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Konflikte gehören zum Wesen der Politik, und Strategien erfolgreicher Konfliktlösungen charakterisieren die politische Arbeit. Dabei kann der Zwang zum Konsens das Politische verfehlen. Deshalb fragt eine Ethik des politischen Konfliktes nicht nur danach, wie Konflikte "gelöst" werden können, sondern wie sie ausgetragen werden sollen. Wie darf man mit einem politischen Gegner umgehen? Wie weit soll Meinungsfreiheit reichen in Zeiten von "Hass im Netz" und "politischer Korrektheit"? Was heißt es, Demokratie als wehrhaft zu gestalten? Und was schulden demokratische Mehrheiten der Minderheit – oder Gegnern der Demokratie? Fragen, deren Beantwortung für eine zukunftsfähige Gesellschaft lebenswichtig ist.
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Seitenzahl: 94
Marie-Luisa Frick
Zivilisiert streiten
Zur Ethik der politischen Gegnerschaft
Reclam
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961268-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019454-6
www.reclam.de
Dieses Buch behandelt Ideen, die mich seit geraumer Zeit beschäftigen. Ihren Schliff erhalten haben sie zweifelsohne durch die Ereignisse und Entwicklungen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – die Polarisierung des politischen Diskurses, der Aufstieg politischer Bewegungen, die als rechtspopulistisch beschrieben werden, die Debatten um die Grenzen der Toleranz oder der Meinungsfreiheit oder den politischen Islam.
Und die Relevanz des Themas ist größer denn je. Sich auf andere Meinungen einzulassen, das gute Argument auch auf der Gegenseite zu erkennen, Andersdenkenden zuzuhören und sie ernstzunehmen, ist mit Schwierigkeiten und einiger Selbstüberwindung verbunden. Die Bereitschaft, die eigene Perspektive zu überschreiten und mit anderen in echte Begegnungen zu treten, ist in Zeiten von digitaler Abschottung und »Filterblasen«, Radikalisierung und Erosion politischer Kultur weniger selbstverständlich denn je.
Die akademische Philosophie muss in einer Zeit, in der die Schieflage des politischen Diskurses schmerzvoll vor Augen tritt und konzeptionelle Ratlosigkeit und Verwirrung die Grundlagen unserer Gemeinwesen wie »Demokratie«, »Menschenrechte«, »Pluralismus« oder »Toleranz« erfasst, einen Beitrag dazu leisten, sehr grundsätzliche Fragen zu stellen und möglichst vorurteilsfrei und allgemeinverständlich zu erörtern. Darin liegt der Anspruch der folgenden Untersuchung, vielleicht ihr Reiz, bestimmt aber auch ihr Risiko, denn es stellt sich immer die Frage, ob solch komplexe Themen in dieser Kürze und Zusammenschau in der gebührenden Tiefe durchleuchtet werden können. In diesem Sinne versteht sich dieser Beitrag auch nicht als Ersatz für das eingehende Studium der Theorien der politischen Philosophie, sondern verfolgt das vergleichsweise bescheidenere Ziel, politisch interessierte Menschen zum Denken anzuregen. Es soll ihnen nicht vordekliniert werden, was zu denken sei, vielmehr möchte ich zeigen, wie man heute über einige der wichtigsten Fragen unserer Zeit nachdenken kann, wenn man sie möglichst genau verstehen und sich in Diskussionen zu anderen Beiträgern stellen will, die ihrerseits minimalen Gerechtigkeitsansprüchen genügen.
Wir leben in ›aufgeregten Zeiten‹: Was in manchen Augen einen gefährlichen überregionalen Trend hin zu Autokratismus und Nationalismus spiegelt, erscheint anderen als erlösende Rückkehr zu demokratischer Selbstbestimmung und Vernunft. Politikverdrossenheit mag immer schon eine ungemessene Zeitdiagnose gewesen sein, da sie die Differenz zwischen der Politik als solcher und den jeweiligen politischen Funktionsträgern ignoriert. Inzwischen darf auch die Annahme, dass Menschen aus Frustration über politische Entscheidungen oder das politische System insgesamt in Apathie verfallen, als widerlegt gelten. Es wird wieder über Politik gestritten, in Familien, unter Freunden und Kollegen und nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken. Was sagt dies über den Zustand der jeweiligen liberalen Demokratien? Ist die neue Lust an der politischen Auseinandersetzung ein Indiz für ihre Gefährdung – oder spricht sie umgekehrt für deren unbeschädigte Lebendigkeit? Welche Ideale politischer Kultur liegen den Klagen über »politische Korrektheit« oder »Hass im Netz« zugrunde? Was ist eigentlich damit gemeint, wenn nach »schmutzigen« Wahlkämpfen Rufe nach »Versöhnung« oder nach Brückenbildung laut werden?
Die folgende Untersuchung setzt zwei Einsichten an ihren Anfang, die miteinander zusammenhängen und zu einer Vielzahl von produktiven Reibepunkten führen:
Das ist zum einen die These, dass Konflikte wesenhaft zum Politischen gehören und dass die Hoffnung auf eine Meinung für alle bzw. Konsensideale, die dem nicht genügend Rechnung tragen, riskieren, apolitisch und im äußersten Fall un- oder pseudodemokratisch zu sein. Vorausgesetzt, dass Konflikte aus dem politischen Feld nicht wegzudenken sind, wird es demnach darauf ankommen, wie sie ausgetragen werden. Das Bild des zivilisierten Wettstreits ist dabei das Ideal politischer Auseinandersetzungen im demokratischen Kontext.
Zum anderen gibt es nun aber Arten von Konflikten, die selbst das Potenzial in sich tragen, das Politische auf eine solche Weise zu radikalisieren: Diese heben die demokratische Sublimierung von Gewalt wieder auf. Sie gilt es daher zu meiden bzw. schon in ihrem Entstehen zu bekämpfen.
Hier liegt die Kernproblematik zahlreicher aktueller politischer Debatten, und ich möchte sie zum Ausgang folgender Fragestellungen nehmen:
Was könnte es bedeuten, den Streit und nicht den Konsens als Wesensmerkmal demokratischer Politik ernstzunehmen?
Was würde es bedeuten, Möglichkeiten und Formen des gerechten Umgangs mit politisch Andersdenkenden besonders aus philosophischer Perspektive zu durchleuchten?
Was schulden wir dabei dem Gegenüber, was uns selbst?
Was muss eine auf Grundrechte hin orientierte demokratische Ordnung aushalten, und was nicht?
Aus den Erörterungen dieser Fragen sollen, so der Anspruch, Grundzüge einer Ethik der politischen Gegnerschaft sichtbar werden.
Ein solcher Brückenschlag von politischer Theorie zu politischer Ethik findet sich in Ansätzen bereits in einzelnen Werken der zeitgenössischen Philosophie, sie bedürfen jedoch weiterer Vertiefung und systematischer Bearbeitung, sowie auch der Vernetzung mit verwandten Ansinnen etwa im Bereich der Moralpsychologie.1 Dieser Text will ein erster Schritt auf diesem langen Weg sein.
Zwei Fragen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse:
Welchen Sinn hat es, ethische Überlegungen an einen Bereich heranzutragen, dessen Eigenlogik gerade nicht nach Kriterien des gerechten Handelns ausgerichtet ist, sondern vielmehr die Maßstäbe des richtigen, d. h. effektvollen Tuns im Sinne des Machterhalts und -gewinns ins Zentrum stellt?
Eine Ethik der politischen Gegnerschaft ist zunächst nicht mehr als eine Ethik für einen bestimmten Bereich, eben eine Bereichsethik. Sie wendet Methoden der philosophischen Ethik auf ein Teilgebiet der normativen Ethik an und fragt danach, was dort das Gute bzw. gerechte Handeln ist. Doch was sind ihre Maßstäbe? Und wie kann sie diese für den Bereich politischer Auseinandersetzungen sinnvoll zur Anwendung bringen, ohne sich nicht in vorgelagerten Konflikten darüber, was das Gute sei, heillos zu verstricken?
Darüber, inwiefern Macht oder Gerechtigkeit in der Sphäre der Politik bestimmend sind bzw. sein sollen, sind realistische und idealistische Zugänge bekanntlich sehr unterschiedlicher Ansicht. Es geht mir auch aus diesem Grund nicht darum, sich für eine Seite zu entscheiden und etwa einem Idealismus das Wort zu reden, der an politische Auseinandersetzungen von außen ethische Maßstäbe heranträgt, die letztlich doch einer mehr oder weniger privaten Moralvorstellung entsprechen. Vielmehr möchte ich dafür argumentieren, dass innerhalb liberaler Demokratien, die sich zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten verpflichten, bereits eine Basis für eine minimale politische Moral vorliegt, die es im Rahmen ethischer Erörterung auszudeuten gilt.
Der Rahmen für die folgenden Ausführungen soll demnach im Sinne einer möglichst großen Transparenz unter Verweis auf die Konzepte »Demokratie und Menschenrechte« offengelegt werden. Dass es sich dabei um einen sehr weiten Rahmen handelt, erklärt sich daraus, dass sich die Konzepte »Demokratie« und »Menschenrechte« nicht von selbst verstehen. Suchen wir nach konkreten Handlungsanleitungen, genügt es nicht, solche Anleitungen lediglich zu beschwören. Ich möchte daher vorbereitend darlegen, was im Folgenden unter Demokratie und Menschenrechten verstanden wird, um die normativen Ableitungen, die für die behandelten Fragestellungen fruchtbar gemacht werden sollen, dann leichter nachvollziehbar zu machen.
Um den Begriff »Demokratie« genauer zu definieren, ist es zunächst wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Demokratie sowohl eine materiale als auch eine formale Dimension aufweist. Erstere betrifft die Souveränitätsfrage: Wer ist dazu befugt, Gesetzte zu erlassen und auf deren Basis politische Macht auszuüben? Ihr eigentümliches Wesen erhält die demokratische Ordnung eines politischen Gemeinwesens dadurch, dass sie – anders als konkurrierende Konzepte wie etwa Theokratie: Gott; Aristokratie: die Besten; Epistemokratie: die Weisen; Erbmonarchie: eine Dynastie – die Souveränität bei allen seinen Mitgliedern verortet. Das Prinzip der Volkssouveränität bildet den materialen Kern der Demokratie. Die souveräne Gleichheit der Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens macht sie gleichzeitig sowohl zu Mitautoren als auch Mitadressaten der von ihnen geschaffenen Gesetze. Es ist wichtig, angesichts beträchtlicher Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis – wie etwa Einflussnahme durch Lobbys, Richterrecht oder Parteiendemokratie – darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Aspekt der Definition von Demokratie um ein Ideal und nicht um eine Beschreibung der Realität handelt.
Aus der materialen Dimension von Demokratie leiten sich wiederum formale Aspekte ab, denn die Bestimmung, wo bzw. bei wem Souveränität liegt, sagt uns noch wenig darüber aus, wie sie ausgeübt werden soll. Das Volk (demos) – das nicht schon gleichzusetzen ist mit einem völkisch gefassten ethnos –, hat dann aber keine individuelle Entität, sondern ist die Summe der einzelnen politischen Subjekte. An die Souveränitätsfrage schließt sich also die Verfahrensfrage an: Wie soll sich das Volk selbst regieren, wenn nicht erwartet werden kann, dass alle mit einer Stimme sprechen?2 Unter der Voraussetzung, dass man die gleiche Souveränität der Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens als Ausgangspunkt wählt, kann nur das Mehrheitsprinzip die Antwort auf diese Problematik sein. Wo der Wille des Souveräns nicht einheitlich ist, ist der Mehrheitswille maßgeblich.
Die abstrakte Fassung des Volkes als Souverän stellt uns jedoch vor eine weitere Herausforderung: Weder ist das Volk einheitlich in seinem Willen, noch konstant stabil hinsichtlich seiner Mitglieder. Menschen werden geboren, sterben, treten unter Umständen hinzu, treten aus. Das Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt ist also niemals identisch mit dem Volk zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt. Echte Volkssouveränität ist daher auf wiederkehrende Willensfeststellungen angewiesen.
Die materiale Dimension der Demokratie ist auch Ausgangpunkt für eine weitere entscheidende Komponente des demokratischen Prinzips, nämlich die Rechte der Minderheit. Wenn alle Mitglieder des demos gleichermaßen souverän sind, dann erwächst daraus jenen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Teil einer demokratischen Mehrheit sind, die Pflicht, gemäß dieser prinzipiell gleichen Souveränität stets diejenigen zu behandeln, die in demokratischen Entscheidungen unterliegen.
Ein mit dem Konzept der Demokratie verbundener – und in den Augen ihrer Fürsprecher entscheidender – Aspekt wurde hingegen noch nicht genannt, nämlich die Absage an Gewalt als Methode der Willensfeststellung. Ist diese Verfahrensfrage durch die Souveränitätsfrage bereits mitbeantwortet? Das scheint weniger deutlich als es die weitverbreitete Verbindung von Demokratie und Gewaltverzicht nahelegt. So wäre es denkbar, die gleiche Souveränität so zu deuten, dass sie – vergleichbar den Regeln des Schachspiels, bei dem sich alle Figuren wechselseitig schlagen können, nur nicht die Könige – per se die Möglichkeit ausschließt, dass Souveräne einander Gewalt antun. Das Gewaltverbot wäre dann ebenfalls eine Erweiterung der materialen Dimension der Demokratie. Man könnte andererseits aber auch den Standpunkt vertreten, dass der gleichen Souveränität dann Genüge getan wird, wenn sich alle Mitglieder des demos unter Bedingungen der Waffengleichheit bereit erklären, sich die Köpfe einzuschlagen und am Ende zu zählen, wer überlebt hat. Gegen eine solche Lesart, entsprechend der gleiche Souveränität und die Anwendung von Gewalt keinen Widerspruch darstellen, kann man wiederum anführen, dass dies zwar theoretisch der Fall sein mag. In der Praxis jedoch, wo niemals ideale Voraussetzungen für so eine Duell-Situation gegeben sein dürften, bestünde die einzig sinnvolle Möglichkeit, souveräne Gleichheit zu denken, im absoluten Verzicht auf physische Gewalt. Auf diese Weise folgte dieser Verzicht nicht unmittelbar aus der Volkssouveränität selbst, jedoch aus einer reflektierten Abgleichung theoretischer Voraussetzungen und praktischen Bedingungen ihrer Möglichkeit.