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Bianca Stücker

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Beschreibung

Nancy ist in einer WG untergekommen – schöne Menschen, souveräne Leben. Sie versucht, dazuzugehören und zu sein, wie man sein sollte. Doch als der unzeitgemäße Raffaele auftaucht, reißen bei allen Mitbewohnern die Fassaden ein: Auf einmal schlägt echte Liebe zu – und echte Gewalt ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Bianca Stücker

Schaulaufen für Anfänger

Eine prinzipielle Liebesgeschichte für uncoole Leser

FISCHER E-Books

Inhalt

Erstens.Zweitens.Drittens.Viertens.Fünftens.Sechstens.Siebtens.Achtens.Neuntens.Zehntens.Elftens.Zwölftens.Dreizehntens.Vierzehntens.Fünfzehntens.Sechzehntens.Siebzehntens.Achtzehntens.Neunzehntens.Zwanzigstens.Einundzwanzigstens.Zweiundzwanzigstens.

Erstens.

Ich kann mir kaum vorsltellen, wie anders jetzt alles ist. Man denkt sich das doch immer so schön: jemanden zu haben. Aber in Wirklichkeit ist es ziemlich schwer. Jeden Morgen schau ich erst mal, ob er noch atmet, wenn er da ist. Und wenn er nicht da ist, so wie jetzt, dann hoffe ich so sehr, dass er zurückkommt. Es könnte schließlich alles Mögliche passieren. Ein eigener Mensch, das ist so eine Sache, weil er so wertvoll ist und so besonders und überhaupt durch gar nichts zu ersetzen. Vielleicht wollen wir zusammenziehen, wenn er wieder da ist. Eigentlich ist das fest abgemacht, aber man weiß ja nie.

 

In der WG wohne ich praktisch nur aus Versehen. Weil mein Freund, der nicht mehr mein Freund ist, Jeremiah dazu überredet hat. Sie haben wohl gedacht, ich könnte so eine Art Schneewittchen für sie spielen, das ihnen den Haushalt macht und so. Außerdem hat Jeremiah mir mal wörtlich gesagt, er fände mich scharf. Aber das war später.

Ich weiß sogar, woran das lag, nämlich an Patrice.

Als Patrice mich haben wollte, fühlte ich mich geehrt. Ich meine, das ist doch eine Ehre, wenn sich einer, der immer überall dazugehört und grundsätzlich bewundert wird, in dich verliebt? Das wertet auf, keine Frage. Und als dann für ihn das Jahr in Neuseeland anstand, da tat ich ihm wohl Leid. Dabei fand ich es eigentlich gar nicht so schlimm, allein in der Wohnung. Ich glaube inzwischen, dass das sowieso alles eine blöde Ausrede war. Wenn er wirklich nur vorübergehend weg wollte: warum hätte er mich dann in die WG abschieben sollen.

Er hat uns beide überredet, Jerry und mich. Warum oder weshalb: das wurde mir erst sehr viel später richtig klar. Es gibt da ein paar Indizien, auf die ich sicher noch zu sprechen komme, weil einem Schweres und Unverdauliches eben länger im Kopf herumgeht, als man das gern hätte.

Aber wenn ich nicht in die WG gezogen wäre, dann wäre alles anders gekommen, nicht nur das Schlechte, sondern auch das Gute, und wer weiß: vielleicht musste es ja so sein.

Wenn es das gibt, das Schicksal, eines, das mich verfolgt oder erwartet, das kommt ja ganz auf den Standpunkt an – wenn es also ein Schicksal gibt, dann setzt es Marken im Leben, wie diese Plastikfahnen, die Strategen im Film gern in Landkarten pieksen. Die Marken kann man nicht unbedingt mit bloßem Auge erkennen, aber man kann sie erahnen. Es sei denn, sie sind doch wieder nur Phantasie.

Rückblickend halte ich den ersten und vorerst auch letzten wirklich heißen Tag im vergangenen Juni für so bedeutsam, dass ich, wenn ich was zu sagen hätte, und das habe ich ja im Grunde, dort ein dickes Kreuz in meinen inneren Kalender malen würde, vielleicht ein schwarzes, damit man es richtig sieht, und auch, weil es überhaupt kein schöner Tag war.

Es war der letzte Tag, den ich gemeinsam mit Patrice verbrachte.

 

»Ich mach jetzt das Handy aus«, erklärte er und drückte die Aus-Taste, »wenn die mich heute nochmal anruft, lauf ich nämlich Amok.«

»Sie ist halt aufgeregt«, vermittelte ich und verscheuchte eine Mücke.

»Tja«, seufzte Patrice, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, »Mütter.«

Er sprach nicht gern über das Bevorstehende. Er sprach lieber über etwas anderes. Ich glaube, er war ziemlich nervös. Es wäre ihm wohl sehr recht gewesen, wenn ich einfach vergessen hätte, dass er morgen für mehr als eine Ewigkeit ans andere Ende der Welt verschwinden würde.

»Morgen um diese Zeit sitzt du im Flugzeug«, sagte ich, obwohl ich mir das eigentlich hatte verkneifen wollen. Ich war länger als das Handtuch unter mir und spürte deutlich die warmen, vertrockneten Grashalme an den Waden und zwischen den Zehen. Dabei konnte man nie sicher sein, ob es sich tatsächlich um Grashalme und nicht um Käfer oder Ameisen handelte.

»Hm«, machte Patrice und blinzelte. Er hatte blonde Haare und blonde Wimpern, und wenn er einen Bart trüge, dann wäre der genauso blond.

Mit einem mulmigen Gefühl unter der Haut schaute ich aufs Wasser. Ein ganz leichter Wind kräuselte die schwarzgrüne Oberfläche des Sees, sodass sie aussah wie das nachgemachte Meer in der Augsburger Puppenkiste. In einiger Entfernung schaukelte ein Tretboot voll kichernder Jugendlicher der Anlegestelle entgegen. Hinter uns hörte man Leute laufen. Sie trugen ihre Bikinis und ihre frühe Bräune zur Schau, und auch die viele harte Arbeit im Fitnesscenter, die sie in sich selbst investiert hatten. Wir lagen hier direkt auf dem Präsentierteller.

Ich versuchte mir vorzustellen, was Patrice in Neuseeland alles tun würde. Ich meine: nicht das Außergewöhnliche. Eher das Alltägliche. Es fiel mir schwer.

»Geiles Wetter«, murmelte Patrice mit geschlossenen Augen und grinste.

Ich traute mich nicht, ihn etwas zu fragen.

»So kann mans aushalten«, gähnte er, und ich wunderte mich, dass er sich so fremd verhielt.

Er glänzte von der Sonnencreme, mit der wir uns gegenseitig eingerieben hatten, Lichtschutzfaktor fünfhundert, was weiß ich. Er wirkte wie einer, der ganz mit sich im Reinen ist. Viele Mädchen schätzen an ihm, dass er sich pflegt, wie sie sagen, und dass er zum Sport geht, um in Form zu bleiben, und dass sie mit ihm über Vitamine und Kalorien sprechen können wie mit ihresgleichen. Wie schafft er das bloß, fragen sie sich: dass er dabei nichts von seiner Männlichkeit einbüßt.

Diese Mädchen haben mich immer beneidet, als ich noch seine Freundin war. Ich wusste das zu schätzen und pflichtete ihnen bei, wenn sie ihn mal wieder lobten.

Ich überlegte mir, dass er gewiss viele Anhängerinnen in Neuseeland haben würde.

»Gehen wir gleich noch was trinken«, schlug er vor und rieb sich träge die Schläfe. Er schwitzte ein bisschen.

»Mir egal«, sagte ich matt.

Über uns grollte ein Flugzeug von A nach B und sprühte weiße Streifen ins ferne, blaue All. Neuseeland, dachte ich.

»Das klingt ja nicht gerade begeistert«, fand Patrice und setzte sich auf.

Ich zuckte die Achseln. Ganz wohl war mir nicht: in meinem gepunkteten Badeanzug. Wenn man hier herumlag, vor aller Augen, dann musste man schon ein bisschen besonders sein, und wenn nicht besonders, dann wenigstens jung und am besten auch schön.

Wenn ich Patrice fragte, ob ich ihm gefiel, dann sagte er meist: Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken.

Das war ungerecht, denn er machte sich schließlich selbst solche Gedanken.

»Ach«, relativierte ich.

Die Jugendlichen kreischten vor Freude. Mir kam das komisch vor. Ich war eben eine alte Spaßbremse.

»Sollen wir gleich mal zusammenpacken«, fragte Patrice und beobachtete eine Libelle, die ihm näher kam, als sie vermutlich sollte, »ich will nicht ganz so spät zu Hause sein.«

Das Tretboot wendete umständlich und wagte sich weiter auf den See hinaus. Offenbar hatten die Jugendlichen noch ein bisschen Zeit.

Ich richtete mich auf und zwinkerte, um den aufkommenden Schwindel zu vertreiben. Mein Rücken fühlte sich klebrig an.

»Können wir«, sagte ich.

Am gegenüberliegenden Ufer ragte düster der schüttere Waldrand auf. Da wollten sie vor Jahren eine Ferienanlage aufbauen, aber es ist nicht viel draus geworden. Man hatte die Häuser, die halb zwischen den angekränkelten Bäumen hervorlugten, mieten und herrichten können, ungefähr so wie Gartenhäuser. Gute Idee, vielleicht, doch sie rentierte sich nicht. Probleme traten auf, unter anderem Auseinandersetzungen mit Naturschützern, man hatte das immer wieder in der Zeitung nachlesen können. Jedenfalls standen die meisten Häuser seit einer Ewigkeit leer und wurden wechselweise von Obdachlosen besetzt oder zum Drogennehmen zweckentfremdet, und einen Exhibitionisten hatte man auch schon aufgegabelt.

Die Kehrseite der Medaille also, von der man sich besser fernhielt.

»Okay«, sagte Patrice gedehnt und klang zufrieden.

Geschäftig rollte er seine Matte zusammen und verstaute unseren Müll in einer Plastiktüte.

Und dann kam das Schlimme. Das heißt: eigentlich hätte es gar nicht schlimm sein müssen, zumindest nicht für mich, denn ich war gar nicht gemeint. Trotzdem fühlte ich mich angesprochen.

»Ich darf nicht vergessen, meine Mutter nochmal anzurufen«, erklärte er ohne aufzusehen, »sonst ist die beleidigt.

Die kann echt nachtragend sein, wenn sie will.« Resolut zog er den Reißverschluss seines Rucksacks zu. »Weißt du, was ich so anstrengend finde«, fragte er mich, erwartete aber offenbar keine Antwort, da er direkt fortfuhr, »wenn jemand einfach nicht mal eine Weile allein sein kann. Ich meine – es ist doch nur für ein Jahr.«

Mein Mund war auf einmal ganz trocken, und im Bauch dehnte sich ein Druck aus, der mir zäh die Kehle emporstieg.

»Aber ein Jahr«, gab ich zu bedenken, »ist doch eine ganz schön lange Zeit.«

Patrice musterte mich irritiert.

»Jetzt fang du nicht auch noch an«, verlangte er genervt.

Ich kam mir blöd vor: als wäre ich seine Mutter. Dabei konnte ich sehr wohl auch mal eine Weile allein sein. Das konnte ich sogar viel besser als manches andere. Aber er sollte doch nicht unbedingt wollen, dass ich das konnte. Schweigend faltete ich mein Handtuch zusammen und wartete darauf, dass das dumme Gefühl oder die schlechte Vorahnung endlich vergehen mochte.

 

Sie verging aber nicht, sie blieb den ganzen Abend und auch den nächsten Morgen über, und ich empfand sie sogar noch, als ich Patrice zum Bus brachte, der ihn zum Flughafen fahren würde. Und als ich mir wie eine Blöde die Seele aus dem Leib winkte, da hatte er sich schon umgedreht und schaute gar nicht mehr.

Er schaute wohl voraus, Richtung Zukunft.

Zweitens.

Patrice flog also im Juni, und ich zog Ende September um, weil vorher das Zimmer noch nicht frei war.

Jeremiah holte mich ab, und ich war aufgeregt. Das passiert mir oft: dass ich erwarte, es kommt was Gutes, nur weil es was Neues ist. Meistens ist das leider Quatsch. Als Jeremiah mit seinem alten Angeberhonda vorfuhr, stand ich schon auf der Straße mit meinen beiden Koffern und der rotweißen Umhängetasche. Mehr brauchte ich nicht, meinen Schreibtisch und den Kleiderschrank hatten wir schon vorher rübergebracht, und das Bett konnte ich übernehmen. Ein schönes Bett übrigens, richtig alt, schmiedeeisern, weiß lackiert, mit rostigen Stellen überall. Ich glaube, es hat von Anfang an in der Wohnung gestanden. Es ist wahrscheinlich einfach zu schwer, um es mal eben rauszutragen.

Man könnte meinen, ich hätte zu viel ferngesehen: Den langen Pony trug ich schräg, Kajal um die Augen, mein Pulli war so weit ausgeschnitten, dass er mir neckisch über beide Schultern rutschte, Jeans, darüber einen ziemlich langen Rock mit kleinen Blumen drauf und Turnschuhe. Mein durchschnittsbrauner Zopf saß genau richtig, das heißt wie zufällig. Ich sah aus wie eine, die Videoclips ansagt, bloß älter, nehm ich an.

Jerry schmiss schwungvoll die Tür zu, joggte lässig um den Wagen herum und bückte sich nach meinem Gepäck.

»Hi«, grüßte er beiläufig und grinste, »dann wolln wir mal.«

Normalerweise war er immer nett zu mir. Warum auch nicht. Wir kannten uns, wie man sich eben so kennt, wenn man mit demselben Menschen zu tun hat.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also ließ ich ihn machen und stieg ein. Im Auto roch es nach Wunderbaum.

Vernehmlich ließ Jerry den Kofferraum zufallen, kletterte auf den Fahrersitz, zündete sich eine Zigarette an und hielt mir aufmerksam die offene Schachtel unter die Nase. Ich schüttelte den Kopf. Ich rauche nur ab und zu, in der Öffentlichkeit, wenn es gut aussieht. Und seit Patrice weg ist eigentlich gar nicht mehr.

Jerry hob knapp die Schultern und drehte den Zündschlüssel herum.

Verlegen kaute ich auf meiner Unterlippe, weil ich immer noch nichts zu erzählen hatte. Er gab Gas. Jetzt konnte ich mich wenigstens aufs Fürchten konzentrieren, denn er fuhr, wie er das ausdrückte: sportlich.

»Am Wochenende können wir gleich deinen Einzug feiern«, sagte er.

Er bremste scharf, das Handschuhfach klappte auf und ein Stapel CDs fiel mir auf die Füße.

»Macht nichts«, konstatierte er, als wäre es meine Schuld gewesen. Ich machte mich daran, die durcheinander geratenen Plastikhüllen aufzulesen. »Jedenfalls kommen sowieso ein paar Leute«, nahm er den Faden wieder auf, »das passt doch.«

Er aschte aus dem Fenster und klickerte mit seinem Zungenpiercing. Er war genau der Typ dafür, abgesehen davon, dass heute ja fast jeder so was hat: mit einem tätowierten Stern auf dem linken Unterarm, teuren Schuhen, einem Haarschnitt, der männlich oder jungenhaft aussehen sollte, ich weiß nicht, was von beidem, und ein paar Nietengürteln um die Hüften. Er hatte sehnige, behaarte Arme, und so stellte ich mir auch den Rest vor. Auf dem Handrücken zeichneten sich die Adern ab, er trug zwei silberne Ringe. Einer ist von seiner Freundin, glaube ich.

»Ganz schön krass, mit Neuseeland«, sagte er.

»Ja«, stimmte ich zu. Es gab nicht viel zu reden außer über Patrice, aber selbst das war ein bisschen beklemmend, seit niemand mehr so recht wusste, ob wir noch zusammen waren oder nicht.

Jerry drückte auf Play, und wir hörten etwas Alternatives mit Gitarren. Mir war mulmig zumute, weil mir erst jetzt richtig bewusst wurde, dass ich nicht nur zu Besuch bei diesen Leuten sein würde, die mit Patrice befreundet waren. Ich würde nicht nach Hause gehen heute Abend.

In der Kurve skippte Jerry pfeifend ein paar Titel weiter, und ich hielt vorsichtshalber die Luft an, als ob mir das was nützen würde.

Jerry ist Webdesigner, also alles und nichts. Er spielt Handball, lieber als Patrice übrigens, man könnte ihn fast als Sportler bezeichnen. Er geht gern auf Partys und wird häufig von Frauen bewundert. Er hat was gegen alles, was Mainstream heißt. Es ist so arg, dass er wirklich darunter leidet, wenn eine Band, die er toll findet, plötzlich in den Charts ist. Er ist ein, zwei Jahre älter als ich, also achtundzwanzig oder neunundzwanzig.

Vielleicht hätte ich mir lieber selbst was suchen sollen, dachte ich. Aber dafür war es jetzt ein bisschen spät.

Hauptsächlich aus Höflichkeit und weil mir alles andere peinlich gewesen wäre, blieb ich wo ich war, anstatt an der nächsten Ampel rauszuspringen und mich schleunigst zu verpissen.

 

Shaoe erwartete uns schon an der Tür.

»Willkommen daheim«, freute er sich, und vollführte eine glamouröse Geste mitsamt einer halben Verbeugung.

»Hallo«, versuchte ich zu strahlen, doch es geriet wohl etwas verkniffen.

»Endlich mal wieder jemand im Haus, der im Sitzen pinkelt«, lachte Shaoe.

»Wer weiß«, witzelte Jerry.

Ich trat ein und schnupperte. Es roch ungewohnt: Ich war ja den ganzen Sommer über nicht hier gewesen, ohne Patrice. Dünner Rauch hing in der Luft und noch etwas, das typisch ist für Altbauwohnungen. Wir befanden uns hier ziemlich weit oben, und trotzdem war es kühl. Der Holzboden knarrte bei jedem Schritt.

»Ich bestell uns was beim Pizzaservice. Was willst du«, fragte Shaoe und pustete sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Er hatte versucht, sich vorn die Haare zu blondieren, aber sie waren nur orange geworden. Der Rest stand unordentlich ab, es war nicht ersichtlich, ob toupiert oder einfach so. »Du bist eingeladen«, fügte er hinzu.

»Oh«, machte ich, »das ist ja nett. Ist aber nicht nötig, ich meine –«

Er winkte ab. »Sag einfach, was du haben willst«, forderte er mich auf.

»Egal«, sagte ich eilig, »irgendwas ohne Zwiebeln.«

»Okay«, nickte er und verschwand in der Küche.

In der Küche spielt sich überhaupt alles ab. Ein richtiges Wohnzimmer gibt es nicht, dafür aber eine Art Ramschraum, der kleiner ist als unsere Zimmer, wo sie alles hineinwerfen, was woanders stört. Im Ramschraum steht auch die kleine Tischtennisplatte, die bei Festen stark frequentiert wird.

Jerry rieb sich den Hinterkopf, gähnte und trug die Koffer in mein Zimmer. Ich ging hinterher und knibbelte an der Haut neben den Fingernägeln. Hier war ich jetzt also zu Hause.

Ich stellte die Tasche ab und setzte mich auf das schöne Bett. Die Abendsonne schien herein, und das Fensterkreuz warf einen karierten Schatten auf den Fußboden. Ich besaß keine Gardinen, die hatte ich in der alten Wohnung zurückgelassen, in der alles nach Vergangenheit aussah. Den Schreibtisch und den hübschen Sperrmüllkleiderschrank hatte ich mal eigenhändig rosa gestrichen. Mittlerweile blätterte die Farbe ab, und einer der beiden ovalen Spiegel, die in die Schranktüren eingelassen waren, hatte einen Sprung.

Hoffentlich hat das nichts zu bedeuten, dachte ich abergläubisch. Die Dinge erinnerten an mich selbst: Sie waren allesamt ein bisschen ramponiert.

Ich betastete vorsichtig das Bettzeug neben meinem Hintern und fühlte mich wie im Film.

»Gleich kommt noch Rosa vorbei«, erklärte Jerry, »wir können dann alle zusammen essen.«

Rosa ist seine Freundin.

Ich nickte.

»Du willst bestimmt erst mal auspacken«, sagte er.

Ich nickte wieder und war erleichtert, dass er ging. Ich traute mich trotzdem nicht, die Tür zuzumachen.

Wenn man aus meinem Fenster schaut, sieht man Dächer und schmalere Straßen mit geflicktem Asphalt und auch ein paar Bäume, die sich schon einigermaßen herbstlich gefärbt hatten. Die Fensterscheibe war ein bisschen staubig, was ich irgendwie hübsch fand.

Die Wohnung war schön, die Leute stellten etwas dar, so könnte man es wohl ausdrücken, und ich schiss mir mal wieder vor lauter Bedenken in die Hose. Ich nahm mir vor, mich wirklich anzustrengen, hierher zu passen. Wirklich. Ich wollte niemanden enttäuschen. Außerdem ist man dann letztendlich sowieso nur selbst der Leidtragende.

 

»Und, hast du dir das auch gut überlegt«, fragte Rosa, »so als Quotenfrau in der Männer-WG?«

Sie zog erwartungsvoll die Brauen hoch.

Ich säbelte unentschlossen an meiner Mozzarellapizza herum, um Zeit zu schinden. Ich hätte gern etwas Schlagfertiges geantwortet, aber die Frage war so bescheuert, dass mir natürlich nichts einfiel.

»Das macht mir nichts aus«, erwiderte ich schließlich kauend, »weißt du: jahrelang selbst Mann gewesen.«

Okay, der Witz war nicht der Bringer, aber sie guckte noch nicht mal freundlich. Ich dachte schon: das war also das erste Fettnäpfchen, da fing Shaoe Gott sei Dank an zu lachen. Jerry grinste auch. Rosa runzelte die Stirn und verzog nachträglich das Gesicht zu einer Art mitleidigem Lächeln.

Sie ist groß, blond und hat Publizistik studiert, allerdings nicht ganz bis zu Ende. Jetzt unterrichtet sie Yoga und Aerobic und gibt verschiedene moderne Kurse gegen Problemzonen. Ich konnte sie mir genau vorstellen, wie sie auf der Stelle hopst und dabei ruft: eins, und, zwei, und, nochmal und so weiter. Bestimmt bläst sie dabei die Backen auf und weiß Anspornsprüche auswendig. Sie spricht viel von bewusstem Atmen und Ganzheitlichkeit, das ist ganz ihr Metier.

Immer wenn ich Jerry und Rosa zusammen sehe, hab ich das Gefühl, dass sie stolz aufeinander sind, weil sie beide einen Haufen Anerkennung bekommen. Darum sind sie allgemein ein bisschen verwöhnt und benehmen sich auch so. Die Verwöhnten halten oft so einiges für selbstverständlich. Und sie machen gerne Eindruck.

Das hat sich bis heute nicht geändert. Doch damals wussten sie noch nicht, was auf sie zukam.

»Ist aber gut geworden, das Resultat«, gluckste Shaoe, »sieht total echt aus.«

Zu Shaoe hatte ich eher einen Draht. Ich kannte ihn fast gar nicht, weil Patrice mehr mit Jeremiah zusammen unternommen hatte. Shaoe war einfach nur sein Mitbewohner.

Zuerst dachte ich, er tut nur, was ihm Spaß macht. Dass er auch einen ziemlichen Dachschaden hat, genau wie alle, kriegte ich erst mit der Zeit raus. Dabei hätte ich mir das eigentlich denken können: schon allein der Name.

»Da kann man heutzutage ja einiges machen«, setzte ich noch eins obendrauf.

Shaoe ist ein koreanisches Adoptivkind mit reichen Eltern, die immer alles bezahlen, deshalb studiert er auch dauernd was anderes. Er ist vierundzwanzig, sowieso das Nesthäkchen, aber er sieht jünger aus, das tun asiatische Jungs ja oft. Den Namen hat er sich wahrscheinlich selber ausgedacht. Oder aus irgendeinem Manga geklaut, keine Ahnung. Ich glaube, es ist sogar ein Mädchenname. Sein richtiger Name ist ihm peinlich, den haben ihm seine Adoptiveltern gegeben, und die sind eben nicht so hip wie er.

Er ist aber gar nicht so unsympathisch, wie man meinen könnte. Wirklich nicht.

»Machst du eigentlich auch irgendwas an Sport«, wollte Rosa wissen und ich dachte: Das ist ja wie bei der Spanischen Inquisition. Ich war immer noch nicht akklimatisiert, es kam mir so vor, als hätte mir einer feste auf die Birne gehauen, und da säße ich nun, mit Sternchen über dem Kopf.

»Nicht direkt«, informierte ich sie ausweichend.

Leute, die sehr gern Sport machen, erinnern mich immer an die Hochnäsigen in der Schule, die einen beim Basketball oder Völkerball oder Leck-mich-am-Arsch-Ball nicht in die Mannschaft wählen. Ein ganz und gar zeitloses Phänomen: Ich wette, das hat sich kein Stück geändert. Es gibt wenig Erniedrigenderes, als immer die Letzte zu sein, die noch auf der Bank sitzt, und beide Parteien betteln: Kann die nicht zu den andern gehen.

Mir wird schon schlecht, wenn ich nur dran denke.

»Oh«, kam es ratlos aus der Rosa, »und sonst? Was machst du sonst so?«

»Du studierst doch Germanistik, oder nicht«, schlug Jerry vor und mixte sich nebenbei eine Apfelschorle.

»Nein«, widersprach ich, »Geschichte.«

»Auf Lehramt«, fragte Rosa.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nee, einfach nur so. Magister«, sagte ich.

»Aha«, bemerkte Rosa neutral.

Aha, da hatte ich also kein richtiges Ziel. Kunst oder Philosophie oder irgendwas Exotisches wäre okay gewesen, da braucht man kein Ziel, da ist die Sache an sich schon interessant und kreativ genug. Rosa hingegen macht immerhin was Praktisches. Und was Gesundes und was mit Sport, und dann sieht sie auch noch gut dabei aus.

Das sind natürlich hunderttausend Punkte für sie und keiner für mich.

Meine Handflächen fingen an zu schwitzen.

»Ich hab auch mal Geschichte gemacht«, schaltete sich Shaoe ein, »aber nur zwei Semester. Nebenfach.«

»Du hast fast alles schon mal gemacht«, grinste Jerry schräg.

Shaoe grinste zurück und zuckte die Achseln.

»Stimmt«, bestätigte er.

Rosa stellte die leeren Teller zusammen und nahm sich ein Blue.

Ich schwitzte immer noch, und zwar inzwischen überall.

Gern hätte ich etwas vorzuweisen gehabt. Ich überlegte, doch außer Patrice fiel mir nichts ein.

Mit Patrice hatte ich mal eine eigene Eventagentur auf die Beine stellen wollen.

Erst ließ es sich ganz gut an, weil Patrice viele Leute kannte, auch wichtige, und weil er eine gewinnende Art besitzt. Außerdem hatten wir gute Ideen, das hatten wir wirklich. Sogar etwas Startkapital, aus verschiedenen Quellen, unter anderem gehörten dazu leider auch meine so genannten Rücklagen, die meine Eltern für mich für schlechte Zeiten angespart hatten. Ich dachte, es wäre toll, wenn ich später erzählen könnte: Und dann hatten wir da diese Eventagentur. Das klang atemberaubend gut, in meinen Ohren. Dass es nicht geklappt hat, lag an mir: Von der ganzen Telefoniererei mit Leuten, die ich von irgendwas überzeugen musste, bekam ich Dauerkopfschmerzen, und wenn wir die Events trotz aller Widrigkeiten, die sich jedes Mal einstellten, denn so ist das eben, wenn man sich gerade selbständig macht, zustande gebracht hatten, dann bekam ich Magenkrämpfe und das zunehmend üblere Gefühl, den ganzen Scheiß auf keinen Fall jemals wiederholen zu können. Ich musste einsehen, dass ich überhaupt nicht verantwortlich sein wollte für irgendwelche Veranstaltungen, weil Veranstaltungen die flüchtigste Sache der Welt sind und dabei trotzdem so nervenaufreibend, dass es man es kaum aushält.

Ich glaube, das war in etwa der Punkt, als mir klar wurde, dass ich machen konnte, was ich wollte, ich würde einfach nicht so werden wie Patrice, und ihm klar wurde, dass er sich das anders vorgestellt hatte mit mir.

Es schien also ratsam, diese Phase unter den Tisch fallen zu lassen.

Tja. Mein langweiliger Nebenjob in der Bücherei war auch kein Highlight. Ich fand es okay, aber da gab es nicht viel zu erzählen. Alles in allem: keine Referenzen. Jeder Idiot hatte schon im Ausland gearbeitet oder an Castings teilgenommen oder kannte Prominente. Ich nicht.

»Morgen müssen wir mal langsam fürs Wochenende einkaufen«, wechselte Jerry das Thema.

»Unbedingt«, stimmte Shaoe zu und kippelte mit seinem Stuhl, »das nervt, wenn dann doch wieder wer mitten in der Nacht zur Tankstelle fahren muss.«

Shaoe macht auch gern Eindruck. Darin ist er ziemlich gut, ich weiß, dass alle ihn hübsch und gewissermaßen speziell finden. Man ist sich einig, dass er Ausstrahlung hat. Und damit hat er eigentlich schon gewonnen, denn Ausstrahlung ist das A und O, das lernt man überall. Es muss nicht mal positive Ausstrahlung sein, positive Ausstrahlung brauchen nur die Hässlichen und Minderwertigen, damit das Hässliche und Minderwertige nicht so auffällt. Bei Menschen, die so hübsch, gescheit, und, wie ich da ja noch dachte, sorglos sind wie Shaoe, empfiehlt es sich, eher auf das Geheimnisvolle zu setzen. Ich bin mir nicht sicher, ob Shaoe das absichtlich tut. Ich fand ihn einfach ganz nett.

»Ja«, bestätigte Jerry, »das ist ätzend.«

Er stand auf, machte sich am Kühlschrank zu schaffen und stellte noch ein paar Flaschen auf den Tisch. Ich sah ihm dabei zu und fand, dass er einen selbstbewussten . Gang hatte. Shaoe schlug die Beine übereinander, friemelte an seinen vielen Armbändern herum und fing an, etwas von Leuten zu erzählen, die ich nicht kannte. Ich hörte trotzdem zu und vergaß fast, dass ich umgezogen war.

»Find ich aber gut, dass Nancy jetzt da ist«, sagte Rosa irgendwann zu niemand Bestimmtem, »dann kommt ihr vielleicht auf weniger Scheiß.«

Sie sah fröhlich in die Runde, und ich zog erleichtert in Erwägung, dass sie gar nicht unbedingt etwas gegen mich haben musste. Wenn man mal ein Außenseiterkind war, dann erwartet man nicht viel.

 

»Und«, fragte Shaoe, als Jerry und Rosa in Jerrys Zimmer verschwunden waren, »vermisst du Patrice sehr?«

Wir waren beide betrunken, auf dem Tisch brannten ein paar Windlichter und brachten eine Menge Bewegung in die blassgrünen Küchenwände. Ich schob meine Füße auf dem stumpfen Boden hin und her.