8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Bis vor kurzem galt die Borderline-Störung als kaum therapierbar. Mit neuen Erkenntnissen aus langjähriger Praxis bringen die Autoren neue Hoffnung. Sie machen die Krankheit besser begreifbar, bieten hilfreiche Strategien für das Leben mit Borderline und beschreiben die Erfolg versprechendsten Behandlungsmethoden. Wertvolle Unterstützung für Betroffene, Angehörige und medizinisches Fachpersonal.
• Vom führenden Experten Dr. Jerold J. Kreisman.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 452
Buch
Immer mehr Menschen leiden an einer Borderline-Störung. Diese Persönlichkeitsstörung äußert sich in extremen Stimmungsschwankungen, destruktivem Verhalten, Angst vor Verlassenwerden, Suizidgefahr sowie einem stark schwankenden Selbstwertgefühl. Menschen mit einer Borderline-Störung hatten bis vor kurzem wenig Hoffnung auf echte Hilfe.
Dr. Jerold J. Kreisman und Hal Straus informieren über die Ursachen der Borderline-Störung, erläutern ausführlich die einzelnen Symptome und präsentieren die neuesten Erkenntnisse über Therapie- und Selbsthilfemaßnahmen. Die Autoren bieten mit der Vorstellung der erfolgversprechendsten Behandlungsmethoden fundiert Unterstützung für Betroffene, Angehörige, Ärzte und therapeutisches Fachpersonal.
Autoren
Dr. med. Jerold J. Kreisman ist Psychiater und einer der weltweit führenden Experten zur Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sein erstes Buch »Ich hasse dich – verlass mich nicht« gilt als Klassiker sowohl unter Fachleuten wie auch unter Betroffenen.
Hal Straus, Journalist und Autor, ist auf medizinische, psychologische und gesundheitliche Themen spezialisiert.
Alle Ratschläge und Hinweise in diesem Buch wurden von den Autoren und vom Verlag sorgfältig er wo gen und geprüft. Eine Garantie kann den noch nicht übernommen wer den. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen, Sach- und Vermögens schäden ist da her aus geschlossen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Vollständige Taschenbuchausgabe Mai 2008 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
© 2005 für die deutsche Ausgabe by Kösel Verlag GmbH & Co. Ori ginaltitel: Sometimes I act crazy.
Living with Borderline Personality Disorder Originalverlag: John Wiley & Sons, Inc., Hoboken, New Jersey, USA Umschlaggestaltung: Design Team, München Umschlagmotiv: Hanka Steidle (Illustration) Satz: Buch Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27036-0V001
www.goldmannverlag.de
In Erinnerung an meinen Vater, Erwin Kreisman, und für meine Mutter, Frieda Kreisman, die uns beibrachte, dass – mit bedingungsloser Liebe – alles möglich ist. Dr. med. Jerold J. Kreisman
Für Lil und Lou Hal Straus
Vorbemerkung
Vorwort
Kapitel 1 Die Grundlagen von Borderline
Fortschritte in Diagnostik und Behandlung
Epidemiologie und Demographie
Der Borderline-Lebenszyklus
Die Grenze überschreiten: Ein kurzer historischer Abriss
Schwierigkeiten der Diagnosestellung: Nebeneinander bestehende und verwandte Krankheiten
Diagnostische Vorlieben
Die Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Behandlung von Borderline-Kranken
Die Prognose
Kapitel 2 Angst vor dem Verlassenwerden
Die Wurzeln von Verlassenheitsängsten
Der Umgang mit den Verlassenheitsängsten des Borderline-Patienten
Kapitel 3 Instabile zwischenmenschliche Beziehungen
Das Prokrustesbett
Spaltung
Spaltung und Gehirnphysiologie
Sex und Jammer in the City
Tee und Mitgefühl
Die Borderline-Beziehung
Kapitel 4 Identitätsstörung
Das Spektrum der Identität
Identität und Spaltung
Kapitel 5 Destruktive Impulsivität
Borderline-Impulsivität erkennen
Komorbidität (begleitende Krankheiten) und Impulsivität
Die Rolle des Gehirns
Können wir Impulsivität erben?
Soziale Einflüsse und Borderline-Persönlichkeitsstörung
Behandlungsmethoden
Kapitel 6 Suizidales Verhalten und Selbstverletzung
Die selbstmordgefährdete oder sich selbst verletzende Borderline-Persönlichkeit
Selbstmord und Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Verlockung von Selbstverletzung
Die Physiologie der Selbstverletzung: Die Konstruktion der Selbstdestruktion
Die Behandlung von Selbstverletzung und suizidalem Verhalten
Kapitel 7 Stimmungsschwankungen
Borderline-Persönlichkeitsstörung und Stimmungsschwankungen
Komorbidität oder Verwirrung
Die Schlange oder das kleine Mädchen
Kapitel 8 Innere Leere
Innere Leere definieren
Kapitel 9 Wut
Die Dynamik von Wut
Das Kobayashi-Paradigma
Kapitel 10 Realitätsverzerrungen: Paranoia und Dissoziation
Borderline-Persönlichkeitsstörung und Psychose
Kapitel 11 Behandlungsmethoden und Kommunikationstechniken
Psychotherapie
Pharmakotherapie (medikamentöse Therapie)
Andere physikalische Therapien
Kommunikationstechniken
SET/UP
Kapitel 12 Aussichten und Tendenzen zukünftiger Forschung
Prognose: Borderliner haben Heilungschancen
Ausschlaggebende Faktoren für die Prognose
Zukünftige Forschungsgebiete
Richtungen zukünftiger Psychotherapie
Ökonomische, gesellschaftliche und politische Herausforderungen
Dank
Anhang
Literatur
Audio- und Videoangebote
Organisationen
Webseiten
Anmerkungen
Register
Die meisten Bücher über gesundheitliche Themen folgen bestimmten Richtlinien (richtungsweisend ist zum Beispiel in Amerika The Publication Manual of the American Psychological Association), die entwickelt wurden, um die Stigmatisierung durch Krankheit auf ein Minimum zu reduzieren und mit der Geschlechterfrage politisch korrekt zu verfahren. Vor allem wird davon abgeraten, sich über eine Krankheit auf Individuen zu beziehen; stattdessen verweist man auf Individuen, die Symptome einer bestimmten Krankheit zeigen. Außerdem vermeidet man geschlechtsspezifische Pronomen und bildet dafür Sätze in der Passivform oder benutzt Formulierungen wie »er /sie, ihm / ihr«.
Auch wenn das in gewisser Hinsicht lobenswert ist, wird die Weitergabe von Informationen durch diese Empfehlungen komplizierter. Selbst wenn wir die Missachtung und Entmenschlichung, die mit der Bezugnahme auf Menschen über medizinische Befunde verbunden sind, ebenfalls verabscheuen (»Untersuchen Sie mal die Gallenblase nebenan!«), haben wir trotzdem beschlossen, uns aus Gründen der Klarheit und Effektivität auf Individuen immer wieder über deren Diagnose zu beziehen. So benutzen wir zum Beispiel den Begriff »Borderliner« als Abkürzung für die präzisere Bezeichnung »menschliche Wesen, die Symptome zeigen, welche mit der Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung übereinstimmen«, wie sie in der 4. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual, text revision (DSM-IV-TR) der American Psychiatric Association definiert wird. Aus dem gleichen Grund wechseln wir immer wieder die Pronomen, statt die Leserinnen mit »er/sie«-Formulierungen zu strapazieren. Wir sind sicher, unsere Leserinnen und Leser gewähren uns diese Freiheit, den Text damit lesbarer zu gestalten.
Die Informationen in diesem Buch sind nach unserem besten Wissen und Gewissen wahr und richtig. Dieses Buch möchte lediglich generelle Anleitung für eine Persönlichkeitsstörung geben und ist nicht als Ersatz für gründlichen ärztlichen Rat gedacht. Die Geschichten zu Beginn vieler Kapitel und weiteres Material aus Fallgeschichten beruhen auf den Erfahrungen mehrerer Menschen und schildern keine tatsächlich existierenden Personen, seien sie tot oder lebendig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Menschen wäre unbeabsichtigt und rein zufällig. Für die Empfehlungen in diesem Buch übernehmen die Autoren und der Verlag keine Garantie. Autoren und Verlag lehnen jede Haftung für direkte oder indirekte Folgen ab, die mit der Nutzung dieser Informationen verbunden sein könnten.
Als unser Buch Ich hasse dich – verlaß’ mich nicht. Die schwarzweiße Welt der Borderline-Persönlichkeit 1989 in der Originalausgabe erschien, war die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Öffentlichkeit noch relativ unbekannt und wurde von vielen Therapeuten und Medizinern, die psychisch Kranke versorgten, missverstanden. Nur die Menschen, die an dieser Krankheit litten, ihre engsten Familienangehörigen und Freunde sowie die Therapeutinnen und Therapeuten, die Borderlinekranke behandelten, verstanden, wie komplex dieses Leiden tatsächlich war und wie viel Schmerz es den Betroffenen bringt.
Seit der Zeit haben immer größere Fachkreise die Borderline-Persönlichkeitsstörung erkannt und auch die Allgemeinbevölkerung versteht sie heute besser. Ein Zeichen für dieses gewachsene Verständnis in unserer Gesellschaft ist es, dass in populären Büchern, Filmen und Fernsehsendungen häufiger auf diese Krankheit verwiesen wird. Im Internet gibt es viele entsprechende Webseiten und Informationen sowie Chat-Rooms, in denen Menschen sich über die Borderline-Persönlichkeitsstörung austauschen.
Im Laufe der Jahre, die seit dem Erscheinen von Ich hasse dich – verlaß’ mich nicht vergangen sind, habe ich hunderte von Anrufen und Briefen von Leserinnen und Lesern erhalten. Manche stammen von Studenten, die mich um aktuelle Informationen bitten. Viele sind von Therapeutinnen und Therapeuten, die Rat für spezielle Fälle suchen. Aber die meisten Fragen stellen Patientinnen und Patienten und ihre Familien, die Erfahrungen mitteilen möchten oder um Hilfe bitten. Diese Mitteilungen sind oft verzweifelt, manchmal schockierend, immer emotional und lassen die persönliche Qual der Menschen, die mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leben, deutlich werden.
Das umfassende und wachsende Interesse an der Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Reaktionen auf unser erstes Buch haben mich in meinen Zielen als dessen Verfasser bestätigt, die darin bestanden, die Aufmerksamkeit und das Verständnis für diese Krankheit sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen zu fördern. Zu diesem Zweck haben wir versucht, Nichtfachleuten komplexe wissenschaftliche Inhalte und Daten verständlich zu machen und gleichzeitig Medizinern und Therapeuten, die psychisch Kranke versorgen, aktuelle, fundierte Informationen zu vermitteln. Zu meiner Freude habe ich erfahren, dass das erste Buch von Studenten der Sozialwissenschaften in vielen Seminaren benutzt wurde. Darüber hinaus war ich tief berührt von den Briefen der Menschen, die mit dieser Krankheit zu kämpfen haben und die ihre Geschichten erzählen und mehr über die Borderline-Persönlichkeitsstörung erfahren möchten. Diese Leute haben sich vor allem mit den Fallgeschichten im Buch identifiziert und wollten mehr darüber lesen. Wir haben erfahren, dass Menschen keine Borderline-Persönlichkeitsstörung haben. Diese Krankheit hat sie!
Das wachsende Interesse an der Borderline-Persönlichkeitsstörung im letzten Jahrzehnt hat zu bedeutsamen neuen Forschungen auf diesem Gebiet geführt. Eine differenziertere Diagnose hat unsere begriffliche Vorstellung von der Borderline-Persönlichkeitsstörung verbessert. Fortschritte in der biochemischen, neurologischen und genetischen Forschung haben unser Verständnis der Störung vertieft. Neue Behandlungsmethoden haben die Prognose verbessert. Das Interesse unserer Leserinnen und Leser und die tief greifenden wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre haben meinen Mitautor und mich dazu bewogen, dieses zweite Buch vorzulegen. Während die Zusammenfassungen von Falldarstellungen in unserem ersten Buch dazu dienten, die theoretischen Ausführungen zu illustrieren, haben die Fallgeschichten in diesem Buch die Form von persönlichen Erfahrungsberichten. Jedes Kapitel über die verschiedenen Symptome gibt einen kurzen Einblick in die geistige Verfassung eines borderlinekranken Menschen in einer bestimmten Phase seines Lebens, so dass die Leserinnen und Leser nicht nur Einsicht in die grundlegenden Aspekte der Störung gewinnen, sondern auch fühlen, was es wirklich bedeutet, mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung – oder in deren Umfeld – zu leben.
Wie schon unser erstes Buch richtet sich auch dieses sowohl an die Allgemeinheit als auch an die Fachwelt. Ich habe versucht, komplexe Aspekte und manchmal unvereinbar und sogar widersprüchlich erscheinende Inhalte in eine Form zu bringen, die auch für eine nicht medizinisch gebildete Leserschaft verständlich ist. Die Quellenangaben für jedes Kapitel und eine Literaturliste bieten jedoch auch genauere Daten für die Leserinnen und Leser, die detailliertere Informationen suchen. Wer unser erstes Buch gelesen hat, wird in diesem zweiten neue Informationen und ausführlichere Fallgeschichten finden. Wer das vorliegende Buch liest, könnte Interesse bekommen, unser erstes zu lesen, in dem wir das Borderline-Syndrom eher historisch beleuchten. Jedes Buch steht für sich allein.
Obwohl ich für das Interesse an Ich hasse dich – verlaß’ mich nicht zutiefst dankbar war, hat es mich enttäuscht, dass manche den Schluss gezogen haben, das darin vorliegende Material stelle eine pessimistische Sicht der Borderline-Persönlichkeitsstörung dar. Auch wenn es meine Absicht war, eine positivere Sicht der Krankheit zu fördern, indem ich das Syndrom erläuterte und effektive Behandlungsmethoden beschrieb, hatten einige Leser den Eindruck, die Aussichten für Borderline-Kranke seien relativ hoffnungslos. Ich wünsche mir, dass das neue Buch Befürchtungen in dieser Richtung ein für alle Mal zerstreut. Ich denke, die wichtigste Botschaft dieses Werkes lautet, dass Borderline-Kranke gute Heilungschancen haben, auch wenn sie enorm kämpfen müssen. Dieses Buch möchte das Verständnis für dieses Leiden fördern, Trost spenden und vor allem Hoffnung machen.
Dr. med. Jerold J. Kreisman
Kapitel 1
In jedem von uns, selbst in denen, die äußerst gemäßigt scheinen, existiert ein Begehren, das schrecklich, wild und gesetzlos ist.
Platon: Der Staat
Mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu leben, der im klinischen Umfeld am häufigsten zu beobachtenden Persönlichkeitsstörung, ist äußerst schmerzhaft – sowohl für die Betroffenen als auch für die Menschen, die ihnen am nächsten stehen. Doch trotz ihrer großen Verbreitung gehört diese Störung wahrscheinlich zu den psychischen Erkrankungen, die am häufigsten missverstanden und unterdiagnostiziert werden. In diesem Kapitel erläutern wir die Störung umfassend – von ihren biologischen, genetischen und durch das persönliche Umfeld bedingten Ursachen bis zu den aktuellsten diagnostischen Kriterien des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Anm. d. Ü.) und den zahlreichen verschiedenen Formen der psychotherapeutischen und medizinischen Behandlung. Wir untersuchen hier auch die Hindernisse für eine korrekte Diagnose, wie zum Beispiel die Stigmatisierung dieser Störung in Fachkreisen, sowie die Schwierigkeiten bei der Erstattung der Behandlungskosten durch die Krankenversicherungen in den USA. Eine »Checkliste für die Borderline-Persönlichkeitsstörung« ermöglicht den Leserinnen und Lesern, frühe Warnzeichen bei sich und anderen zu erkennen.
Diana war in vieler Hinsicht ein typisches Mädchen. Sie spielte gern mit ihren Puppen und träumte wie ihre Freundinnen davon, eines Tages ihren Prinzen zu heiraten, der sie auf sein Schloss entführen würde, wo sie von nun an bis ans Ende ihrer Tage glücklich zusammenleben würden. Aber irgendwo auf dem Weg schwenkte Diana in eine andere Richtung um. Sie überquerte die Grenze vom »Gewöhnlichen« zum Borderline.
Dieser Richtungswechsel ging möglicherweise auf ihre Mutter zurück, die Diana sehr nahestand und die Familie von einem Tag auf den anderen verließ, als ihre Tochter sechs Jahre alt war. Der Vater musste die Kinder von nun an allein großziehen. Doch er war emotional und körperlich oft abwesend und ließ Diana und ihre Geschwister in der Obhut eines Kindermädchens zurück. Diana reagierte auf sein Weggehen immer völlig verstört und ängstlich und fragte ständig, wann er zurückkommen würde.
Nach den regelmäßigen Besuchen bei ihrer Mutter mussten beide immer weinen. In dieser Zeit nahmen Dianas Stimmungsschwankungen zu, und sie wurde noch unsicherer. Sie hatte Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein. Sie war sehr empfindlich und brach leicht in Tränen aus. Sie klammerte sich an ihre Ansammlung von Stofftieren, die sie »meine Familie« nannte. Diana versuchte verzweifelt, es beiden Eltern recht zu machen, während sie sich insgeheim die Schuld an deren Scheidung gab. Sie hatte das Gefühl, sie sei nicht gut genug, um die beiden zusammenzuhalten, und ihre Angst, dass jeder Mensch, den sie liebte, sie über kurz oder lang verlassen werde, wurde immer stärker.
Als sie 15 wurde, beschäftigte sich Diana mehr mit ihrem äußeren Aussehen und begann wie ihre ältere Schwester nach dem Essen Erbrechen einzuleiten. Sie wechselte zwischen Anorexie und Bulimie und litt mit Unterbrechungen ihr ganzes restliches Leben daran. Die Zerrissenheit ihrer Persönlichkeit trat in der späteren Jugend noch deutlicher zutage. Sie konnte Freunden gegenüber charmant, gütig und mitfühlend sein, doch wenn dieselben Freunde sie enttäuschten, zeigte sie eine unberechenbare und grausame Wut. Manchmal wirkte sie in Zeiten starker Belastung ruhig und stoisch, dann wieder wurde sie irrational emotional und wechselte zwischen untröstlichem Kummer und heftigem Zorn. Mit 20 heiratete Diana ihren Prinzen – Prinz Charles von England. Doch lebte Diana nicht von nun an bis ans Lebensende glücklich und in Frieden. Mit ihrer Märchenehe zerbrach auch die künstliche Fassade ihres Gleichmuts. Ihre impulsive und selbstzerstörerische Art zeigte sich nach außen hin deutlicher. Sie stürzte sich auf ihre wohltätigen Aufgaben, vielleicht in der Hoffnung, auf diesem Wege selbst die Zuwendung zu bekommen, die sie anderen gab. Diana litt bis zu ihrem Tod 1997 an Borderline-Persönlichkeitsstörung.1
Unser voriges Buch, Ich hasse dich – verlaß’ mich nicht. Die schwarzweiße Welt der Borderline-Persönlichkeit,2 das zuerst 1989 in Amerika erschien, war einer der ersten Versuche, Menschen zu helfen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, diese Störung zu verstehen und damit umzugehen. Zu der Zeit steckte das Verständnis für diese Krankheit noch in den Kinderschuhen. Forschungsstudien gab es nur wenige, und den wenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigten, mangelte es an Beobachtungen von Patientinnen und Patienten über einen längeren Zeitraum hinweg. Erklärungsansätze über die grundlegenden Ursachen der Krankheit waren eher Spekulationen als wissenschaftlich fundiert. Die technologischen Mittel, die Beziehung zwischen Gehirnphysiologie, Verhalten und psychischer Krankheit aufzuzeigen, befanden sich noch in den Anfängen.
Die Borderline-Persönlichkeit wurde noch nicht hinreichend verstanden und akzeptiert – und das galt selbst für die Fachleute, die sie aufgrund ihrer Ausbildung hätten erkennen und behandeln können müssen. Viele Kliniker zögerten, das neu entwickelte Konzept zu akzeptieren, und gaben ihm den Status einer »Papierkorbdiagnose« – ein Begriff, den Ärzte verwendeten, wenn sie ihre Patienten einfach nicht verstanden oder deren Symptome sich einer anderen, akzeptableren Störung nicht »fügten«. In vielen therapeutischen Einrichtungen wurde der Begriff zu einer Diagnose der Frustration: Schwierige PatientInnen, die nicht kooperierten, die forderten, klammerten, wütend waren, den Psychiater verwirrten oder, am wichtigsten, auf dessen »Dienste« nicht ansprachen, bekamen oft das Etikett »Borderline« verpasst.
Strukturierte Behandlungsmethoden existierten nur in allerersten Ansätzen. Psychotherapeutische Techniken und medikamentöse Therapien, mit denen man verwandte Störungen behandelte, brachten bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung keine eindeutigen Ergebnisse. Und Folgeuntersuchungen nach therapeutischen Behandlungen gab es nur sehr wenige.
Es ist also kein Wunder, dass viele Leserinnen und Leser von Ich hasse dich – verlaß’ mich nicht nach der Lektüre des Buches das Gefühl hatten, dass die Prognosen für Borderline-Kranke schlecht waren. Auch wenn sie verstehen konnten, was sie – oder ihre Freunde oder Familienangehörigen – erlebten, kamen einige Leserinnen und Leser zu dem Schluss, dass nur wenig Hoffnung auf Heilung bestand. Eine Leserin schrieb, dass sie, obwohl sie das Buch überwiegend »informativ und hilfreich fand, am Ende doch weinend dasaß, weil die Aussichten so trübe zu sein schienen«.
Was also hat sich im Lauf der letzten 15 Jahre verändert? Durchbrüche auf vielen Gebieten haben zu bedeutenden Fortschritten in unserem Verständnis und der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung geführt. Genforscher, die den Wirkmechanismus individueller Chromosomen untersuchten, haben spezielle Borderline-Verhaltensweisen mit bestimmten Genomen in Zusammenhang gebracht. Wissenschaftler haben biochemische und anatomische Veränderungen im Gehirn entdeckt, die mit Borderline-Verhaltensweisen korrelieren. Man hat psychotherapeutische Techniken speziell für die Behandlung von Borderline-Patienten und neue Medikamente entwickelt, mit denen wir die Symptome wirksamer unter Kontrolle bekommen. Die Kombination von Therapie und medikamentöser Behandlung hat nicht nur Menschen mit Schizophrenie, bipolarer Störung, Angststörungen und Depressionen geholfen, sondern auch Patientinnen und Patienten, die an Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. All diese Fortschritte haben die Prognose für Borderline-Patienten positiv beeinflusst. Kurz gesagt: Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben gute und reale Heilungschancen!
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist die im klinischen Umfeld am häufigsten anzutreffende Persönlichkeitsstörung, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen Kulturen der Welt. Je nach Untersuchungsstudie betrifft die Borderline-Persönlichkeitsstörung zwischen 30 und 60 Prozent aller Patientinnen und Patienten, bei denen eine der zehn definierten Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert wurde. Man schätzt die Verbreitung dieser Störung, wie sie in der vierten und erst kürzlich neu überarbeiteten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manuals der American Psychiatric Association (DSM-IV-TR) streng definiert wird, in der Allgemeinbevölkerung vorsichtig auf zwischen zwei und vier Prozent. Viele Kliniker gehen davon aus, dass der wirkliche Prozentsatz höher liegt. Die meisten anderen Länder beziehen sich bei der Definition psychiatrischer Krankheiten ebenfalls auf das DSM und gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. Damit bestätigen sie, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht auf westliche Kulturen beschränkt ist.3
Schätzungsweise zehn Prozent aller Patientinnen und Patienten, die man in ambulanten psychiatrischen Gesundheitseinrichtungen gezählt hat, und mehr als 20 Prozent aller stationären Patienten, die in psychiatrischen Kliniken behandelt werden, erfüllen die Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Anzahl der Frauen, bei denen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, ist dreimal höher als bei Männern – ein Verhältnis, das im Verlauf der letzten 20 Jahre konstant geblieben ist. Bei Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sämtliche Formen von psychosozialer Therapie und alle möglichen psychotropen Medikamente verschrieben bekommen, höher als bei Patienten mit Depressionen oder anderen Persönlichkeitsstörungen.4
Die Intensität der Borderline-Symptome kann auf bestimmte Lebenssituationen zurückgehen. Eine große Untersuchung weist darauf hin, dass schwere Fälle eher unter Studenten oder Arbeitslosen, getrennt lebenden (aber nicht geschiedenen) Personen, Atheisten, Menschen mit kriminellem Hintergrund und Menschen, die einen Elternteil durch Tod oder Scheidung verloren haben, zu finden sind. Diese Zusammenhänge gelten sowohl für Schwarze als auch für Weiße. Das Bildungsniveau ist nicht ausschlaggebend.5
Im typischen Fall tritt das Borderline-Verhalten zum ersten Mal in der Zeit zwischen Ende der Teenagerzeit und Anfang 30 auf, auch wenn tief greifende Trennungsschwierigkeiten oder Wutausbrüche bei jüngeren Kindern schon Vorboten der Diagnose sein können. Der Borderline-Zustand kann auf eine Beziehung zu den Eltern zurückgehen, die entweder von extremer Abhängigkeit oder von extremer Ablehnung geprägt ist. Wie in unserem früheren Buch detailliert beschrieben, kann eine Unterbrechung des normalen kindlichen Wachstums vor allem in der entscheidenden Annäherungsphase (zwischen dem 16. und dem 25. Lebensmonat) die Entwicklung einer gefestigten, eigenständigen Identität verhindern, deren Fehlen eines der ausgeprägtesten Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung darstellt.
Die meisten Heranwachsenden haben mit Themen wie Identität, Stimmungsschwankungen, Impulsivität und Unsicherheit in Beziehungen zu kämpfen, die den Kern der Borderline-Persönlichkeitsstörung bilden. (Tatsächlich könnten manche argumentieren, der Begriff »Borderline-Jugendlicher« sei redundant!) Normale, lebhafte Heranwachsende unternehmen jedoch keinen Selbstmordversuch, haben keine rasenden Wutausbrüche oder konsumieren exzessiv Drogen, wie wir es bei Borderline-Teenagern beobachten.
In ihrem dritten und vierten Lebensjahrzehnt gewinnen viele Borderliner eine gewisse Stabilität. Das Borderline-Verhalten kann zurückgehen oder behindert die täglichen Aktivitäten nicht mehr einschneidend. Also können viele frühere Borderliner mit oder ohne Behandlung in der Lebensmitte aus dem Chaos ihres Lebens zu einer relativ stabilen Verfassung gelangen, so dass sie die entscheidenden Kriterien für die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht mehr erfüllen. Die Krankheit besteht zwar bei älteren Menschen fort, ist bei ihnen aber deutlich schwächer ausgeprägt.
Der Begriff »Borderline« wurden zum ersten Mal vor über 60 Jahren benutzt, um Patientinnen und Patienten zu beschreiben, die sich an der Grenze zwischen psychotischen und neurotischen Symptomen bewegten und weder die Kriterien für die eine noch für die andere Störung eindeutig erfüllten. Anders als psychotische Patienten, die von der Realität chronisch abgespalten waren, und Neurotiker, die einheitlicher auf enge Beziehungen und Psychotherapie ansprachen, bewegten sich Borderline-Patienten irgendwo dazwischen. Borderliner betraten, wie Ärzte beobachteten, manchmal das wirre Terrain der Psychose, meistens aber nur für kurze Zeit. Andererseits zeigten Borderliner mehrere dem äußeren Anschein nach neurotische Charakterzüge, doch diese vergleichsweise gesünderen Abwehrmechanismen brachen bei Belastung zusammen.
Im Lauf der Jahre benutzte man Begriffe wie »pseudoneurotische Schizophrenie« und »Als-ob«-Persönlichkeit, um den Zustand zu beschreiben. Wenn sie sich einige von Freuds frühen Fallstudien über Neurose wie »Wolfsmann« und »Anna O.« vergegenwärtigten, zogen viele Theoretiker den Schluss, das seien frühe Beispiele für die Symptomatik der Borderline-Störung. Jahrzehntelang erkannten Psychiater die Existenz dieser »Grenz«-Krankheit zwar, konnten aber nicht zu einer einheitlichen Definition gelangen. 1980 schließlich definierte die American Psychiatric Association in der dritten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-III) die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung und benutzte dafür zum ersten Mal ganz spezielle, beschreibende Symptome.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist unter den zehn Persönlichkeitsstörungen, die im DSM-IV-TR beschrieben werden, die am meisten vorherrschende. Eine »Persönlichkeitsstörung« wird definiert als Ansammlung lange existierender, tief verwurzelter Wesenszüge im Verhalten und Gebaren eines Individuums. Im typischen Fall werden diese zu Beginn des Erwachsenenalters, im Jugendalter oder bereits früher entdeckt, sind relativ unflexibel und führen zu schlecht angepassten, destruktiven Mustern im Verhalten, in der Wahrnehmung und in der Beziehung zu anderen Menschen. Man behandelt die Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen gesondert von denen der meisten anderen psychiatrischen Krankheiten, indem man sie auf einer eigenständigen Ebene der Klassifikation ansiedelt (Achse II). Andere psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie, Drogenmissbrauch und Essstörungen werden auf Achse I definiert. Während man die Persönlichkeitsstörungen der Achse II als langfristige, chronische Fehlanpassungen des Verhaltens betrachtet, gelten die psychischen Erkrankungen der Achse I im Allgemeinen als zeitlich begrenzt, überwiegend biologisch begründet und besser ansprechbar auf Medikamente. Die Symptome der Achse I klingen meistens wieder ab, so dass die betroffene Person zwischen den Phasen der Verschlimmerung der Krankheit ihr »normales« Alltagsleben wieder aufnehmen kann. Menschen hingegen, bei denen man eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert hat, zeigen bestimmte Wesenszüge der Störung meistens kontinuierlich, selbst wenn die akute Schwierigkeit gelöst ist. Die Behandlung erfordert in der Regel mehr Zeit, weil es um die tief greifende Veränderung bereits lange existierender Verhaltensmuster geht. Man hat nachgewiesen, dass Persönlichkeitsstörungen und vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung die tägliche Lebensführung stärker beeinträchtigen als einige Störungen der Achse I, schwere Depressionen eingeschlossen.6
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung weist bestimmte Gemeinsamkeiten mit anderen Persönlichkeitsstörungen auf, besonders mit histrionischen, narzisstischen, antisozialen, schizotypischen und suchtabhängigen Persönlichkeitsstörungen. Die Kombination von selbstzerstörerischem Verhalten, chronischen Gefühlen von innerer Leere und verzweifelten Ängsten vor dem Verlassenwerden unterscheidet die Borderline-Persönlichkeitsstörung jedoch von den anderen Charakterstörungen.
Die primären Züge der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind Impulsivität und Instabilität in Beziehungen, im Selbstbild und in den Stimmungen. Diese das ganze Leben des Betroffenen beherrschenden Verhaltensmuster setzen meistens im Jugendalter ein und bleiben über lange Zeiträume bestehen. Die Diagnose beruht laut DSM-IV-TR (und meistens weltweit akzeptiert) auf den folgenden neun Kriterien. Ein Mensch muss fünf dieser neun Symptome zeigen, um als borderlinekrank diagnostiziert zu werden.
Wenn wir diese Kriterien in späteren Kapiteln genauer erforschen, werden wir noch sehen, dass das jüngste DSM-IV-TR nur minimale Änderungen bei der Definition der Symptome vornimmt. Die wichtigste Veränderung besteht in der Hinzufügung des neunten Kriteriums: gelegentliche, vorübergehende psychotische Schübe.
Diese Konstellation von neun Symptomen können wir in vier Hauptbereiche unterteilen, denen die Behandlung sich zuwendet:
Stimmungsschwankungen und Impulsivität sind die wichtigsten Faktoren bei Selbstmordgefahr.
In einer gemeinsamen Längsschnittstudie unterteilten Forscher aus den gesamten Vereinigten Staaten diese Definitionskriterien aus Klassifizierungsgründen in drei Kategorien.7 Nachdem sie hunderte von Borderline-Patientinnen und -Patienten interviewt und die Kriterien getestet und kategorisiert hatten, begründeten diese Wissenschaftler die Gültigkeit der DSM-Faktoren, welche die Borderline-Persönlichkeitsstörung definieren, noch einmal neu. Die drei Gruppen von Faktoren, die sie festlegten, sind: gestörte Beziehungen, unkontrolliertes Verhalten und Stimmungsschwankungen (siehe Tabelle).
Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung kategorisieren
Kriterium
Gestörte Beziehungen
Unkontrolliertes Verhalten
Stimmungsschwankungen
1
Verlassenheitsängste
2
Instabile Beziehungen
3
Identitätsstörung
4
Destruktive Impulsivität
5
Selbstverletzung
6
Stimmungsschwankungen
7
Innere Leere
8
Wut
9
Abspaltung von der Realität
Gestörte Beziehungen heißt sowohl problematische Beziehungen zu anderen als auch zur eigenen Person. Identitätsstörungen (siehe Kapitel 4) führen zwangsläufig zu Beziehungsschwierigkeiten (siehe Kapitel 3). Bleibt die Identitätsunsicherheit bestehen, zieht sie oft Gefühle von innerer Leere und Sinnlosigkeit nach sich (siehe Kapitel 8). Verschwindet das Selbstgefühl völlig, kommt es zu einer Abspaltung von der Realität (siehe Kapitel 10).
Unkontrolliertes Verhalten schließt sowohl destruktive Impulsivität (siehe Kapitel 5) als auch selbstzerstörerisches Verhalten (siehe Kapitel 10) ein.
Die Kategorie Stimmungsschwankungen enthält die restlichen Kriterien. Instabile Stimmungen (siehe Kapitel 7) ziehen oft Frustration und den Ausdruck von unangemessener Wut (siehe Kapitel 9) nach sich. Diese heftigen Emotionen führen dazu, dass andere sich abwenden und das Individuum allein und verloren zurückbleibt (siehe Kapitel 2).
Diese DSM-Kriterien legen ein kategorisches Paradigma für die Definition der Borderline-Persönlichkeitsstörung fest. Das heißt, entweder eine Person hat die Krankheit (und erfüllt zumindest fünf der Kriterien) oder nicht (bei vier oder weniger Symptomen). Dieses Konzept macht die Anwendung objektiver, messbarer Bestimmungsfaktoren möglich. Es geht jedoch davon aus, dass alle neun Kriterien gleichermaßen zu der Krankheit beitragen, und lässt damit auch das offensichtliche Paradox zu, dass ein Individuum, bei dem man aufgrund der Diagnose von einer dauerhaften Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgeht, plötzlich von der Krankheit »geheilt« sein kann, wenn es auch nur eines der definierenden Kriterien überwindet.
Im Gegensatz dazu sprechen sich einige Autoren dafür aus, Persönlichkeitsstörungen, die dauerhafte Charakterzüge sind, auf dem Hintergrund eines dimensionalen Modells zu definieren. Sie gehen von Abstufungen der Persönlichkeitsfunktionen aus, ähnlich wie es Abstufungen von Sucht gibt. Statt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass ein Individuum borderlinekrank ist oder nicht, wollen diese Autoren die Krankheit durch die proportionale Bestimmung der Intensität der gezeigten Symptome und die Abwägung bestimmter Kriterien und Hintergrundinformationen auf der Grundlage eines Spektrums definieren.8 Geht man zum Beispiel davon aus, dass die Bestimmung von männlich oder weiblich eine kategorische ist, wird sie durch mehrere Kriterien objektiv festgelegt. Auf dem Hintergrund eines dimensionalen Modells hingegen hängt die Bestimmung von weiblich oder männlich von persönlichen, kulturellen oder anderen weniger objektiven Kriterien ab. Vorschläge für die nächste, fünfte Ausgabe des DSM beinhalten auch Überlegungen, Persönlichkeitsstörungen (Achse II) auf der Grundlage von dimensionalen Modellen neu zu definieren.
Untersuchungen im letzten Jahrzehnt haben bestätigt, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr viel häufiger mit anderen psychiatrischen Krankheiten verbunden ist, als man bisher annahm. Anders als der Käse in »The Farmer in the Dell« (Kinderlied in Reimen, in dem der Käse am Ende allein übrig bleibt, Anm. d. Ü.) steht die Borderline-Persönlichkeitsstörung selten allein da. Einige der sie definierenden Symptome sind identisch mit Kriterien für andere Krankheiten. So beobachten wir zum Beispiel bei vielen Individuen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genauso wie bei Borderlinern Ungeduld, Impulsivität, schnelle Bereitschaft zur Wut, zerrüttete Beziehungen, mangelnde Selbstachtung und häufig auch Drogenmissbrauch. Der häufigste »Begleiter« der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind Depressionen. Mehr als 95 Prozent der Borderline-Patienten erfüllen auch die Kriterien für diese Krankheit. Fast 90 Prozent der Borderline-Kranken entsprechen auch den Kriterien für Angsterkrankungen, vor allem der posttraumatischen Belastungsstörung, Panikstörungen und sozialen Angststörungen. Auch wenn Depressionen und Ängste bei beiden Geschlechtern auftreten, kommen Drogenmissbrauch und Soziopathie eindeutig häufiger bei männlichen Borderline-Patienten vor, während Essstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen häufiger bei Borderline-Patientinnen zu finden sind. All diese Krankheiten treffen wir bei Borderline-Kranken sehr viel häufiger an als bei Menschen mit anderen Persönlichkeitsstörungen.9
Da Borderliner meistens mehrere Erkrankungen zeigen, muss sich der Kliniker zuerst den Symptomen zuwenden, die den Betroffenen am meisten beeinträchtigen, und abwägen, wie sich die Behandlung auf begleitende Probleme auswirken kann. So zeigen viele Borderliner zum Beispiel auch Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wenn die Therapeutin mit der Behandlung der mangelnden Konzentration und der Zerstreutheit aufgrund des Aufmerksamkeitdefizits anfängt und stimulierende Medikamente (wie Ritalin) verschreibt, verstärken sich dann Borderline-Symptome wie Wut und Stimmungsschwankungen? Wenn sie umgekehrt mit dem Patienten eine intensive Psychotherapie beginnt, ist dieser dann in der Lage, mit seiner Aufmerksamkeit so zu folgen, dass die Behandlung für ihn von Nutzen ist? Um eine gründliche und ausgewogene Behandlung sicherzustellen, ist eine präzise Diagnose sämtlicher vorliegenden Störungen erforderlich.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung kann auch mit anderen Krankheiten verwechselt werden. Stimmungsschwankungen können als bipolare Störung fehldiagnostiziert werden. Eine vorübergehende Psychose kann für Schizophrenie gehalten werden. Wenn eine begleitende Störung wie Depressionen oder Alkoholismus im Vordergrund steht, kann diese die signifikantere, zugrunde liegende Borderline-Persönlichkeitsstörung verschleiern.
Auch wenn die Borderline-Persönlichkeitsstörung andere Krankheiten begleiten kann, ist es wichtig, sie von anderen Störungen zu unterscheiden. Borderline-Depressionen und Stimmungsschwankungen gehen meistens auf Situationen im Umfeld des Kranken zurück und können sich folglich innerhalb von Stunden verändern. Schwere depressive und bipolare Störungen halten meistens Tage oder noch länger an und hängen möglicherweise nicht mit Stimuli aus dem Lebensumfeld des Betroffenen zusammen. Außerdem kommt eine Person mit einer affektiven Störung zwischen den Krankheitsphasen meistens gut zurecht, während Borderline-Kranke sich weiterhin destruktiv verhalten können.
Vorübergehende, auf Belastungen beruhende Psychosen können bei Borderline-Patienten ganz ähnlich aussehen wie eine paranoide Schizophrenie. Beim Borderline-Kranken tritt die Psychose jedoch nur kurzfristig auf und kann wieder verschwinden, manchmal innerhalb weniger Stunden; die schizophrene Psychose hingegen ist meistens chronisch und weniger durch äußere Stressfaktoren bedingt.
Auch wenn Borderliner häufig Traumata erleben, ist die posttraumatische Belastungsstörung definiert durch typische Reaktionen auf bestimmte schwere Krisen. Diese Reaktionen bestehen aus wiederkehrenden quälenden Gedanken an das Ereignis, Vermeidung der damit verbunden Orte oder Verhaltensweisen sowie starker Unruhe mit übertriebenen Schreckreaktionen, die meistens nicht typisch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind. Physiologische Unterschiede legen nahe, dass Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung heftiger auf Verlassenheitsthemen reagieren, während Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung extremer auf Vorstellungen und Darstellungen ansprechen, die das Trauma verstärken.10
Trotz ihres häufigen Vorkommens wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung oft fehl- oder unterdiagnostiziert. Allgemeinärzte, die wegen psychiatrischer Probleme aufgesucht werden, können die Borderline-Persönlichkeitsstörung nur in weniger als der Hälfte aller Fälle richtig erkennen und behandeln.11
Verwandte Krankheiten können in mehrfacher Hinsicht zu einer Unterdiagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung beitragen. Wenn eine andere Störung primär ist, ignorieren viele Kliniker die Diagnosen der Achse II und konzentrieren sich auf die Behandlung der Krankheit der Achse I (die meistens leichter zu therapieren ist, da das Schwergewicht auf der medikamentösen Behandlung liegt und nicht auf einer komplizierten, langwierigen Psychotherapie). Außerdem rät die verwaltete Gesundheitsversorgung in den USA12 bei Persönlichkeitsstörungen manchmal von einer Fortsetzung der Therapie ab, da solche Patienten im typischen Fall eine intensivere – und teurere – Langzeitbehandlung brauchen. Manche Krankenversicherungen in Amerika lehnen die Erstattung der Behandlungskosten für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ganz ab und betonen, dass die erforderliche teure Therapie mit ihren Grundsätzen nicht vereinbar sei. Paradoxerweise verweigern manche Sachbearbeiter die Bewilligung einer Behandlung mit der falschen Begründung, Borderline-Patienten könnten niemals genesen, Therapie helfe hier nicht und deswegen seien Behandlungsversuche Geldverschwendung. Also vermeiden viele Ärzte die Bezeichnung »Borderline«, um Kämpfen mit den Krankenversicherungen aus dem Weg zu gehen.13
Und schließlich zögern viele Kliniker, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, weil diese Krankheit innerhalb ihrer Berufsgruppe ein Stigma trägt. Bei den vielen Fachleuten auf diesem Gebiet sind Borderline-Patienten am meisten gefürchtet. Sie stehen im Ruf, zu große Forderungen zu stellen, ständig anzurufen und Unruhe zu stiften, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sind unter den psychiatrischen Patienten die streitsüchtigste Gruppe. Sind sie enttäuscht, ist ihre Wut schwer zu ertragen. Ständige Selbstmorddrohungen können eine weitere Schwierigkeit sein. Die Behandlung verlangt viel Geduld und noch mehr Zeit, was heutzutage oft nicht richtig erkannt oder nicht bezahlt wird. Deswegen können viele Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung keine fähigen Ärzte oder Therapeuten, die bereit sind, sie zu behandeln, für sich gewinnen.
Eine schnelle Checkliste für die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Leiden Sie an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung? Oder glauben Sie, einen Menschen zu kennen, auf den das zutrifft? Ohne professionelle Hilfe können Sie natürlich nicht mit Sicherheit wissen, ob eine Person borderlinekrank ist; doch ebenso wie für körperliche gibt es auch für psychische Krankheiten Hinweise und frühe Warnzeichen. Die folgenden Lebensumstände und Verhaltensweisen können auf das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hinweisen.
Achtung: So, wie Sie keine Diagnose über den Gesundheitszustand Ihres eigenen Herzens stellen sollten, so sollten Sie auch nicht versuchen, Ihre eigene psychische Störung zu diagnostizieren. Wenn mehr als nur wenige der folgenden Punkte auf Sie zutreffen und Sie in Ihrem normalen Alltagsleben behindern, sollten Sie Ihren Arzt aufsuchen.
Die theoretischen Anzeichen der Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung haben wir in unserem vorigen Buch dargelegt.14 Die Ursachen und Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind mit Hilfe verschiedener Methoden untersucht worden. Familienstudien haben bestätigt, dass die meisten Borderline-Kranken einschneidende Störungen in ihrer Entwicklung erfahren haben, die durch ihr Lebensumfeld begründet sind.
Jüngere genetische und neurologische Untersuchungen haben die Theorie aufgestellt, dass es erbliche, biologische Grundlagen für diese Krankheit geben könnte. Eine erhebliche Untergruppe von Borderline-Kranken weist einen Hintergrund an perinatalen oder erworbenen Gehirnschäden auf.15
Manche der aufregendsten jüngsten Entdeckungen in der Forschung über Borderline erfolgten mit Hilfe moderner medizinischer Instrumente, mit denen man die Abläufe im Gehirn untersucht, indem man zum Beispiel chemische und anatomische Veränderungen am Monitor verfolgt. Einige Forscher haben gezeigt, dass Abnormitäten im Vorkommen des Neurotransmitters Serotonin (ein chemischer Stoff, der an der Übertragung von Impulsen durch das Nervensystem im ganzen Körper und speziell im Gehirn beteiligt ist) zu der gesteigerten Impulsivität und Aggressivität führen können, die typisch sind für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Interessanterweise beobachten wir diese Anfälligkeit häufiger bei Frauen, die 75 Prozent der Borderline-Kranken ausmachen.17 Eine Studie benutzte die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), um die verringerte Serotonin-Aktivität im Gehirn sichtbar zu machen, die mit der gesteigerten Impulsivität von Männern und Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung korreliert.18 An der Regulation impulsiver Aggression sind wahrscheinlich noch weitere Neurotransmitter wie Dopamin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) beteiligt.19 Die Neurotransmitter Acetylcholin und Norepinephrin werden mit der Steuerung der Stimmung in Verbindung gebracht.20 Es ist erwiesen, dass Medikamente, die diese Unausgewogenheit der Neurotransmitter regulieren, Borderline-Symptome lindern.
Einige Forscher haben den Zusammenhang von Borderline-Persönlichkeitsstörung und Autoimmunstörungen untersucht, bei denen der Körper alle möglichen allergischen Reaktionen zeigt und Antikörper produziert, welche die eigenen Organe angreifen.21 Bei Menschen mit rheumatischer Arthritis zum Beispiel beobachten wir ein ungewöhnlich hohes Vorkommen an Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eine Studie begleitete eine Frau mit wechselnden Borderline-Symptomen über einen Zeitraum von neun Monaten und maß dabei regelmäßig die Antikörper der Schilddrüse. Dabei entdeckten die Forscher, dass die Antikörper in Phasen, in denen die Depressionen und die Psychose dieser Patientin abklangen, eindeutig abnahmen und wieder hochschnellten, sobald ihre Symptome stärker wurden. Diese Ergebnisse legen nahe, dass auf Autoimmunschwäche beruhende Entzündungen Borderline-Symptome verstärken – und umgekehrt.
Wissenschaftler haben sich bei der Erforschung der Neurologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf einen Teil des Gehirns konzentriert, der als limbisches System bezeichnet wird. Dieser Bereich des Gehirns beeinflusst das Gedächtnis, das Lernen, emotionale Zustände (wie Angst) und das Verhalten (vor allem das aggressive und sexuelle). EEG-Analysen von Borderline-Kranken haben Störungen in diesem Teil des Gehirns aufgezeigt. Eine Studie hat versucht, mit Hilfe der Kernspintomographie bei Frauen, die ein Trauma erlitten hatten, Veränderungen im Umfang des limbischen Systems zu messen. Diese Autoren zeigen auf, dass der Hippocampus (Ammonshorn) und der Mandelkern in diesem Gehirnbereich beträchtlich weniger Volumen aufweisen.22 Dieser Zusammenhang zwischen einem körperlichen oder emotionalen Trauma, das später zu Veränderungen im Gehirnumfang führt, die wir mit der Borderline-Pathologie in Zusammenhang bringen können, weist auf die Möglichkeit hin, dass Kindesmissbrauch die Gehirnfunktion verändern und damit zu Borderline führen kann. In welche Richtung diese Annahme weist, geht aus diesen Untersuchungen nicht eindeutig hervor. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung Veränderungen im Gehirnumfang verursacht, die nur zufällig mit dem früheren Trauma zusammenhängen (statt eine Folge dieser Veränderungen zu sein).
Die Genforschung hat sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt. Die Genkartierung, die potenziell das Klonen ermöglicht, und die Stammzellenforschung haben für das Verständnis und die Behandlung medizinischer Krankheiten neue Türen geöffnet. Einige Forscher auf dem Gebiet der Borderline-Persönlichkeitsstörung haben versucht nachzuweisen, dass bestimmte Gene verantwortlich für bestimmte Formen von Borderline-Verhalten sind.23 Identitätsinstabilität, Stimmungswechsel und aggressive Impulsivität zum Beispiel haben stark erbliche Komponenten.24 Ein weiteres typisches Verhalten von Borderline-Kranken, die Sucht nach Neuem, die sich als Suche nach Aufregung und manchmal Gefahr äußert und oft Gefühle der Leere und Langeweile vermeiden helfen soll, wird häufig mit anderen Kriterien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht, zum Beispiel Impulsivität und Aggression. Interessanterweise haben einige Untersuchungen dieses nachweisbare Verhalten in Kombination mit chemischen Störungen im System des Neurotransmitters Serotonin gesehen,25 während andere einen Zusammenhang mit einem Genort herstellen, der den Neurotransmitter Dopamin auf einem spezifisch menschlichen Chromosom betrifft.26 Auch wenn diese Untersuchungen noch bestätigt werden müssen, legen sie nahe, dass es Zusammenhänge zwischen Genetik, innerem chemischen Gleichgewicht und letzten Endes auch menschlichem Verhalten gibt.
Familienuntersuchungen haben gezeigt, dass bei Verwandten ersten Grades von Borderline-Kranken die Wahrscheinlichkeit, ebenfalls die Kriterien für eine Borderline-Diagnose zu erfüllen, fünfmal häufiger ist als bei der Allgemeinbevölkerung. Auch werden bei Familienangehörigen von Borderline-Kranken häufiger Krankheiten diagnostiziert, die der Borderline-Persönlichkeitsstörung verwandt sind. Das gilt vor allem für Suchtmittelmissbrauch, affektive Störungen und antisoziale Persönlichkeitsstörungen.27
Im Leben eines Menschen werden bestimmte Gene in gewisser Weise immer wieder »an- und ausgeschaltet«, was durch bestimmte Faktoren wie zum Beispiel elterliche Zuwendung beeinflusst wird. Forschungen über die Auswirkungen mütterlicher Fürsorge bei Tieren und Menschen legen nahe, dass eine positive elterliche Betreuung auf genetische Prädispositionen und das sich daraus ergebende biochemische Gleichgewicht Einfluss nehmen kann. Bei Menschen mit einer angeborenen Anfälligkeit für Störungen im Gehirnschaltkreis bei der Steuerung von Stimmungen und Impulsivität können bestimmte Faktoren in ihrer Umgebung für den Ausdruck der Gene so ausschlaggebend sein, dass diese bestimmen, ob diese Personen alle oder überhaupt irgendwelche Borderline-Symptome zeigt.28
Der Beitrag genetischer Faktoren – modifiziert durch Umwelteinflüsse – zur Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung beruht mit Sicherheit auf zahlreichen verschiedenen Faktoren und schließt wahrscheinlich entsprechend viele Chromosomen ein. Die weitere Aufdeckung dieser Mechanismen führt vielleicht zur Entwicklung neuer biotechnischer Medikamente (siehe Kapitel 12), die auf die Neuausrichtung spezifischer Gene abzielen.
Die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung hat in den letzten zehn Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht. Vor allem kontrollierte Studien über psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsmethoden haben von wissenschaftlicher Seite wichtige Bestätigung gebracht, die sehr viel dazu beigetragen hat, den früheren Pessimismus zu mildern. Kurz gesagt: In vielen Fällen führt die Therapie zu guten Ergebnissen!
Psychotherapie bleibt die Grundlage der Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörung, ergänzt um eine symptomspezifische medikamentöse Therapie. Als unser erstes Buch herauskam, gab es noch keine Veröffentlichungen über kontrollierte Studien zur Einschätzung psychotherapeutischer Methoden. Zu der Zeit beruhte der Nachweis der Wirksamkeit bestimmter therapeutischer Techniken eher auf individuellen Fallstudien als auf wissenschaftlich abgesicherten Untersuchungen. Auch über Studien, in denen die Wirksamkeit verschiedener Medikamente mit der von Psychotherapie verglichen wurde, gab es noch keine Literatur.
Im letzten Jahrzehnt waren wir Zeugen der Entwicklung neuer Werkzeuge, mit deren Hilfe wir die Ergebnisse einer Psychotherapie messen können. Zwei psychotherapeutische Methoden haben sich in den kontrollierten Untersuchungen, die diese Messwerkzeuge benutzen, als wirkungsvoll erwiesen: erstens die psychodynamische Psychotherapie (die auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien beruht) und zweitens die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), die mit Lern- und Verhaltensansätzen arbeitet. Beide Methoden beruhen auf einer intensiven Behandlung durch ein Team von Therapeutinnen und Therapeuten. Sowohl Einzel- als auch Gruppentherapien kommen hier zum Einsatz und meistens ist mindestens ein Jahr Behandlung erforderlich, bis sich Veränderungen abzeichnen.29
Die medikamentöse Behandlung ist eine wichtige Ergänzung der Psychotherapie.31 Sie zielt auf spezielle Symptome ab, vor allem Stimmungsschwankungen, gestörte Impulskontrolle und Wahrnehmungsstörungen. Die hier verwendeten Medikamente32 umfassen primär Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, psychotrope (Anti-Psychose-) Medikamente und Medikamente gegen Ängste (siehe Kapitel 11). Gelegentlich können auch die Elektrokonvulsive (Elektrokrampf-) Therapie (EKT) und Opiatblocker (die manchmal bei selbstverletzendem Verhalten wirken) zum Einsatz kommen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine gefährliche – und sogar potenziell tödliche – Krankheit: Etwa acht bis zehn Prozent der Betroffenen begehen Selbstmord.33 Mit der Zeit jedoch geht es den meisten Borderline-Kranken besser und fast die Hälfte von ihnen erfreut sich einer vollständigen Genesung. Trotz vieler Frustrationen, die der Patient sowie enge Freunde, Familienangehörige und der Therapeut erleiden, kann der tückische Weg, der aus dem beängstigend dunklen Wald der Borderline-Persönlichkeit herausführt, eine hellere Zukunft eröffnen. Wenn die Beteiligten die Reise auf sich nehmen, können alle, die den Schmerz der Borderline-Persönlichkeit erleben und sich ihm stellen, am Ende Zufriedenheit und Akzeptanz erwarten.
Kapitel 2
Einsamkeit ist eine zentrale und unausweichliche Erfahrung in jedem menschlichen Leben.
Thomas Wolfe
»Rhett … Wenn du gehst, was wird dann aus mir? Was soll ich tun?«
Scarlett O’Hara: Vom Winde verweht
Zum ein oder anderen Zeitpunkt hat fast jeder von uns die Befürchtung, ein geliebter Mensch könne uns verlassen. Aber für Borderline-Kranke kann die Angst vor dem Verlassenwerden – die in einer jahrelangen Familiengeschichte wurzelt – außerordentlich schmerzlich sein. Der Schrecken bedeutet sehr viel mehr als die simple Bedrohung, allein zu sein. Die Erfahrung, verlassen zu werden, kann die Identität des borderlinekranken Menschen zerstören. In diesem Kapitel erfahren Sie zunächst von Arleen, deren Kindheitspanik, vom Vater allein gelassen zu werden, sich zu noch stärkeren Ängsten um ihren Ehemann Greg entwickelte und schwere Komplikationen in ihrem Leben nach sich zog. In den anschließenden inhaltlichen Ausführungen wenden wir uns den psychologischen Grundlagen dieser Ängste zu und schildern, wie Borderline-Kranke mit der Bedrohung, verlassen zu werden, umgehen und enge Angehörige ihnen helfen können, diese Ängste abzubauen.
Als sie wieder allein ist, da die anderen Makler aus dem Haus sind, um Kunden Immobilien zu zeigen, sich mit Hypothekenmaklern zu treffen oder mit sonst was zu beschäftigen, fragt sich Arleen, ob Greg wohl bei Eastland Casualty, der Unfallstation, für die er arbeitet, an seinem Schreibtisch sitzt. Sie wirft einen Blick auf die Uhr über ihrem Schreibtisch: zehn nach drei. Es wäre verdammt noch mal besser, wenn er dort säße, aber seit dem 11. September besucht Greg ständig irgendwelche Meetings. »Vorbereitungsmeetings, Nachbereitungsmeetings, Meetings, um zu entscheiden, ob wir ein Meeting einberaumen sollen«, hatte er mit seiner liebenswerten Stimme aufgebracht gejammert. »Wir sind wie eine kaputte Familie, die ständig zusammenhocken muss.«
Bevor sie zum Telefonhörer greifen kann, spaziert Eddie herein. Die dämliche Kuhglocke, die er trotz ihrer heftigen Proteste über der Eingangstür von Red Oak Realty angebracht hat, verkündet seine Ankunft in dem Raum, in dem sie bislang allein war.
»Sie ist so heimelig«, hatte er mit einem Grinsen gesagt.
»Ich finde eher, das ist Schnickschnack«, hatte sie erwidert.
Natürlich durfte sie sich nicht zu heftig beklagen. Sie beide wussten den wirklichen Grund dafür, dass er die Glocke dort angebracht hatte: seine kindische Idee, bei ihren sexuellen Spielchen in seinem Büro ein Frühwarnsystem zu haben. Doch den eigentlichen Grund für ihre Abneigung gegen das Ding konnte sie ihm nicht sagen.
»He, Puppe« – Eddie zwinkert ihr jetzt zu – »Whhhaaaahhhhzzzzupppp?« Schon wieder diese dämliche Zeile aus der Bierwerbung. Das ist so abgedroschen. Warum kann Eddie nicht einfach er selbst sein? Klein, untersetzt, schütteres Haar, mit einem Bauch, der den unteren Knopf seines gestärkten weißen Hemdes zu sprengen droht, ist er körperlich mit Sicherheit nicht Arleens Typ, und doch hat er für sie etwas Anziehendes. Vielleicht weil er selbst einsam ist. Vielleicht weil er sie braucht und so tut, als brauche er sie überhaupt nicht. Eddie und Doreen sind jetzt schon fast ein Jahr getrennt und er hat als alleinstehender Vater schwere Zeiten durchgemacht. Die Tatsache, dass seine drei Kinder alle Mädchen sind, macht es nicht leichter. Eddie hat einfach nie gelernt, mit Frauen umzugehen. Noch schlimmer, es ist ihm noch nicht einmal bewusst.
»He, wo sind denn alle abgeblieben?«, fragt er mit gespielt grimmiger Miene, als wäre er wirklich überrascht angesichts der leeren Stühle, die in alle Richtungen zeigen. Seit fast drei Monaten sieht es jetzt fast jeden Montag und jeden Donnerstag in diesem Raum so aus. Seine Frage hängt in der Luft wie die Pointe eines abgedroschenen Witzes.
Sie seufzt, schüttelt den Kopf und muss dann unwillkürlich lächeln. Vor zehn Jahren an der Highschool war Eddie Mittelstürmer. Das weiß sie, weil er ihr das bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt. Sie hat wirklich keine Ahnung, was ein Mittelstürmer ist, und es ist ihr auch egal. Er scheint so stolz darauf zu sein, als wäre das auch für sie wichtig. »Nummer 56, Mittelstürmer, Eddie Miles«, summt er immer wieder, legt seine Hände um ein imaginäres Stadionmikrophon, weidet sich am Echo der Stabreime – »Middleton Matadors« – und freut sich diebisch an seinem klingenden »Aaaaaaaahhhhhhhh«, mit dem er das Heer von Teenagern imitiert, die ihm vor vielen Jahren zujohlten.
Eddie scheint heute Nachmittag besonders gut gelaunt zu sein und sie versucht in seine Fröhlichkeit einzustimmen, was sie ihren Frust mit Greg vergessen lässt, wenn auch nur für einen Moment. Während Eddie zur Kaffeemaschine am anderen Ende des kleinen Büros geht, kann Arleen spüren, dass er sich in Gedanken bereits ausmalt, was sie in ein paar Minuten tun werden. Fast automatisch greift sie zum Telefon, um Gregs Nummer zu wählen, und rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her, während es bei Eastland klingelt.
Sie und Greg haben sich in ihrem vorletzten Studienjahr in Ohio kennen gelernt. Groß, blond und Mitglied der Tennismannschaft, war er von einem kleinen College in San Diego hierher übergewechselt. Sie gingen überall gemeinsam hin, in die Oxley-Bücherei, zur Royer-Verbindung, sie begleitete ihn sogar in das Owens-Freizeitzentrum und zu seiner Routineuntersuchung in den Kardiogrammraum. Bevor sie Greg kennen lernte, waren alle ihre Beziehungen zu Männern eine einzige Folge von Ernüchterungen und Enttäuschungen gewesen. Da sie frühreif war, sah sie bereits in der achten Klasse so ähnlich aus wie jetzt, zehn Jahre später: eine brünette Frau mit gut proportionierter Figur, grünen Augen und einem Gesicht, das man nicht umhinkonnte, hübsch zu nennen. Weil ihre Augen so glänzten, nannten ihre Freundinnen sie »Mad« – eine Abkürzung für Madonna. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bevor die Jungen ihre koketten Blicke mit kichernden Flirtversuchen beantworteten, was sie offen begrüßte, denn es nahm ihr etwas von der Anspannung und dem Alleinsein bei sich zu Hause. Keine Woche verging, ohne dass sie ihren Freundinnen stolz verkündete, sie habe Joey oder Billy geküsst, ihren neuen »Freund« aus der Nachbarschaft, der schon die Highschool besuchte.
Von der Zeit an war sie nie ohne Freund gewesen. Selbst wenn sie einen Jungen nicht besonders mochte, sorgte sie immer dafür, dass ein anderer schon in der Warteschleife stand, bevor sie die Beziehung beendete. Sie hatte sich weiß Gott bei allen Mühe gegeben, dass es klappte. Wenn sie sich im College an einen Jungen heranmachte, fing er an sie abzuspeisen mit lahmen Entschuldigungen wie, er müsse sich »auf seine Bücher konzentrieren« oder »seine Eltern zu Hause besuchen«. Nachdem sie sich ein paarmal getroffen hatten, rief er sie überhaupt nicht mehr an, als sei er völlig vom Erdboden verschwunden. In ihrem Zimmer hängte sie ein Bild an die Wand, das sie in der zweiten Klasse gezeichnet hatte, eine Bleistiftzeichnung von Kolumbus’ Schiffen, die von der »flachen« Erde herunterfielen, und schrieb mit schwarzen Buchstaben »Jungen!« oben auf das Bild. Jungen hatten keine Ahnung, sie stammten aus dem Mittelalter!
Trotzdem rief sie ihre verlorenen Seemänner zu allen möglichen Tageszeiten an und forderte sie auf, ihr zu sagen, was falschgelaufen war. Selbst Jungen, mit denen sie schlief, verloren das Interesse an ihr. Sie war sicher manchmal wirklich zu fordernd, aber konnten sie denn nicht einsehen, dass sie mehr brauchte? Nicht nur Sex oder eine weitere Verabredung; sie musste darauf vertrauen können, dass sie ihre intimsten Geheimnisse mit ihr teilten, so wie auch sie ihnen alles aus ihrem Leben erzählte. Sie kamen ihr alle so windig vor, als würden sie sich in Luft auflösen, wenn sie ihnen auch nur einen Moment den Rücken zuwandte. Das erinnerte sie an eine Zeit als Kind, wo sie glaubte, die einzige Person zu sein, die wirklich existierte und alles andere – die Nachbarn, die Autos auf der Straße – war nichts als eine raffinierte Bühnenkulisse, die Gott je nach Laune verschwinden ließ, wenn sie nicht hinsah, und wieder ins Leben rief, wenn sie sich ihr zuwandte. Die Vorbeigehenden, das wusste sie genau, waren in Wirklichkeit Luftspiegelungen, die in dem Augenblick verschwanden, wo sie ihnen den Rücken zukehrte. Manchmal drehte sie sich plötzlich um, um diese körperlichen Wesen als das zu entlarven, was sie in Wirklichkeit waren: nichts als Luft. Aber nein, sie waren dann immer noch da, protzten mit ihrem Dasein und entfernten sich von ihr in demselben Körper und denselben Kleidern, die sie getragen hatten, als sie näher kamen. Es hatte keinen Zweck; Gott war viel zu schnell für sie.
Dem Himmel sei Dank, dass Greg Petersen ihren Weg gekreuzt hatte. Er war anders als all die Jungen, mit denen sie sich bislang eingelassen hatte. Greg war so intelligent, er brauchte gar nicht groß studieren. Er war kräftig und zuverlässig – greifbar. Er brauchte weder Familie noch Freunde noch sonst etwas – nur sie. Während des letzten Studienjahrs hatte sie die meiste Zeit an seiner Schulter gehangen wie eine Pelzstola, und ihm schien das zu gefallen. In den Winter- und Frühjahrsferien, wenn die meisten anderen Studenten ins ganze Land ausschwärmten, blieb er lieber im Studentenwohnheim. Und das war auch richtig so.
Sie hatten gleich nach der Abschlussprüfung geheiratet und waren nach Middleton gezogen, einem schäbigen Vorort, 20 Meilen entfernt von der Eastland-Hauptgeschäftsstelle in Indianapolis. Es war das erste Mal, dass sie von zu Hause weg war. Verglichen mit Ohio war Indianapolis wie ein Märchen – eine brodelnde Metropole aus weißen Gebäuden, Licht und Glas. Sie liebte es, sich schön anzuziehen und mit Greg Samstagabend in die Stadt zu fahren, sich einen Film anzuschauen oder ins Down’n Dirty zu gehen, einen quirligen Nachtklub, in dem vor allem Bluesbands aus dem nahen Chicago spielten. Sie war stolz darauf, mit ihm zusammen zu sein, und wusste, dass er in Bezug auf sie genauso empfand.
Oft saß sie bei Red Oak an ihrem Schreibtisch und grübelte darüber nach, wann eigentlich zwischen ihr und Greg alles anders geworden war. Oder, das traf es genauer, wann Greg sich verändert hatte. Anfangs, als Greg noch normale Arbeitszeiten hatte, war alles gut gewesen. Sicher, sie war keine besonders gute Köchin und sie mussten vier-, fünfmal die Woche essen gehen oder sich Pizza liefern lassen, aber das schien ihn nicht zu stören. Sie kaufte sich sogar ein paar Kochbücher und hoffte ihn zu überraschen. Aber nachdem Eastlands Tresore bei den Angriffen vom 11. September zerfetzt worden waren, nahm die Firma Gregs Zeit immer mehr in Anspruch und er begann länger zu arbeiten. Die Ausflüge in die Stadt, auf die sie sich immer so gefreut hatte, fielen ganz weg – das Letzte, was Greg an einem Samstagabend wollte, war, noch einmal in die Stadt zu fahren.
Also hockten sie viele Samstagabende vor geliehenen Vide