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Griechisch, fränkisch, urkomisch! Der fröhliche Trubel am Nürnberger Christkindlesmarkt täuscht: Eine junge Frau im Engelskostüm wurde ermordet. Unter Verdacht gerät der Seniorchef einer traditionsreichen Nürnberger Lebkuchenfabrik – doch dessen Putzfrau Olympia Moustakas glaubt nicht an seine Schuld. Beherzt begibt sie sich auf die Spur des Täters, die von der feinen Gesellschaft bis ins Rotlichtmilieu führt. Aber der Mörder hat sie bereits im Auge.
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Seitenzahl: 388
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Martina Tischlinger, in Nürnberg geboren, studierte BWL, Außenwirtschaft und Marketing, doch ihre Leidenschaft gehört dem Schreiben. Zahlreiche Kurzgeschichten wurden veröffentlicht, für den Bayerischen Rundfunk auch in fränkischer Mundart. Außer im Radio ist sie bei Lesungen zu hören.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Quanthem Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-408-7 Franken Krimi Originalausgabe
Wir danken dem Presse- und Informationsamt der Stadt Nürnberg für die Abdruckgenehmigung des Prologs auf Seite 265.
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur GerdF. Rumler, München.
Der Irrtum ist der größere Feind der Wahrheit als die Lüge.
Prolog
Lasst uns froh und munter sein. Oh ja, ganz sicher. Und wie froh er bald sein würde. Kling, Glöckchen, klingelingeling. Bald würde er an ihrer Tür klingeln. Und dann bring ich dich um. Aber heidschi bumbeidschi bum bum.
Schneeflocken taumelten vom Himmel, als Kind hatte er sie mit ausgestreckter Zunge aufgefangen. Das war lange her. Er legte den Kopf in den Nacken, bis er von der starren Haltung schmerzte. Ihre Wohnung war hell erleuchtet, jeder Raum, den man von der Straße aus sehen konnte. So als würde seine Bewohnerin wollen, dass man sie beobachtete. Er konnte sie nicht sehen, aber er stellte sich vor, wie sie völlig ahnungslos umherging, und es erregte ihn, sich vorzustellen, wie er seine Hände um ihren Hals legte und zudrückte.
Sie war allein zu Hause.
Der Zeitpunkt war perfekt.
Sie stand vor dem Spiegel im Badezimmer, tuschte sich die Wimpern und ignorierte die seltsamen Grimassen, die sie dabei unwillkürlich schnitt. Als es an der Tür klingelte, verdrehte sie die Augen.
Wer war das denn? Das passte jetzt wirklich nicht. Sie wollte ausgehen und war schon spät dran. Wahrscheinlich die aufdringliche Nachbarin, die sich über alles beschwerte und gleichzeitig nach jedem Klatsch lechzte. Die kann mich mal! Es klingelte erneut, und sie kleckste etwas Tusche neben ihr rechtes Auge. Leise fluchend wischte sie mit der Fingerspitze den schwarzen Tupfen weg und huschte barfuß in die Diele. Ohne durch den Spion zu blicken, riss sie die Wohnungstür auf, schon einen passenden Spruch für die Nachbarin auf den Lippen.
Das Licht im Treppenhaus brannte, aber niemand war da.
Erleichtert, nicht weiter gestört zu werden, schloss sie die Tür wieder und stieg in ihre sexy hohen Pumps, die auf ihren Auftritt warteten. Es waren Schuhe, die nicht zum langen Gehen gedacht waren. Maximal zum Taxi und dann auf die Party.
Sie betrachtete sich im großen Wandspiegel im Flur. Was sie sah, gefiel ihr. Schlanke Beine, flacher Bauch, ihre Brüste waren eins a. Dann lauschte sie.
War da nicht ein leises Schaben an der Wohnungstür? Sie hielt den Atem an. Lauschte. Ein Geräusch, als würde jemand mit den Fingernägeln an der Tür kratzen. Oder ein Tier mit Krallen? Aber in der Stadt gab es keine Tiere, die an Türen kratzten. Und dennoch hörte sie es. Jemand oder etwas fuhr mit den Nägeln über das Holz. Ihre Härchen auf den Armen stellten sich auf. Oh mein Gott. Ein leises Wimmern. Ganz deutlich. Ein menschliches Wimmern. Und der, von dem es ausging, stand ganz nah hinter der Tür. Sie konnte ihn fast fühlen. Wieder und wieder kratzten die Nägel über das Holz, ganz langsam.
Dieses Mal ging sie zur Tür und blickte durch den Spion. Im Treppenhaus war es stockdunkel.
Leiche an Bord
»Ciao bello, ciao!«
Manne Egerer, der Taxerer, zog hörbar die Nase hoch und warf seinem nervigen Fahrgast einen Blick zu. Einen dieser Blicke, der den anderen schlagartig getötet hätte, wenn Manne denn hätte töten können. Ciao bello… Telefonierte der Schaumschläger mit seinem Hund?
Manne setzte den Blinker und fuhr von der Marienbergstraße rechts zum Flughafen ab.
»Bussi, servusla, bis bald!«
Erneuter Blick von Manne. Servusla… Ein echter Weltmann also! Manne kannte diese Typen. Rausgeputzt wie der Herr Generaldirektor persönlich, aber keinen Hosenknopf im Portemonnaie. Manne mochte gar nicht mehr zu ihm nach hinten schauen, tat es aber doch. Jetzt busselte er auch noch in sein Smartphone hinein!
»See you! Und sobald ich vom Businessmeeting back bin, gänger mir aufn Christkindlmarkt, gell, Mauserla!«
Solche Leute hatte Manne gefressen. Da sprang ihnen der Franke direkt aus dem Mund, aber sie gingen nicht auf den Christkindlesmarkt, wie er seit weiß der Geier wie lange schon hieß. Wer glaubte, etwas Besseres zu sein, oder nicht als Franke identifiziert werden wollte, der besuchte den Christkindlmarkt.
»Du Schmalspurcasanova, du«, murmelte Manne in seinen nicht vorhandenen Bart und zog erneut, demonstrativ laut, die Nase hoch. Und wenn schon, dann hieß es bei einer Frau »bella«, so viel wusste selbst er noch von den Urlauben am Gardasee.
Vor der Abflughalle fuhr er rechts ran. »Sechzehn achtzig«, las er vom Taxameter ab. Am Rückspiegel des Wagens baumelte ein glitzernder Tannenbaum, auf dem Armaturenbrett stand ein kleiner Weihnachtselch, der bei jeder Bewegung wie besoffen wackelte. Man tat, was man konnte.
Mannes geschniegelter Fahrgast wühlte erst in seiner Manteltasche, erhob sich dann halb, um in seiner Hosentasche zu kramen. Bog sich nach links, um in der anderen Hosentasche zu suchen. »Des gibt’s doch ned. Des gibt’s doch ned«, kommentierte er seine akrobatischen Verrenkungen, und Manne schwante Übles: Der Typ kann nicht zahlen.
Schließlich atmete der andere erleichtert auf und fischte einen zerknitterten Zwanziger aus seiner Brusttasche. Auf ein »Bassd scho!« wartete Manne vergeblich. Stattdessen sagte der Mann: »Machen Sie… äh… machen Sie siebzehn. Und eine Quittung über zwanzig für die Steuer, bitte.«
Wie schon gesagt respektive gedacht: ein Schaumschläger!
Mit wehendem Mantel stieg der Schnösel aus dem Taxi und entschwand in die hell erleuchtete Flughafenwelt.
Manne schaute auf seine Armbanduhr. Eigentlich wollte er längst bei seinem Kumpel vorbeigeschaut haben, aber wenn er sich nicht irrte, würde der Flughafen in wenigen Minuten noch ein paar Kanaren-Urlauber und Geschäftsreisende ausspucken. Und wer seinen Wagen nicht im Parkhaus hatte stehen lassen oder abgeholt wurde, der war auf U-Bahn oder Bus angewiesen– oder auf ein Taxi. Samstagnachmittag, noch nicht einmal fünf Uhr, aber draußen war es stockfinster wie in tiefster Nacht und lausig kalt. Solche Tage, besonders wenn es frisch geschneit hatte und die Straßen rutschig waren, spielten den Taxifahrern in den Geldbeutel. Und bei den Urlaubern saß das Geld noch locker, da leistete man sich zum Abschluss der Ferien schon mal noch einen Chauffeur.
Er schien Glück zu haben. Eine Frau im rosa Flanellmantel, ein Windstoß offenbarte unter ihm ein schwarzes Minikleid und lange, schlanke Beine, stöckelte direkt auf sein Taxi zu. Eilfertig sprang Manne aus dem Mercedes und hielt ihr die Beifahrertür auf. Doch sie winkte lächelnd ab. Der Mann im Golf vor ihm hupte, und das schwarze Minikleid verschwand im Wagen.
Manne schlurfte zurück und beschloss, Feierabend zu machen.
»Moment, bitte!«, rief jemand.
Ein weißhaariger Mann, wie die Frau elegant gekleidet, aber eben alt, kam mit erhobenem schwarzem Lederhandschuhfinger näher.
Manne zuckte zusammen. Himmel, was für ein Gesicht! Faltig, ungesund bleich mit dunklen Augenringen– der Tod im feinen Zwirn.
»Zum Hotel Edelmann, bitte. Ich habe eine Verabredung in der Bar.« Schon stieg der Scheintote hinten ein, seinen Aktenkoffer an sich gepresst.
Logisch, dachte Manne, bei den anderen steigen die Schnuggerla ein, und mir bleiben die muffigen Knacker. Aber Geld war Geld. Im Rückspiegel beobachtete er den Alten, der sich aus einem weißen Plastikdöschen eine Tablette in den Mund warf und sie zerkaute.
Eigentlich war die Fuhre gar nicht so schlecht, und die Richtung passte auch. Vom Hotel Edelmann, das in der Nähe des Opernhauses lag, war es nur ein Katzensprung zu seinem Kumpel Hanno.
Hanno Heldenbäcker, Besitzer eines Etablissements in Nürnbergs Rotlichtmilieu, hatte ihm erzählt, er habe eine Ladung Pelze von einem seiner Geschäftspartner bekommen. Na ja, Geschäftspartner… Der Russe war eine üble Kanaille, der sogar seine eigene Großmutter samt Gebiss verhökern würde, wenn der Preis stimmte. Aber Hanno hatte Manne eine Pelzjacke zu einem Superpreis versprochen.
Die Elfi wird platt sein, grinste Manne still in sich hinein. Dieses Weihnachten würde es ausnahmsweise kein Gemecker und kein langes Gesicht geben.
»Eine echte Pelzjacke! Für mich? Du bist ja wahnsinnig!«, hörte Manne seine Frau schon vor Freude jubeln.
Und Zeit wurde es, dass er endlich bei dem Barbesitzer aufkreuzte. Denn die »heißen« Pelze würden Hannos Laden zügig wieder verlassen. Die Ware war irgendwo »vom Laster gefallen« und der »Rote Bock« nur eine Zwischenstation auf dem Vertriebsweg. Hanno würde die Russenpelze so schnell wie möglich weiterverschachern.
Es war ein Freundschaftsdienst, dass Hanno ein »Jäckla« für Manne auf die Seite legte. Manne beschloss also, sobald er den Alten beim Hotel am Opernhaus abgeliefert hatte, weiter zum »Roten Bock« zu fahren. Er drehte das Radio lauter. Mit dem ersten Ton erkannte er– seine Helene.
»Die Helene Fischer is schon a Knaller, gell?«, sagte er über die Schulter nach hinten und stimmte dann, wegen des kränklichen Mannes nicht ganz so schmetternd wie sonst, in den Refrain ein.
»Atemlos…!« Lange hielt Manne allerdings nicht mit der Helene mit, da er nicht den gesamten Liedtext beherrschte. Für seinen Fahrgast ein wahrer Segen.
Routiniert überholte er, wo möglich, die elenden Schleicher auf der belebten Bayreuther Straße.
»Etz fängt’s auch noch an zu schneien«, kommentierte Manne die dicken Flocken, die vom Himmel schaukelten, und drehte das Radio leise. Den Roberto Blanco wollte er seinen Ohren nicht antun. »Aber bis Weihnachten ist der Schnee bestimmt wieder weg. Weil, weiße Weihnachten hat’s ja schon ewig nicht mehr gegeben.« Es war Anfang Dezember, Nikolaustag.
Der andere stellte sich schlafend. Als wollte er sich nicht mit ihm über Schnee unterhalten. Als wollte er sich überhaupt nicht unterhalten.
Manne indes fand, dass der bleiche Geselle dringend ein bisschen Ansprache brauchte. Außerdem war er neugierig. Immer wieder blickte er in den Rückspiegel, unter dem der Plastiktannenbaum tanzte. Irgendwoher kannte er den Mann. »Waren mir a bisserla auf die Kanaren? Naa, Sie ned, gell? So wie Sie ausschauen, waren Sie geschäftlich unterwegs.«
Der Ältere brummte seine Zustimmung.
»Und wo waren mir aweng?«
»Antwerpen.«
»Schokolade?«
»Diamanten«, knurrte sein Fahrgast unfreundlich, und Manne erstarrte ehrfürchtig. Der Mann zog sein Smartphone heraus und wischte auf dem Display herum. Eine Weile verlief die Fahrt still, nur leise dudelte das Autoradio.
Manne lächelte. Gut, dass sein Fahrgast jetzt wieder die Augen geschlossen hatte, so konnte er ihn genauer betrachten. Unterdessen waren sie am Rathenauplatz, es war vorprogrammiert, dass er anhalten musste. Hier war die Ampel so gut wie immer rot. Jetzt hatte er es! Ganz klar: Diamanten. Der Mann auf der Rückbank war der Juwelier, der sein Geschäft in der Fußgängerzone hatte. Seine Frau blieb zu gerne an der Schaufensterscheibe kleben, während Manne heftig an ihrem Ärmel zog: Los, weitergehen! Der Mann vom Security-Dienst am Eingang hatte ihn nachhaltig beeindruckt. Also, nicht der Typ an sich, sondern sein breites Kreuz.
Wie hieß der doch gleich? Grünstein. Genau, Gustav Grünstein. Der Juwelier. Die Elfi las mit Vorliebe die Klatschspalten in der Zeitung und zeigte ihm bei großen Veranstaltungen immer fast vorwurfsvoll die Fotos: der Oberbürgermeister Maly auf dem Opernball, der Markus Söder auf dem Veitshöchheimer Fasching, der Grünstein auf dem Ball der Union, alle mit Gattinnen in edler Robe und mit Geschmeide um den Hals. Ja, so etwas gefiel der Elfi. Manne war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er stand mehr auf die Fleischküchla mit Kartoffelsalat in seiner Kneipe, in der er sich mit den anderen Taxerern traf.
Mittlerweile waren sie am Hauptbahnhof vorbei, Richtung Opernhaus staute sich der Verkehr nicht untypisch. Manne drehte das Radio lauter und gleich wieder leiser. Für »Last Christmas« war er nicht in Stimmung.
Was für ein interessanter Mensch. Und was für ein Beruf, bei dem man ständig mit Gold und Klunkern zu tun hatte. Ob sich in dem Aktenkoffer Diamanten befanden? Wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel und wäre diesmal um ein Haar vor Schreck rechts auf den Gehsteig gefahren.
Sein Fahrgast war mit auf die Brust gelegtem Kopf zur Seite gerutscht. Noch ein Stück weiter und dessen Oberkörper läge komplett auf der Rückbank flach. Himmel, der Juwelier war ihm abgenibbelt! Schon am Flughafen hatte er so ungesund ausgesehen, hoffentlich war es nichts Ansteckendes! In seinem Job als Taxifahrer war er ja ohnehin ständig allen möglichen Viren und Bazillen ausgesetzt, an so manche üble Gerüche mochte Manne erst gar nicht denken.
»Hallo! Sie!«
Der Mund des Juweliers stand leicht offen.
Verflucht. Mannes Faust krachte aufs Lenkrad. Er hatte eine Leiche an Bord.
Hase mit Tripper
Manne brach der kalte Schweiß aus. Halbe Schrankwände, Betrunkene, Christbäume und gefrorene Weihnachtsgänse ja, aber einen Toten hatte er noch nie befördert. Sollte er ihn pflichtbewusst im Hotel Edelmann abliefern? Dahin hatte der Grünstein doch gewollt. Aber am Ende würde man ihm noch die Schuld woran auch immer geben. Der Dumme war immer der Depp, so eine von Mannes Lebensweisheiten. Er konnte nicht mehr klar denken, und bis er es merkte, hatte Manne wie von Geisterhand gelenkt sein Taxi über den Plärrer in die Ottostraße gefahren und stand im Hinterhof vom »Roten Bock«.
Die Ottostraße und die Frauentormauer waren bei– manchen– Männern berühmt, dort befand sich eines der ältesten Rotlichtviertel Deutschlands. Hanno Heldenbäckers »Roter Bock« war ein beliebter Puff mit Oben-ohne-Bar.
Manne hatte Hanno hinter dem Bartresen weggeholt. Jetzt beugte sich der Wirt in den Fond des Taxis und fühlte bei Grünstein den Puls.
»Du spinnst doch, der ist mopsfidel.« Er legte Grünsteins Arme sanft auf dessen Brust zurück. Das Neonlicht, das über dem Notausgang der Nacktbar in den Hinterhof fiel, tauchte den Juwelier zu allem Überfluss in ein gespenstisches Grün.
Manne entspannte sich. Nebeneinanderstehend gaben die beiden Männer ein seltsames Gespann ab. Heldenbäcker maß fast einen Meter fünfundneunzig und war durchtrainiert. Er trug hautenge Jeans, allerdings nicht von der Stange, ein stets blütenweißes Hemd und eine Lederjacke mit Ketten. Sein Lebenswandel hatte Spuren im Gesicht hinterlassen, man konnte ihn leicht auf Ende fünfzig schätzen. Manne hingegen trug Jeans, die ihm fast in den Kniekehlen hingen, einen staubgrauen Pullover mit Leierbündchen und Turnschuhe, in denen mindestens eine Socke ein Loch an der Stelle der großen Zehe hatte. Er sähe nicht einmal schlecht aus, würde er nur ein bisschen was aus sich machen. Er reichte Hanno gerade bis zu den Schultern. Einzig die blauen Augen und ihre schwarzen Haare hätten auf eine Verwandtschaft schließen lassen können, allerdings war Hannos Frisur gestylt, während sich Mannes Löckchen über den Kragen kringelten, wie die Natur sie geschaffen hatte. Aber verwandt miteinander waren die Männer trotzdem nicht. Eben bloß Kumpel, aber seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren.
Noch im letzten Jahrhundert hatten sie ordentlich einen gehoben und gemeinsame Interessen festgestellt: den Club, schnelle Autos, Boxkämpfe und Bier. Männliche Seelenverwandte sozusagen.
»Aber gesund schaut er auch ned grod aus.« Jetzt beugte sich Manne ins Wageninnere, schnupperte. »Vielleicht hat er einen Rausch oder was eingenommen?« Ihm fiel die Tablette ein, die der Juwelier geschluckt hatte.
Hanno machte eine Kopfbewegung. »Lass uns reingehen. Der läuft dir schon nicht weg.«
Aber Manne betrachtete immer noch den schlafenden Juwelier.
»Du willst die Pelzjacke doch noch, oder?«, setzte Hanno nach.
»Logisch! Die Elfi wird ganz aus dem Häuschen sein.«
Hanno grunzte dreckig: »Na, dann rappelt’s aber Weihnachten gescheit bei euch in der Kiste.«
Manne winkte ab. »Bloß nicht. Mir reicht es schon, wenn der Haussegen nicht schief hängt.« Vorsichtig klappte er die Autotür zu und trottete seinem Freund hinterher.
Drinnen war das gedämpfte Gewummer aus der Stripteasebar zu hören. Sie öffnete bereits am späten Nachmittag, doch die Tanzdarbietungen begannen erst später. Um die Uhrzeit konnte man die Gäste meist an einer Hand abzählen. Sie gingen einen kahlen weiß verputzten Gang entlang, einem roten Schummerlicht entgegen. Die Musik wurde lauter. Hanno schob den Perlenvorhang mit beiden Händen zur Seite, und Manne schlüpfte hindurch. Er konnte von hinten auf die Bühne blicken, auf der sich eine schlanke Schönheit gerade denBH abstreifte. Sie hatte sehenswerte Brüste. Manne tippte seinem Kumpel auf die Schulter und deutete Richtung Bühne. »Neu?«
Hanno nickte. »Iwana aus St.Petersburg. Eine von zwei neuen Girls. Sie probt ein bisschen für heute Nacht. Eigentlich heißt sie Theresa Schneuz und kommt aus Pommelsbrunn, aber die Kerle fahren nach wie vor auf Weiber aus dem Osten ab.«
Sie stiegen eine ausgetretene Steintreppe in den Keller hinab. Es roch muffig und nach abgestandenem Bier. Hanno sperrte eine Tür auf.
Auf einem Tisch standen große Pappkartons. Hanno öffnete einen. Er war bis zum Rand gefüllt mit Pelzjacken, Pelzmänteln, Kappen und viel Haarigem mehr. Wahllos zog er ein weißes Fuchscape heraus, schüttelte es und hielt es Manne hin. »Was willst du für die Elfi anlegen?« Er warf den Umhang zurück.
Manne kratzte sich am Kinn. So wenig wie nötig. Aber ihm war natürlich klar, dass er für einen Pelz ein paar Flocken lockermachen musste.
Hanno wählte eine prächtige Silberfuchsjacke aus dem Fellberg und hielt sie hoch. »Viertausendfünfhundert Euro«, machte er ein Angebot.
Manne ging gefühlt vor Schreck in die Knie, spürte, wie ihm flau im Magen wurde.
Hanno legte die Jacke vorsichtig neben den Karton und nahm die nächste heraus. »Wie wäre es mit einem Rotfuchs? Sagen wir, zwölfhundert für die hier. Schau, wie schön die ist.« Hanno strich über das Fell und interpretierte Mannes Schweigen richtig. »Was denn, das wird dir deine Elfi doch wert sein!«
Mannes Wangen schienen nach innen zu fallen.
»Hier haben wir noch ein paar Schnäppchen für den kleinen Geldbeutel. Ein Fuchsschal für hundertfünfzig.«
Dass Hanno die Preise weder von einer Liste noch von einem Etikett ablas, machte Manne etwas Hoffnung. Vielleicht konnte er noch verhandeln.
Hanno wühlte schon in dem zweiten Karton herum. »Noch ein paar Angebote. Hier, eine Mütze mit Fellbommel für achtzig Euro. Zobelhaarband, hört, hört! Sagen wir, vierzig?« Der Puffbesitzer fischte ein Teil nach dem anderen heraus. »Jetzt habe ich das Passende für dich. Damit machst du deine Elfi bestimmt happy: Lammhausschuhe für ’nen Fuffi. Mensch, warme Hausschuhe, das ist doch was für deine Süße– komm, schlag ein.« Er lachte vor Vergnügen.
»Du Depp. Die haut mir die Schlappen eher um die Ohren. Aber hast du nicht ein Felljäckchen zu einem Preis, der mich nicht arm macht? Von mir aus auch zweite Wahl und von ’nem Hasen, der Tripper hatte. Dafür fahre ich dich im Notfall auch ein Jahr lang umsonst.«
Gustav Grünstein schlug die Augen auf. Ein seltsam grüner Lichtschein fiel auf ihn, ansonsten war es dunkel. Waren sie noch immer in der Luft oder doch schon gelandet? Unsinn, erinnerte er sich. Er war längst wieder in Nürnberg. Er hatte sich ein Taxi genommen, rekapitulierte er. Mit einem schwafelnden Fahrer. Grünstein versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Sein Nacken schmerzte. Er rollte den Kopf, blickte sich um. Er saß noch immer in dem Taxi, aber wo war der Fahrer? Außerdem war es grässlich kalt in dem Wagen.
Grünstein stieg aus. Ging ein paar Schritte auf und ab. Jedenfalls hatte ihn der Taxifahrer nicht zum Hotel Edelmann gebracht– oder vielleicht doch? War er vielleicht im Hinterhof des Hotels? An der Hauswand standen Müllcontainer, daneben pralle Müllbeutel und Waschkörbe voller Leergut, zusammengeschnürte Bündel aus Zeitschriften und Kartons. Ein Dreckloch. Er ging durch die Einfahrt und blickte in eine kopfsteingepflasterte Gasse. Auf der einen Seite befanden sich Häuser, auf der anderen ragte eine Sandsteinmauer in die Höhe.
Wo zum Teufel war er?
Über der Tür des Hauses zuckte eine Neon-Leuchtschrift: »Roter Bock«. Am Gebäude daneben: »Pufflustig«.
Vorsichtig, fast ängstlich ging Grünstein ein paar Schritte weiter. Er konnte es nicht fassen– Damen in Schaufenstern! Der Mann hatte ihn hinter die Mauer gefahren, direkt auf Nürnbergs Amüsiermeile. Nicht, dass Grünstein als Student nicht schon mal mit Freunden und hochrotem Kopf hier durchgebummelt wäre, aber jetzt war diese ordinäre Gegend eindeutig weit unterhalb seines Niveaus. Der Juwelier drehte sich um und flüchtete zurück zum Taxi.
Vom Taxifahrer keine Spur. Wieso hatte er ihn hier abgesetzt? Er konnte doch einen Gast nicht einfach wohin karren und dann vergessen. Natürlich könnte er sich über Handy ein anderes Taxi rufen oder einfach weggehen, von der Ottostraße waren es zu Fuß nur etwa fünfzehn Minuten zum Hotel Edelmann. Aber das kam nicht in Frage, nicht in seinem angegriffenen gesundheitlichen Zustand. Außerdem musste er die Fahrt noch bezahlen, auch wenn der Mann sich das Geld nicht wirklich verdient hatte. Aber Grünstein war nun einmal ein korrekter Mensch.
Andererseits, er schaute auf seine Armbanduhr, würde er den auswärtigen Geschäftsfreund, den er im Hotel Edelmann kurz auf einen Drink hatte treffen wollen, versetzen müssen, wenn er sich nicht bald auf den Weg machte. Denn er hatte noch mehr vor an diesem Samstagabend, und dafür brauchte er wiederum ein Taxi. Hoffentlich taugte dessen Fahrer mehr als jener, der sich offenbar in Luft aufgelöst hatte. Im Nachhinein bereute Grünstein, dass er seinen Wagen in den drei Tagen seiner Geschäftsreise nicht einfach im Airport-Parkhaus hatte stehen lassen. Das wäre einfacher gewesen. Und jetzt schon wieder so ein straffes Programm! Dennoch huschte ein Lächeln über seine Lippen. Der letzte Tagespunkt war pures Vergnügen. Er war bei seinem Freund Sepp eingeladen. Zu einem Herrenabend. Aber nicht nur mit Herren.
Grünstein schlug den Mantelkragen hoch, er fühlte sich abgestellt wie wertloser Sperrmüll. »Unglaublich«, murmelte er und sah seinen Atem als kleine Wolke vom Mund aufsteigen. Was war nur passiert? Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
Oder hatte sich der Taxifahrer nur verhört und statt Opernhaus Ottostraße verstanden? Grünsteins Gedankengerüste wurden immer waghalsiger. Was, wenn man ihn entführt hätte, um ihn auszurauben? Instinktiv griff er nach seiner Geldbörse. Noch da, auch sein Ausweis und die Geldscheine. Natürlich, warum hätte man ihn dann auch allein zurückgelassen? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Zögernd ging Grünstein in das Haus, aus dem Musik drang. Er fror, und die Erkältung, die er einfach nicht loswurde, erschöpfte ihn. »Hallo?«, sagte er nicht sehr laut. Er näherte sich einem Perlenvorhang, durch den schummriges rotes Licht schimmerte, das durch grelle Blitze unterbrochen wurde. Er wagte einen Blick hindurch und war nicht einmal überrascht. Nichts anderes hatte er erwartet. Ein Mädchen, das nur mehr einen ledernen Stringtanga trug, räkelte sich an einer Stange. Grünstein schmunzelte angetan. Er wäre sonst kein Mann gewesen.
Nur wenige der Stühle in der Bar waren besetzt. Grünstein ließ den Blick über die Anwesenden schweifen: ein Loser, der leer in sein Bierglas starrte, ein Vertretertyp, der die Augen nicht von der probenden Tänzerin lösen konnte. Dann stutzte er. Ein Gesicht kannte er, wusste aber nicht gleich, woher. Nur eines war sicher, er brachte es mit etwas Unangenehmem in Verbindung. Ein Gefühl, als würde in ihm eine Alarmglocke losgehen. Dann war die Erkenntnis da. Ach du liebe Zeit. Der Mann war dieser Journalist, der berüchtigt für seine billigen Boulevardgeschichten war. Möglichst schlüpfrig mussten sie sein. Grünstein und seine Gattin waren seiner Schreiblaune bereits vor Jahren zum Opfer gefallen, als man ihm eine Affäre mit einem Filmsternchen hatte andichten wollen. Absolut lächerlich und völlig aus der Luft gegriffen. Natürlich war an dem Gerücht nichts dran gewesen! Aber es hielt sich hartnäckig. Seine Frau hatte damals einen Nervenzusammenbruch erlitten und war bis heute nicht völlig davon überzeugt, dass er nicht fremdgegangen war. Dann kursierte eine Zeit lang die Meldung, seine Nichte sei beim Skifahren in St.Moritz mit Prinz Harry in kompromittierender Weise gesichtet worden. Dabei studierte das Mädchen und hatte damals, Gott sei Dank, mit Männern noch nichts zu schaffen gehabt. Zumindest nicht mit Männern eines solchen Kalibers. Dieser Schmierfink!
Wie war noch gleich sein Name? Grünstein drückte sich an die Wand und beugte sich immer wieder vor, um zwischen den Perlensträngen hindurchzublinzeln. Ein Name, der so lang wie absurd war. Ach ja. Faustus Faust-Wagner. Keinesfalls durfte der ihn hier entdecken– der Skandal wäre perfekt. Er konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen:
»Ertappt– Juwelier Grünstein im Bordell!« Oder: »Also doch– Grünstein geht wieder fremd!«
Grünstein biss die Zähne zusammen. Nicht auszudenken, sollte sich auch Faust-Wagners Fotograf hier herumtreiben. Eigentlich waren die beiden wie siamesische Zwillinge. Immer zur Stelle, ein bloßstellendes Bild zu schießen und den entsprechenden Artikel zu schreiben, der den guten Ruf ruinierte.
Tatsächlich! Der Juwelier verzog das Gesicht. Gerade latschte der Knipser auf seinen Kollegen zu. Was für eine ungepflegte Gestalt.
Der spärliche Applaus des Vertretertyps für die Nackttänzerin verebbte schnell. Hannos weiterer Neuzugang betrat die Bühne, aber Grünstein war zu sehr mit dem Journalisten beschäftigt, um ihn ausführlich zu mustern. Faust-Wagner lümmelte breitbeinig und ordinär in seinem Sessel, seine Augen fraßen das Mädchen auf der Bühne auf, seine Wangen glänzten rot, das Haar war zerzaust. Auf einem der niedrigen Tischchen vor ihm stand bestimmt nicht sein erstes Bier. Dann sah Grünstein auf den wackelnden Po der Tänzerin, sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht, und sein Herzschlag wollte aussetzen.
Das durfte doch nicht wahr sein! Sie? Hier? Das auch noch! Er vergaß seine Vorsicht und schob die Perlenschnüre weiter auseinander. Er musste sichergehen. Sie war es wirklich!
Was sollte er tun? Natürlich, er musste sie von der Bühne holen. Aber wie, ohne Aufsehen zu erregen? Völlig unmöglich, mit dem Presseschmierfinken in erster Reihe. Eine bessere Show könnte er ihm nicht bieten.
Die blutjunge Stripperin machte mit einer grazilen Bewegung eine Drehung an der Stange, warf die Haare in den Nacken, schloss ihre Augen und fuhr sich sinnlich mit der Zunge über die Lippen. Sie schien ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Aber er, er hatte sie gesehen!
Der Russenpelz
Manne strahlte wie das Christkindla persönlich. Deal! Zweihundert Euro für ein Pelzjäckla, das Wunder was hermachte. Das ausgehandelte Jahr Chauffeurservice fiel nicht groß ins Gewicht, denn er kannte seinen Freund. Hanno ließ nur ungern einen anderen ans Steuer, selbst wenn er einen Vollrausch hatte. Der Russenpelz war Mannes Jahrhundertgeschenk. Die Elfi würde Augen machen. Das mahnende Wort »Tierschutz« und die Bilder militanter, mit Farbbeuteln bewaffneter Tierschützer blendete Manne aus. Immer wieder drückte er seine Nase ins Fell. Der Pelz roch, wie er sich einen Pelz vorstellte, auf keinen Fall künstlich. Yes! Hanno hatte sich nicht festlegen wollen, von welchem Tier er stammte, ob von Hase, Hund oder Katze, aber Manne war da nicht so anspruchsvoll. Fest stand, klein konnte das Tier nicht gewesen sein, wenn aus ihm eine Jacke für die vollschlanke Elfi gemacht worden war.
»Des vergess ich dir… äh… nie… Hanno?«, stammelte Manne abgelenkt. Was war das denn für ein Geplärr?
Auch Hanno zog irritiert die Stirn in Falten. Die Männer blickten nach oben, zur Quelle der Unruhe. Durch die angelehnte Tür drang nach dem markerschütternden Schrei nun aufgeregtes Gackern von den weiblichen Angestellten nach unten. »Was ist da los?«, bellte Hanno.
Die beiden Männer stiegen die Stufen vom Keller zu den Gasträumen hinauf. Hanno voran, Manne dahinter, selig das tote Tier an sich drückend. Merry Christmas!
Oben angekommen, waren die Männer im Nu von überdrehten, halb nackten, ja fast ganz nackerten– ein String zwischen den Pobacken zählte wohl kaum als Bekleidung– Damen umringt. Das liebte Manne so an der Freundschaft mit Hanno, da gab es immer was fürs Auge. Hannos Tänzerinnen und Bardamen plapperten durcheinander, ein aufgescheuchter Hühnerhaufen.
Iwana aus Pommelsbrunn wedelte mit den Armen, einem Fluglotsen gleich, der einen Airbus auf seine Parkposition winkt. »Do, a Doder! Do, Hanno, do!«
Hanno folgte Iwanas Wegweisungen und bahnte sich unwirsch einen Weg zwischen seinen Mädels hindurch. Sogleich machte er beruhigende Handbewegungen. »Keine Panik, Ladys, keine Panik. Das ist doch bloß dem Manne sein Fahrgast.« Und zu Manne: »Warum ist der denn immer noch da?«
Schlagartig stellte sich bei Manne ein schlechtes Gewissen ein. Er hatte den Juwelier völlig vergessen gehabt. Und dessen Zustand war nach wie vor besorgniserregend.
Engel an Bord
Olympia Jette Aida Moustakas-Hufnagel bereitete einen Igel zu.
Im Allgemeinen reagierte die Deutschgriechin nur auf den Namen »Olympia«. Die »Jette« hatte sie zu Ehren ihrer Großmutter väterlicherseits und die »Aida« wegen der griechischen Oma erhalten. Ihr deutscher Vater wiederum hatte sich »Olympia« bei der Taufe gewünscht, denn in seiner Jugend war er ein leidenschaftlicher Leichtathlet gewesen. Ansonsten war die fünfunddreißigjährige Fränkin mit dem attraktiv griechischen Aussehen maximal normal, wenngleich zwei Seelen in ihr wohnten: die temperamentvolle und störrische hellenische und die korrekte und misstrauische des aus Gibitzenhof stammenden Vaters.
Sie spickte den Igel mit geviertelten Zwiebelringen als Stacheln und drückte ihm zwei Oliven als Augen über die länglich geformte Nase. Wer bestellt heutzutage noch einen Hackfleischigel?
Als Josef Burger erstmals einen kalten Igel mit Zwiebeln bei ihr geordert hatte, wäre sie um ein Haar rückwärts aus ihren Pumps gekippt. Aber nach dem überwundenen ersten Schock hatte die wissbegierige Olympia recherchiert und herausgefunden, dass diese Delikatesse zusammen mit Russischen und Fliegenpilz-Eiern sowie Käsespießchen in den 1950er Jahren gern auf Partys serviert worden war und kein Stacheltier je dafür sein Leben hatte lassen müssen. Der Lebkuchenchef Burger musste die Vorliebe für diese Spezialitäten ins neue Jahrhundert hinübergerettet haben.
Zufrieden betrachtete Olympia ihr Kunstwerk, stellte die Platte zu dem neumodischen Fingerfood, das sie ebenfalls zubereitet hatte, auf den Servierwagen und schob diesen in den Salon, wie vornehme reiche Pinkel sicher ihr Wohnzimmer nannten.
Sepp Burger war ein solcher vornehmer reicher Pinkel, ließ es sich aber nicht anmerken. Zudem war der verwitwete Seniorchef des weltberühmten Nürnberger Traditionsunternehmens Lebkuchen-Burger von seinen geldgeilen Nachkommen aufs Abstellgleis befördert worden. Sie fänden seine Unternehmensführung antiquiert und ihn überflüssig, so Burgers eigener Kommentar dazu. Seitdem, vielleicht unbewusst zur Strafe, ließ er es krachen. Und dazu gehörten auch die vor einigen Monaten eingeführten Herrenabende, an denen Burger seine betagte Haushälterin früher in den Feierabend schickte.
Eigentlich war Olympia Putzfrau, vielmehr führte sie die Putzfirma Putz-Frisch ihres Vaters, da der es früher mit der Buchhaltung nicht so genau genommen hatte. Neuerdings leitete Olympia nebenbei auch einen Catering-Service für fränkisch-griechische Spezialitäten, der noch in den Kinderschuhen steckte und mit Aufträgen nicht gerade gesegnet war. Und bereitete für ihren Sepp sogar einen Igel zu. Burger senior war ein Gentleman, dem sie nichts ausschlagen konnte; dass er es gern mal krachen ließ, war seine Sache.
Der Türgong ertönte. Neunzehn Uhr fünfzig. Olympia blickte sich rasch im Salon um. Schampus für die Damen und harte Getränke für die Männer standen bereit, ebenso Fingerfood und der Hackfleischigel. Zeit für sie, sich zu verdrücken.
In der Küche wischte sie noch einmal über die Arbeitsflächen, während es im Minutenabstand gongte. Es war die Aufgabe ihres Chefs, seinen Gästen persönlich zu öffnen. Normalerweise huschte Olympia bei solchen Veranstaltungen nach dem Eintreffen eines jeden Gastes aus der Küche und blickte durch den Türspalt in den Salon. Nur zur Kontrolle. Heute hatte sie der Anruf ihres Neffen auf dem Handy in ihrer Routine gestört. Doch so viel hatte sie zumindest erspäht: Die Damen sahen wieder ausgesprochen sexy aus in ihren engen Abendkleidern, teilweise trugen sie venezianische Masken oder hatten sich kecke kleine Weihnachtsmannmützen, wohl in Anspielung auf den heutigen Nikolaustag, ins Haar gesteckt. Die Herren erschienen in Anzug und Krawatte.
Zurück in der Küche band sie endlich die Schürze ab, schlüpfte in ihren Mantel und griff nach ihrer Handtasche, zwei Körben mit ihren privaten Küchenutensilien und einer Plastiktüte mit Einkäufen, die sie am Nachmittag erledigt hatte. Morgen, am Sonntag, würde sie früh wiederkommen und sauber machen. Hilde, als Haushälterin wahrscheinlich schon in den 1950er Jahren im Dienst der Burgers, durfte von diesen Partys nichts wissen. Die schwerhörige und leicht demente Frau gehörte längst in Rente, aber Burger wagte es nicht, ihr das beizubringen. Ihrer eigenen Meinung nach war sie, Hilde Gloß, doch nicht alt! Auch wenn Olympia sich wunderte, dass, wenn die Grauhaarige sich bückte, sie doch irgendwie auch wieder hochkam und nicht einfach am Boden liegen blieb.
Den anfänglichen vehementen Widerstand gegen die Unterstützung durch die Halbgriechin hatte Hilde Gloß unterdessen abgelegt und genoss sogar ein Tässchen Kaffee, wenn Olympia etwa die Vorhänge abnahm oder die Teppichböden reinigte. Die Herrenabende hatte man bislang erfolgreich vor ihr verheimlichen können. Oder die Haushälterin ignorierte oder vergaß altersbedingt ganz einfach nur die verräterischen Spuren.
Josef– Sepp– Burger hängte seine Herrenabende und insbesondere die dazu geladenen Damen nicht an die große Glocke. Sein Name war immer noch gut für Schlagzeilen in der Presse. Immerhin setzte er damit den bisher unbeschadeten Ruf von Lebkuchen-Burger aufs Spiel. Wenngleich sich ein Rache-Teufelchen in Burgers Brust diebisch darüber freute, seine geldgierigen und machthungrigen Kinder mit seinem neuen Hobby zu brüskieren. Denen waren Vaters Vergnügungen nämlich nicht entgangen. Die schönen blutjungen Frauen bestellte er telefonisch oder online bei einem Escortservice, man ging ja mit der Zeit. Nur nicht beim Hackfleischigel.
Olympia verließ die Burger-Villa durch den Seitenausgang. Sie hütete sich, mit den Gästen zusammenzutreffen. Was sie hatte wissen wollen, hatte sie stets via Blick durchs Schlüsselloch oder den Türspalt erfahren. Vor ein paar Wochen waren sie als Bunnys kostümiert gewesen, vermutlich als besonderer Reiz für die nicht mehr so taufrischen Herren.
Von wem Olympia ihre ausgeprägte Neugier geerbt hatte, war nicht gewiss. Gewiss war nur, dass alle Moustakas-Frauen enorm an ihrer Umwelt interessiert waren.
Das von Olympia bestellte Taxi wartete bereits vor der Tür. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhsohlen, die Nacht war sternenklar und dementsprechend frostig. Wann hatte es in den letzten Jahren so einen Winter in Nürnberg gegeben?
Als der Taxerer sah, wie beladen Olympia war, eilte er aus seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und nahm ihr die Körbe ab.
Im Inneren vom Audi war es wunderbar warm, Olympia hätte am liebsten die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Beifahrersitz hochgezogen. Unter dem Rückspiegel tanzte ein kleiner Tannenbaum. Olympia tippte den Elch auf dem Armaturenbrett mit dem Zeigefinger an, woraufhin er mit dem Kopf wackelte.
Manne legte gerade den Rückwärtsgang ein, als lautes Rufen erklang. Er und Olympia reckten im Einklang die Köpfe und sahen eine junge Frau aus der Villa auf die Straße rennen. Ein wahres Kunststück in ihren Stöckelschuhen und bei dem Schnee.
Trotz der Kälte hatte sie den leichten Mantel nicht zugeknöpft. Darunter trug sie nur den Hauch eines Kleides, auf dem Rücken beulte sich der Mantel seltsam aus. Ferner verbarg die Frau ihr Gesicht hinter einer venezianischen Maske. Sie fuchtelte mit den Armen. »Warten Sie!«
Mannes Grinsen war fast hörbar. »Nehmen wir sie mit?«, fragte er Olympia, die nickte.
Die Frau riss die Tür auf und warf eine kleine Handtasche in Form einer Schleife auf die Rückbank. Dann krabbelte sie hinterher und zog die Tür wieder zu. »Danke«, sagte sie atemlos. »Wir können fahren.« Sie schlüpfte aus dem Mantel und zog den Sicherheitsgurt um sich. Sie trug Flügel.
»Wow!«, machte Manne. »Sind die echt?«
»Kommt darauf an, was Sie mit ›die‹ meinen. Die Haare?«
Sein Blick glitt von den blonden Locken zu ihren Brüsten. »Nein, die Flügel natürlich.«
»Na klar, ich bin ein echter Engel.«
Manne gab Gas, und die junge Frau versuchte, sich bequem hinzusetzen, ohne dass die Flügel Schaden nahmen.
Olympia nahm zwei Visitenkarten aus ihrer Handtasche. Die eine reichte sie der Frau, die andere steckte sie an die Sonnenblende. »Wenn Sie eine zuverlässige Putzfirma oder einen raffinierten, nicht alltäglichen Caterer brauchen, rufen Sie mich an. Mein Name ist Olympia Moustakas, ich bin halb Fränkin, halb Griechin und führe Putz-Frisch zusammen mit meinem Vater. Meine Mutter arbeitet sonst auch mit, ist aber derzeit in ihrer Heimat und kümmert sich um die kranke Oma.« Olympia neigte dazu, Fremden ihre Lebensgeschichte aufs Ohr zu drücken.
Da Manne Familienmenschen mochte, blickte er nach rechts, um sich diese emsige Person genauer anzuschauen. Ihre Beine waren nicht schlecht, oh nein, ganz und gar nicht. Sie waren geformter als die des Engels. Die Oberschenkel verdeckte leider der Mantel, aber auch der schien weiter oben auf nicht uninteressante Weise gefüllt zu sein. Das Haar der Frau war der Hammer, es fiel in dunklen Wellen, die Nase klassisch griechisch. Fränkisch aufmerksam waren allerdings ihre braunen Augen, die ihn jetzt mit diesem Blick prüften, als würde sie kritisch über eine Brille hinwegsehen. Manne konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.
»Sehr freundlich. Ich bin Juli«, sagte die junge Frau, ohne die Maske abzunehmen.
»Und ich Manne Egerer. Wenn ihr einen zuverlässigen Taxerer braucht, ruft mich an.«
Wobei Olympia stark davon ausging, dass Manne sich damit speziell an den geflügelten Engel wendete. »Sie haben die Nikolausparty aber zeitig verlassen«, stellte sie fest und wunderte sich, warum das Mädchen, das eindeutig eine Lockenperücke trug, die Augenmaske nicht ablegte.
Olympia rekapitulierte: Der Herrenabend begann um zwanzig Uhr. Eingeladen waren Georg Thalpacher, emeritierter Professor der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Professor Dr.Siegfried Engelroth, prominenter Gesichtschirurg, Gustav Grünstein, alteingesessener Nürnberger Juwelier, in deren Haushalten sie ebenfalls putzte, sowie ein gewisser Reti Pütz, den Olympia gegoogelt hatte, aber über den nur zu erfahren gewesen war, dass er Schweizer Staatsbürger und Bankier war. Die Gästeliste hatte sie bei einem Telefonat von Burger zufällig aufgeschnappt. Meist gesellten sich vier oder fünf Damen dazu, aber heute hatte sie durch den Anruf ihres Neffen leider etwas den Überblick über die weiblichen Gäste verloren.
Olympia ging davon aus, dass sie beim Norica-Luxus-Escortservice gebucht waren, dessen Visitenkarte sie beim Staubwischen auf Josef Burgers Schreibtisch entdeckt hatte. Der Name der Agenturchefin, Nora Adam, war unterstrichen und daneben eine Handynummer vermerkt. Engelchen Juli war womöglich eine der bestellten Damen. Was ansonsten hätte die Frau in dieser Kostümierung in der Villa zu suchen gehabt? Eine Frage brannte Olympia jedoch immer noch unter den Nägeln: Warum hatte sie die Party vor deren Beginn wieder verlassen?
Juli beschäftigte sich intensiv mit ihrem Handtäschchen. Nicht gewillt, eine Antwort zu geben, sagte sie stattdessen: »Könnten Sie bitte die Heizung noch etwas höher drehen, ich trage keine Strümpfe, und allmählich fange ich doch an zu bibbern.«
Manne blickte in den Rückspiegel. Ein frierender Engel und keine Lichter eines folgenden Autos, alles klar. Er fuhr rechts ran. Sie befanden sich im Thumenberger Weg im schicken Stadtteil Erlenstegen mit wunderschönen Stadtvillen und gepflegten Gartenanlagen.
Manne wieselte um sein Taxi herum, klappte den Kofferraumdeckel auf und nahm den Russenpelz heraus. Er öffnete die Wagentür neben dem Engel und legte Juli Elfis totes Tier über die Beine, die sie auf der Rückbank ausgestreckt hatte. Über dem Knöchel entdeckte er ein Tattoo. Eine Herz– mit Flügeln, was sonst. Hoffentlich hatte sich das Mädchen nicht zu stark parfümiert– wie sollte er sonst seiner Gattin den Duft am Pelz erklären? Aber es war schon zu spät. Der schmale Spatz wickelte sich in das Felljäckchen ein, nur der Fuß mit dem Tattoo schaute noch heraus. Manne schmolz bei dem Anblick dahin. Vorhin ein halb toter Juwelier, jetzt ein halb nackter Engel auf seiner Rückbank. Das Leben konnte so aufregend sein.
Olympia verkniff sich ein Kichern. Das Bild war zu köstlich. Der eilfertige, bis über die Ohren verknallte Taxifahrer und das Fellknäuel, aus dem weiße Engelsflügel spitzten. Beinahe hätte sie ihr Smartphone gezückt. Den Fuß, auf dem Olympia nun ebenfalls die Tätowierung entdeckte, zog das Mädchen rasch noch ein.
Manne hingegen, der sich wieder hinters Lenkrad schwang, hoffte zutiefst auf die Möglichkeit einer Reinkarnation. Nicht aus religiösen Gründen, sondern um im nächsten Leben als attraktiver Kerl mit Alfa Romeo geboren zu werden, auf dessen Beifahrersitz sich ein solch schöner Engel räkelte. Er seufzte. Aber war da nicht noch die Sache mit dem Karma? Bei dem Bockmist, den er mit dem Schmuckfritzen verzapft hatte, käme er im nächsten Leben womöglich als Küchenschabe auf die Welt. Er seufzte nochmals und noch viel tiefer.
»Das Leben ist nicht fair, nicht wahr?«, raunte Olympia ihm zu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Genießen Sie einfach den Moment, er ist ein Geschenk des Himmels.«
»Sind Sie Philosophin?« Manne blinzelte zu seiner Beifahrerin hinüber.
»Nein, auch wenn man das aufgrund meiner Herkunft meinen könnte. Eigentlich habe ich nichts mit Worten und klugen Sprüchen am Hut. Ich bin Putzfrau– mit einem Catering-Service.« Sie drehte sich zu dem Engel um. So lecker wie ein Klecks Sahne, dachte sie. Sie selbst war groß, mit weiblichen Rundungen ausgestattet und durchaus sexy, aber im Vergleich mit dem Engelchen kam Olympia sich vor wie ein Trampel. Nun seufzte auch sie. Die Kleine hatte vermutlich keine Ahnung, was für ein Glück sie hatte, so schön zu sein.
Grünstein wird vermisst
»Was ist?« Reti Pütz zog an seiner kubanischen Zigarre, die ihn mehr interessierte als Sepp Burgers Antwort. Die Männer standen beieinander, der Lebkuchenchef war mit seinem Smartphone beschäftigt. Sie hatten sich von der kleinen Gesellschaft kurzfristig ins Nebenzimmer zurückgezogen, die Tür einen Spalt weit offen stehen lassen. Das Gelächter eines der Mädchen drang zu ihnen.
»Sein Handy ist ausgeschaltet, und in seinem Haus geht nach wie vor nur der Anrufbeantworter ran.« Sepp Burger hielt das Telefon von sich, bis er die Tastatur nicht mehr verschwommen sah, und drückte auf den roten Knopf zum Auflegen. »Das ist merkwürdig. Er hätte doch abgesagt, wäre ihm etwas dazwischengekommen.«
Aus Pütz’ Mund wehte ein Rauchfähnchen. Er folgte seinem Freund wieder zurück zu den anderen.
»Und?«, wollte nun auch Professor Georg Thalpacher wissen. Er saß in einem ledernen Ohrensessel und hielt ein Glas Scotch in der einen Hand. Die andere ruhte auf dem Knie einer Brünetten, die ein kurzes Minikleid trug und auf der Armlehne des Sessels hockte. Unterdessen hatte er sich ihre Weihnachtsmannmütze schräg aufgesetzt.
»Geht immer noch nicht ran.«
»Was soll’s, lass uns feiern!«, rief Reti Pütz. Und noch lauter: »Sind alle Damen mit Champagner versorgt?«
Gefällte Tanne
Annikki Huuskonen stieg von einem Bein aufs andere. Sie stand mit dem ersten Tag der Arbeitswoche sowieso auf Kriegsfuß, und dann war es übers Wochenende auch noch kälter geworden, am Morgen hatte das Thermometer Minusgrade angezeigt. Jetzt am Abend, kurz vor Ladenschluss, war es nicht angenehmer geworden. Die Finnin hatte sich einen zwei Meter langen wollenen Schal um den Hals geschlungen, dass nur noch ihre Nase herausschaute. Die Strickmütze hatte sie weit über die Ohren gezogen, ihre Augen waren kaum erkennbar. Ihre Beine verschwanden in Moonboots, und in ihrer Winterjacke stellte sie das Michelin-Männchen in den Schatten. Doch unter all dem Stoff und der Wolle verbarg sich eine hellblonde, zierliche, eins sechzig große Frau, die erst vor Kurzem vierundzwanzig geworden war.
Olympia eilte am Wetterhäuschen am Lorenzer Platz vorbei, das seit Generationen ein beliebter Treffpunkt in der Innenstadt war. Eigentlich hatte sie in einem der Drogeriemärkte rasch etwas einkaufen wollen, dann aber festgestellt, dass es schon später war als gedacht, und auf Shampoo und Conditioner verzichtet. Sie bog in der Fußgängerzone nach links ab und sah ihre bibbernde Kollegin am windgeschützten Eingang zur U-Bahn-Station Lorenzkirche stehen. Dass die jungen Dinger auch solche Frostbeulen sein mussten. Doch wenn Olympia ehrlich war, hatte auch sie kalte Füße. Und kein Mann weit und breit, der sie wärmen würde. Aber für Männer und die Liebe hatte sie, die Geschäftsfrau, sowieso keine Zeit. »Ich komme!«, rief sie, als sie nur noch ein paar Meter entfernt war. Normalerweise trafen sie sich in der Praxis. Wollte ihre Kollegin den Schutz des U-Bahnhofes nicht aufgeben?
Annikki hob den Kopf ein wenig, dann einen Arm, so steif, als wäre er eingegipst. Die Hände steckten in Daunenfäustlingen. Sie brummte etwas Unverständliches in ihr Schalgeschlinge, Olympia verstand lediglich das Wort »Auto«.
Die Finnin besaß keinen eigenen fahrbaren Untersatz und ließ sich, wenn möglich, von ihrer Chefin kutschieren. Doch Bus, Tram und U-Bahn zu fahren war derzeit wahrlich kein Vergnügen, da alle öffentlichen Verkehrsmittel hoffnungslos überfüllt waren. Aber Olympias Auto stand in der Werkstatt. Darüber hinaus wäre es völliger Unfug gewesen, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, denn die Praxis befand sich in der Fußgängerzone– wo hätte man da parken sollen?
»Ich habe in der Werkstatt angerufen. Sie warten noch immer auf ein Ersatzteil«, erklärte Olympia.
»Ich wusste gar nicht, dass du eine ausländische Oldtimer fährst. Vielleicht liegt es an den Werkstatt, und du solltest besser mal eine Profi ranlassen«, grummelte Annikki aus dem Schalungetüm in ihrem unverwechselbaren Akzent. Die korrekten Artikel und Geschlechter deutscher Substantive waren nicht ihre Stärke.
Olympia zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nicht, wie du frieren kannst. Du kommst doch aus dem hohen Norden!«
»Denkst du vielleicht, wir Finnen sind aus Stein?«
Sie hatten es nicht mehr weit, bis sie vor dem mehrstöckigen Geschäftshaus in der Karolinenstraße standen, in dem sich die Gemeinschaftspraxis Professor Dr.Siegfried Engelroth& Partner befand und in der sie abends putzten. Professor Engelroth war angesehener und mehrfach ausgezeichneter Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock, und Olympia drückte auf die Klingel, da Annikki sich weigerte, aus ihren boxhandschuhähnlichen Fäustlingen zu schlüpfen.
»Klingel noch einmal, die sitzen auf ihren Ohren«, drängelte die Finnin ungeduldig.
Olympia schob den Ärmel zurück. Auf ihrer Armbanduhr war es halb acht. Normalerweise war montags um diese Uhrzeit immer noch eine Arzthelferin da, die die Frauen hereinließ, auch wenn der Praxisbetrieb schon eingestellt war. Mitunter war sogar noch der Professor anwesend, der Telefonate führte oder Unterlagen studierte.
Olympia klingelte Sturm. »Nüscht!« Versuchsweise drückte sie gegen die Tür. Sie schwang langsam auf.
»Vielleicht ist der Helferin auf dem Klo gegangen und hat für uns die Tür offen gelassen«, mutmaßte Annikki. »Hallo?«
»Hallo?«, rief auch Olympia, weil sich drinnen nichts rührte. Der Empfangsbereich und die beiden Wartezimmer waren hell erleuchtet, und auch in den vorderen Behandlungszimmern brannte Licht. Seltsam. Olympia zog ihren Mantel aus. Sie trug knallenge Jeans und eine weiße Bluse, durch die ein Spitzen-BH blitzte. Ihr Papa behauptete manchmal, sie sei für eine Putzfrau viel zu sexy. Väter! »Wir fangen einfach an. Bestimmt kommt die Arzthelferin gleich zurück«, sagte sie.
Annikki rührte sich nicht von der Stelle. »Mir ist gruselig.« Sie war, im Gegensatz zu den meisten Finnen, ein schrecklicher Angsthase.
»Papperlapapp, da ist nix gruselig. Putz die Toiletten, das ist gruselig.«
Annikki zog eine Schnute. »Okay, aber erst mal sauge ich die Gang bis zu dem hintersten Behandlungszimmer– dann wird gewischt«, entschied sie, blätterte sich aus ihrem Winteroutfit und holte den Staubsauger aus dem Abstellkämmerchen. Bald darauf war sein gleichmäßiges Brummen zu hören.
Olympia nahm sich die kleine Teeküche vor. Sie leerte den Mülleimer, räumte die volle Spülmaschine aus, die eine der Arzthelferinnen am späten Nachmittag bestückt und eingeschaltet hatte, und polierte die Spüle. Annikki und sie arbeiteten aufeinander abgestimmt. Ein perfekt funktionierendes Team. Jeder Handgriff saß jeden Tag, sie waren sich nie im Weg. Doch plötzlich blieb Olympia fast das Herz stehen.
Annikki plärrte gellend: »Lympi! Kommdiemörder!«