Steckdosen sind Sie mit meiner Arbeit und bei dem Preis mit Schokolade begossen!“ Herr Tönjes jammerte noch ein Weilchen rum, von wegen schlechte Zeiten für Vermieter, überhaupt keine Rechte mehr, und da hätten wir Arbeitslose es doch weitaus besser, Stütze und hin und wieder etwas Schwarzarbeit... mein Gott!

Und dann lamentierte Herr Tönjes noch ein Weilchen herum, dass ihm dieser Blödmann sein Schnittlauchbeet oder was auch immer für eine Gemüseanpflanzung zertrampelt hätte, nur weil er ihm netterweise erlaubt hatte, dieses verdammte Zeugs von seinem Äppelkahn, den er verkaufen wollte, bei ihm unterzustellen; - aber damit hätte ich ja keine Last, den ganzen Tag auf den Sofa sitzen und ansonsten mal ein paar Strippen ziehen und dafür ein Heidengeld verlangen... irgendwie sah ich keinen Zusammenhang. Wenigstens gab er mir zehn Eier mit, von Hühnern aus artgerechter Haltung, die ihr ’angeborenes Scharren’ noch nicht verlernt hatten. War mir aus der Situation heraus absolut egal, die Nummer mit seinen blöden Hühnern.

Um noch mal routinemäßig beim Jobcenter rein zu schauen, war es etwas zu spät. Statt dessen suchte ich einige Supermärkte auf und hatte anschließend neben der üblichen Besorgung für ein Pärchen sechs verschiedene Sorten Honig erworben, Edelkastanienhonig, argentinischer Pampashonig, Eukalyptushonig, Kleeblütenhonig, Yukatanhonig aus Mexiko und zartcremigen Sonnenblumenhonig, sowie die Zutaten für Safranhähnchen und sogar einen Träger Mineralwasser. Ich lief drei Mal rauf und runter, bevor ich die Einkäufe in der Küche und was in diesen hinein musste, im Kühlschrank hatte. Als ich die Einkaufszettel noch mal kurz überflog, machte sich das Gefühl in mir breit, einen Sportwagen finanziert zu haben; - zumindest einen kleinen. Wegen einer fremden Frau, deren Namen ich noch nicht einmal wusste, war ich dabei, mein Leben umzustellen, wie ein Weichei Mineralwasser und Unmengen an Honig zu kaufen. Jeder brave Arbeitslose hätte in meiner Situation - ich hatte für den Bilderklau gerade etwas Geld bekommen – einen Kasten billiges Bier gekauft. Stattdessen hatte ich fruchtigen, trockenen Rotwein erworben, der zu Safranhähnchen passen sollte. Wahrscheinlich würde ich um zehn vergeblich vor dem Fitnessstudio warten, und die Blöße, rein zu gehen und zu fragen, würde ich mir bestimmt nicht geben. Nach wem hätte ich auch fragen sollen? Ein muskulöser Typ hätte mir sicher breit grinsend die Auskunft erteilt, dass am heutigen Tag niemand neu angefangen hatte. Egal!

Ich bereitete das Safranhähnchen soweit vor, dass es nur weniger Handgriffe bedurfte, zu servieren, deckte den Tisch mit Kerzen, und öffnete eine Flasche, dass der Wein in ihr atmen konnte. Pünktlich um zehn stand ich vor dem Studio. Einige abgekämpfte Gestalten mit dicken Taschen kamen raus und dann begannen die Lichter aus zu gehen. Es dauerte noch eine Weile, aber kurz bevor das letzte Licht erlosch, kam sie tatsächlich. Sie stieg ein, umarmte mich und drückte mir wieder die Art von Kuss auf, den man einem langjährigen Lebensgefährten gibt. Ich erwiderte den Kuss, drehte den Zündschlüssel und fuhr mit ihr leichten Herzens nach Hause. Einen Atemzug lang stand sie reglos in der Tür, als sie den Tisch mit den Kerzen, den polierten Gläsern, den sorgsam gefalteten Servietten und den blanken Tellern sah.

„Mensch, Jürgen!“ Sie nahm mich in den Arm mit einer ‘Ich mag dich’ Umarmung und verschwand im Bad. Wieder kam sie, als ich aufgetischt und die Kerzen entzündet hatte, auf den Punkt genau, als hätte ein kundiger Dramaturg Regie geführt. Sie trug sogar das ‘Kleine Schwarze mit Perlenkette’. Ich rückte ihr den Stuhl zurecht, und sie nahm es entgegen wie eine Dame. Mit Frauen isst man; - mit Damen speist Mann.

Wir speisten, obwohl das Hähnchen nicht ganz durch, der Reis eine Spur zu klumpig war, und der Wein hielt nicht das, was das Etikett versprochen hatte. Wir waren beim Espresso, als sie mir verriet, wie sie meinen Namen erfahren hatte: „Ich habe mir Straße und Hausnummer gemerkt, und unter deiner Klingel neben der Haustür stand dein Name. In der Mittagspause habe ich mal kurz ins Telefonbuch geguckt.“ Sie lächelte und hob ihr Glas. „Prost.“

„Sehr zum Wohle.“

Unsere Gläser klangen wohl, als sie aneinander stießen.

„Ich heiße Jennifer“, sagte sie, „Jennifer Gerlach.“

Der Vorname traf mich wie ein Blitzstrahl, aber ich schaffte es, unbewegten Gesichts einen Schluck Wein zu trinken. Schnell etwas Espresso hinterher um die Schatten der Vergangenheit zu überspringen.

„Jürgen“, sagte ich nur, „Jürgen Schmitt.“

Sie küsste mich mit beherrschtem Zungeneinsatz.

Freitag

Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, welche Blume ich Jennifer am Morgen auf den Frühstückstisch stellte. Eine Rose war es nicht, aber die Blume war wunderschön rot. Sie machte sich gut neben den Honiggläsern, die ich wie die Säulen des Kolosseums aufgestellt hatte.

Kaffee, frische Brötchen, Aufschnitt, richtige Butter. Vor Jennifers Erwachen war ich los gesaust, - Bäcker, Schlachter, Blumenladen. Bis vorgestern hatte ich mir nur Margarine gegönnt und ebenso schnell wie lieblos gegen Mittag in der Küche was gegessen. Es war lange her, dass ich richtig gefrühstückt hatte, noch dazu mit einer Dame.

„Mensch, Jürgen!“ Eine kleine Träne rollte über ihre linke Wange, als sie die verschiedenen Honigsorten verkostete, wie normale Menschen edle Tropfen während einer Weinprobe. „Kann ich ein Weilchen bei dir bleiben, bis ich mich finanziell etwas erholt habe?“, fragte sie schließlich, „ich zahle dir alles zurück, - ehrlich.“

„Natürlich, gerne. Wenn du es mit mir altem Knacker aushältst. Ich bin gerade fünfzig geworden.“

„Dann bist du einundzwanzig Jahre älter als ich. Am übernächsten Sonntag werde ich neunundzwanzig. Egal. Ich habe von Gleichaltrigen sowieso die Nase voll. - Ich mag’s gar nicht fragen, aber können wir am Sonntag meine Sachen aus Altenau holen? Ich hab' schon alles in drei Umzugskartons gepackt. Die Möbel kann der Scheißkerl behalten, meine Bücher habe ich zu meiner Mutter gebracht. - Ich wollte hier ein ganz neues Leben anfangen.“

„Kein Problem.“

„Ich fahre dann mit meinem Motorrad zurück...“

„Du hast ein Motorrad?“

„Klar. Eine Suzuki SV 650S. Aber irgendwann werde ich mal eine Harley haben. - Würde übrigens auch gut zu dir passen, eine Harley. Du bist der Typ dafür. Eine ’Cross Bones’ würde gut zu dir passen ... nein, warte mal, das ist eine Softtail. Softtails sind was für Weicheier. Eine ’Night Rod Special’ wäre das Bike für dich! Wir könnten gemeinsam fahren, auf Treffen, da ist richtig was los! Irgendwie wünsche ich mir, mit dir zu fahren, jeder sein Bike! - Eines Tages werde ich eine ‘Screamin’ Eagle’ haben, eine Harley mit Twin Cam-Motor und Dyna Glide - Rahmen ... einen Race Glide eben! - Das Harley Meeting auf Fehman werden wir mitmachen, und in Pullman City die ‘Stampede’. Eine echt coole Wild-West-Location. - Oder zumindest die ‘Ibiza Bike Week! - Und die Days of Thunder in Kössen. - Und die internationale Harley-Davidson Biker Mania in Saalbach-Hinterglemm! ... Daytona Bike Week ... Myrtle Beach Bike Week ...“

„Ach, Jennifer ...“

„Vielleicht schaffen wir ja nächstes Jahr die Black Hills Rally & Races in Sturgis! Mensch Jürgen, da bebt der Asphalt!“

„Das ist in Amerika!“

„Klar ist das in Amerika! Das nächste Mal möchte ich gerne bei der Orange Country Choppers reinschauen. Das letzte Mal habe ich Paul Yaffe, Indian Larry und Fred Kodlin kennen gelernt. Leider ist das schon lange her.“

„Wer sind denn diese Herren?“

„Begnadete Bike-Builder. - So was kannst du auch; - auf deiner Szene! - Leider ist Indian Larry im gleichen Jahr tödlich verunglückt. - Vielleicht kommt ja mal die Chance für dich, in der Hierarchie Deiner Bande, oder was das auch immer ist, aufzusteigen! Ganz oder gar nicht! Nur so kommen wir an richtige Bikes!“

„Moment mal eben! Was meinst du mit ’Deiner Bande’?“

„Naja, als ich im Auto auf dich gewartet habe, habe ich ein wenig nachgedacht. Irgendetwas ist da nicht ganz sauber. Es ist offensichtlich, dass du ein krummes Ding gedreht hast! Und du hast das bestimmt nicht zum ersten Mal getan, dazu bist du viel zu professionell vorgegangen. - Aber wiederum nicht so professionell, dass du mich hast hängen lassen! Aber keine Angst, ich werde dich nicht verraten, wenn du mir in der ersten Zeit über die Runden hilfst.“

„Hm!“

„Jürgen, das ist doch mal etwas anderes, als ein langweiliger ’nine to five Job’. Ich finde das aufregend.“

„Ach, Jennifer, du stellst dir das alles zu romantisch vor...“ Ich konnte und wollte ihr aus der Situation heraus nicht erklären, dass es nicht mein Ansinnen war, in der Familie aufzusteigen, um ein wunderbares Motorrad zu fahren. Trotzdem konnte ich sie verstehen. Eine lockere Frühstücksunterhaltung. Anschließend ging sie zur Bank, die Sache mit ihrem Konto regeln, und dann brachte ich sie zum Studio. Ich war kaum zuhause, da rief ’Freddy the Brain’ an, von wegen sein freier Tag, und wir wollten doch schon lange mal wieder einen trinken gehen.

„Du, Freddy, ich kann jetzt nicht. Einem Kumpel von mir ist die Frau weg und hat alle Möbel mit genommen...“

„Das ist ja furchtbar! Du, da komme ich auch hin! Da sollten wir mal tüchtig einen trinken, damit er seinen Kummer schnell vergisst!“

„Kummer? Wer spricht denn von Kummer? Der Bursche ist ausgesprochen happy! Weißt du, der hat die Autorennbahn aus seiner Jugend im Wohnzimmer aufgebaut. Leider hat er nicht genügend Schienen oder wie das heißt, da hat er mit der Flex zwei fünf Meter lange Rillen ins Laminat gefräst. Jetzt müssen wir die beiden Stromleiter noch irgendwie daneben kriegen. Ich bin gerade dabei, zwanzig Meter Kupferdraht nullfünfundsiebzig platt zu klopfen. Stell dir mal vor, eine fünf Meter lange Zielgerade für die Slot cars! Das ist doch der Hammer!“

„Aber man kann doch nicht einfach im Wohnzimmer mit der Flex Rillen ins Laminat fräsen!“

„Wann hast du schon mal die Gelegenheit, ohne Damenbehinderung deine Autorennbahn im Wohnzimmer aufzubauen! Da spielen ein paar Rillen im Laminat keine Rolle. Freddy, das ist ein Freundschaftsdienst! Ich habe versprochen, ihm zu helfen! Richtige Männer halten ihr Wort! - Aber wir trinken noch mal einen zusammen.“

„Du, ich kann dir auch mal wieder helfen, deine Wohnung sauber zu machen. Wir haben ganz tolle Putzmittel gekriegt, ich habe mir mal eine Flasche mitgenommen, also, damit kriegst du auch fest eingefressenes Fett weg...“

„Ja, Freddy, das machen wir! Aber jetzt muss ich noch ein paar Meter nullfünfundsiebzig platt klopfen!“ War nicht so einfach, den guten Mann abzuwimmeln.

Den Tag verbrachte ich damit, einige Kassetten für die Fahrt in den Harz aufzunehmen. Ich wühlte mich durch meine Schallplatten und CDs. Sinnliche Klaviermusik schien mir geeignet für eine Lustfahrt durch landschaftlich reizvolle Gegend. Dave Brubeck und Duke Ellington schwerpunktmäßig, etwas Gitarre von Duane Eddy und Peter Green, gewürzt mit Blech von Miles Davis und Chet Baker verfeinert mit dem Saxophone von Johnny Hodges, eine Prise André Rieu; - zwei Kassetten wie ein Galadiner. Mein alter Golf hatte noch kein CD-Laufwerk. Als die Sache mit der Abwrackprämie gelaufen war, hätte ich ihn recyceln können; - aber woher das Geld für einen Neuen nehmen?

Die Auftragslage in meiner Branche war zu dem Zeitpunkt ausgesprochen desolat, zudem wäre es dumm aufgefallen, wenn ich als Arbeitssuchender plötzlich mit einem neuen Auto beim Jobcenter vorgefahren wäre.

Um zehn holte ich Jennifer wieder ab, mir kam es vor, als sie es nie anders gewesen. Ich hatte Penne vorbereitet, mit Parmaschinken, kleinen Tomaten und frischem Basilikum.

Beim Essen erzählte sie von ihrer Arbeit, wie sie übergewichtige Menschen in Aerobic, GoGo Feeling, Spinning und Wassergymnastik trainiert hatte. Wassergymnastik machte sie am liebsten, weil kaum Männer daran teilnahmen. Das Vorurteil, dass ‘richtige Männer’ keine Wassergymnastik machen, schien sich hartnäckig zu halten. Mir wäre es auch nicht im Traum eingefallen, unter der Anleitung einer Frau im Wasser rumzuplatschen. Wir lachten gemeinsam.

Ein Hauch von Glück begann sich auszubreiten.

Sonnabend

Nachdem ich Jennifer ins Studio gebracht hatte, setzte ich mich an meinen Computer und versuchte an dem Roman, an dem ich seit Beginn meiner Arbeitslosigkeit gearbeitet hatte, weiter zu machen, aber es lief nicht, ich musste immer an Jennifer denken. Sie war so anders, als die Frauen in meinem Roman und die Frauen, die ich bisher kennen gelernt hatte.

Egal. Ich fuhr den Computer wieder runter und nach Hannover. Dort erwarb ich Kaffeebecher mit unseren Namen. Meinen schlicht und funktional, auf Jennifers Becher war ihr Name mit Rosen umkränzt. Ich fand es in diesem Moment zwar kitschig, aber schön kitschig. Bis vor drei Tagen wäre mir solch eine Handlungsweise nicht im Traum eingefallen. Die Verkäuferin lächelte milde, als sie mir die Becher einwickelte.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Wäsche zu waschen, und Staub zu saugen. Jennifer wollte, nachdem ich sie abgeholt hatte, irgendwo hin, einfach nur irgendwo einen Drink nehmen, um abzuschalten, von den Männern, die von ihr begierig Anweisungen entgegengenommen hatten.

Sie war zunächst irritiert, als ich ihr sagte, dass ich bereits einen Nudel-Hack-Auflauf vorbereitet und in den Herd geschoben hatte. Ich hatte es derart getimt, dass er fertig sein würde, wenn wir Zuhause einträfen.

„Du wirst mich jetzt bestimmt für spießig halten“, sagte ich, „aber großartig weggehen war noch nie mein Ding, ich konnte es mir auch nicht leisten. Ich habe einfach Spaß daran, für uns zu kochen, mit dir zu speisen und den Tag bei einem Glas Wein ausklingen zu lassen. Wir können uns gezielt einen Fernsehfilm aussuchen, ihn von Anfang bis Ende anschauen und dann darüber reden, uns unterhalten, kommunizieren... oder ein Buch lesen, uns über die schön gesetzten Worte freuen, den Stil, die Handlung, und jeden Tag eine Kleinigkeit dazu zu lernen.“

Beim Essen erklärte ich Jennifer, warum ich meine Kunstbücher, die Schallplatten und CDs im Schrank aufbewahrte, während einige Bücher - die Pflichtbände, die mir ein Buchclub in früheren und besseren Zeiten zugesandt hatte - gut sichtbar rum standen, und warum ich immer noch diese absolut scheußliche Schrankwand im Wohnzimmer stehen hatte. Jennifer hätte es gerne etwas kultivierter und zeitgemäßer gehabt.

„Tja, das geht mir genau so. Ich liebe diesen englischen Landhausstil.“

„Oh, ja!“ Jennifer nickte nachdenklich, „da haben wir den gleichen Geschmack.“

„Vielleicht kommen wir ja mal dahin. Als letztes stirbt die Hoffnung. Ich hätte die Schrankwand auch längst rausgeschmissen, aber so was macht mein Image kaputt. Offiziell bin ich arbeitslos und ein - sagen wir mal - ein eher ‘schlichtes Gemüt’. Wenn jetzt im Zusammenhang von irgendwelchen Kunstdiebstählen, die ich hin und wieder zu tun genötigt bin, einer von der Kripo hier reinschaut, und er findet Fachbücher über Kunst, fängt er bestimmt an zu grübeln.“

„Meinst du?“

„Klar. Hat Vorteile, gleich im Vorfeld auszuscheiden, zumindest in diesem Fall. - Zudem gibt es drei weitere wichtige Regeln: Kein Koks oder so was ähnliches, keine Klunker und keine Luxuskarossen. - Das bezieht sich leider auch auf Motorräder. Tut mir leid, aber es ist halt so.“ Jennifer presste die Lippen aufeinander und nickte.

„Es wird sich ändern! Ist versprochen! Ich erkläre es dir später. - Aber nun lass’ uns weiter essen. Ich habe lange an den Vorbereitungen gearbeitet.“ Nach dem Essen vergruben wir uns lange und andächtig in ein Buch über antike Kunst.

„Ich habe nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gibt... ich meine, dass die Sehnsucht nach einem Dasein ohne irdische Mühe und Qual in ewiger Schönheit, wie es nach dem Glauben der Alten den ‘leichtlebigen Göttern’ beschieden war, aus einem Marmorblock heraus gearbeitet werden kann. Ich finde das faszinierend...“ Sie meinte die Aphrodite im Schoß ihrer Gefährtin Peitho, eine Skulptur, aus dem Parthenon. Leider hatten irgendwelche Banausen dereinst Köpfe und Arme abgeschlagen, trotzdem verströmten allein die Torsen eine Ruhe, die der inneren Ruhe der dargestellten Göttinnen entsprang.

„Meinst du, Aphrodite war lesbisch?“, fragte Jennifer mit in sich gekehrtem Gesichtsausdruck.

„Möglich... aber die Damen und Herren Götter hatten eine etwas andere Grundeinstellung dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sich darum groß einen Kopf gemacht haben...“ Jennifer schmunzelte.

„Du“, sagte sie, „dein Bett ist doch eigentlich schön breit. Ich kann es gar nicht mit ansehen, dass du wegen mir immer auf dem Sofa schläfst. Wollen wir uns nicht dein Bett teilen?“

„Noch nicht. Möglicherweise wird es etwas zerstören zwischen uns... möglicherweise... Du wirst enttäuscht sein, und irgendwann wirst du weggehen... ich will nicht, dass du mich verlässt.“

„So schnell wirst du mich nicht wieder los! - Denk’ dran, wir wollen morgen mein Bike und meine Sachen holen.“

Sie zog zur Nacht mein Hemd an,

das Hemd, das ich den Tag über getragen hatte.

Sonntag

Es war lange her, dass ich aus Freude am Fahren gefahren war. Jennifer und ich nahmen die Tour nach Altenau als Lustfahrt. Zunächst war sie etwas irritiert, als André Rieu ’Auf Ferienreisen’ spielte, aber bald ließ sie sich in die Musik fallen.

„Früher habe ich das nie so wahrgenommen“, sagte sie ein Stück später, „die Landschaft, die Musik...“

„Wir hören gerade den ’Royal Garden Blues’“, sagte ich, „das hat was. Entspannter kann man den Blues nicht spielen, als Duke Ellington und Johnny Hodges bei dieser Aufnahme.“

Reizvolle Gegend mit kurvigen Straßen, die Aufmerksamkeit erforderten, in einer Geschwindigkeit gefahren, die hin und wieder Seitenblicke auf die Gefilde um uns her zuließen, ließ uns die Realität vergessen. Duke Ellington und Johnny Hodges spielten gerade den ’Loveless Blues’, als ein goldener Sonnenstrahl durch das Blätterdach der Wälder drang, den wir in sanften Kurven durchfuhren.

„Der liebe Gott schaut auf die Erde“, sagte Jennifer, „wenn uns ein solcher Sonnenstrahl trifft, bedeutet das Glück. - Hat meine Oma immer gesagt.“

Leider traf uns kein goldener Sonnenstrahl, bis wir bei Jennifers ehemaliger Behausung angekommen waren, einem Mietshaus am Rande der Stadt.

„Jürgen, schau, da ist mein Bike!“

Jennifer stürzte aus dem Wagen und eilte auf ein Motorrad zu, welches unter einer Schutzplane eine Art Dornröschenschlaf absolvierte. Die Plane riss sie sofort herunter, fingerte von irgendwo her einen Schlüssel, steckte ihn ein und kickte die Maschine an.

„Klingt phantastisch, nicht wahr?“, rief sie durch das Grollen des Motors.

Ich nickte ihr zu und hob den Daumen.

Sie zog den Schlüssel wieder ab. „Nächstes Wochenende machen wir mal eine Ausfahrt mit meiner Maschine. Einen zweiten Helm habe ich auch.“

„Klar machen wir das! - Aber nun lass’ uns erst mal deine Sachen einladen.“

Das lief komplikationslos ab, die drei Umzugskartons sowie die Schutzplane für das Motorrad waren schnell verstaut, und Jennifer erschien kurz darauf mit schwarz/roter Lederkombi bekleidet und einem Helm unter dem Arm. Einen zweiten warf sie in den Fußraum meines Wagens und ihr leichtes Sommerkleid, das sie auf der Fahrt getragen hatte, hinterher.

„Hier“, sie zeigte mir ein Amulett, „mein ‘Glücksamulett’! Ich weiss nicht, warum ich es am Mittwoch nicht mitgenommen habe, das Siegel des Gremory. Bestimmt wäre dann diese Sache nicht passiert.“

„Dann hätten wir uns auch nicht kennengelernt.“

Sie kniff die Lippen zusammen. „Möglich. - Aber nun wollen wir los!“

Sie warf noch schnell ein Schlüsselbund in einen Briefkasten, mir einen Kussmund zu, ließ den Helm über ihren Kopf gleiten, klappte das Visier herunter, kickte ihr Motorrad an, kreiste kurz mit dem rechten Arm und deutete straßenabwärts.

Heimfahrt.

Jennifer fuhr ihre Suzuki wie ein Profi. Wenn sie sich in die Kurve legte, war ihr Knie nur wenige Millimeter über dem Boden. Einige Male verschwand sie völlig aus meinem Gesichtsfeld, aber sie stand immer wenige Kurven später am Straßenrand und winkte, wenn ich vorbeifuhr.

Natürlich war Jennifer eher zuhause als ich. Sie stand neben ihrem Bike und fachsimpelte offensichtlich mit einem Mann in Lederjacke, jedenfalls beugten sich die beiden etwas herab und Jennifer deutete auf ein Teil des Motors. Als ich einparkte, sagte der Mann noch etwas, strich sachte über den Sattel, hob grüßend die Hand und ging weg.

„Der hat gesagt, er wäre auch Biker“, sagte Jennifer, als ich ausgestiegen war, „und da fragt der, ob in meiner Suzuki ein Shovelhead sitzt!“ Sie tippte sich an die Stirn, „ein Shovelhead!“

„Was ist denn ein Shovelhead?“, fragte ich.

„Ein Shovelhead ist der letzte echte Motor von Harley Davidson! Ich hatte mal eine Harley mit Shovelhead. Leider hat mein Ex sie hingerichtet. Ohne den Shovel richtig warm laufen zu lassen, hat er vor der Eisdiele den Hahn aufgedreht, mein Gott...“, beinahe andächtig zog sie die Schutzplane über ihr Motorrad, während sie mir erklärte, dass der Shovelhead über längere Distanzen nicht ganz vollgasfest ist, und man ihn vorsichtig warm fahren muss.

„Das ist ja alles hoch interessant“, sagte ich schließlich, „aber ich habe Hunger.“

„Ich auch.“

Schnell Jennifers Sachen nach oben und zwei Pizzen etwas aufgepeppt mit Thunfisch, Schinken und Käse. Während der Ofen vorheizte, hörte ich den Anrufbeantworter ab.

Mein Freund Noriyuki hatte angerufen. Er schien irgendwie verzweifelt, er bedauerte, dass ich mich so lange nicht hatte sehen lassen, und bat mich, ihn doch bald mal wieder zu besuchen. Ich rief ihn sofort zurück und landete auf seinem Anrufbeantworter. Ich versprach, ihn bald ’wie üblich’ zu besuchen.

Jennifer wollte natürlich sofort wissen, wer Noriyuki war, da meldete sich das Telefon. In der Hoffnung, das Noriyuki am anderen Ende war, hob ich ab und drückt auf die Lautsprechertaste.

„Hallo Jürgen, du, stell dir vor, ich habe gestern deine Nachbarin, Frau Angermann, kennengelernt. Eine tolle Frau, kannst du mich nicht mal näher mit ihr zusammen bringen, nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht, aber sie will mir mal die Karten legen, kann ich nicht mal eben zu dir kommen, und dann gehen wir zusammen hin, ich meine, du kennst sie doch sicher näher...“

„Freddy, halt die Klappe. Ich kann jetzt nicht.“

„Warum nicht? - Du, ich werde dir dafür mal wieder deine Wohnung gründlich sauber machen...“

„Freddy, bitte, ich kann jetzt nicht! Ich bin schon auf dem Sprung, ich habe versprochen, meinem Kumpel bei der Computerpflege zu helfen. Heute ist die siebente Nacht, da müssen wir sieben Kerzen entzünden und bei der Musik von Jean Michel Jarre den Katalog entfernen.“

„Was soll das denn?“

„Ach, Freddy, wusstest du das etwa nicht? Computer sind beseelt und haben nichts anderes im Sinn, als den größtmöglichen Schaden an Physis und Psyche des Benutzers anzurichten. Wenn ein Computer Zicken macht, muss man ihn mit braunen Papierblättern wie ein Paket sechs Mal einwickeln und den neuesten Computerkatalog darunter legen. Jeden Abend muss eine Schicht Packpapier entfernt werden, in der siebenten Nacht - also Heute - der Katalog. Danach einschalten und hochfahren. Er wird keine Zicken mehr machen.“

„Und das geht?“

„Klar geht das! Habe ich selber ausprobiert. - Freddy, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt los. Wir sehen uns.“

Ich legte einfach auf, ging in die Küche und schob die Pizzen in den Ofen. Jennifer folgte mir.

„Wer war das denn eben? Kennst du den? Was sollte denn der Quatsch mit dem Computerkatalog?“

„Das waren drei Fragen auf einmal. Aber klären wir erst mal das wichtigste: Welchen Wein möchtest du gerne zur Pizza?“

Ich hielt Jennifer zwei Flaschen vor. „Trocken oder fruchtig?“

Jennifer entschied sich für den trockenen Rotwein.

„Eine gute Wahl. - Also: Das war ’Freddy the Brain’. Den habe ich auf dem Arbeitsamt kennen gelernt, der heißt auch Schmidt. Allerdings mit ‘dt’. Man nennt ihn allgemein ‘Freddy the Brain’ wegen seines beeindruckenden Intelligenzquotienten. Die vom Arbeitsamt haben uns mal verwechselt und mich zu einem Vorstellungsgespräch in einen Blumenladen geschickt. ‘Freddy the Brain’ ist Florist oder so was, jetzt arbeitet er nach einer Umschulung in einer Reinigungsfirma. Ich hab’ ihn mal bei Rambo wiedergetroffen...“

„Wer ist denn Rambo?“

„Der Wirt von der Kneipe schräg gegenüber. Der sieht so ähnlich aus wie Silvester Stallone. Deshalb. - Jedenfalls hatte ich wieder mal eine Absage bekommen, jobmäßig, und meinen Frust ertränkt. Ich war schon ziemlich betrunken, als er auch ankam. Genau weiß ich nicht mehr, was ich erzählt habe, aber es muss fürchterlich gewesen sein. Seit dem bietet er mir ständig an, bei mir sauber zu machen. Fand ich anfangs auch ganz praktisch, das macht er gut. Außerdem hat er mir mal einen guten Job bei seinem Vermieter besorgt, schwarz. Du verstehst?“

Jennifer nickte. Ich entkorkte die Flasche und fuhr fort:

„Den Job habe ich durchgeführt. Ich habe in einer freien Wohnung die Leitungen, Steckdosen und so neu verlegt. Scheiße, ich kriege immer noch dreihundert Euro von diesem Herrn Tönjes. - Naja, eines Tages kam ‘Freddy the Brain’ damit raus, schwul zu sein, und er hätte festgestellt, dass ich auch schwul bin, aber es noch nicht weiß.“

Jennifer schüttelte den Kopf. „Ist ja eigentlich furchtbar. Im Grunde tut mir der Mann leid.“

„Mir auch. Aber was soll ich machen? Wenn ich den nicht abwimmele, habe ich den jeden Tag in der Wohnung, und der quatscht mich mit allem möglichen Mist voll, von wegen schwul und so.“

Ich goss etwas Wein in ein Glas und reichte es Jennifer. „Würdest du bitte mal probieren?“

Sie nickte, nahm das Glas, drehte es etwas, hielt es gegen das Licht, schaute es andächtig an, führte es behutsam unter ihre Nase, prüfte das Bukett und trank genussvoll einen Schluck.

„Sehr gut.“

Ich füllte beide Gläser, wir stießen an und nahmen jeder einen Schluck und rollten ihn im Mund, hoben noch mal die Gläser, lächelten uns zu und stellten sie ab.

Eine Situation zum Zurücklehnen und Genießen, aber Jennifer wollte wissen, wer Noriyuki ist.

„Noriyuki Ukawa ist ein hochqualifizierter Elektroniker“, sagte ich, „er hatte mal eine Bombenstellung bei einem bekannten Konzern. Als die rationalisieren mussten, und seine homophile Neigung durchgesickert war, hat man in regelrecht raus gemobbt. Danach hat er irgendwo als Verkäufer oder so was gearbeitet, er hatte nie mit mir darüber gesprochen. Irgendwie war es ihm peinlich, und ich habe nicht dran gerührt.“

Jennifer nickte nachdenklich. „Ich verstehe.“

„Ich habe ihn vor langer Zeit beim Billard kennen gelernt. Noriyuki spielte außerordentlich gut Billard. Nebenbei bemerkt: Er beherrschte auch meisterhaft sein Samuraischwert. Wir waren eine lockere Clique und haben uns hin und wieder getroffen. Billardspielen, Bier trinken... - Du kannst es dir vorstellen. Wenn wir uns bei einem von uns getroffen haben, haben wir den ’geadenauert’.“

„Was ist das denn, ’geadenauert’?“

„Das hat sich irgendwie wie von selbst entwickelt. Es fing an mit einer scheußlichen Büste von Konrad Adenauer. Einer von unserer Clique, ich glaube, Volker hatte sie in seiner Schrankwand stehen. Irgendeiner hat die Büste dann mal heimlich mitgehen lassen, und sie ihm ebenso heimlich beim nächsten Mal wieder hingestellt. Als wir uns mal bei mir getroffen haben, hat anschließend mein Buddelschiff gefehlt, beim nächsten Treffen war es wieder da. Ich weiß bis heute noch nicht, wer das gemacht hat. Aber die Adenauerbüste machte anschließend die Runde, weil Volker die eigentlich nicht haben wollte. Beim nächsten Treffen bei Volker war die Büste wieder weg, aber an ihrer Stelle stand ein Teddybär. Ich habe die Adenauerbüste irgendwann mal in meinem Kühlschrank gefunden, und sie bei der nächsten Gelegenheit dem Edmund ins Badezimmer gestellt. Beim sogenannten ’adenauern’ ging es darum, bei jemandem unbemerkt einen möglichst großen Gegenstand zu entleihen und ihn beim nächsten Mal wieder ebenso unbemerkt hinzustellen oder ihm die besagte Adenauerbüste irgendwie unbemerkt unterzujubeln.“

Jennifer lächelte milde. „Habe ich ja noch nie gehört so was. Naja, Männer! Habt Ihr auch gesungen bei euren Treffen?“

„Na klar! ‘Waltzing Matilda’, ‘Proud Mary’, ‘Red Roses for a blue Lady’, ‘Mona Lisa’, ‘Six Days on the Road’, und diese Sachen... ’ob Blond, ob Braun, ich liebe alle Frauen’... ach, ja, Edmund konnte so hervorragend Klavier spielen, und Volker hat zu ‘Puttin’ on the Ritz’ auf dem Tisch gesteppt. - Leider habe ich die Jungs total aus den Augen verloren. Aus, vorbei die Zeit! Kommt nicht mehr wieder. Alle haben sie ordentliche Berufe, sind verheiratet, haben Familie, bis auf Edmund...“

„Was war denn nun mit deinem Freund?“, unterbrach Jennifer, „wieso willst du ihn ’wie üblich’ besuchen? Was heißt das?“

„Du weißt, dass ich hin und wieder Einbrüche begehe, wir haben uns schließlich so kennengelernt. Es hat sich so eingespielt, dass ich gelegentlich einfach so zu Noriyuki reingegangen bin. Mit meinem Elektro-Pick komme ich überall rein. Noriyuki fand das erregend. Er hat immer gespürt, wenn ich zu ihm gekommen bin.“

„Irgendwie seltsam, dein Freund.“

„Ist natürlich etwas ungewöhnlich, aber das hat sich im Lauf der Zeit so ergeben. - Ich habe immer gedacht, ich bin der Einzige, zu dem er Vertrauen hat, und umgekehrt.“

„Na, war da etwas mehr als nur eine ‘Männerfreundschaft’?“

„Nicht, was Du denkst! - Wie gesagt beherrschte Noriyuki sein Samuraischwert, das er ‘seinen Freund’ nannte, meisterhaft. Ich bin mal zu ihm gekommen, als er dabei war, es zu pflegen. Wir haben zusammen gesessen, und er hat mir sein Schwert, sein ‘Tachi’ mit der neunmal gefalteten Klinge, erklärt, während er sie sorgsam mit einer Mischung aus Mandel- und Nelkenöl eingefettet hat. Die Härtelinie - die ‘Hamon’ - hatte der Meister dereinst vorbildgerecht durch Wärmebehandlung gefertigt, nicht durch Ätzen, wie es bei den heutigen Repliken üblich ist. Weißt du, für mich war es schwer zu verstehen, dass das Schwert die Seele des Samurai darstellt; - so bedeutet es umgekehrt, dass der Waffe und ihre Klinge selbst etwas Geistiges, über der Materie Erhabenes innewohnt. Weißt du, Noriyuki entstammt einer alten Samuraifamilie, da ist schwul sein undenkbar!“

„Ah, ja.“ Jennifer nickte nachdenklich.

„Eine Weile bevor wir beiden uns kennen

gelernt haben, hatte ich mich auf seinen Wunsch entkleidet und rücklings auf den Tisch gelegt“, fuhr ich fort. „Noriyuki hatte rituell sein Schwert von der Wand genommen, es kurz durch die Luft gewirbelt und war einige Augenblicke reglos und hoch konzentriert stehen geblieben.

„Hast du Vertrauen zu mir?“, hatte er mich gefragt.

„Ja“, hatte ich gesagt.

Wie aus dem Nichts hatte Noriyuki plötzlich eine Wassermelone in der Hand, und er hatte sie mir auf den Brustkorb gelegt.

„Ich werde sie jetzt spalten“, hatte er gesagt, „mit meinem Schwert. Anschließend werden wir sie essen. Man kann keine Melone essen, ohne sie aus der Schale zu lösen. Dir wird nichts passieren. - Oder ist dein Vertrauen zu klein?“

„Nein, das ist es nicht!“, hatte ich gesagt, obwohl mir etwas mulmig war.

„Gut“, sagte Noriyuki mit unbewegtem Gesicht, trat neben mich und hob sein Schwert bis über den Kopf. Er hat erst mich und dann die Melone zwischen seinen Armen hindurch angesehen. Hoch konzentriert. Einige Augenblicke hat er so gestanden, dann zuckte sein Schwert nieder und wieder hoch. Es ging so schnell, dass ich nichts gesehen habe. Das Schwert war in die Melone gefahren und sofort wieder heraus, bevor die Frucht in irgendeiner Form reagieren konnte. Als das Schwert die Melone wieder verlassen hatte, zuckte ich kurz zusammen. Die obere Hälfte der Melone war gegen mein Kinn gerollt. Die untere lag in der Mulde meines Bauches. Sie wippte noch. Stell dir das mal vor: Nicht der kleinste Kratzer war in meiner Haut, aber die Melone war gespalten. Mit sauberem, perfektem Schnitt.“

„Unglaublich!“, murmelte Jennifer, „wie hast du dich danach gefühlt?“

„Mir zitterten natürlich ein wenig die Knie, aber wir haben die Melone danach ganz cool verspeist.“

„Hast du schon mal daran gedacht, damit öffentlich aufzutreten?“, habe ich ihn dabei gefragt. Noriyuki hatte kurz gelacht und gesagt:

„Natürlich. Aber ich finde keinen Partner. Du bist der erste, der das mitgemacht hat.“

„Und deine ... Freunde?“ Noriyuki war etwas skeptisch. „Die haben kein Vertrauen zu mir“, hat er gesagt, „die würden zusammenzucken, das wäre nicht gut...“

Jennifer nickte nachdenklich. „Aber das hast du doch nicht mitgemacht, oder?“

„Vielleicht hätte ich. - Aber wir sind davon abgekommen. Er hat kurz darauf meine alte Freundin Regine kennengelernt. Regine hat es sich in den Kopf gesetzt, ihn von seinen homosexuellen Eskapaden abzubringen.“

„Ist es ihr geglückt?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe Regine lange nicht mehr gesehen.“

„Wer ist überhaupt Regine?“

„Ich habe Regine vor -zig Jahren kennen gelernt, da war ich allerdings noch verheiratet, sie war die Freundin meiner Frau. Dadurch war sie einzige Frau, die in unserer Männerclique geduldet wurde. Später wurde sie meine ’Beste Freundin’. Ich glaube, sie inzwischen etwas ’bi’, weiß ich nicht genau. Sonst ist nie was gelaufen zwischen uns, nur während und nach meiner Scheidung haben wir ein paar Mal einen zusammen getrunken. Einmal bin ich bei ihr sogar richtig abgestürzt. Naja, lang ist’s her.“

„Du warst mal verheiratet?“

„Natürlich! Mit allem Pipapo. - Als wir gerade am Bauen waren, hat meine Frau einen Rechtsanwalt kennengelernt. Der hat den Bau erst mal stoppen lassen. Meine Frau ist dann zu diesem Juristen, und ich saß auf der Straße, unsere Wohnung hatten wir ja schon gekündigt. Der Zeitplan ist daraufhin total zusammengebrochen, die Finanzierung auch. Dann hat die Firma, bei der ich bisher gearbeitet habe, pleite gemacht. Nach vier Monaten hat mir der Anwalt ganz lapidar mitgeteilt, dass die Geschichte mit dem Baustopp ein Irrtum war, und ich nun ruhig weitermachen könne. Die Frage war nur wovon? Der gleiche Jurist hat den Rohbau dann zu einem Spottpreis geramscht, ich durfte meine Frau auszahlen und für die Scheidung aufkommen. Anschließend hatte ich einen Haufen Schulden an der Backe, aber zum Glück einen neuen Job. In mein erstes Gehalt ist der Anwalt gleich mit einer Pfändung rein, und das hat sich mein neuer Chef nicht lange angeguckt. - Jetzt bin ich seit fünf Jahren arbeitslos. Montag gehe ich wieder zum Arbeitsamt, ich muss mich da mal wieder sehen lassen und guten Willen zeigen. - Ich denke, die Pizzen sollten jetzt soweit sein.“

Ich stand auf und ging in die Küche.

Jennifer folgte mir. „Hast du eigentlich auch Kinder?“, fragte sie.

„Ja, eine Tochter. Das ist aber eine andere Geschichte. - Außerdem bist du auch mal dran mit erzählen!“

„Alles zu seiner Zeit“, sagte Jennifer, „jetzt freue ich mich auf die Pizza.“

Montag

Mein Freund Noriyuki Ukawa lag vor mir auf dem Boden in einer riesigen Blutlache. Seine Knie waren angewinkelt, zwischen Oberschenkel und Brustkorb ragte der Griff seines Samuraischwerts heraus. Sein Kopf war etwas zur Seite gedreht, ich konnte seine linke Gesichtshälfte sehen. Eine Spur von Entsetzen hatte sich auf dem ansonsten gelösten Gesichtsausdruck niedergelassen.

Ich stand im Türrahmen und starrte fassungslos auf meinen Freund. Er bewegte sich nicht, er lag vor mir, mit dem Oberkörper in Richtung Fenster. Seine Leblosigkeit ließ mich schaudern. Diese Leblosigkeit hielt mich davon ab, mich auf ihn zu stürzen und ihm das Schwert aus dem Körper zu ziehen.

Einige Schmeißfliegen hatten sich bereits auf meinem Freund niedergelassen. Mein erster Impuls war, sie zu erschlagen, aber dazu hätte ich in die Blutlache treten müssen. Diese Spur hätte ich nicht verwischen können, man hätte mich in diese Geschichte hineingezogen. Ich fuhr meine Emotionen herunter, zwang mich zur Ruhe und versetzte mich in die Denkweise meiner Gegner, den Leuten von der Kripo, die in Kürze hier ihren Job machen würden.

Schnell an etwas anderes denken, bevor ich mich auf meinen Freund stürzte um ihm sein Schwert aus dem Körper zu ziehen ... ich hätte massenhaft Spuren hinterlassen - sein Blut an meinen Schuhen, an meiner Kleidung, an meinen Händen; - der Fall wäre nahezu klassisch gewesen.

Die Blutspritzer am Heizkörper unter dem Fenster gaben mir zu denken. Der Mörder Noriyukis - ich zweifelte keine Sekunde daran, dass mein Freund mit seinem eigenen Schwert ermordet worden war - musste hinter ihm gestanden - möglicherweise hatte er ihn umarmt? - und ihm dann von vorne das Schwert in den Körper gestoßen haben.

Es waren keine Blutstropfen auf dem Flur in Richtung Wohnungstür. Hätte der Mörder vor ihm gestanden, ein Schwall von dem Blut meines Freundes hätte ihn getroffen. Aber Noriyuki ließ keinen hinter sich, zu dem er kein Vertrauen gehabt hatte.

Ich ging nicht zu ihm, ich sah nur die Schmeißfliegen, und wie sie ihre Eier in die Wunde meines toten Freundes legten. Er musste etwa seit einer Stunde hier liegen, am Montagmorgen.

Seine Wohnung war aufgeräumt wie immer, keine Spuren eines Kampfes, sein Futon war sauber bezogen und seine Gräser und Farne, die er im Schlafzimmer drapiert hatte, waren frisch und reichlich gegossen.

Ich ging langsam rückwärts aus dem Schlafzimmer. Hin und wieder hatte er seine Einrichtung geändert; unter Gesichtspunkten seiner Gemütslage und des Feng Shui. Seit meinem letzten Besuch hatte er nichts Wesentliches getan.