Zu Hause ist, wo ich verliebt bin - Katrin Panier - E-Book

Zu Hause ist, wo ich verliebt bin E-Book

Katrin Panier

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Beschreibung

Ja, es stimmt: Dunkelhäutige können gut tanzen und haben das gewisse Etwas. Indische Mädchen werden immer nach dem Kamasutra gefragt. Und von italienischen Jungs erwartet 'frau' natürlich Latin-Lover-Qualitäten. Sie kennen die Klischees, und sie lächeln darüber: Die zwanzig jungen Frauen und Männer aus anderen Kulturen, die in Deutschland leben und in diesem Buch zu Wort kommen. Kleine Aufzählung: Vietnam, Griechenland, Indien, Pakistan, Portugal, Italien, Russland, die Ukraine, Kasachstan, Ghana, Angola, Nigeria, die Türkei; Tunesien, der Irak, Taiwan, Mexiko, Brasilien und Kroatien – in allen deutschen Bundesländern. Sie wurden hier geboren oder nicht, sie möchten hier bleiben oder nicht. Auf jeden Fall wünschen sie sich einen Weg, wie sie ihre Wurzeln in anderen Ländern und Religionen und die moderne westliche Lebensart für sich miteinander verbinden können – zu etwas Neuem, vielleicht Besserem? Aber ohne Liebe geht gar nichts.

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Katrin Panier

ZU HAUSE IST, WO ICH VERLIEBT BIN

Ausländische Jugendliche in Deutschland erzählen

Schwarzkopf & Schwarzkopf

»Sich kennenlernen, miteinander reden, zusammen lachen, gute, aber auch schlechte Augenblicke miteinander teilen, zeigen, daß wir oft gleiche Sorgen haben, das könnte den Rassismus und die Ausländerfeindlichkeit zurückdrängen. ... Denn wenn wir uns mit anderen befassen, lernen wir auch uns selbst besser kennen.«

Tahar Ben Jelloun,

»Papa, was ist ein Fremder?«

»Irgendwie sehe ich mich schon in Deutschland. Wobei, wenn mir mein Liebster eine andere Welt zeigt und mir die gefällt – warum nicht! Ich möchte andere Dinge, andere Länder, anderes Leben kennenlernen. Auch Indien. Aber nicht alleine.«

Priya, 19,

Indien und Altlandsberg

VORWORT

Im heißen Sommer 2003 saß ich bei offenem Fenster am Schreibtisch und versuchte, mein Herzblut in die Geschichten ausländischer Jugendlicher fließen zu lassen, die mir so offen und ehrlich anvertraut worden waren. Gegenüber dröhnten italienische Schlager aus dem Garten der Pizzeria, von der nächsten Straßenecke her schallten die Rufe des türkischen Gemüsehändlers, der seine Waren anpries. Aus dem Treppenhaus und vom Hof hörte ich unseren afrikanischen Nachbarsjungen, der mal laut singend seinen Hund ausführte, mal Gitarre übte oder mit den Freunden Fußball spielte. Ich bin von Menschen aus anderen Kulturen umgeben, und sehr oft mußte ich gegen den Impuls ankämpfen, hinauszugehen, sie genervt zur Ordnung zu rufen: »He, ich will in Ruhe schreiben. Könnt ihr vielleicht mal ein bißchen leiser sein?! Hierzulande nimmt man Rücksicht aufeinander ...«

Ich habe es nicht getan, und das Buch ist trotzdem fertig geworden. Würde man alle darin Versammelten auf ein Foto bannen, das gäbe ein ziemlich buntes Bild: alle möglichen Haut- und Haarfarben, Körpergrößen und Frisuren – von raspelkurz bis Rastazöpfe. Hätte ich alle Sprachen lernen müssen, die die porträtierten Jugendlichen sprechen, ich hätte mindestens ein Zusatzstudium gebraucht. Freundlicherweise konnten sie meine; sie redeten – bis auf eine Ausnahme, bei der wir es auf Englisch versuchten – alle fließendes Deutsch mit mir.

Jeder zehnte Jugendliche bei uns stammt aus einem »fremden« Land. In Berlin-Kreuzberg meint man, es müßten mehr sein, in kleinen bayerischen Dörfern vermutet man sicherlich viel weniger. Aber Zahlen und Statistik waren nicht das, was mich am meisten interessiert hat. Ich wollte wissen: Wie ist das eigentlich, wenn zu den Qualen der Pubertät, der sexuellen Orientierung, noch die Schwierigkeiten kommen, sich in eine andere Kultur einzufühlen, unvertraute Balzrituale, einen fremden Umgang mit Glauben oder Sex? Eine junge Türkin, Dilara, kann da zum Beispiel überhaupt nicht mitreden, weil sie auf jeden Fall bis zu ihrer Hochzeit Jungfrau bleiben wird. Sie geht weg, wenn die Gespräche unter Klassenkameradinnen wie selbstverständlich auf das »Thema Nummer Eins« kommen. Jorge, der 19jährige Mexikaner, hatte fürchterliche Ängste, zuzugeben, daß er schwul ist. Zu Hause, in seinem Land, kennt er Fälle, wo Familien ihre Söhne umgebracht haben, um die Schande zu verstecken, daß ihr Junge Jungen liebt. Schließlich Lina aus Taiwan, die in Aachen lebt und lesbisch ist. Wo sie herkommt, müßte auch sie ihre Natur verbergen. Doch selbst in Deutschland ist es schwierig genug, Ausländerin zu sein und gleichgeschlechtlich zu lieben, doppelt »anders« zu sein, sozusagen.

Sie erzählen, warum sie lieber »unter sich« bleiben, anstatt sich in Deutsche zu verknallen; wie stark die religiösen Wurzeln und die Familienmeinungen mitspielen, wenn es um ein junges Glück geht. Ausnahmen gibt es natürlich auch hier: Mohamed, ein arabischer Junge aus dem Irak, nimmt für sich ganz klar den westlichen Lebens- und Liebes-Stil in Anspruch. Wenn er schon in Deutschland gelandet ist, dann wartet er mit dem Sex auch nicht bis zu seiner Hochzeit, und Mädchen sind für ihn Menschen auf gleicher Ebene. Je mehr, desto besser.

Aber Liebe und Partnerschaft sind nicht die einzigen spannenden Bereiche. Schon das Visum für eine Klassenfahrt kann zum Problem werden, wenn es ins Ausland gehen soll und ein Schüler, eine Schülerin die deutsche Staatsbürgerschaft nicht hat. Und dann natürlich die alltäglichen kleinen ausländerfeindlichen Stiche. Abweisende Ärzte, seltsame Fragen stellende Lehrer; hyperventilierende Rentner, die Wohnungstüren wieder zuschlagen, weil ein Dunkelhäutiger davor steht. Selbst Slavko aus Kroatien, der wirklich aussieht wie ein nordischer Recke mit seinen langen blonden Locken und der schlanken, hochgewachsenen, kräftigen Statur, wurde als einziger Ausländer in seiner Realschule angemacht. Er hörte die typischen Sprüche: »Ihr nehmt uns die Arbeitsplätze weg. Geht doch wieder nach Hause.« In der Straßenbahn wurde er angegriffen, als andere Jugendliche seinen Akzent hörten. Er bekam einen Schlag auf den Hinterkopf, als er aussteigen wollte. Wenn mir solche und ähnliche Erlebnisse erzählt wurden, dann konnte ich mir nicht vorstellen, wie man lernt, damit zu leben, ohne in ständiger Angst zu sein. Aber der Afrikaner Johnny aus Berlin-Schöneweide, einer Gegend, in der die rechte Szene eine traurige Berühmtheit hat, erklärte es mir: »Ich wohne nun mal hier. Also gehe ich auch nachts um zwei durch den Park nach Hause. Soll ich mir mein Leben verbieten lassen? Das war’s.« Davis aus Nigeria geht noch einen Schritt weiter, zuckt gelassen die Schultern und meint lax, er habe »schon Schlimmeres gesehen« in seinem Heimatland. Sie lernen, damit umzugehen, sie sind nur einmal jung, suchen und finden ihren Weg, klarzukommen; und manchmal hilft ihnen auch ihr Gottvertrauen. »An manchen Tagen weiß ich schon, wenn ich das Haus verlasse: Heute muß ich vorsichtig sein«, sagt Johnny, »das liegt dann irgendwie in der Luft. Dann achte ich darauf, im Bus niemandem direkt in die Augen zu gucken. Man erlernt schon so seine Methoden.« Ich habe ihn an einem anderen Tag kennengelernt: Da fiel er auf in der S-Bahn mit seinem riesigen Ghettoblaster auf dem Schoß und dem rebellischen Blick im dunklen Gesicht. Ich sprach ihn an, und er sagte ganz unkompliziert für ein Gespräch zu.

Manchmal ging es so einfach, ein andermal bin ich auch versetzt worden. Eine junge Indonesierin bekam im letzten Moment Angst, eine Polin wollte einer Fremden wie mir dann doch nicht ihr Leben erzählen, und dann die drei jungen Türkinnen, die auf gar keinen Fall einzeln vor mein Mikrofon treten wollten. Zusammen mit allen ihren Freundinnen – vielleicht. Aber sonst nicht. Die Rolle der besten Freundin ist sowieso ganz wichtig, in diesem Alter ohnehin, bei ausländischen Jugendlichen noch um ein Vielfaches mehr, scheint mir. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, auch zwei Freundinnen-Gespräche ins Buch aufzunehmen. Das eine, weil Vanessa ihre Geschichte ohne die Anwesenheit ihrer Freundin Julia gar nicht über die Lippen bekommen hätte. Sie wollte aber erzählen, unbedingt. Auch wenn die Tränen flossen und sie oft mitten im Satz steckenblieb; sie hatte sich entschlossen, ihre Erlebnisse mit Erpreßbarkeit durch überstrenge Eltern und dem damit zusammenhängenden sexuellen Mißbrauch dieses eine Mal loszuwerden. Ich war sehr froh, daß Julia, die Freundin, an ihrer Seite saß und Hilfestellung gab.

Das andere Mädchen-Paar im Buch, Antonia und Viola, eine Viertel-Inderin und eine Brasilianerin, hat mich ganz einfach überzeugt, daß es sie nur »im Doppelpack« gibt. Sie sind so unzertrennlich, wie Mädchen es wohl nur in diesem Teenie-Alter sein können. Und ihre gemeinsamen Abenteuer zeigen, daß Geschichten von Ausländern in Deutschland ganz und gar nicht immer nur Geschichten von Opfern sind. Rebellentum, wilde Aktionen, ehrgeizige Träume; auch eigene Intoleranz gegenüber wieder anderen Kulturen – das gehört alles dazu.

Viele sagten mir, sie verstünden das Gejammere der Deutschen nicht. Warum nur seien die nicht dankbar für das Luxusleben, das sie führen dürfen. Die meisten der 14- bis 21jährigen in diesem Buch wünschten sich, sie könnten in ihrem Leben die positiven Wurzeln ihrer jeweiligen ursprünglichen Traditionen mit dem modernen westlichen Lebensstil und den Chancen, die sie in Deutschland haben, verbinden. Vielleicht käme dann etwas Neues, Besseres, Freundlicheres dabei heraus. Aber »zu Hause«, das ist in jedem Falle da, wo sie verliebt sind, in eine Stadt, eine Landschaft, einen Jungen, ein Mädchen.

In vieler Hinsicht schließt dieses Buch an »Sex gehört dazu. Geschichten vom Erwachsenwerden« an, denn eigentlich erzählen auch hier ganz normale junge Leute ihre ganz normalen Qualen mit Liebe, Lust und Leidenschaft. Dazu kommt eben »nur« die zusätzliche Ebene des »Andersseins« in einem Land, in dem die Regeln und das Lebensgefühl anders und für sie teilweise sehr fremd sind. Fast nebenbei kommt politisch-religiöser Zündstoff wie die heiß diskutierte Kopftuch-Frage zur Sprache. Im Buch sind beinahe alle Glaubensrichtungen vertreten, die es hier im Lande gibt; von den Zeugen Jehovas über Fernöstliches, das Christentum und den Islam; das Judentum. Ich rede so gern gerade mit jungen Leuten über diese Dinge, weil sie vieles ganz unverblümt beim Namen nennen, dabei keine missionarische Absicht verfolgen oder gar irgendeiner Lobby gefallen wollen.

Ich habe selbst sehr viel gelernt von meinen Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen. Einige Male bin ich schmerzhaft an innere Grenzen gestoßen und darüber hinausgegangen. Dafür danke – für euer Vertrauen und eür Eure Ehrlichkeit. Viel Spaß beim Lesen.

Katrin Panier

»ALTLANDSBERG UND DAS KAMASUTRA«

Priya, 19, Altlandsberg und Berlin

Daß ich eine Ausländerin bin in Deutschland, das ist mir erst sehr, sehr spät aufgefallen. Vielleicht mit zwölf, dreizehn. Ich finde das wirklich sehr spät. Indien habe ich ja nie gesehen, als Kind. Ich komme aus einem ganz kleinen Dorf in Brandenburg, damals dreitausend, heute sechstausend Einwohner. Ich bin dort geboren, aufgewachsen, hab’ dort meine Freunde gehabt, bin dort auch zehn Jahre zur Schule gegangen. Und die Leute, mit denen ich in einer Klasse war, die kannte ich auch schon von der Kinderkrippe, aus dem Kindergarten. Sie haben mir das nie gezeigt, und die haben das auch selber nicht so gesehen. Daß ich irgendwie anders sein soll als sie, meine ich. Ich wurde auch nie darauf angesprochen und habe das erst gemerkt, als ich in der sechsten, siebten Klasse war. Da wurde mal ein Spruch abgelassen von einem aus der Zehnten, und der nannte mich »Blaublüter«. Ja, ich weiß auch nicht, was er damit gemeint hat, irgendwas Indianisches vielleicht. Aber damals habe ich es gar nicht einordnen könne, nicht auf mich beziehen können. Ich merkte nur, es klang aggressiv, wie er das sagte. Letzten Endes habe ich versucht, die Sache einfach zu ignorieren; war halt nur ’n bißchen bedrückt, weil er zu mir so aggressiv war. Aus so ’nem ganz unnatürlichen Grund, weil ich ihn nicht kannte und er mich nicht kannte. Auf jeden Fall wußte er gar nicht, was er da sagte, er war eher so’n Dorftrottel. Verletzend wirkte sein Ton auf mich, das Aggressive eben.

Später bin ich dann natürlich auch mal raus aus dem Dorf in die Stadt gefahren, hab’ aber nie negative Erfahrungen machen müssen, daß ich jetzt angemacht wurde oder mich bepöbeln lassen mußte. Sondern die kamen vielleicht eher durch meinen Bruder. Er ist vier Jahre älter als ich, und er hat es sehr, sehr schwer gehabt in diesem Dorf. Als er in der ersten, zweiten Klasse war, da wurde er schon sehr oft verprügelt von Mitschülern und Älteren. Deswegen wurde er dann auch auf eine andere Schule versetzt, in einer anderen Stadt. Dazu muß ich aber auch noch sagen, er ist wirklich sehr intelligent und hatte auf dieser Dorfschule eigentlich nichts zu suchen gehabt. Ich weiß auch nicht, er hat immer alles abgekriegt, und ich wurde immer in Ruhe gelassen. Vielleicht auch, weil ich ein ganz, ganz kleiner Knirps war und einfach viel zu süß aussah, als daß man mit mir hätte stänkern können. Ich weiß es nicht.

Na ja, und dieses Bewußtsein, »du bist anders«, das kam dann nicht durch ein besonderes Erlebnis, sondern eher dadurch, daß ich mit 13, 14 öfter mal nach Berlin gefahren bin und diese Mixkultur hier gesehen habe. In Altlandsberg gab es höchstens ein paar Vietnamesen, aber so viele Dunkelhäutige eben nicht. Mein Vater, der ist ja nun um einiges dunkler als ich; ihm sieht man das ja förmlich an, aber ich hab’ das früher nie so mitgekriegt. Gar nicht.

Doch! Jetzt fällt’s mir wieder ein. Das war ja damals auch genau die Zeit, in der mein Vater Bürgermeister geworden ist und in der er sehr viele Drohbriefe bekommen hat. Androhungen, daß er im April – im April? Hitlers Geburtstag, ist der im April? – jedenfalls, ja, genau! Jetzt habe ich es genau vor meinen Augen! Ich muß es so erzählen: Also, ich habe ja ganz in der Nähe der Schule gewohnt, und morgens kamen ganz oft meine Freunde, wenn genügend Zeit war. Wir sind dann immer alle zusammen zur Schule gegangen. Und eines Morgens, als wir wieder einmal so saßen, da rief mein Vater an und meinte, daß ich aufpassen soll. Er hatte ein paar Drohungen gekriegt und beschwor mich, daß ich nur mit Freunden losgehen und auf gar keinen Fall alleine außerhalb des Schulgeländes herumspazieren sollte. Und das war das erste Mal gewesen, daß plötzlich so ’ne dunkle Drohung im Raum stand: »Priya, du mußt aufpassen.«

Das hat sich danach gehäuft. Immer wieder sagte er zu mir: »Priya, ich hab’ wieder ’ne Drohung gekriegt«, und ab da hat er mich auch nie alleine irgendwo hinfahren lassen, immer nur in Begleitung von jemandem. Das war ihm sehr, sehr wichtig gewesen.

Ich meine, das war ja auch ein dolles Ding: der erste und, ich glaube, auch bislang einzige ausländische Bürgermeister, den es in Deutschland überhaupt gab! Das war mein Vater. Ein Riesenrummel damals. Ich hab’ nie wieder dermaßen viele Reporter und Ü-Wagen in Altlandsberg gesehen. Jeder wollte ein Interview von ihm. Aber die Kehrseite ist eben leider dann das mit diesen Bedrohungen gewesen. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben richtig Angst gehabt. Konnte aber nicht verstehen, warum. Ich konnt’s einfach nicht verstehen. Weil ich damit ja auch noch nie konfrontiert worden war, und es war auch nie darüber gesprochen worden, in der Familie nicht und im Freundeskreis nicht, genauso wenig in Bekanntenkreisen. Es hatte ja auch noch nie einen Grund gegeben, darüber zu reden. Und nun war mein Vater auf einmal eine öffentliche Person geworden, er stand im Mittelpunkt, und dementsprechend erhält man positive und negative Resonanz. Und diese negative Resonanz hat mich dann angefangen zu prägen. Ich hatte zwar nie direkt große Panik deswegen, Angst aber schon. Und ich hab’ nie verstanden: Warum machen diese Leute das? Ich hab’ mich doch selber nie irgendwie anders gesehen, also warum sehen die uns denn anders? Das habe ich nie verstanden. Man ist ja in dem Alter auch noch so ’n bissel naiv, und da fragt man sich das eben: Warum machen die das?

Man stellt sich dann auch viele Fragen. Aber letztlich laufen die alle auf dieses einfache »warum« hinaus. Ich bin halt auch nicht so ’n sachlicher Typ, der immer auf Argumente pocht und alles diskutieren kann. Ich bin ein sensibler, emotionaler Mensch, so schätze ich mich selber ein. Und deswegen konnte ich das zwischenmenschlich gar nicht verstehen. Kann ich heute immer noch nicht; die Fragen sind noch genauso da. Wenn ich Filme sehe, die sich entfernt mit solchen Themen beschäftigen, »Schindlers Liste« zum Beispiel, da merke ich das dann. Es geht einfach nicht in meinen Kopf rein, wie Menschen so einen Haß auf Menschen hegen können, ohne Grund, ohne Bezug, ohne daß man sich persönlich kennenlernt. Ist ja kein persönlicher Grund. Und jetzt kommt das Schlimmste dabei: Ich kriege dann selber so ein Haßgefühl, kann nicht sachlich bleiben und kann nicht vernünftig reden. Mein Vater ist ja dann so, der sucht den Kontakt mit den Leuten – gerade mit denen, die ihn bedrohen und bekämpfen – und versucht da, ins Gespräch zu kommen und Offenheit zu zeigen: »Hej, was ist euer Problem? Laßt uns darüber reden. Es gibt andere Möglichkeiten außer Gewalt. Reden, reden, reden; man muß darüber reden.« Das ist seine Methode. Aber ich finde irgendwie keine Worte, um darüber zu reden. Mir fällt dazu nichts ein.

Ich weiß noch, mit 15 habe ich meinen damaligen Freund kennengelernt, der hat in Berlin-Neukölln gewohnt. Neukölln und Kreuzberg, das wird ja hier im Volksmund »Klein-Istanbul« genannt. Viele Türken wohnen da. Und nun bin ich ziemlich oft dahin gefahren, und da hab’ ich traurigerweise bei mir etwas ganz Merkwürdiges festgestellt. Daß ich nämlich so ’n Haßgefühl gegen die Türken auf einmal hatte. Das hat sich da eingestellt. »Haß« ist vielleicht ein bißchen zu übertrieben und zu kraß gesagt, aber so ’ne Abneigung dagegen. Wo ich gesagt habe: »Nee, mit denen will ich nichts zu tun haben.« Wenn ich jetzt den Grund dafür sagen soll – hm, da muß ich erst kurz überlegen. Weil diese Leute in Deutschland leben und teilweise zu diesem Land keinen Bezug herstellen können. Sie hassen Deutschland, und das zeigen und sagen sie halt auf der Straße. Ich hab’ das mal erlebt: Da gibt es so ’ne Brücke über der Stadtautobahn, und da standen Türken drauf, die haben runtergespuckt auf die Autos und runtergeschrieen: »Ihr Scheiß-Deutschen!« Klar, wie man so was dann einordnet mit 15. Da war bei mir genau dasselbe Unverständnis von der anderen Seite her. Daß ich mich wieder gefragt habe: »Wieso machen die Leute denn das?« Und das war auch das erste Mal, daß ich selbst angepöbelt worden bin. Von Türken. Das war am hellichten Tag, da sind neun Türken mir einfach hinterhergekommen. Die haben mich regelrecht verfolgt. Wobei ich denke, daß es nicht so sehr etwas Rassistisches, sondern eher etwas Sexistisches war, was dahintersteckte. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, was die mir hinterhergerufen haben – vielleicht will ich es ja auch gar nicht wissen –, es ist aber auf jeden Fall penetrant und unangenehm gewesen.

Aber mir fällt jetzt noch etwas ein: Diese türkischen jungen Mädels, die sind auch sehr, sehr aggressiv. Das habe ich dort auch gemerkt. Ein Erlebnis: Ich gehe aus der S-Bahn raus, Berlin-Neukölln, und man weiß ja, zuerst läßt man die Leute aussteigen, und danach erst gehen die anderen Leute rein. Und da standen halt so drei, vier Türkenmädels vor mir, ich wollte raus, und die drängeln sich so vor mich, versperren mir den Ausgang. Und ich schubse die wirklich nur ganz leicht zur Seite, damit ich durch kann, und da merke ich, wie die eine mir mit dem Ellbogen voll in den Rücken reinhaut. Ich drehe mich um, da brüllt mir die eine hinterher: »Ej, Alte, was machst du da«, so voll brutal irgendwie. Ich bin schließlich einfach gegangen, war verwirrt, perplex; vielleicht auch so ’n kleiner Schock irgendwo. Weil ich damit einfach nicht gerechnet habe. Man kann ja mit der Zeit gewisse Gefahren abschätzen. Wenn ich mehrere türkische Männer zusammen in so ’ner kleinen Traube stehen sehe, dann mache ich von vornherein einen Bogen drum herum. Einfach, um das nicht zu provozieren, daß ich so angemacht werde. Ich bin ja so schon Provokation genug, allein dadurch, wie ich aussehe. Aber bei den Frauen, das war mir unerklärlich. Ich konnte das echt nicht verstehen.

Ja, ich falle auf. Ich versuche immer, das zu verbergen; ich gucke auf den Boden statt nach oben. Das ist mir teilweise sehr unangenehm. Aber zum Glück wohne ich ja jetzt im Prenzlauer Berg, und ich habe noch nie einen Bezirk so genossen wie diesen. Weil hier wirklich eine Mischung an bunten Kulturen ist, und alle leben so friedlich miteinander. Auf der Straße, da kommt ein deutsches Pärchen vorbei, dann Asiaten, als nächstes ein Afrikaner. Und es fällt einfach nicht mehr auf. Man fällt als einzelne Person nicht auf. Gar nicht.

Keine Ahnung, warum die Atmosphäre in Neukölln so anders ist. Ich meine, bei mir erkennt man ja auch nicht gleich auf den ersten Blick, wo ich herkomme. Ob da ein Teil Indisches dabei ist oder etwas Arabisches oder vielleicht sogar ein bißchen Türkisches. Aber die Türken haben natürlich gesehen, die paßt hier auch nicht rein, und das habe ich halt vor allem bei den Frauen gemerkt. Die waren aggressiv und haben mich ganz böse abgemustert. Ich kann mich so schwer unsichtbar machen. Und dort hab’ ich mich dadurch eben sehr, sehr unwohl gefühlt.

Mein Glück war sicher mein Freundeskreis. Wo ich mich nie anders als die anderen gefühlt habe und wir uns schon seit Babyzeiten kannten. Ja, kann man schon so sagen. Die einzige Sache, das fällt mir jetzt gerade ein, das war mit meinem Freund Tim in der neunten, zehnten Klasse. Wie alt ist man da? 15, 16, genau. Und mit Tim habe ich immer schon zusammengewohnt. Zuerst in so ’nem Plattenbau, und dann in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern. Wir sind gemeinsam umgezogen. Also, ich habe immer schon Haus an Haus mit ihm gewohnt. Oder Wohnung an Wohnung. Das war so die »Beste-Kumpel-Sache« gewesen. Ja, ganz richtig: im Buddelkasten gespielt, später zusammen Fahrrad gefahren, so was. Und dann, in der zehnten Klasse – er war den Jungs auch weit voraus gewesen in seiner Entwicklung – , da waren ihm die Gleichaltrigen irgendwie zu blöde. Er hat dann neue Freunde gefunden, die älter waren als er, die aber alle rechts gesinnt waren. Die überwiegend unsere Familie respektiert haben, meinen Vater, meinen Bruder und mich, die aber trotzdem rechts gesinnt waren, was man ihnen auch angesehen hat. Springerstiefel, diese Jacken mit der Aufschrift »Londsdale«; die ganzen Klamotten, Glatzen, auch die Musik. Und wenn ich denen so begegnet bin, haben sie mich zwar nicht angelächelt, aber auch nicht grimmig angeschaut. Und Tim wurde in dieser Gruppe angenommen – das sind jetzt diese Dorfgeschichten! so was hat man in Berlin, glaube ich, nicht in der Art – , ja, und dann fing er halt auch an mit diesem rechten Style und mit dieser Musik, und von da an hatten wir gar keinen Kontakt mehr. Das war also schlagartig aus. Wir haben uns auch gar nicht mehr begrüßt, nicht mehr beachtet, und das hat mich schon belastet. Daß er mich so verleugnet hat, obwohl wir jeden Tag miteinander gespielt und später rumgehangen hatten und gegenseitig Teil unseres Lebens waren. Ich kann mich noch erinnern, als ich das erste Mal meine Periode gekriegt habe, da bin ich sofort zu ihm hingerannt und hab’ mich bei ihm ausgeheult. Halt so ’ne Sachen, die man nicht mit jedem Freund beredet. Er war schon ein besonderer Freund gewesen. Und dann hat er mich auf einmal verleugnet. Es kam jetzt auch nicht von mir aus. Oder ich hab’ auch nicht gesagt: »Hej, entweder diese Freunde oder ich« – gar nicht. Es war ganz schlagartig gewesen. Und in dieser Zeit hat sich auch unsere Klasse geteilt. Das war das erste Mal, daß sich die Klasse geteilt hat in »Rechts« und »Links«. Da bildeten sich Gruppen, und man hatte nichts mehr miteinander zu tun. Ganz einfach.

Ach, ich merke gerade, ich hab’ ja schon wieder was total verdrängt. Gerade die Mädchen, die in der »rechten« Gruppe waren, die haben mich gern und oft provoziert. Einmal im Unterricht, wir waren ohne Aufsicht und sollten selbständig irgendwas erarbeiten, da drehte sich die eine von denen zu mir um und sagte: »Negervotze.«

Aber ich muß sagen, die Provokation war gegenseitig. Ich hab’ mich dann auch »links« gekleidet und linke Musik gehört; hatte diese »Gegen Nazis«-Aufkleber überall. Also, ich wollte meine Meinung schon zum Ausdruck bringen, war alles andere als neutral gewesen. Die haben ihre »rechte« Seite ausgelebt und ich meine »linke«. Habe aber nie verbal provoziert. Nur, indem ich Boots getragen habe, weite Hosen, Aufkleber, Plaketten, aufgenähte Sachen. Ich bin halt nicht so ’n aggressiver Typ. Also, ich strahle jetzt auch nicht so was aus: »Ej, nach der Schule treffen wir uns, und dann klären wir das mal gründlich ... » – Also solche Sachen habe ich da jetzt nicht angestiftet.

Moment, mit einer Ausnahme: Eine Freundin von dem Mädchen, das zu mir »Negervotze« gesagt hat, mit der gab es noch mal einen Zwischenfall. Im Sportunterricht. Wir spielten Volleyball, der Lehrer war kurz woanders beschäftigt, und sie sollte das Spiel pfeifen. Sie hat total unfair gepfiffen, und nach einer Weile protestierten alle und sagten: »Wir warten jetzt auf den Lehrer und spielen nicht mehr mit.« Da rastete sie aus, schrie rum: »Bewegt jetzt eure fetten Ärsche!« und so was. Und auf einmal fiel ich ihr irgendwie auf, und da kam dann: »Du versteckst dich doch sowieso bloß hinter deinem berühmten Vater!« Das war das Argument, was mich so aufregte. Ich würde mich immer nur hinter meinem Vater verstecken. Um nicht ausfallend zu werden, drehte ich mich um und wollte rausgehen. Da fing sie auf einmal an zu klatschen. Sie stand am Ausgang, ich ging in ihre Richtung, und da klatschte sie Beifall, mit so ’nem ganz fiesen Grinsen im Gesicht. Da konnte ich einfach nicht mehr. Und da bin ich zu ihr hingegangen und hab’ ihr eine gehauen. Worauf ihre Freundin von hinten kam, um sie zu unterstützen. Und dann haben sie beide auf mich draufgehauen. Das war dieses Weiber-Catchen, also nicht wirklich brutal. Aber so ein bißchen heftig schon.

Ich glaube, zuschlagen mußte ich, weil sich da in mir etwas aufgestaut hatte. Einfach, weil ich immer versucht habe, alles zu ignorieren, und weil ich nie darauf reagiert habe. Und sie hat auf meinen Vater angespielt, und das ging mir total daneben. Weil das nie der Fall war, daß ich mich auf seinem Ansehen im Dorf ausgeruht hätte. Das war immer schon so mein Problem gewesen. Die Stellung, die ich durch meinen Papa in Altlandsberg hatte. Weil, die Leute haben immer auf mich geguckt und mich beobachtet, was ich mache. Also, ich weiß, daß ich einmal mit ’ner Freundin in der Stadt betrunken war, und das kam am nächsten Tag gleich zu meinem Vater. Wir haben nichts Schlimmes gemacht. Wir saßen nur einfach auf einer Treppe und haben getrunken, und das erreichte meinen Papa postwendend. Aber gleich noch mit wilden Geschichten drum herum: »Ja, da saß noch ein ganz alter Mann daneben, und die haben gekotzt ohne Ende.« Wo ich dachte: Wo kommen denn bloß diese Geschichten her? Einen alten Mann habe ich ja gar nicht bemerkt, und gekotzt hat auch keiner. Und solche Sachen gab es eben öfter. Daß man mich beobachtet hat, wenn man mich gesehen hat, und das war mir immer unangenehm gewesen. Und Altlandsberg besteht ja nur aus einem Kern, der sich auf eine Hauptstraße beschränkt. Also man muß grundsätzlich durch die ganze Stadt durch. Und ich bin halt immer außen herum gegangen. Da gibt es so ein paar Waldwege, die alte Stadtmauer; da kann man auch gut Fahrrad fahren. Hauptsache, nicht durch die Stadt durchgehen. Da waren ja auch immer viele nette Leute, die gegrüßt haben und mich angesprochen: »Ach, Priya, bestellen Sie mal liebe Grüße an Ihren Vater« oder: »Ach, Mädchen, du bist aber schon groß geworden!« Das fand ich ja auch ganz putzig, aber es war für mich eben gleichzeitig immer ein bißchen wie Spießrutenlaufen. Ich konnte nie unerkannt mal einfach nur da durchgehen. Und deshalb habe ich dann versucht, diese Straße zu meiden.

Klar, das war ja auch alles nicht böse gemeint. Die Leute waren halt stolz auf ihr Dorf und ihren exotischen Bürgermeister und wollten das auch zeigen. Nur, ich bin eben ein Kind gewesen, in der Pubertät, und mich haben ganz andere Sachen interessiert zu der Zeit. So sehr ich es vielleicht auch genossen habe, wenn mein Papa mich zu Veranstaltungen mitgenommen hat. Er ist ja auch im Lion’s Club drin, und da sind wir manchmal Golfspielen gegangen, mit den dazugehörigen Kindern. So was habe ich dann schon sehr gern angenommen. Aber sonst ...

Als ich elf war, haben sich meine Eltern scheiden lassen. Das fällt mir zum Stichwort »Pubertät« vor allem ein. Meine Mutter ist mit mir nur ein paar Straßen weiter weggezogen, und mein Vater ist mit meinem Bruder im Haus wohnen geblieben. Das war auch die Zeit, als ich zum ersten Mal nach Indien gefahren bin, mit elf. Und genau an dem Tag, als ich von dieser Reise wiederkam, da hat meine Mutter mir eröffnet, daß sie sich eine Wohnung genommen hätte. Daß meine Eltern getrennt leben wollten, wußte ich schon seit ungefähr einem Jahr, ich hatte es nur verdrängt. Und jetzt kam auf einmal die Frage: »Du, Priya, ich hab’ da ’ne Wohnung, und darin ist auch ein Zimmer für dich vorbereitet. Möchtest du zu mir kommen, oder möchtest du bei Papa bleiben?« Und ich bin ein absolutes Mama-Kind. Mein Bruder war ein Papa-Kind und ich ein Mama-Kind. Ganz klar. Und so bin ich mit zu meiner Mama gezogen. Und das war schlimm. Einfach, weil es auch offiziell wurde in der Stadt. Nicht nur, weil Papa so prominent war. Ich kannte auch wirklich sonst keinen in der Klasse, wo die Eltern sich haben scheiden lassen. Beziehungsweise getrennt leben. Man muß ja sagen, getrennt leben, denn geschieden sind sie bis heute nicht.

Zuerst fand ich es gar nicht mal so schlimm. Weil ich schnell gemerkt habe, daß die doppelte Liebe auf einen einprasselt. Man wird von allen Seiten becirct. Was mich gestört hat, war, daß es öffentlich wurde. Daß zum Beispiel Lehrer zu mir kamen und gesagt haben, daß es ihnen leid tut. Meine Klassenlehrerin hat mich sogar in den Arm genommen und selber angefangen zu weinen. Im nachhinein hörte ich, daß sie selber ’ne Scheidung hinter sich hatte und auch eine Tochter etwa in meinem Alter, so daß sie vielleicht deswegen so betroffen reagiert hat. Aber für mich war das echt belastend. Auf einmal kannte ich immer mehr Leute, die auch geschieden waren. Das fand ich sehr interessant, daß ich das früher nie so wahrgenommen hatte, und auf einmal fielen mir die ähnlichen Schicksale auf. Sieht man das, was einen selber beschäftigt? Mir kommt es so vor.

Also, zuerst habe ich diese Trennung nicht so negativ empfunden. Ich hab’ mich wohlgefühlt, hab’ doppelt meine Geschenke gekriegt. Und obwohl meine Eltern nicht zusammen wohnten, habe ich meinen Vater trotzdem jeden zweiten Tag gesehen. Und das war im Grunde auch das erste Mal, daß er sich wirklich um mich gekümmert hat. Mein Vater ist – untypisch indisch. Der ist gar nicht so typisch indisch. Der sieht zwar so aus und hat seine Familie in Indien, die Verwandten, aber ein richtiger Inder ist er nicht. Er war ja erst 18, als er nach Deutschland gekommen ist. Also, was typisch ist, das ist seine Gelassenheit, seine Ruhe, seine ruhige, sachliche Ausstrahlung. Und was ich am schlimmsten finde: Er redet niemals laut. Man kann nicht schreiend mit ihm streiten. Und wenn ich meine indischen Onkel sehe, ist das bei denen genauso: da wird nicht laut gestritten, da gibt es keine aggressiven verbalen Auseinandersetzungen. Das ist alles auf einer sehr, sehr ruhigen, gelassenen Ebene. So weit paßt mein Papa in die Mentalität. Was bei ihm ganz anders ist, möchte ich mal so ausdrücken: Ich habe es so kennengelernt, daß die indischen Familienväter viel stärker familienbezogen sind als er. Mein Vater ist keiner, der mich andauernd in den Arm genommen hat und »wie geht’s dir denn?«, und gekuschelt und gespielt, das war halt nicht so gewesen. Damit will ich nicht sagen, daß er weniger Liebe für mich empfindet; es ist einfach seine Art und Weise. Also, ich sehe das ein bißchen als Gefühlskälte. Ich habe ihm das auch schon einmal vorgeworfen. Ich hab’ die Aufmerksamkeit erst gekriegt, als sie sich getrennt hatten.

Wie gesagt, zuerst fielen mir nur die guten Seiten daran auf, aber nach einiger Zeit wurde ich dann doch traurig. Weil ich ein Familienmensch bin und mir das alles gefehlt hat, diese Wärme und Geborgenheit. Meine Mama ist oft weg gewesen, und ich war oft alleine zu Hause, hab’ sehr viele Freiheiten gehabt. Das ist wieder dieses Einerseits und Andererseits! Einerseits bin ich dankbar dafür, daß ich selber meinen Charakter prägen konnte, meine Werte finden konnte. Andererseits, dieses abendliche Zusammensitzen und sich Fallenlassenkönnen, das hat mir gefehlt. Die Pubertät tat das ihre, und so kam dann eine Zeit, in der ich sehr wütend geworden bin. Hab’ meine Mama angegriffen, so mit »ich hasse dich« und »du Arschloch«, also ich war wirklich hemmungslos in meinen Ausdrücken. Ich hab’ mich regelrecht an ihr abreagiert, so mit Vorwürfen: »Warum hast du dich von Papa getrennt? Warum hast du mir das angetan?« Ich war halt ganz egoistisch damals. Ich hätte das gerne so-und-so gewollt, und das ging nicht nach meiner Nase. Und das habe ich voll auf meine Mama abgewälzt. Sie hat das aber nicht persönlich genommen, zum Glück. Vielleicht konnte sie das, weil sie Psychologin ist, keine Ahnung. Aber mir hat das im nachhinein jedenfalls sehr leid getan. Ich entschuldige mich heute noch dafür. Weil ich halt nicht einfach war. Schon als kleines Kind. Immer zu emotional und dramatisch. Ja, dramatisch. Das paßt gut. Ich hab’ sie ja nicht nur angeschrieen, ich bin auch durch die Wohnung getobt, hab’ mich auf den Boden geworfen und bin teilweise sogar handgreiflich geworden. Hab’ meine Mama geschubst und habe es so weit getrieben, daß ich irgendwann eine gescheuert bekam von ihr. Einfach, damit ich mich wieder beruhige. Ich meine, was soll sie auch sagen! Wenn so ein ausgeflipptes Kind beschließt »Mama ist die Böse«, was soll sie dann noch großartig erwidern. Ja, soviel zum Thema Pubertät.

Ich habe immer schon viel Aufmerksamkeit gebraucht, schon als kleines Kind. Ich denke aber, da ist niemand daran »schuld«, sondern das liegt schon in mir drin, in meiner Person. Das hat sich in der Pubertät nur verstärkt.

In der Schule hatte ich das große Glück, daß ich nie gehänselt worden bin wegen körperlicher Merkmale, die sich so entwickelten. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muß ich sogar zugeben, daß ich eher zu denen gehört habe, die andere gehänselt haben. In rassistischen Dingen habe ich zwar nie provoziert, aber ich will nicht behaupten, daß ich so das Unschuldslamm wäre. Auf gar keinen Fall. Auf bestimmten Leuten habe ich auch rumgehackt, da kamen von mir auch böse Sprüche. Da fällt mir eine Mitschülerin ein, die hat immer viel zu laut gelacht, kam aus einem ganz spießigen Elternhaus und war eh schon die Außenseiterin. Und da habe ich schon mitgezogen, wenn wir ihr gesagt haben: »Nee, du gehörst hier nicht dazu. Du kommst nicht mit uns mit.« Solche Dinge legen sich aber mit dem Älterwerden. Zum Glück.

Daß ich selber nie gehänselt wurde, lag vielleicht auch daran, daß ich nie Probleme mit mir und meinem Körper ausgestrahlt habe. Da bin ich wirklich ein ganz untypisches Mädchen. Ich hab’ immer schon gern gegessen und gegessen und gegessen, und ich mußte mich nie fürchten: »O Gott, lieber hungern, weil sonst dick« oder so. Das ist heute noch genauso. Ich liebe Essen, und ich mag es auch, wenn Frauen ein bißchen weiblicher aussehen. Nee, ich fang mal anders an: Ich hab’ schon mit neun Jahren einen Busen gehabt. Wir sind deswegen sogar zum Arzt gefahren, weil mein Vater ein bißchen ängstlich war wegen Knoten in der Brust, und da wollte er lieber kontrollieren lassen, ob das normal ist, dieses Wachstum mit neun.

Meine Freundin sah genauso aus wie ich: auch etwas breitere Hüften, schmale Taille aber und einen großen, kräftigen Busen. Wir haben beide auch schon ganz zeitig unsere Tage gekriegt, da waren die anderen Mädchen noch längst nicht so entwickelt. Trotzdem hat nie jemand etwas Fieses dazu abgelassen, so nach dem Motto: »Ihr seid zu fett.« Ich denke schon, das liegt daran, daß ich nie den Eindruck erweckt habe, ich wäre unzufrieden mit meinem Aussehen.

Eigentlich kann ich mich nur an einen großen Schock erinnern: Ich hatte damals ganz, ganz lange schwarze Haare, und die waren so dick, daß man nicht mehr durchkämmen konnte. Mit dem Kamm nicht und mit den Fingern auch nicht. Und meine Mama meinte, sie schneidet mir die Spitzen, und hat einfach alles abgeschnitten. Der Alptraum jedes Mädchens! Und auch Papa ist total ausgeflippt, wirklich böse. Und auch die Lehrer. Total entsetzte Gesichter, totales Unverständnis. Ich meine, die haben meine Haare auch nicht kämmen müssen. Und dann hatte ich irgendwann einen Afro, hab’ geheult, wollte nicht zur Schule gehen. Lustig, so ’n kleiner Afro, so ein Mozart-Haarschnitt, nur mit schwarzen Haaren. Heute kann ich auch darüber lachen, aber damals ... Na ja, und jetzt sind die Haare so halblang. Keine Probleme mehr damit.

Das war das einzige, wofür ich mich jemals geschämt habe: meine Frisur. Aber mein Körper hat mir immer schon gefallen. Freßanfälle kenne ich auch, aber ich bin nie danach auf die Toilette gegangen, um mich zu übergeben. Meine Mutter kannte mich da auch ganz gut, sie hat sich nie Sorgen um mich gemacht, ich könnte magersüchtig werden oder so. Ich hab’ da eine ganz gesunde Einstellung dazu, zu mir. Ich hab’ das auch von meinem letzten Freund gehört: Der konnte noch nie mit einem Mädel so gut essen. Wenn wir abends im Bett lagen, dann grundsätzlich mit Chips und Schokolade. Und morgens beim Frühstück, da schmiere ich mir fett Nutella auf mein Brötchen. Das hat ihm gefallen. So eine wie mich kannte er vorher noch nicht. Ich versuche auch, selber zu kochen. Leider kostet das Geld, und dadurch, daß ich immer so ’n kleines finanzielles Defizit habe in der Wintersaison, ist das nicht ganz so einfach. Aber ich versuch’s. Ich hab’ auch zu Weihnachten von meiner Mama ein dickes Kochbuch bekommen und diese ganzen Gewürze hier in meiner Küche, dazu Öle und so was Raffiniertes. Ich improvisiere gerne. Indisch leider nicht, nein. Kommt vielleicht noch.

Letztes Jahr war ich wieder für zwei Monate in Indien. Weil ich so ’nen kleinen innerlichen Kampf hatte, oder weil einfach dieser Punkt da war, wo man ein bißchen desorientiert ist und wo ich einfach mal ’n bißchen abschalten mußte. Mir hat jegliche Motivation zu irgendwas gefehlt. Da bin ich für zwei Monate nach Indien geflogen, hab’ dort bei Verwandten gewohnt und auch ein bißchen Englischunterricht gehabt. Und das war das erste Mal, daß ich dieses Land so richtig auf mich einwirken lassen konnte. Daß ich überhaupt Sachen wahrgenommen hab’. Familie, die Traditionen. Daß das meine Familie ist, die da so kraß indisch ist! Daß ich indische Verwandte habe, die in Indien ihre Kultur leben. Davor, mit elf Jahren, war ich ja nicht allein da gewesen. Ich hatte meinen Vater dabei, meinen Bruder, hab’ mit dem immer Blödsinn gemacht. Hatte also Bezugspersonen, die mich von den eigentlichen Eindrücken abgelenkt haben. Da war ich in meiner eigenen Welt. Und auch die zwei, drei Male danach, da waren wir immer mit Freunden aus Deutschland da gewesen. Da war nichts in mir, das angesprungen wäre; so ein heißer Draht zu Indien, zu meinen Wurzeln vielleicht. Ich habe nichts Derartiges gespürt.

Aber letztes Jahr, das hat so alles umgekrempelt. Da habe ich viel mehr über meine Familie, auch über meinen Vater, erfahren. Mein Vater spricht ja nicht sehr viel über sich, über seine Erziehung. Wenn, dann lese ich in der Zeitung über ihn, oder höre, wie andere Leute über ihn sprechen. Und dort, in Indien, erfuhr ich plötzlich, daß er zweimal im Gefängnis war. Weil er schon immer so ’n kleiner Rebell war und sich für die Menschen eingesetzt hat und einfach die Menschenrechte durchsetzen wollte. Das kommt von seinen Großeltern, die sich als Kommunisten genauso engagiert und das auch zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben.

Das wurde mir in Indien klar. Und dann vor allem die Menschen. Daß Menschen so grundverschieden sein können, mit Ansichten, mit Werten; verschieden von dem, was ich aus Deutschland kenne, meine ich damit. Das fängt bei ganz simplen Dingen an: ich hab’ zum Beispiel ’ne kleine Cousine, die ist erst vier. Und die geht in die Vorschule, ist dort bis vier Uhr nachmittags, kommt nach Hause und macht eine Stunde lang Hausaufgaben. Der Unterschied ist immens! Die Kinder lernen hier mit vier im Kindergarten, wie sie mit ’ner Schere umgehen. Und sie lernt dort, wie man rechnet, schreibt, Sprachen. Sie konnte ihre Heimatsprache sprechen und schreiben, und dann hat sie parallel dazu noch zwei Sprachen gelernt, mit vier Jahren. Und das fand ich beeindrukkend. Das fand ich unglaublich. Ich erzähle das auch sehr, sehr gerne, weil sich viele Leute dessen einfach nicht bewußt sind, daß Deutschland in solchen Sachen noch so unglaublich weit hinterher ist. Es gibt so viele Menschen in Indien und so viele unglaublich arme Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Aber der Ehrgeiz, seine Möglichkeiten auszunutzen, etwas aus seinem Leben zu machen, der ist so stark und weit verbreitet, das war mir vorher nicht bewußt. Und hier in Deutschland beobachte ich, daß so viele Menschen so viele Möglichkeiten haben und die einfach nicht nutzen. Dieser Ehrgeiz, das Beste aus seinem Leben zu machen. Diese Motivation »man muß«. Da ist es keine Frage »möchtest du vielleicht?«, sondern. »du mußt«. Und das habe ich so nicht kennengelernt. »Nö, das mag ich nicht; nö, das will ich nicht«, und das wurde so akzeptiert. Ich habe halt immer meinen Bock durchgekriegt. Und vielen anderen deutschen Kindern geht das auch so, und in Indien gibt’s das eben nicht. Woran das liegt? Es ist nicht vielen Leuten in Indien gegeben, überhaupt zur Schule zu gehen. Und dann ist das so ’n Gesellschaftsding. Ich hab’ mir das von meiner Tante so erklären lassen, daß es das Ansehen hebt, wenn die Kinder nachmittags nicht draußen spielen, sondern drinnen lernen. Sie sollen lernen, streben, so viel Wissen wie nur möglich aufnehmen, damit sie später bessere Chancen haben. Da sind die Inder sehr extrem, finde ich. Sehr familienbezogen. Und sie möchten wirklich das Beste für ihre Kinder. Das ist keine Bestrafung, daß die nicht rausgehen können, spielen, sondern eine Form von Liebe. Das hat nichts zu tun mit dem Leistungsdruck, wie wir ihn von Deutschland her kennen. Das sind wirklich zwei verschiedene Paar Schuhe. Hier kommt der Druck ja ganz oft daher, daß die Eltern mit sich selbst unzufrieden sind. Schon psychologisch gesehen ganz unterschiedliche Gründe, wieso Kinder unter Druck gesetzt werden. In Indien gibt’s nur einen Grund: »Mach das Beste aus dir, nutze deine Möglichkeiten«, aber das muß einfach aus dem Menschen selbst kommen. Das, wozu es ihn von alleine drängt.

Und ich hab’ mich teilweise auch ’n bißchen blöd gefühlt, weil mein kleiner Cousin, der ist zwölf und der Bruder von dieser Vierjährigen, der hat so ein Wissen, das habe ich in der Elften oder Zwölften erst angefangen zu lernen. So in Biologie, in Physik; Sachen, die verstehe ich heute noch nicht so wie er. In Mathematik auch. Und als er gehört hat, ich habe Englisch-Nachhilfeunterricht, da ist er zu seiner Mama gegangen und hat sie gebeten: »Das will ich auch.« Und dann bekam er ebenfalls Englischunterricht. Und für den ist es auch ein Ehrgeiz, gute Noten zu bekommen. Hier sind die Zensuren ja vielen egal. Ist halt ein abgesicherter Staat. Mir kann ja nichts passieren. In Indien geht es oft genug um Leben oder Tod.

Aber es gab auch viel Unverständliches für mich dort. Die Inder sind so unglaublich intelligente Menschen, wirklich unglaublich intelligent. Aber warum – mit den Hochzeiten. Warum werden die Frauen versprochen und die Kinder. Warum wird da nicht aus Liebe geheiratet? Das konnte ich halt nicht verstehen. Da habe ich auch sehr viel nachgefragt bei meiner Tante, der Mutter von den beiden beschriebenen Kindern. Sie hat Glück gehabt; ihr Mann ist ein sehr, sehr netter und auch gutaussehender Inder. Aber ich wollte von ihr immer wissen, wie das ist, daß sie ihn nicht aus Liebe geheiratet hat und auch nicht die Möglichkeit dazu bekommen hat. Das ist eine Erziehungsfrage. Da wird nicht drüber nachgedacht und nicht dagegen rebelliert. Das habe ich als Fazit mitgenommen. Ein Paar habe ich kennengelernt, die sich darüber hinweggesetzt haben. Die leben im selben Glauben wie meine indischen Verwandten, kennen das ebenfalls mit dem Versprochenwerden, aber die haben trotzdem aus Liebe geheiratet. Und das merkt man auch. Ich war dort eingeladen, hab’ bei denen und ihren beiden Söhnen für zwei Wochen gewohnt, und da war eine Familienharmonie, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Die schönste Zeit ist das gewesen, dort in dieser Familie zu sein. Einfach klasse. Ich war wie die Tochter, die sie niemals hatten. Und dann auch dieses Miteinander, das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Leuten zu sehen, diesem Ehepaar. Für diese Liebe mußten sie hart kämpfen, gegen die Normen, gegen ihre Eltern. Sie wurden zeitweise aus ihren Familien verstoßen; also sie haben nicht dieses »Okay« gekriegt von ihren Eltern. Sie mußten kämpfen, und es hat sich gelohnt.

Aber das ist, was ich an Indien nicht verstehen kann: daß sie selber auf ihre Menschenrechte verzichten. Freie Liebe, freie Partnerwahl. Also, die Inder sind schon ein ganz interessantes Volk. Ich kann mich damit aber nicht identifizieren, gar nicht. Und ich denke, das liegt daran, daß ich ganz, ganz anders aufgewachsen bin, daß mein Denken, meine Werte sich stark von indischem Denken, indischen Werten unterscheiden.

Ich hab’ momentan keinen Freund. An meiner Klingel stehen zwar zwei Namen, aber der zweite gehört zu meiner Mitbewohnerin. Wir teilen uns die Miete, sonst ginge das ja nicht mit unseren zwei Zimmern Altbau im Prenzlberg. Vor kurzem war ich fünf Monate mit jemandem zusammen. Ja, ach – auch, wenn ich jetzt hier rede, ich muß die ganze Zeit an diesen Typen denken. Es ist unglaublich. Das ist ’ne längere Geschichte, so ’ne Beziehungsgeschichte. Man kann nicht mit, man kann nicht ohne denjenigen. Er ist so ein wahnsinnig interessanter Mensch. Aber wir haben beide so ein Schamgefühl, so eine Wand vor uns; solche Angst, verletzt zu werden. Und das macht die Sache so konfus.

Ich war aber vor einem Dreivierteljahr mit jemandem zusammen, das hat drei Jahre gedauert. Der, für den ich mit 15 nach Neukölln gefahren war. Weil es mir da nicht gefallen hat, sind wir, als ich 18 war, nach Lichtenberg gezogen, in eine ganz ruhige Ecke von Berlin. Aber dort war es mir wieder zu ruhig. Ein Jahr haben wir dort gewohnt, und im September vergangenen Jahres bin ich dann hierher gekommen. So richtig feste Beziehungen hatte ich erst vier. Das andere, das waren keine richtigen Beziehungen, nur Zwei-, Dreimonatsdinger, was aber kein Fundament hatte. Liebe und Sex sind für mich unglaublich wichtig. Ich fühle mich auch total einsam im Moment. Ich brauche eine Bezugsperson.

Und als ich damals von zu Hause ausgezogen bin, war mein Freund meine Bezugsperson gewesen. Und hier, im Prenzlauer Berg, bin ich das erste Mal ganz und gar auf mich allein gestellt. Wo ich mich wirklich mit mir selbst auseinandersetzen mußte. Wo ich doch immer dachte, ich bin schon so erwachsen und schon so selbständig und verdiene schon mein Geld. Und hab’ gemerkt: Ich bin jetzt erst, in dieser eigenen Wohnung, richtig selbständig geworden. Dadurch, daß ich gelernt habe, mit mir allein zu leben. Auf mich aufzupassen. Weil ich auch immer solche Schwierigkeiten habe, mich selber zu beschäftigen und so was.

Übrigens, ich rede total gern über Sex. Auch sehr offen und versaut. Was soll ich jetzt davon erzählen? Okay. Also, ich arbeite zur Zeit im Eiscafé, meine Chefs sind beide schwul. Denen sieht man es aber so nicht an, die sind ganz männlich in ihrer Art, sind aber hundertprozentig schwul. Zwei junge Leute. Und diese Arbeit macht so viel Spaß. Ist zwar sehr, sehr anstrengend, Eiscafé im Sommer, aber ich möchte dort so lange wie möglich arbeiten, auch, wenn ich später meine Ausbildung mache. Einfach, weil es so ungezwungen ist und weil wir alle gleichgestellt sind. Wir haben halt auch so Mitspracherecht, wenn ich jetzt sage: »Nö, das paßt mir nicht«, oder wenn ich eine neue Idee habe, das wird alles gleichberechtigt ernst genommen. Und dort ist das so Kiez-Atmosphäre. Viel mit Küßchen hier, Küßchen da, mit heidschi-deitschi und ete petete. Das beste Arbeitsklima, was ich je hatte, aber eben auch sehr versaut. Die beiden jungen schwulen Chefs sind sehr offen im Sexleben, und darüber unterhalten wir uns eben. Vor kurzem hat der Partner des einen mit ihm Schluß gemacht, und da saßen wir gemeinsam auf dem Fußboden und haben Rotz und Wasser geheult. Also, wenn ich die beiden schon früher gekannt hätte, mit denen hätte ich auch über mein erstes Mal erzählt.

Was das betrifft, bin ich übrigens keine Ausnahme: das war bei mir genauso chaotisch wie bei fast allen. Das war meine erste große Liebe gewesen, ich war schon immer in diesen jungen Mann verknallt. Der war um einiges älter. Ich war 15, er war 20 und hat in einer Metal-Band gespielt, als Drummer. Dadurch war er für mich natürlich der Gott gewesen! Ich war dem hemmungslos verfallen. Unsere Freundeskreise haben sich so ’n bißchen gekreuzt, und auf diese Weise bin ich ihm immer näher gekommen; auch auf seine Konzerte gegangen, natürlich. Und eines Abends habe ich mich auf ’ner Party mit einem seiner Kumpels rumgebissen, als der auf einmal zu mir sagte: »Ej, haste das eigentlich nicht gemerkt? Der Micha steht auf dich.« Und ich stand kurz vor einem Herzinfarkt: »Was? Der Gott Micha steht auf mich?«, hab’ den anderen fallengelassen und bin auf den Schock erst mal nach Hause gegangen. Irgendwann habe ich den Micha angerufen, dann haben wir uns getroffen. Das war so ’ne kleine Party, ein Monty-Python-Videoabend, und dabei haben wir uns angefangen zu küssen. Das war total schön gewesen. Und er hat mit seiner damaligen Freundin Schluß gemacht, mit der er seit drei Jahren zusammen war. So kamen wir zueinander. An eine völlig unsägliche Situation erinnere ich mich noch: Einmal, als ich krank war – meine Mutter ist zu dem Zeitpunkt verreist gewesen – , da wohnte ich für kurze Zeit bei meinem Vater, und Micha wollte mich besuchen. Er klingelte, und so kam es, daß er auf einmal vor meinem Vater stand – mit einer Rose! Au mein Gott!!! Mein Vater hat die Rose angenommen und hat sie auch an mich weitergegeben, zuerst ohne Kommentar. Aber als ein paar Tage später meine Mama von ihrer Dienstreise zurückkehrte, da rief er sie an und erzählte ihr alles: »Aber der Kerl ist doch so alt und Priya noch so jung! Der kann doch nicht unsere junge Tochter verführen!!« Da merkte ich erst: Für ihn ging irgendwie eine Welt unter. Für meinen Papa.

Mit Mama ist es einfacher gewesen. Ich fing so an, ein bißchen zu bohren: »Sag mal, kann denn der Micha nicht mal hier schlafen?« Und sie: »Aber ja«, und hat mir dann auch ein paar Gummis besorgt. Dazu noch Verhütungszäpfchen und jede Menge Ratschläge: »Du mußt erst die Zäpfchen nehmen und dann noch die Gummis, sicher ist sicher.« Ich war ihr echt dankbar, weil ich mich um diese Dinge nicht selber kümmern mußte. Meine Mama ist sehr, sehr offen. Sie hat mir auch viel von sich erzählt, von früher. Na ja, jedenfalls, dann kam es, das erste Mal ...

Das war wirklich zu Hause, und es war die totale Katastrophe. Obwohl er so ein Gott war. Ist er danach immer noch gewesen. Der hat das, glaube ich, gar nicht mal gemerkt, daß ich noch keine Ahnung vom Sex hatte. Einfach, weil ich ganz aufgeschlossen war und das selber auch wirklich wollte. Ich wollte unbedingt mit ihm schlafen. Diese innere Bereitschaft, dieses Verlangen danach waren da. Ich habe ihm das auch nie gesagt, daß ich noch Jungfrau war. Ja – und dann habe ich mich da raufgesetzt ... Das war alles nur ganz kurz gewesen. Weil mir das so wehgetan hat. Also, ganz unspektakulär ist das gewesen. Das war’s eigentlich von der Sache her schon. Und danach, als ich das dann so verarbeitet habe für mich, dieses erste Mal, diesen kleinen Schmerz, bin ich allmählich freier geworden. Irgendwann habe ich ihm dann gesagt: »Hej, zeig mir mal ’n bißchen was, welche Stellungen es so gibt und was für Möglichkeiten man so hat.« Und dann ging das irgendwann ganz locker. Das war dann richtig angenehm.

Das war auch das Thema in der Schule, weil, genau zu dem Zeitpunkt hatten meine Freundinnen auch ihr erstes Mal gehabt. Ich kam sogar eine Woche zu spät. Wir hatten uns das vorher schon immer ausgemalt, weil wir alle diesen Drang spürten. Wir hatten alle unbedingt das erste Mal erleben wollen. Klar, manche Mädels hatten in dem Alter noch ihre Pferde. Aber wir, meine Freundinnen-Clique und ich, wir haben damals schon geflirtet ohne Ende und haben es gern drauf angelegt. Und wir rätselten auch schon ziemlich lange, wer von uns denn nun als erste den Anfang machen würde. Das war jetzt nicht direkt ein Druck; es hat einfach Spaß gemacht. Auch danach, als wir einander erzählten, wie es nun tatsächlich gewesen ist, da mußten wir auch viel drüber lachen und haben Scherze gemacht. Sehr lustig und angenehm. Ich habe das Glück gehabt, das alles mit meinen Freundinnen zu verarbeiten. So daß ich nicht alleine zu Hause auf meinem Bett saß: »O Gott, o Gott, was passiert hier?! Die Pubertät und der Sex, das ist ja alles so furchtbar!!!« Ich glaube, das ist das Wichtigste, wenn man darüber sprechen kann. Und ich rede, wenn ich dann rede, auch sehr viel, und das hat mir gut geholfen.

Mit meinem Gott, mit Micha, das war leider auch vergänglich. Eigentlich ging das nur noch einen Monat richtig gut. Er war zwar schon von mir bezaubert, hat aber seine Freundin vermißt. Am Ende war es dann doch auch der Altersunterschied. Er hat mir jetzt nicht das Gefühl gegeben, daß ich zu blöd bin oder zu naiv. Ich konnte ja auch ganz klar sagen: »Das möchte ich und das nicht.« Da hatte ich keine Hemmungen. Bloß, er sagte dann irgendwann, er hätte Angst, mir bestimmte Erfahrungen zu rauben. Also, er hat sich im Endeffekt zu alt gefühlt für mich.

Wir haben heute noch Kontakt zueinander, und ich bin Jahre danach immer noch total verknallt in ihn gewesen. Und die konnten alle nicht verstehen, warum. Weil, so toll sah er im Grunde gar nicht aus, und so unglaublich interessant ist er ebenfalls nicht gewesen. Aber die erste Liebe, das ist ... – man weiß auch gar nicht, warum! Das ist halt einfach so.

Später, als ich schon mit meinem nächsten Freund zusammengewohnt habe, bin ich noch einmal mit Micha, dem Gott, fremdgegangen. Zäpfchen und so, das war übrigens nur am Anfang. Später habe ich dann natürlich die Pille genommen. Das sollte ich vielleicht noch erwähnen.

Um mal ein Klischee zu bedienen: Ja, wer mir begegnet, der vermutet schon ab und zu, daß ich vielleicht ein Kunststückchen kann, daß ich Ahnung vom Kamasutra habe. Die kamen erst vor kurzem, solche Anfragen. Ich war ja, wie gesagt, gerade fünf Monate mit jemandem zusammengewesen. Und vor ihm hatte ich so viele kleine Liaisons, hab’ mich ein bißchen ausgetobt, dabei aber immer nach einem festen Freund gesucht. Ich bin da aber ganz konsequent: Sobald ich merke, nee, das ist er nicht, suche ich weiter. Und da habe ich oft erlebt, daß sich mal einer so sanft vortasten wollte: »Sag mal, du bist doch indischer Abstammung. Hast du Ahnung vom Kamasutra?« Nicht irgendwo versaut, sondern immer lieb und nett gefragt. So: »Hätte ja sein können.« Und zu ihrer großen Enttäuschung muß ich dann jedesmal antworten: »Sorry, ich hab’ keine Ahnung.«

Ich kenne das Buch Kamasutra, das kennen wir ja irgendwo alle. Und ich finde, diese abgebildeten Stellungen, die sehen schon sehr schräg aus, oder?! Diese körperlichen Verrenkungen. Das einzige, was ich sehr mag, ist halt ... Also, ich hab’ keinen Schimmer von Tantra. Ich weiß nur: Tantra ist sehr auf das Sinnliche fixiert. Hören, Sehen, Riechen, Schmecken; daß die Sinne angeregt werden. Und das mag ich halt auch sehr. Orientalische Musik, auch indische Musik höre ich inzwischen gern; neben R & B, Soul, schwarzer Musik. Damit kann man eine gute Atmosphäre herstellen. Genauso mit Kerzen, mit Räucherstäbchen, mit Massagen; ich mag erotische Massagen. Auch mit Tüchern gibt es so verschiedene Möglichkeiten, durch die die Sinne angeregt werden. Und ich denke, das hat schon diesen Hauch von Exotik, daß ich das vielleicht vom Indischen irgendwo mitgekriegt habe. Dieses orientalische Gefühl für feine Details. Auch mit den Fingern essen, das mag ich total. Das habe ich in Indien genossen. Mit Fingern zu essen, das ist einfach ein wunderschönes Gefühl. Erotik ist auch das Geheimnisvolle; sind die Zwischentöne, das Verborgene. Deshalb möchte ich das jetzt mal so stehenlassen, zwischen den Zeilen, und nicht näher erläutern.

Es hängt für mich auch von der Beziehung selbst ab. Da gibt es einmal diese kleinen Liaisons, wo man von vornherein weiß, daß sie nur auf Sex beruhen. Wo man zwar auch ein bißchen Konversation hat und mal zusammen ins Kino geht, wo man aber nicht für länger plant, sondern wo es eben wirklich in erster Linie ums Bett geht. Und dann gibt es den Sex, den man in einer Beziehung hat. Wo die Beziehung im Vordergrund steht und der Sex ein Teil davon ist. Im ersten Falle trifft man sich, um gemeinsam ein Bedürfnis zu befriedigen. Ich meine, warum sollte ich jede Nacht allein schlafen, wenn ich auch mit jemandem Beischlaf haben kann. Es ist ja ganz was Natürliches und Gesundes, wenn man diesen inneren Trieb hat und diese Suche; wenn man diese körperliche Nähe haben möchte und abends zusammen einschlafen möchte. Wenn man dazu noch so ein Kuscheltyp ist wie ich. Ja, ich gehöre auch zu diesen Leuten! Wenn ich keine Beziehung habe, dann heißt das nicht, daß ich keine sexuellen Kontakte habe. Andersherum ist es so: Wenn ich in einer festen Beziehung stecke, dann ist Sex auch nur ein Teil davon. Da ist der Sex nicht das Wichtigste und auch nicht der Grund, warum ich mit dem Partner zusammen bin. Da zählen für mich ganz andere Sachen. Der Charakter, ob man sich anvertrauen kann, ob man dem anderen einen Einblick in die eigene Seele gewähren kann. Man macht halt keine Show, ist einfach ganz natürlich.

Die Erotik in einer Beziehung ist viel schöner und viel tiefer. Man kennt sich ja viel besser. Das, was ich beschrieben habe – Kerzen, Massage, Tücher, Phantasien – , das geht nur in einer festen Beziehung. Bei einem One-night-stand habe ich gar nicht das Verlangen danach, irgendwo sinnlich etwas hervorzurufen. Wenn es nur für eine Nacht ist, beschränkt sich das auf die körperliche Interaktion zwischen zwei Menschen. Der Partner ist mir dann als Mensch auch nicht so wichtig.

Ich bin ganz, ganz altmodisch. Ich glaube an die Liebe. Und wenn mir jemand wirklich wichtig ist, dann gebe ich gern sehr viel rein von mir und nehme auch gern sehr viel an mich von dieser Person. Ich bin da vollkommen traditionell und lasse mir viel Zeit, damit ein Gefühl wachsen kann. Aber wenn es sich nur um so eine Kurzbeziehung handelt, dann muß ich das auch nicht unnötig dramatisieren. Wichtig ist, daß es auf beiden Seiten von vornherein klar ist. Also, Kommunikation ist da schon auch wichtig, nur eben auf einer völlig anderen Gefühlsebene.

Was mir gerade einfällt: Ich hatte auch mal kurzzeitig einen dunkelhäutigen Freund. Mitte Zwanzig, ein Student. Seltsam, an ihn hab’ ich ganz lange nicht mehr gedacht. Er war so nett und sympathisch; er hat mich auf Händen getragen. Genau das, was eine Frau will. Wenn er spazierengeht, schauen ihm die Mädchen hinterher; er sieht toll aus, er ist lieb – bei ihm stimmt einfach alles. Wir waren zusammen an der Ostsee, traumhaft! Und was soll ich sagen: Im Bett hat es auch gestimmt. Und trotzdem ging es für mich nicht. Wegen seiner Hautfarbe. Das war der einzige Grund, wirklich. Das klingt total verrückt, und doch war es so. Ich konnte nicht zärtlich zu ihm sein, er hat mich nicht angezogen. Ich stehe nun mal auf europäische Männer.

Meine letzte Liebe, das war für mich eine richtige Herausforderung. Der Freund, mit dem ich davor drei Jahre zusammen war, der ist vor allem Sicherheit gewesen. Ich wußte, daß er mich unsterblich liebt, daß er mir treu ist. Ich mußte mir überhaupt keine Sorgen machen. Zwar konnte ich diese Liebe an mich nehmen, aber ich glaube nicht, daß ich in ihn genauso verliebt war wie er in mich. Vor allem die letzten anderthalb Jahre nicht mehr. Vielleicht war das gar keine Liebe, sondern vor allem ein sicheres Gefühl. Eine Zeitlang hat mir das ja auch gutgetan, weil ich nicht mehr verletzt werden wollte, nach den Erfahrungen mit meinem »Gott«. Der brauchte ja wirklich nur mit dem Finger zu schnipsen, und ich hätte auf seiner Matte gestanden, noch Jahre danach. Und jetzt, ja, der Florian. Er ist die absolute Herausforderung. Er sieht verdammt gut aus. Ich hatte noch nie jemanden, der so interessant war. Er macht so viele Sachen, und er ist sehr intelligent. Das Problem ist nur: Ja, aus einer schönen Schüssel ißt man nicht alleine. Er ist eher so ein Einzelgänger. Er ist erst letzten Sommer nach Berlin gekommen und hat schon sehr, sehr viele Mädels gehabt. Und dann auf einmal ich. Boah! Eigentlich hatte er sich gar nicht auf eine Beziehung einlassen wollen, hat sich dann aber wohl doch ein bißchen in mich verguckt. Na ja, und dann ging das so hin und her mit uns, mal glücklich, mal kurz vorm Schlußmachen. Bis ich gemerkt habe, ich muß bei ihm bestimmte Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken. Da habe ich es dann beendet. Schweren Herzens, vor drei Wochen.