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»Ich muss jetzt aber nicht die Schuhe ausziehen«, fragte mein Vater, »oder?« »Doch«, sagte ich. »Ich zieh doch jetzt nicht die Schuhe aus», wehrte er sich, »da ist doch nichts dran!« »Selbstverständlich ist da was dran«, erwiderte ich streng, »guck dir doch mal den Hausflur an!« Er guckte sich den Hausflur an und schien Zweifel an seiner Aussage zu bekommen. »Trotzdem«, sagte er schließlich. »Nee, nee«, beharrte ich, »hier müssen alle die Schuhe ausziehen!« »Man kann doch nicht verlangen», behauptete er, »dass alle die Schuhe ausziehen!« »In der Sauna wird sogar verlangt, dass man alles auszieht«, entgegnete ich. Bianca Stückers langjährige Unfug- & Quatsch-Kolumne »Ansichten einer Anachronistin« – das Best of jetzt als Buch! Mit den schönsten Dialogen, der schwungvollsten Situationskomik und den wunderlichsten Überlegungen. Jede Minierzählung ist super geeignet als Gutenachtgeschichte, Gutenmorgengeschichte oder auch einfach mal für zwischendurch. Mit zahlreichen merkwürdigen Abbildungen! »Wie schön, dass es sie hier gibt: Gute Geschichten mit Charme und Meise.« Mark Benecke »Herrlich, wie Bianca Stücker die absurdesten Augenblicke des ganz normalen Alltagswahnsinns entlarvt und dann noch unglaublich pikant zurechtfabuliert.« Kirsten Borchardt
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Seitenzahl: 176
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Vorrede I (von Mark Benecke)
Vorrede II
Zu viel Lob ist auch nicht gut!
Sauna ja, Filzschlappen nein
Als Überraschungsgast in Oberhausen
Über eine Kneipe zieht man nicht!
Das Hummeressen
Ich als Mann gegen Freund und Feind
Passivyoga für das innere Rennpferd
Auf Wohnungssuche Teil I
Auf Wohnungssuche Teil II
Der Umzug
Dr. Markus Brenecke
Der Wartesaal zum Nirgendwo
Verhärmte Kirschtomaten
Reisende in Unterhose
Auf Tour mit Kaiser-Wilhelm-Suppe
Bist du vierzig?
Nasenmassaker im Quatschhäuschen
Der Sarotti-Mohr auf der Pannesamtwiese
Ausrasten in Wanne-Eickel
Banane vs. Schnitzel, Gemüse, Pommes, Sauce und Dessert!
Im Gartencenter
Mit der Bahn nach Sodom und Gomorrha
Der Bocksbeinige mit der Cockpit Kamera
Botschaften ohne Cola
Stromstoß provozierende Blumentöpfe
Ich geh nach Hause!
Die Weissagung des Unwahrscheinlichen
Dr. P., Dr. Der, Dr. Motte und Dr. Alban
Ärger ohne Weinbrandbohnen
Stinkspuk im Buchenwald
Erfahrungen bei der Post
Ich finde Bauchtanz gut!
Der Ulf
Tattoos für umsonst!
Blutige Girlanden
Urlaub 2.0
Amsel, Drossel, Fink und Star in 3D
Fragen Sie den Flitzestift!
Schulze mit Choke
Die Angst vor dem Knie
Der kosmische Schneebesen
Bitte keine Werbung!
Oma Soest statt Halali
Krawall-Look mit Viktor und Rolf
Wohin Roggen gerne in den Urlaub fährt
Doppelt hält besser!
Handfeste Skandale bei den Innere-Werte-Vögeln
Streitlustige Kleinstlebewesen
Bekanntschaften im Schienenersatzverkehr
Mieten, Kaufen, Wohnen in Hamm i. Westf
.
Frühstücksbrötchen, hoch wie Eiffeltürme
Gespensterfisch im Superhaufen
Bäuerischer Flieger, herrschsüchtiger Tunichtgut
Das Fahrrad und sein Freiheitsdrang
Mondlandung, psychedelisch!
Über die Autorin
»Die anderen Damen tanzen, aber Frau Doktor Stücker sieht aus, als ob sie in Pfützen hüpft«, meldete meine Freundin Lisa, Chefin des Malsaales des Staatstheaters Stuttgart, nachdem sie das Video der in einer Bühnengruppe tanzenden Frau Stücker gesehen hatte. Wie die Doctora tanzt, so schreibt sie auch: Hüpfend.
Nicht mit dem ganzen Körper, aber mit dem Geist. Denn der sucht sich – er ist ja auch in Hamm in Westfalen eingesperrt – selbst in den kleinsten Dingen seine Wunderlichkeiten, Wundersamkeiten und … Wunder. Die daraus entstandenen Kolumnen, die Frau Stücker seit vielen Jahren für das regionale Blatt »WILLI« verfasst, sind unheimlich nah und doch sehr fern. Im Kleinkosmos der neuerdings wieder im Guten so genannten ›Heimat‹ reißt nicht das Gefälle zum Fleisch essen an sich oder Sprüchekloppen über schlechte Jäger-Innen beim Ausflug ins vegane Restaurant ein Loch in die betongraue Wirklichkeit, sondern loriotsche Kommunikationsgrotesken, die auch in jedem anderen Restaurant entstanden wären.
Das Ganze ist dabei so fein und kurzromanhaft destilliert wie ein täglicher Zeitungscomicstrip. Das Personal darin kann jederzeit wiederkehren, und die Reisen gehen höchstens mal nach Oberhausen, Stade und zum örtlichen Hausarzt. Doch niemals, kein einziges Mal, schleichen sich dabei fade Witze oder flache Unbedachtheiten ein. Frau Stücker hüpft stattdessen wie in Pfützen zwischen einer großen Margherita, einer kleinen Kneipe und Blumentöpfen mit Strom umher.
Warum die Kolumne »Ansichten einer Anachronistin« heißt, weiß Frau Stücker selbst nicht mehr. Sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste. Dennoch: Wenn es früher mal so luftig, lustig, leicht und einschmeichelnd irre zuging wie in den von Frau Doktor geschilderten Welten, dann wäre ich gerne ein Anachronist.
Wie schön, dass es sie hier gibt: Gute Geschichten mit Charme und Meise.
Mark Benecke,
August 2015
Genau, WILLI heißt es, das traditionellste, legendärste und subversivste »Kulturmagazin für Alphabeten im Großraum Hamm«, dessen Geschichte bis in das vergangene Jahrtausend zurückreicht.
Herausgegeben wird es seit jeher von Reinhard Bialas, der es bislang niemals versäumte, den WILLI pünktlich zum Monatsanfang auszuliefern.
Dazu passt gut, dass auch ich es bislang niemals versäumte, die »Ansichten einer Anachronistin« pünktlich abzuliefern. Zwei zwanghafte Naturen, das ergänzt sich natürlich tipptopp!
Mit der vorliegenden Kuriositätensammlung aus zirka sechzehn Jahren Unfug & Quatsch möchte ich mich also nicht zu knapp bei dem Mann bedanken, der mir as early as 1999 Geld für Ausgedachtes zusteckte. Cool! Ich würde sagen: Weiter so!
Ferner möchte ich mich bei meinem Vater bedanken, dessen Worten man nur ganz selten etwas hinzuzudichten braucht. In dieser Eigenschaft stehen ihm Dr. P. und Chelsea kaum nach, wie man beim Durchlesen der unzeitgemäßen Ansichten unweigerlich feststellen wird. Wenn man solche Freunde hat, braucht man kein Fernsehen mehr! Obwohl, doch, manchmal schon. Aber selten!
In diesem Sinne!
Bianca Stücker,
August 2015
Kann man immer brauchen: Humor und Heiterkeit!
Einmal im Jahr gehen wir essen.
»Da bin ich ja mal gespannt«, sagte mein Vater und blickte interessiert umher.
Wir befanden uns anlässlich seines Geburtstags in einem veganen Restaurant.
»Das ist ja ganz schön voll«, fand er, »für einen Mittwochabend!«
Um uns herum saßen und speisten zahlreiche Gäste.
»Ist das bei Ihnen hier immer so gut besucht?«, erkundigte mein Vater sich bei dem Kellner, der uns sehr freundlich begrüßte.
»Ja«, erwiderte der Kellner und lächelte geschmeichelt, »wir waren ja auch letztens im Fernsehen, da kommen schon so einige Leute.«
»Das hab ich gehört«, bestätigte mein Vater voll auf dem Laufenden.
Wir gaben unsere Bestellung auf. Neugierig warteten wir auf die Gerichte.
»Ich bin ja wirklich mal gespannt«, wiederholte mein Vater, »auf das Schnitzel!«
Zuerst gab es jedoch selbstgebackenes Brot mit Aioli. Mein Vater und mein Mann hauten richtig rein.
»Lecker!«, fand mein Vater.
Dann traf der Hauptgang ein. Mein Mann hatte den Vegan-Burger XXL gewählt, ich Nudeln mit Spinat und täuschend echt wirkendem Seitan-Lachs. Unternehmungslustig hieb mein Vater seine Gabel in die Panade und probierte einen Bissen.
»Das Schnitzel ist in Ordnung», befand er, »kann man essen!«
»Der Burger ist auch super«, lobte mein Mann.
»Die Nudeln auch«, schloss ich mich an.
Der Lachs war an Wirklichkeitstreue tatsächlich kaum zu überbieten, es war beinahe ein bisschen verstörend.
»Nur die Pilzsauce«, fand mein Vater doch noch einen Missklang in seiner Speise, »ist etwas salzig.«
»Also, bei mir ist alles in Ordnung», bekräftigte mein Mann.
»Bei mir auch«, stimmte ich zu.
»Die Sauce ist versalzen«, urteilte mein Vater mit Bestimmtheit, »Herr Ober!«
Ich ahnte bereits Schlimmes und erwog, das Klo aufzusuchen. Doch da erschien auch schon der freundliche Kellner.
»Könnte ich noch ein Weizen bekommen?«, fragte mein Vater höflich.
»Gern«, sagte der Kellner.
Ich war erleichtert, aber dieser Zustand währte nicht lang.
»Das muss man ja eigentlich sagen«, überlegte mein Vater laut, »damit ist ja keinem geholfen, wenn man es nicht sagt! Da meinen sie es gut und denken, sie hätten alles richtig gemacht«, führte er aus, »aber die Sauce war versalzen! Es kommt natürlich darauf an«, fügte er hinzu, »wie man es sagt.«
Da ich meinen Vater schon mein ganzes Leben lang kenne, bekam ich bereits im Voraus Mitleid mit dem armen, freundlichen Kellner.
Allmählich wurde es Zeit, das Dessert zu ordern. Als der Kellner an unserem Tisch auftauchte, hätte ich mich gern vorübergehend entmaterialisiert.
»Und«, fragte er, »hat es geschmeckt?«
»Doch«, antwortete mein Vater, um ihn zunächst in Sicherheit zu wiegen, bevor er zum vernichtenden Schlag ausholte, »aber die Sauce war versalzen! Da war der Koch wohl verliebt, haha«, scherzte er munter.
Der Kellner erbleichte.
»Das gebe ich natürlich sofort weiter«, versicherte er unglücklich.
»Also, bei mir war alles super«, versuchte ich ihn aufzuheitern.
Doch der Kellner zählte eindeutig zu den Menschen, die sich immer nur das Schlechte merken. Mein Vater hatte ihn innerlich verwüstet.
»Deins war doch auch super«, erinnerte ich meinen Mann, »das hättest du doch noch mal sagen können!«
»Nicht gemeckert ist wie gelobt«, behauptete jener, »außerdem hab ich es doch schon gesagt!«
»Die Sauce war jedenfalls versalzen«, beharrte mein Vater.
»Aber das Aioli fandest du auch lecker«, warf mein Mann ein.
»Aioli?«, fragte mein Vater irritiert.
»Das Knoblauchzeug«, half mein Mann ihm auf die Sprünge, »mit dem Brot! Das war das beste Aioli, das ich je gegessen habe!«
»Aioli«, wiederholte mein Vater nachdenklich, »das Wort hab ich noch nie gehört!«
»Dann sag das doch dem Kellner gleich noch mal«, regte ich an und knuffte meinen Mann in die Seite.
»Nein«, blieb er stur, »zu viel Lob ist auch nicht gut.»
»Blödsinn«, sagte ich.
Da näherte sich der Kellner mit dem Nachtisch, er wirkte ängstlich.
»Was ich noch sagen wollte«, begann mein Vater, »mein Schwiegersohn findet, Ihre Knoblauchcreme ist die beste, die er je gegessen hat!«
Der Kellner freute sich. Aber nur so lange, bis er die Rechnung brachte. Mein Vater betrachtete sie sinnend und konzentriert.
»Alles in Ordnung», stellte er schließlich fest.
So ganz behagt hatte ihm der Ausflug in das vegane Leben jedoch nicht.
»Nächstes Mal«, beschloss er, »gehen wir wieder in die Pizzeria!«
Keine Pizzeria, aber bestimmt auch schön!
»Also, ich würde hier kein Handtuch hinhängen«, sprach mein Vater unaufgefordert einen Rat aus und rümpfte verächtlich die Nase, »hygienisch ist das ja nicht gerade!«
In meinem kleinen Studio, in dem vornehmlich gepflegte Damen ein und aus gehen, die gern tanzen oder singen oder beides, befanden sich bis vor Kurzem im Bad zwei rosa Handtücher.
»Wieso nicht?«, fragte ich arglos, doch in Wahrheit ahnte ich es schon.
»Wenn sich da alle die Hände dran abtrocknen«, erläuterte mein Vater, »verteilen sich doch die ganzen Keime!«
Innerlich stimmte ich diesem Einwand bereits voll und ganz zu, denn ich bin sehr empfänglich für Paranoia aller Art.
»Aber«, versuchte ich es dennoch mit etwas Logik, »die Leute waschen sich ja vorher die Hände. Bevor sie sie abtrocknen.«
»Das ist kein Argument«, ließ mein Vater sich nicht aus dem Konzept bringen, »ich würde die Handtücher jedenfalls nicht benutzen wollen!«
Mein Vater will auch nicht die Filzschlappen benutzen, die für Gäste vorgesehen sind. Da im Tanzraum häufig barfuß geübt wird, müssen sich die Studiobesucher untenrum freimachen und in Socken reinkommen. Falls ihnen das zu kalt ist, stehen die schönen Schlappen zur Verfügung, die sich im Hausflur in zwei ebenfalls aus Filz gewirkten, an der Wand angebrachten Behältern befinden, auf denen »Für Freunde« steht. Ich finde das eine sehr gastfreundliche Idee, sie schützt vor Verkühlung, Blasenentzündung, Nierenbeckenentzündung usw. Top! Mein Vater jedoch ist anderer Ansicht.
Einladend: Für Freunde!
»Ich muss jetzt aber nicht die Schuhe ausziehen«, hatte er bei seinem ersten Besuch gefragt, »oder?«
Dabei sah er aus der Wäsche, als hätte ich ihm eine Stinkfrucht zum Verzehr angeboten.
»Doch«, blieb ich eisern.
»Ich zieh doch jetzt nicht die Schuhe aus», wehrte er sich, »da ist doch nichts dran!«
»Selbstverständlich ist da was dran«, erwiderte ich streng, »guck dir doch mal den Hausflur an!«
Er guckte sich den Hausflur an und schien Zweifel an seiner Aussage zu bekommen.
»Trotzdem«, sagte er schließlich.
»Nee, nee«, beharrte ich, »hier müssen alle die Schuhe ausziehen!«
»Man kann doch nicht verlangen», behauptete er, »dass alle die Schuhe ausziehen!«
»In der Sauna wird sogar verlangt, dass man alles auszieht«, entgegnete ich.
Mein Vater schüttelte entrüstet den Kopf und beugte sich zögerlich zu seinen Schnürsenkeln herab.
»Das ist lieb von dir«, probierte ich es mit positiver Verstärkung.
»Die Filzschlappen zieh ich aber nicht an«, erklärte mein Vater entschlossen.
»Meinetwegen«, gab ich zurück, »aber warum nicht?«
»Wer weiß, wer die schon alles anhatte«, sagte mein Vater.
Man sah ihm förmlich an, wie vor seinem inneren Auge plastische Bilder von Pilzerkrankungen und nässenden Geschwüren entstanden.
»Nur die Leute, die hier her kommen«, beruhigte ich ihn.
Schon als Kind hatte mein Vater mir beigebracht, wie man sich in Kaufhäusern und öffentlichen Toiletten zu verhalten hat, wenn man einer Infektion mit schlimmen Krankheiten entgehen möchte.
»Ich mache Türen immer so auf«, sagte er, zog den Jackenärmel ein Stück herunter und schob die Kaufhaustür mit dem bedeckten Handrücken auf, »siehst du? So macht man das! Man weiß ja nicht, wer den Griff schon alles angefasst hat.«
Seitdem frage ich mich jeden Tag aufs Neue, wie so viele Menschen ganz und gar unvoreingenommen nach Türklinken von Arztpraxen, Einkaufszentren und Sparkassenfilialen greifen können. Was macht sie so unbeschwert? Wie überleben sie?
Auch für die Autobahnraststättenklobenutzung bekam ich bereits in jungen Jahren eine detaillierte Anleitung.
»Man nimmt immer eine Packung Tempos mit«, wusste mein Vater, »damit öffnet man die Tür. Und dann«, er machte sich zu Veranschaulichungszwecken an der heimischen Klobrille zu schaffen, »legt man die restlichen Taschentücher so da drauf.«
Gewohnheitsmäßig gehe ich bis heute nicht das Risiko eines Hautkontakts mit einem Gemeinschaftsklo ein. Im Studio gibt es inzwischen einen Spender mit Papierhandtüchern, dessen korrekte Befüllung ich ebenfalls von meinem Vater gelernt habe. (»Die gefaltete Seite muss immer zu dir zeigen, sonst kommen unten die Tücher nicht richtig raus!«) Aber die Filzschlappen sind immer noch da. Und werden gern getragen! Nur eben nicht von meinem Vater.
Man hat es nicht immer leicht. Am liebsten ist man als Künstler ja der Star des Abends, auf den alle warten und der mehr Gage bekommt als alle anderen.
Leider wird diesem Wunsch jedoch nicht immer nachgekommen. Das ist schon mal schlecht. Und manchmal weiß auch nicht jeder im Publikum, wer man ist, was ebenfalls zu Verstimmungen führen kann.
Einmal waren wir, meine eine Band und ich, zum Beispiel unfreiwillig der Überraschungsgast. Wir waren eingeladen worden, beim Bal Noir aufzuspielen, einer Tanzveranstaltung mit Steampunkcharakter, und seit wir mit jener speziellen Band neuerdings Steampunk sind, fühlen wir uns sehr wohl damit, hierzulande wenig Konkurrenz zu haben.
Der Bal Noir fand im Kulttempel in Oberhausen statt, ganz kurz nach Weihnachten und ganz kurz vor Silvester, also zwischen den Jahren, ein guter Termin für eine Band, die gern behauptet, ständig auf Zeitreise zu sein.
»Hallo?«, fragte ein Mädchen, das während unseres Aufbaus vor der Bühne herumlungerte und sich die Szenerie besah, »spielt hier heute eine Band?«
Wir waren bereits ansatzweise verkleidet, mit Zylindern, falschen Wimpern und so weiter, im Grunde also nur schwer mit Roadies zu verwechseln. Unser Bassist hieb funky auf sein Instrument ein, während der Schlagzeuger einen unserer ausgestopften Deko-Füchse originell an einem Beckenständer befestigte.
»Ähm«, antwortete ich, da sich offenbar sonst niemand dazu ermutigt fühlte, »nein, nein, wir sind nur eine Atrappe, haha!«
»Was?«, fragte das Mädchen zurück.
»Eine Atrappe«, wiederholte ich lauter, »wir sind nur eine Atrappe!«
»Nein«, beharrte das Mädchen, »jetzt mal im Ernst: Spielt hier heute eine Band?«
»Ja«, kam der Schlagzeuger mir zur Hilfe.
»Aha«, sagte das Mädchen und betrachtete uns etwas befremdet.
»Wie heißt ihr denn?«, erkundigte es sich schließlich.
»The Violet Steam Experience«, erklärte ich und ahnte schon: Das wird nicht gutgehen, das haut nicht hin. In keinem Fall wird das hinhauen.
»Was?«, fragte das Mädchen.
»The Violet Steam Experience«, wiederholte ich, so deutlich wie möglich, doch es hallte etwas vor dem Bal Noir im Kulttempel in Oberhausen, das lag daran, dass ja noch kein Publikum die Halle füllte und den Schall dämpfte.
»Wie bitte?«, fragte das Mädchen und wandte die linke Gesichtshälfte Richtung Bühne, um zumindest ein Ohr so günstig wie möglich zu positionieren.
»Oder auch Violet«, versuchte ich es mit einer Vereinfachung.
»Was?«, fragte das Mädchen.
»Violet«, erläuterte der Schlagzeuger und hantierte weiter mit dem Fuchs, »wie violett! Wie lila!«
»Ach so«, ging dem Mädchen nun ein Licht auf, »Violet. Das hallt hier so!«
Ich hoffte, dass sie keine weiteren Fragen stellen würde.
»Was macht ihr denn für Musik?«, wollte sie wissen.
»Ähm«, zögerte ich, was sollte man da sagen, wir sind ja jetzt eine Steampunkband, da gab es im Grunde nur eine vernünftige Antwort: »Steampunk!«
Das Mädchen legte argwöhnisch die Stirn in Falten.
Die Leute im Nebel kannte hier keiner!
Foto: Hexana.
»Und wie hört sich das an?«, ließ sie nicht locker.
»Schwer zu sagen«, begann ich mit einer schwachen, ja, schlappen Erklärung, »das hörst du ja gleich, also, wenn du dir das anhören möchtest!«
Das Mädchen nickte bedächtig.
»Ich wusste gar nicht, dass hier heute eine Band spielt«, sagte es.
»Tja«, erwiderte ich ratlos.
Das Mädchen ging davon.
»Was war denn das für eine Frage?«, fragte der Schlagzeuger verdutzt, »ob hier heute eine Band spielt?«
»Ja«, entgegnete ich deprimiert, es ist einfach kein Genuss, nach zirka zwanzig Jahren im Showgeschäft immer noch der Überraschungsgast zu sein, mit dem niemand rechnet, denn man hätte durchaus mit uns rechnen können, »eigenartig, dabei hängen die Plakate hier schon mindestens seit November!«
Auf den Plakaten waren wir schmeichelhaft groß abgebildet.
»Na ja«, sagte der Schlagzeuger, »was solls!«
Das Schöne an ihm ist, dass er immer an allem das Positive sehen kann.
Nach dem Konzert fühlten wir uns dann aber doch willkommen, die Menschen ließen sich mit uns fotografieren, erbaten Autogramme und lobten unsere Darbietung.
»Also, mir hat es gefallen«, sagte der Schlagzeuger, »und immerhin haben wir ein paar CDs verkauft!«
»Eine«, korrigierte ich.
»Na gut, eine«, wiederholte er vergnügt, »aber immerhin!«
Als Pflanzenfresser hat man zahlreiche Vorteile, die auf der Hand liegen, gerade in lebhaften Zeiten wie diesen, wo der Verkehrsteilnehmer ständig kontrolliert wird, der Lebensmittelhersteller jedoch nicht. Als Verkehrsteilnehmer fühle ich mich sicher und behütet, dauernd kommt die Polizei und kümmert sich darum, dass ich niemanden umfahre. Das könnte leicht passieren, ich bin ja immer so in Gedanken.
Man kennt das: Einkaufsliste, Geburtstagsgeschenke, was machen wir eigentlich zu Silvester, da ist rechtzeitige Planung angesagt. Fahrradfahren funktioniert ja von selbst, ganz ohne Beteiligung des Gehirns, ähnlich wie Gehen. Versehentlich übersieht und überquert man auf diese Weise auch schon mal zwei rote Ampeln, das ist mir kürzlich passiert, und jetzt das Schlimme: Ich habe nur eine Ampel davon bemerkt!
Bei der ersten Ampel dachte ich: Ach, hier ist ja keiner! Da war dann aber doch einer, und zwar ein Polizist, ein älterer, in einem deutlich gekennzeichneten Dienstwagen. Den hatte ich genauso übersehen wie die zweite Ampel. Übersehen gehabt, müsste es eigentlich heißen, das ist heute modern. Ich hatte ihn also tatsächlich übersehen gehabt und gar nicht gemerkt gehabt, dass er mich persönlich gemeint gehabt hatte, als er plötzlich »Ey!« krakeelt gehabt hatte!
Ach nein, das wird mir jetzt zu kompliziert. Da kommt man ja auf doppelt so viele Wörter wie normal, also bräuchte ich auch doppelt so viele Seiten. Und wer soll das bezahlen? Eben. Na ja, jedenfalls: Der Polizist mich also angehalten. Ob ich mich ausweisen könne?
»Nein«, sagte ich.
»Wie heißen Sie denn?«, wollte der Mann wissen.
Da musste ich auftrumpfen, das darf ich ja jetzt, noch gar nicht lange, daher macht es noch Spaß, ich also: »Stücker! Dr. Stücker!«
Der Polizist: »Ja, Frau Stücker …«
Ich wieder: »Dr. Stücker!«
Der Polizist: »Ja, Frau Dr. Stücker … Sind Sie Ärztin?«
»Nein«, sagte ich, »Musikwissenschaftlerin!«
»Ach«, sagte der Polizist, »sind Sie hier an der Musikschule?«
»Nein«, sagte ich.
Ich trug eine Regenjacke von der Post und zerrüttete Schuhe. Ich fand mich selber nicht besonders glaubwürdig. Aber es stimmte ja alles! Es war mal wieder eine vertrackte Situation, in die ich mich da, durch das Überqueren einer roten Ampel und das Übersehen einer zweiten, gebracht hatte.
Als nächstes musste ich dem Polizisten meine Adresse sagen.
»Da wohnen Sie?«, erkundigte er sich skeptisch, »das ist doch über der Kneipe!«
»Stimmt«, sagte ich, »das Haus gehört dem Onkel meines Mannes.«
»Da haben wir früher getanzt«, sagte der Polizist, »das war eine Disco, da waren wir so fünfzehn, sechzehn! Und das gehört jetzt Ihrem Onkel?«
»Dem Onkel meines Mannes«, korrigierte ich.
Da fiel mir etwas ein.
»Es ist aber manchmal ganz schön laut«, sagte ich, »ist das denn erlaubt, dass das auch nachts noch so laut ist?«
Der Polizist überlegte.
»Über eine Kneipe zieht man ja auch nicht«, sagte er schließlich.
»Da haben wir früher getanzt!«
»Aber das Haus gehört dem Onkel meines Mannes«, erinnerte ich ihn, »das bot sich quasi an!«
»Über eine Kneipe zieht man nicht«, beharrte der Polizist. »Ja, Frau Stücker, Frau Doktor, wissen Sie denn eigentlich, was Sie gemacht haben?«
»Ich habe eine rote Ampel überquert, haben Sie gesagt«, erklärte ich scheinheilig.
»Gut, Sie geben es also zu«, fiel der Polizist darauf herein, denn in Wahrheit hatte ich ja nichts, aber auch gar nichts zugegeben, »das gibt eine Anzeige. Haben Sie einen Führerschein?«
»Natürlich», fühlte ich mich sofort beleidigt, »habe ich einen Führerschein!«
»Das gibt einen Punkt in Flensburg, Frau Doktor. Tut mir ja auch leid, aber da kann ich nichts machen. Das kostet vierzig Euro, dann ist das erledigt. Sie hören dann von uns!«
Seitdem warte ich darauf, von ihnen zu hören. Bisher hörte ich aber nichts. Ich hätte mir, an Stelle des Polizisten, ja nicht geglaubt, dass ich ich bin. Ich wäre da hellhörig geworden! Und bis zum heutigen Tage habe ich auch nichts zugegeben, oder höchstens so halb, fadenscheinig, andeutungsweise, in die Irre leitend.
Was ich aber eigentlich nur sagen wollte: Als Pflanzenfresser bekommt man weder Pferd vorgesetzt, noch sehr altes Fleisch, dass schon Monate gelegen hat, noch andere Tiere, die hierzulande nicht als Speisetier gelten, in fremden Kulturen aber doch. Meerschweinchen zum Beispiel, in Peru ein Hit. Jetzt müsste man nur noch die Eier weglassen, dann blieben einem in der Hinsicht auch alle Skandale erspart. Und ansonsten: Bei Grün gehen, bei Rot stehen!
Einmal hat mein Vater Hummer gegessen. Einen tiefgekühlten, aus der Tiefkühlabteilung. Alle schlimmen Tötungsrituale, in denen kochendes Wasser und lebendige Leibe vorkommen, fielen also zum Glück schon mal weg.