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Was ist Zen wirklich? Stephan Schuhmacher gibt in diesem Buch Einblick in die heutige Praxis und Überlieferung der 1.500 Jahre alten spirituellen Zen-Tradition. Er beschreibt die Entwicklung dieser buddhistischen Schule, die stark vom Daoismus beeinflusst wurde, und stellt ihre Eigenheiten dar: die paradoxen Koans, die Lehre ohne Wort und die unerhörten Methoden alter Zen-Meister. Vor allem aber eröffnet er den Zugang zu einem anspruchsvollen Weg geistiger Schulung, der zur Lösung der tiefsten existenziellen Fragen des Menschen und zu innerer Freiheit führen kann.
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Seitenzahl: 165
»Hotei zeigt auf den Mond«, von Fūgai Ekun, Japan 1568–1654. Ein beliebtes Thema der Zen-Malerei ist der Glücksgott Hotei mit seinem Sack voller Gaben, der auf den Mond weist. Alles, was sich in Schriften über den Mond, die »Wahre Wirklichkeit«, sagen lässt, ist nach Auffassung des Zen nur ein Finger, der auf den Mond weist, und nicht der Mond selbst.
(Murray Smith Sammlung)
Dieses Buch ist meiner 1990 verstorbenen Zen-Meisterin Kōun-an Chikō Daishi (mit bürgerlichem Namen Brigitte D’Ortschy), der Dharma-Erbin von Yasutani Hakuun Rōshi und Yamada Kōun Rōshi, gewidmet. Mir wurde das unschätzbare Geschenk zuteil, ihr nicht nur gute 15 Jahre ein schlechter Schüler, sondern auch für zwei Jahrzehnte ein guter Freund sein zu dürfen. In dieser Zeit haben ihr Vorbild, ihr Denken und Handeln mein eigenes Denken und Trachten zutiefst geprägt. Vieles, was ich von ihr gehört und gelernt habe, ist mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihre Worte bis in einzelne Formulierungen hinein zu meinen eigenen geworden sind. Nach ihrem Abschied hat sich über ihre »Lehre« hinaus die unmittelbare Übertragung von Herz-Geist zu Herz-Geist als ihr größtes Geschenk erwiesen.
So spiele ich in diesem Buch auf meine dilettantische Weise ein Lied, das ich bei ihr gehört habe – und improvisiere wie ein Jazzmusiker in einer Jam-Session in Antwort auf ihre Melodielinien darüber. Meine ganz eigene Melodie gäbe es also nicht ohne die ihre, und sie verdankt sich in diesem Sinne ganz und gar ihrem Spiel. Brigitte Kōun-an Chikō, die mir die Musik des Zen vorgespielt hat, gilt mein tiefster Dank – und er ist größer als ein Dank für dieses oder jenes, das ich hier benennen könnte.
Herzlicher Dank gilt auch Yasutani Hakuun Rōshi und Yamada Kōun Rōshi. Sie haben während meiner Jahre in Japan die Grundlage für das gelegt, was in der Folge durch die Schulung bei Kōun-an Chikō Rōshi vertieft werden durfte.
Stephan Schuhmacher,im Frühjahr 2015 in der Klause der Weißen Wolkenbei Le Montat in Südfrankreich
Die Frage von Leben und Tod ist bedeutsam, drum karge mit der Zeit! …
Beginn einer Erinnerung an das Wesentliche, die in einem Zen-Kloster vor dem Schlafengehen rezitiert wird.
Dieses kleine Buch ist eine Darstellung des Chan oder Zen aus der Perspektive des Zen.1 Es ist kein Versuch, lediglich eine im akademischen Sinne historisch korrekte Einordnung von Fakten und Ereignissen zu geben, die sich in ferner Vergangenheit zugetragen haben. Denn ein historischer Ansatz, so hilfreich er auch für das Verständnis der Entwicklung gewisser äußerer Formen sein mag, geht am Wesentlichen des Zen vorbei – und es gehört nun einmal zum Wesenskern des Zen, möglichst direkt auf das Wesentliche zuzusteuern.
Wenn Menschen sich mit einem Weg geistiger Schulung wie dem Zen auseinandersetzen, dann im Allgemeinen, weil sie sich davon Antworten auf die tiefsten existenziellen Fragen des Menschen erhoffen: Wer bin ich? Was sind Leben und Tod? Was ist der Sinn des Lebens? Und wenn jemand gar bereit ist, sich über Jahre, vielleicht Jahrzehnte einer geistigen Schulung zu unterwerfen, die so ungemein anspruchsvoll ist wie die des Zen – sie verlangt nämlich, wie wir sehen werden, alles, was ein Mensch zu geben vermag, und noch ein bisschen mehr –, dann wohl nur, weil er oder sie sich davon nicht nur eine intellektuelle Antwort erhofft.
Es geht um eine Lösung, etwas, das die tiefen existenziellen Ängste und Nöte auflöst, die sich mit der Frage von Leben und Tod und der nach dem Sinn meines konkreten Lebens (nicht eines philosophischen Abstraktums) verbinden. Es geht um die Lösung der Knoten in Herz und Geist, jenes chronischen Krampfes, der uns daran hindert, frei durchzuatmen, uns dem Leben in allen seinen freudigen und leidvollen Facetten rückhaltlos zu überantworten und so mit dem Leben wie mit dem Tod in Frieden zu sein.
Soll die Auseinandersetzung mit dem Zen für einen Menschen unserer modernen westlichen Welt also mehr sein als nur ein intellektueller Zeitvertreib, dann kann es nicht primär darum gehen, unter welchen historischen, sozialen, kulturellen Bedingungen irgendein asiatischer Erleuchteter vor soundso vielen Jahrhunderten in Indien, China, Korea oder Japan dieses und jenes gesagt und getan hat. Wer glaubt, in der Verfolgung solcher Fragen zum Kern des Zen vorstoßen zu können, dem könnte es gehen wie dem von einem vergifteten Pfeil getroffenen Krieger in einem berühmten Gleichnis des Buddha: Bevor er zulässt, dass ein Arzt das Projektil aus der Wunde entfernt, verlangt er zu wissen, wer den Pfeil abgeschossen hat, wie alt der Schütze ist, welchem Stand er angehört und so weiter. Und so stirbt er denn an der Wunde, noch bevor ihm geholfen werden kann.
Doch wir alle tragen einen tödlichen Pfeil im Fleisch, den des Nichtwissens um unsere wesentliche Unsterblichkeit (und Ungeborenheit). Gestatten wir großen Ärzten wie etwa dem Buddha oder den Meistern des Zen nicht, uns beizustehen, dann kann es nicht nur sein, dass wir sterben, bevor wir die Frage von Leben und Tod gelöst haben, sondern dass wir sterben, bevor wir jemals wirklich gelebt haben. Die Frage ist also, was die Überlieferung des Zen hier und jetzt für jeden Einzelnen von uns existenziell bedeutet. Kann sie mir helfen, meine Lösung zu finden?
»Himmel Erde«, von Daigu Ryōkan, Japan 1757–1831. In dieser stark kursivierten Kalligraphie der Schriftzeichen für »Himmel« (= die absolute Wirklichkeit) und »Erde« (= die relative Wirklichkeit der Welt der Erscheinungen) vereinen sich totale Freiheit des Ausdrucks, die Reduktion auf das Wesentliche und eine naive und zugleich verfeinerte Schlichtheit. Diese Eigenschaften charakterisieren das Chan/Zen im Allgemeinen sowie das Leben und Werk des Zen-Mönchs, Dichters und Kalligraphen Daigu (= »Großer Narr«, so nannte er sich selbst) Ryōkan, der aufgrund seines schlichten Charakters, seiner Liebe zu Kindern und zu den »einfachen Dingen« des Lebens zu den populärsten Gestalten des japanischen Zen gehört. (Sammlung Akiyama Jun’ichi, Fujiwara)
Das kann sie nur, wenn sie mehr ist als Geschichte, wenn hier eine Wahrheit übermittelt wird, die unabhängig ist von historischen Umständen. Und tatsächlich ist das, was hier tradiert wird, eine Wahrheit anderer Ordnung als die historische Wahrheit der Gelehrten. So spielt es etwa für den Wahrheitsgehalt des Daodejing von Laozi keine Rolle, ob es in der historischen Realität einen bestimmten, Laozi (der »Alte Meister«) genannten Autor dieses Werkes gegeben hat oder nicht. Laozi lebt, und seine Legende ist ganz wirklich, weil er wirkt, weil er über Jahrtausende Menschen bei der Suche nach ihrer eigenen Lösung inspiriert hat.
Genauso erzählt die Überlieferung des Zen, wie sie hier in einigen kurzen Schlaglichtern beleuchtet wird, nicht Geschichten, um Geschichte zu schreiben, sondern um auf uns einzuwirken und in diesem Augenblick etwas in uns auszulösen. Über viele Jahrhunderte haben die Meister des Zen dieses Erzählen von Geschichten als ein »geschicktes Mittel« entwickelt und gehandhabt, als eine Methode, uns mit der Nase auf das zu stoßen, was stets vor unserer Nase liegt und was wir dennoch nicht sehen. Und deshalb sollen diese Geschichten hier so erzählt werden, wie die Zen-Tradition selbst sie erzählt – ohne das professionell zweifelnde »soll gewesen sein« und »hat angeblich« der Gelehrten.
Die Geschichten, die uns die Meister des Zen erzählen, liefern keine Antworten auf »Sinnfragen«, sie enthalten keine Patentrezepte zum Erlangen von »Friede, Freude, Eierkuchen«. Sie lehren uns keine Moral, sie belehren uns nicht über Stufen der meditativen Versenkung und andere Details einer Technologie der Erleuchtung. Sie machen es uns nicht so leicht, getrost nach Hause zu tragen (und dort auf einem Bücherbord verstauben zu lassen), was wir schwarz auf weiß besitzen. Sie werfen uns vielmehr einen für den kategorisierenden Intellekt, für das diskursive Denken, für unseren in vieler Hinsicht so hilfreichen und in existenziellen Fragen doch so hilflosen Verstand unverdaulichen Brocken hin und sagen: »Friss oder stirb!« … oder vielmehr: »Friss und stirb!«
Sie fordern uns heraus, den Großen Tod zu sterben, um die Große Geburt zu erleben und für uns selbst, in eigener unmittelbarer Erfahrung, herauszufinden, was der Buddha unter dem Bodhi-Baum erfuhr, warum Bodhidharma aus dem Westen kam, wie man von der Spitze einer hundert Fuß hohen Stange aus weitergeht, ob tatsächlich jeder Tag ein guter Tag sein kann und was der Ton des Klatschens einer Hand ist.
Mit einer Reuse fängt man Fische; hast du den Fisch gefangen, kannst du die Reuse vergessen. Eine Schlinge braucht man zum Fangen von Kaninchen; ist das Kaninchen gefangen, kannst du die Schlinge vergessen. Mit Wörtern fängt man Ideen ein; hast du die Idee einmal begriffen, kannst du die Wörter vergessen.
Wo finde ich nur einen Menschen, der die Wörter zu vergessen weiß, sodass ich einige Worte mit ihm wechseln könnte?
Zhuangzi, neben Laozi der zweite große Daoist und chinesische Urahn des Chan, imZhuangziXXVI.13
Freedom’s just another wordfor nothing left to lose.
Janis Joplin
Die Geschichte des Zen beginnt mit einem Verlierer – einem Typen, der es trotz bester Voraussetzungen nach allen Standards unserer Gesellschaft »zu nichts gebracht« hat.
Auch wenn die kulturellen Rahmenbedingungen seines Lebens etwas anders aussahen als die der heutigen abendländischen Welt, war seine existenzielle Situation doch mit der vieler Mitglieder der modernen Konsumgesellschaft vergleichbar. Er war als vom Schicksal begünstigter, verwöhnter Knabe in äußeren Umständen aufgewachsen, unter denen es ihm an nichts mangelte. Schon als junger Mann besaß er alles, was man so haben muss, um als einer zu gelten, der es »geschafft« hat: Er war reich, er hatte eine schöne Wohnung, er genoss die Privilegien der Macht und kannte alle sinnlichen Freuden, er hatte eine schöne junge Frau und einen gesunden Sohn … Was will man mehr?
Und trotzdem war dieser undankbare Mensch nicht zufrieden, lebte er nicht in Frieden. Er wurde umgetrieben von einem nagenden, den Alltag aushöhlenden Zweifel, verfolgt von dem geradezu archetypischen Schreckgespenst der Arrivierten – der nicht zum Schweigen zu bringenden Frage: »Ist das etwa alles?« Geld, Ansehen, Macht, Sex, Sicherheit … und dann? Und dann ist da die schmerzlich am eigenen Leib erfahrene Bestätigung der Binsenweisheit, dass alle diese Dinge nicht glücklich machen, ja nicht einmal »beruhigen«.
Wie kann man ruhig leben in der Gewissheit, dass diese Sicherheit eine Illusion, dass man Alter, Krankheit und Tod unterworfen ist und früher oder später alles, woran man hängt, verlieren muss – spätestens auf dem Sterbebett. Gibt es denn nicht irgendwo da draußen oder vielleicht auch im tiefsten Inneren irgendetwas, in dem wirkliches Glück, echter Friede zu finden ist, etwas, nach dem zu streben sich wirklich lohnt, weil es nicht verlorengehen kann, weil es weder Tod noch Geburt unterworfen ist?
Die Geschichte des jungen Mannes, der auszog, um dieses Etwas – die Prinzessin, die Perle, den Goldschatz der Märchen und Mythen – zu suchen, die Geschichte des Königssohns Siddhārtha, ist auch im Abendland inzwischen hinlänglich bekannt und muss hier nicht in allen Einzelheiten wiederholt werden. Er »stieg aus«, er ging als Hausloser auf die Wanderschaft, er verzichtete auf alle Sicherheiten der Welt der Arrivierten. Wirklich auf alle?
Nun war er zwar ein Landstreicher, ein gesellschaftlicher Niemand, ein Habenichts – aber er hatte doch noch das gute Gefühl, zur Elite jener wenigen zu gehören, die zu Erhabenerem bestimmt sind als die Masse der Menschen – eine innere Gewissheit, die manche Unannehmlichkeit erträglich macht. Er konnte es auch in völliger Mittellosigkeit noch zu etwas bringen: zu Wissen, zu Weisheit, zur Erleuchtung! Immerhin hatte er das Glück, in einer Gesellschaft zu leben, in der das Suchen nach der Wahrheit, das Streben nach der Überschreitung alles Weltlichen in hohem Ansehen stand. Er musste nur die richtige Lehre, die richtige Religion finden, den richtigen Guru, der ihm »die Wahrheit« offenbaren würde.
Siddhārtha Gautama(etwa 563–483 vor unserer Zeitrechnung), nordindischer Königssohn aus dem Geschlecht der Shākya. Mit 29 Jahren verließ er Frau und Kind sowie den Hof seines Vaters Suddhodana, zu dessen Nachfolger als Herrscher er bestimmt war, und zog als wandernder Asket in die »Hauslosigkeit«. Er schloss sich verschiedenen asketischen Lehrern an, ohne jedoch sein Ziel, die innere Befreiung, zu erreichen. Erst als er sich der Übung der Sitzmeditation zuwandte, erfuhr er im Alter von 35 Jahren unter dem Bodhi-Baum sitzend schließlich Erleuchtung (Sanskritbodhi). Er wurde damit zum »Buddha«, d. h. zu einem »Erwachten«, und gilt als der historische Buddha unseres Zeitalters.
Also zog er von einem Wissenden, einem Guru und einem Meditations-Workshop zum nächsten. Der Markt der Heilsversprechungen und Weisheitslehren war vor 2500 Jahren in Indien zwar längst nicht so bunt und vielfältig wie der westliche spirituelle Supermarkt unserer Tage, aber er hatte doch eine Vielzahl von unterschiedlichen Lehren und Techniken anzubieten, die zum Seelenfrieden führen sollten. Siddhārtha probierte sie alle – und er schonte sich nicht dabei. Er war nicht so naiv zu glauben, man müsse nur den richtigen Jargon und die richtige Ideologie übernehmen, um zu den spirituell Arrivierten zu gehören. Er war bereit, sich wirklich »einzubringen«, ernsthaft an sich zu arbeiten.
Also studierte er nicht nur die Worte der Weisen, er erlernte auch die Durchführung komplizierter Riten, übte sich in der yogischen Beherrschung des Körpers, machte Atem- und Meditationsübungen, unterwarf sich strengster Askese und fastete beinahe bis zum physischen Tod. Er tat alles, was man von einem Wahrheitssucher verlangen kann, und wurde aufgrund seines vorbildlichen Strebens unter seinen damaligen Weggefährten als Shākyamuni, der »Schweigende Asket aus dem Hause der Shākya«, bekannt. Er machte in dieser Zeit wahrscheinlich so manche Gipfelerfahrung, erlebte – je nachdem, bei welchem Guru er gerade studierte, welche spirituellen Techniken er gerade praktizierte – schamanische Geistreisen, meditative Trancen und mystische Entrückungen. Aber den tiefen inneren unverlierbaren Frieden fand er nicht. Jeder Zustand, den er »erreichen« konnte, konnte auch wieder verlorengehen.
So fand er sich, etwa im Alter von 35 Jahren, in einer Sackgasse: Er hatte alles, was in seinen Fähigkeiten stand, versucht – und nichts erreicht. Dass »weltliche« Errungenschaften und Genüsse auf Dauer nicht befriedigend, nicht befriedend sein können, hatte er längst erkannt und deshalb das Streben danach aufgegeben. Doch seither hatte die Suche selbst seinem einsamen Leben als einem, der sich weder in der Gesellschaft noch in einer der etablierten Religionen heimisch fühlen konnte, einen gewissen Sinn gegeben – die Überzeugung, dass er zur Erleuchtung unterwegs war. Aber jetzt war ihm selbst das Suchen nach der erleuchtenden Wahrheit suspekt geworden.
Was hatte all das Suchen mit totalem Einsatz von Körper, Geist und Seele Shākyamuni schließlich gebracht? Nichts – jedenfalls keinen Frieden. War der Weg wirklich das Ziel? Konnte er sein Ziel überhaupt erreichen, solange er überzeugt war, dahin unterwegs zu sein? Musste er nach allem, was er bereits aufgegeben und verloren hatte, vielleicht auch diese letzte Hoffnung auf Erlösung, auf Befreiung, auf Erleuchtung noch verlieren? Niemand konnte ihm eine zufriedenstellende Antwort auf seine Fragen geben. Er selbst vermochte keine zu finden. Alles, was er physisch, emotional, intellektuell und auch intuitiv erahnend leisten konnte, hatte er gegeben. Jetzt vermochte er nichts mehr. Er war am Ende seines Lateins – und damit am Anfang des Zen.
Erleuchtung –mit diesem Ausdruck wird im Allgemeinen der Sanskrit-Begriffbodhi(wörtlich »Erwachen«) übersetzt; es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Lichterfahrung, sondern um das Erwachen aus der »traumhaften«, also illusorischen Welterfahrung des »Jedermanns«. Letztere ist gekennzeichnet durch eine falsche Auffassung der Wirklichkeit, die die Vergänglichkeit und Leere, d. h. Substanzlosigkeit, der Phänomene nicht erkennt und das fälschlich als eigenständiges »Selbst« oder »Ich« erfahrene Subjekt als getrennt von den Objekten seiner Wahrnehmung erfährt.
So gab er denn das Suchen auf. Ja, vielleicht »tat« er nicht einmal das. Vielleicht geschah es einfach, weil er fix und fertig war: mit der Welt, mit sich, mit der Suche, mit allem – er konnte einfach nicht mehr! Also setzte er sich unter einen Baum, vollkommen versunken – also nicht mehr vorhanden als irgendjemand, der irgendetwas kann und will –, und tat überhaupt nichts. Später hieß es, er habe sich unter dem sogenannten Bodhi-Baum im nordindischen Bodh-Gāyā in Meditation niedergesetzt in dem festen Entschluss, nicht wieder aufzustehen, ehe er nicht die vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Das mag sein. Aber ob nun vor oder nach dem Hinsetzen (nach einigen Quellen saß er dort nicht weniger als sechs Jahre!) – irgendwann muss er an den Punkt gelangt sein, wo alle Hoffnung und Furcht, alles Streben und Suchen, alles Wollen und Machen einfach von ihm abfielen – denn sonst hätte nicht geschehen können, was dann geschah.
Was dann geschah, beschreibt das Denkōroku, die »Aufzeichnung von der Weitergabe des Lichts«, mit einem lapidaren Satz:
Beim Anblick des Morgensterns erfuhr Shākyamuni Buddha Erleuchtung und sagte: »Ich und die Große Erde und alle Lebewesen erlangen gemeinsam Erleuchtung.«
Nicht mehr und nicht weniger. Aus Shākyamuni, dem »Weisen« oder »schweigenden Asketen« aus dem Hause der Shākya, war Shākyamuni Buddha geworden, »Shākyamuni, der Erwachte«. Erwacht woraus? Wozu? Was hatte er erfahren? Im ersten Satz, den er nach seiner vollkommenen Erleuchtung äußerte – seinem ersten »Löwengebrüll« –, verrät er bereits alles, was sich verraten lässt: »Ich und die Große Erde [das gesamte Universum] und alle Lebewesen erlangen gemeinsam Erleuchtung.« Und interessanterweise sagt er »erlangen« und nicht »haben erlangt«, weil dies nicht etwas ist, das sich in der Vergangenheit ereignet hat, sondern weil es sich immer noch ereignet, eben jetzt und die ganze Zeit und jenseits der Zeit im ewigen Jetzt.
Aber natürlich glaubte ihm das niemand – so wenig wie er selbst dieser Aussage Glauben geschenkt hätte und ihr hätte Glauben schenken können, bevor ihm nicht alles Suchen abhandengekommen war. Und aus genau diesem Grund gibt es bis heute, 2500 Jahre nach Shākyamuni Buddha, einen in Indien zuerst Dhyāna, »Versenkung«, in China später (als lautmalerische Transkription von Dhyāna) Chan-na oder Chan und in Japan schließlich Zenna oder Zen genannten »Weg des Erwachens«. Es ist ein Weg geistiger Schulung, für den in Lehre und Methodik der soeben kurz umrissene Werdegang und die Verwirklichung des historischen Buddha Shākyamuni paradigmatisch sind.
»Der vom Berg herabsteigende Shākyamuni« (Detail), von Liang Kai, China 1.Hälfte 13. Jh. Dieses in der Zen-Malerei oft variierte Thema zeigt den historischen Buddha, wie er nach seiner Erleuchtung (einem einsamen Gipfel) in die Niederungen der Welt zurückkehrt, um seinen Zeitgenossen das zu demonstrieren, was im Zen der »Schatz des Auges des Wahren Dharma« genannt wird. (Bunkachō [Amt für kulturelle Angelgenheiten], Tōkyō)
Wer das Lernen praktiziert, Der gewinnt von Tag zu Tag hinzu. Wer sich übt auf dem Weg, Der verliert von Tag zu Tag.