Saure Zipfel - Martina Tischlinger - E-Book

Saure Zipfel E-Book

Martina Tischlinger

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Beschreibung

Auf der Kleinmichlgseeser Polizeiwache herrscht gähnende Langeweile. Außer Gartenzwerg-Diebstählen gibt es nichts aufzuklären. Doch dann rütteln ein Leichenfund, mysteriöse Vermisstenfälle und zu allem Überfluss ein Exhibitionist die mittelfränkische Idylle auf. Hinter allem scheint ein Familiengeheimnis zu stecken, das keinesfalls gelüftet werden soll. Beherzt macht sich die Berliner Stadtpflanze Paula Frischkes an die Ermittlungen – und ahnt nicht, was sie damit ins Rollen bringt . . .

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Martina Tischlinger wurde 1962 in Nürnberg geboren. Erste Kurzgeschichten tippte sie auf einer Reiseschreibmaschine. Ihre Ideen sammelt sie auf der Straße oder in der U-Bahn und hält sie auf Notizzetteln fest. Sie schreibt für den Rundfunk und für ein Sozialmagazin in Nürnberg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/imageBROKER/Helmut Meyer zur Capellen Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-977-6 Franken Krimi Originalausgabe

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Für Gerhard,

meine Eltern,

Ingrid, Lui und Marco

Falschparker

Gittas begehrliche Gedanken drehten sich einzig und allein um einen Mann. Dabei war der noch nicht mal ein Adonis, beileibe nicht. Buschige Augenbrauen, die sich an den Enden wie Hörnchen nach oben bogen, eine birnenförmige Nase und ein Kreuz wie ein Gebirgsmassiv, nein, schön war er wirklich nicht, der Erwin. Aber Blut- und Bratwürste, Leberkäs und Presssack konnte der Mann machen, der Hammer!

An der Haltestelle »Herrgottsacker« stieg Gitta aus dem Bus. Sie war in Nürnberg beim Zahnarzt gewesen und wollte nun endlich den sauberen Geschmack im Mund loswerden. Es war fast Mittag, und ihr Magen gebärdete sich wie ein wildes Tier. Sie konnte Erwins gebratene Bauchscheiben, die Bündla, wie man in Franken sagte, die Bratwürschd und die würzigen Fleischküchla förmlich riechen.

Von der Haltestelle zur Metzgerei Popp waren es schlappe zehn Minuten Fußmarsch, doch Gitta war keine leidenschaftliche Fußgängerin. Jeder Meter bereitete ihr Mühe, mit jedem Schritt lief ihr stärker das Wasser im Mund zusammen und hinten den Buckel runter, aber für dem Erwin sein Schweinernes war es das wert.

Sie kam am Sportplatz vorbei, kein Ort, an dem sich Gitta für gewöhnlich aufhielt. Sie schwitzte nicht gerne. Und eigentlich war hier sowieso der Hund verreckt, hier ging es nicht zu wie auf anderen Fußballplätzen der Welt, auf denen knackige Kerle in Trikots ihre Wadenmuskeln spielen ließen. Nicht einmal die Bengel wollten hier kicken. Der Boden war uneben, löchrig wie ein Emmentaler, und außer einer Birke mitten auf dem Feld wollte auf der Erde nichts wachsen, vor allem kein Gras.

Womöglich lag die laue Sportbegeisterung auch daran, dass Kleinmichlgsees nur über ein Fußballtor verfügte. Aber wenigstens gab es seit Kurzem wieder eine Fußballmannschaft. Die erste seit 1955. Und diese Mannschaft war eine Revolution. Frauenfußball! Eine kleine Revolution, denn das Team bestand gerade mal aus vier Damen.

Ein Tor, eine Birke und vier Fußballerinnen. Eigentlich eher eine Lachnummer.

Kleinmichlgsees halt.

Keiner von den Kleinmichlgseeser Männern hätte sich mit einer von denen anlegen wollen, denn die Damen hatten ganz schön Wumms und vor allem ein großes Mundwerk.

Gitta stutzte. Im Allgemeinen bemerkte sie nicht gleich, wenn etwas fehlte, aber war etwas zu viel, stach es ihr sofort ins Auge. »Ja, wos isnern des? Welcher Sepp hat denn da sei Auto mitten ins Fußballtor neigstellt?«, murmelte Gitta, die in letzter Zeit immer häufiger zu Selbstgesprächen neigte. Sie schob die Gewohnheit auf ihr Singledasein.

Der Wagen war ein altes Mercedes-Modell in Metallicsilber. Rost nagte bereits an ihm. Auch wenn Gitta das Autokennzeichen vom Trampelpfad entlang des Sportplatzes aus nicht erkennen konnte, war sie sich doch sicher, dass der Fahrer nur aus Nürnberg stammen konnte. Oder aus dem verhassten Nachbarort Ingreisch, denn die Ingreischer waren nicht weniger deppert als die Stoderer.

Die dralle Endvierzigerin beschloss, der Sache des mysteriösen Gefährts auf den Grund zu gehen.

Wie elend groß so ein Fußballplatz war, erkannte sie erst, als sie ihn zur Hälfte überquert hatte. Aber ihre Neugier trieb sie an, weiterzugehen. Sie keuchte ungeniert, weil niemand da war, vor dem es ihr hätte peinlich sein müssen. Dann stockte sie. »Da hockt ja wer drin!« Jetzt konnte Gitta auch das Nummernschild erkennen.

Na klar, ein Nürnberger!

Sie trat näher ans Auto. Der Mann mit dem beeindruckenden Stiernacken rührte sich nicht. Auch nicht, als Gitta mit dem Fingerknöchel an die Seitenscheibe klopfte.

Der schläft gwiss sein Rausch aus.

Gitta wühlte in der Handtasche nach ihrer Lesebrille, fand sie und schob sich die Bügel hinter die Ohren.

Der Mann trug das Haar sehr kurz, Bürstenschnitt.

Gitta schaute von vorne in den Wagen. Da war ein Loch in der Windschutzscheibe. Sie sah es, nahm es aber nicht wirklich wahr, denn der Mann… Also, der war nun wirklich seltsam. Seine Augen starrten durch sie hindurch ins Nichts, die Zunge hing ihm schlaff seitlich aus einem Mundwinkel. Der Mann hatte auch ein Loch, ein dunkles, mitten in der Stirn. An ein Einschussloch dachte Gitta nicht gleich, aber warum hätte sie an so was auch denken sollen – in Kleinmichlgsees? Einem Ort, so attraktiv und aufregend wie ein ostsibirisches Bauernkaff, das hinten auf-minsk oder-sibirsk endet.

Gitta klopfte erneut gegen die Scheibe. »Hallo, Sie? Is Ihner ned goud?«

Vorsichtig öffnete sie die Tür. Da kam ihr der Mann auch schon wie ein Sack Reis entgegengerutscht, sodass sie sich ihm mit der Schulter voran entgegenwarf. Sie spürte, wie sein Gewicht sie in die Knie zwingen wollte, biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit beiden Händen gegen das Auto.

Der Kerl wurde immer schwerer. Sein Kopf rutschte auf ihre Schulter. Gitta rammte die Füße in den Boden, gab unverständliche Laute der Anstrengung von sich, presste mit einer Hand gegen den Bürstenschnittkopf und mit ihrer Brust gegen seine Schulter. Sie spannte sämtliche Muskeln an. Ihre Waden brannten, Stiche bohrten sich in ihre Knie. Allmählich begann der sandige Boden unter ihren Sohlen wegzurutschen. Eine ihrer Hände bekam den Kragen des Männerhemdes zu fassen, sie zog und zerrte.

Keine Chance.

Gitta gab auf, ließ locker. Ein letzter Schrei entrang sich ihr, dann begrub das gestandene Mannsbild sie unter sich.

Panisch ruderte sie mit Armen und Beinen. Er roch nach Hugo Boss. Wenigstens etwas, obwohl Gitta bei Männern ja Armani bevorzugte. Aber es hätte auch schlimmer und Schweiß sein können. Sie fühlte das Kratzen seines Dreitagebarts an ihrer Wange. Seit Monaten war ihr kein Mann mehr so nah gekommen. So ein elender Mist, dass ausgerechnet der jetzt tot war.

Mit eisernem Überlebenswillen gelang es ihr, unter dem Parfümierten hervorzurobben, bevor sie die Kraft verließ und er sie erdrückte. Sie war völlig am Ende.

Bei Lebzeiten war der Mann sicher attraktiv gewesen und bestimmt nicht so bleich. Interessante Männer suchte man in diesem verpennten Nest ja vergebens. Das einzig Erotische waren die Schweineschultern in der Auslage der Metzgerei Popp. Womit Gitta wieder beim Metzger Erwin war.

Schwer atmend und mit rotem Kopf hockte sie auf dem Boden, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, mit der Schuhspitze stupste sie den Toten noch einmal an. Doch, da war wirklich nichts mehr zu machen.

Als ihr bewusst wurde, dass sie sich eben mit einer Leiche ein Gerangel geliefert hatte, lief ihr eine Gänsehaut die Arme rauf und runter. Sie stand unter Schock, konnte nicht einmal schreien. Aber wozu auch, in dieser Einsamkeit hätte sie ja niemand gehört.

Und wie konnte auch Gitta sicher sein, dass der Mörder nicht noch hinter einem Busch hockte, sich fragte: Wie dämlich war das Weib eigentlich?, und den Kopf schüttelte?

Iich mou die Bolizei verständichn!

Gitta angelte sich ihre Handtasche, die ihr von der Schulter auf den Boden gerutscht war. Sie wühlte darin herum – vergebens. Ihre Handtasche war wie ein schwarzes Loch, in dem Materie auf Nimmerwiedersehen verschwand. Heute hatte sich in ihrer Handtasche ihr Handy in Luft aufgelöst. Konnte sie den Toten hier liegen lassen? Andererseits… in diesem Zustand würde ihn wohl kaum jemand klauen. Schwerfällig rappelte sich Gitta hoch und schlurfte über den Sportplatz.

Die Polizei würde nicht begeistert sein, dass sie alle Spuren so gründlich verwischt und die Leiche umgebettet hatte. Dabei hatte sie doch nur ihre Bürgerpflicht tun und helfen wollen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet könnte man ihr allerdings auch unterstellen, ihre Nase in eine Angelegenheit gesteckt zu haben, die sie nichts anging.

Am liebsten hätte sie am Ortsrand den Trampelpfad genommen, eine Abkürzung zu ihrem Haus. Den Toten würde bald schon jemand anderes finden, dann käme sie um die Aussage bei der Polizei herum. Die dämliche Fragerei ging ihr nämlich gescheit auf den Senkel. So lieb sie sie auch hatte, die auf der Wache, besonders der Richard Staudinger, konnten ganz schön umständlich sein.

Außerdem war ihr nach dem Überraschungsfund der Appetit vergangen. Das war doch wirklich ärgerlich. Da freute sie sich auf eine ordentliche Brotzeit und dann das: eine Leiche!

Dabei war es nicht einmal ihr erster Leichenfund. Es war erst ein paar Wochen her, dass Gitta jedes Mal, wenn sie joggen wollte, über eine Leiche gestolpert war. Am Ende war sie auf drei Stück gekommen. Wobei Gitta gar kein Sport-, sondern mehr so der Leberkäsweggla-Fan war. Aber ebendeshalb hatte sie damals beschlossen, sich mehr zu bewegen. Wie dem auch sei, die vielen Leichen waren letztendlich ausschlaggebend dafür gewesen, dass Gitta den Sport wieder bleiben ließ. Seitdem ging es allen Beteiligten besser. Gitta zog den Bauch halt ein, wenn’s denn unbedingt nötig war, und es hatte keine Toten mehr gegeben. Bis jetzt.

Ohne die Leiche und den Zahnarztbesuch hätte sie über den Tag an sich nicht meckern können. Der Frühling war in vollem Gange. Junges Grün spross an den Ästen, Fliegen schwirrten, die Luft roch nach Maiglöckchen, und im Ort putzten die Frauen die Fenster.

Aber auch mit dem Toten hatte der Tag sein garstiges Gesicht noch nicht vollkommen entblößt. Ganz im Gegenteil zu jener hageren Gestalt, die allerdings etwas anderes zu entblößen beabsichtigte.

Ihr Auftritt war fast klassisch. Langer Trenchcoat, ein Hut mit breiter Krempe, die einen Schatten auf ihr Gesicht warf, dazu eine dunkle Blues-Brothers-Brille. Ihr Versteck perfekt. Wild wucherndes, mannshohes Gebüsch, das Opfer schon von Weitem sichtbar, Fluchtwege zu beiden Seiten. Dumm war nur, dass keine alte Sau kam. Die Füße der Person waren schon ganz platt von der Herumsteherei.

Dann endlich! Der Mann sprang hervor. Riss seinen Mantel auf. Erstarrte. Kacke, ein Alter mit Wanderstecken! Blitzschnell verhüllte er seinen offen stehenden Hosenschlitz wieder.

Aber anscheinend sah der Alte schlecht, denn er zog den Hut: »Gräiß Godd!«

»Grüß Gott«, antwortete er verlegen, zog den Kopf ein, schlug den Kragen hoch.

Der Knacker schlurfte weiter.

Vielleicht war das hier doch keine so günstige Stelle? Aber dann! Was für eine Frau! Wie ein Sechser im Lotto. Bei der hätte man was zum Hinpacken, die hatte was dran. Fast schüchterte sie ihn ein. Frauen, die Reifen wechseln und Bierkästen stemmen konnten, die tief lachten und ihn, den Hänfling, womöglich mit einem Armwischer weggefegt hätten, machten ihm Angst. Aber bevor er gar nicht mehr zum Zug kam, musste er es jetzt wagen.

Er hörte sie schnaufen. Sie sprach mit sich selbst. Ziemlich erregt, als würde sie mit einem unsichtbaren Gegenüber schimpfen. Ihre Schritte kamen näher.

Näher.

Näher.

Er sprang hervor und riss seinen Mantel auf.

Wirtshausschlägerei

Bauernlümmel, die sich auf einer Hochzeit prügelten. Wow! Kriminalkommissarin Paula Frischkes seufzte genervt. Geklaute Gartenzwerge, eine Geschwindigkeitsübertretung von vierzehn Kilometern pro Stunde und nun also eine Hochzeitsprügelei. Ihre Karriere war auf dem Höhepunkt angelangt.

Nach dem telefonischen Hilferuf aus Ingreisch hatte Paula beschlossen, die paar Meter in den Nachbarort zu Fuß zu gehen. Heute hätte man sie sogar zum Leberkäsweggla- oder zum Brezenholen schicken können, alles wäre ihr recht gewesen, nur um aus der muffigen Wache rauszukommen.

Ihr Kollege, Polizeiobermeister Richard Staudinger, hatte ihr die Autoschlüssel für den Dienstwagen zugeworfen, der so alt war, dass man die Fenster noch runterkurbeln musste. Kommentarlos kam der Schlüssel auf gleichem Weg zu ihm zurück, woraufhin Richard, der berühmt für seine Gesichter war, eines von der Sorte gemacht hatte: Ihr Frauen von heute mit eurem Sportfimmel! Auch wenn es nur wenige Schritte sind, alles geht man doch wirklich nicht zu Fuß! Es war also ein ausgesprochen kompliziertes Gesicht gewesen.

Richard Staudinger war eine bekennende Couchpotato, was man übrigens auch an seinem kleinen Wohlstandsbäuchlein sah, das ein Mann mit vierzig durchaus haben durfte. Fand Richard.

Die Orte Kleinmichlgsees und Ingreisch waren wie siamesische Zwillinge aneinandergewachsen. Und wie alles, das sich zu eng auf die Pelle rückte, gingen sich auch deren Bewohner auf den Senkel und ließen kein gutes Haar aneinander. Den ständigen Frotzeleien lag ein uralter Streit zugrunde, der wahrscheinlich aus der Zeit stammte, als die Frauen noch Schwänze gehabt hatten. Über das Thema des Zwistes ließen sich nicht einmal die Geschichtschroniken aus.

Paula ging am »Goldenen Hirschen« vorbei, dem einzigen Wirtshaus und Amüsement in Kleinmichlgsees, sofern man auf fette Schäuferla mit Kniedla, Schafkopf, derbe Altmännerwitze mit Bart und eine grantige Wirtin stand. Hinter der Kirche, am Dorfplatz und der Metzgerei Popp vorbei, lag Ingreisch fast nur einen Steinwurf weit entfernt. Nach einigen grauen Häusern, von denen sich der Verputz pellte wie schuppige Haut, kam Paula an einem Lädchen vorbei, in dem es Krimskrams wie Diddl-Maus-Tassen, Duftseifen aus der Provence, grinsende Schutzengel, indische Schals und sitzende Buddhas sowie Geburtstagskarten zu kaufen gab. Da sah sie schon das Gasthaus »Grüner Bock« und hörte begeistertes Geschrei, Gelächter und Anfeuerungsrufe wie bei einem Fußballspiel der Kreisliga. Warum hatte Paula nur ihren Kollegen nicht mitgenommen? Was hatte sie denn vorgehabt? Sich zwischen die kloppenden Kerle zu werfen? In die Luft zu schießen? Automatisch fuhr ihre Hand an ihre Hüfte, wo sich weder ihr Holster noch ihre Polizeiwaffe befand. Unmöglich, die Vorstellung, durch Kleinmichlgsees wie John Wayne mit der Waffe am Gürtel zu schreiten. High Noon.

Bei dem Gedanken seufzte sie erneut. Ach, wenn es doch in einem der Käffer wenigstens einen einzigen abenteuerlich-verwegenen Schurken gäbe, einen, für den alle Frauenherzen höherschlugen, auch wenn er der Böse war. Oder genau deswegen. Mit Leidenschaft würde Paula ihn jagen und sich gerne von ihm kidnappen lassen. Hach!

Sie durchbrach den Kreis frisch rasierter Männer mit Sonntagshaarschnitt, die von ihren Frauen in Anzüge gesteckt worden waren. Einige von ihnen trugen Tracht. In deren Mitte rangelten zwei schmalbrüstige Burschen und sahen dabei wie zwei sich balgende Äffchen aus, die sich eigentlich gar nicht wehtun wollten.

»Und deswegen haben Sie mich gerufen?«, blaffte Paula ungewollt und räusperte sich schnell. »Was ist hier los?«, rief sie, erntete aber nur mäßiges Interesse. Die Vorstellung, die sich den Zuschauern bot, war spannender als die fremde Frau, die sich aufblies.

»Michi! Pass auf dei Deckung auf!«

»Beni, du moußtnern vo rechts packn!«

»Mit der Linkn! Mit der Linkn!«

»Polizei! Wer hat uns gerufen?« Beherzt ging Paula auf die kleinen, schwitzenden Kerle los und packte den ersten Kragen, den sie zu fassen bekam. »Auseinander!«

Dem Kleineren knickten die Knie ein, seine Nase lief.

Paula richtete ihn vor sich auf. »Was wird das hier?«

Sein Gegner gab sofort Fersengeld.

»Die Sau hot wos mit der Leni«, sagte die Rotznase und entwand sich ihrem Griff. »Aber die Leni is mei Maadla!«

»Und wegen so einer Lausbuben-Keilerei ruft ihr die Polizei?«, fragte Paula in die Runde.

Ein stattlicher Mann in Lederhosen und einem grauen Trachtenjanker ging auf sie zu. »Um die is es doch gar ned ganger. Es wor wecher der Gabler Marianne. Und mir hom bestimmt ned die Polizei grufen, des ko bloß anner vo Klaamicherlasgseeser gwen sei!«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich reihum. Immer waren es die anderen gewesen, die von drüben, das hatte Paula, die seit einem Vierteljahr hier Dienst tat, unterdessen gelernt. Ganz gleich, auf welcher Seite der Ortsgrenze man nachfragte.

»Was haben denn die Kleinmichlgseeser mit eurer Hochzeit zu tun? Und wo ist überhaupt die Braut?«

»Im Wärtshaus und greint.«

Hinter dem Mann in Tracht trat ein schmaler Mann in einem dunklen Anzug hervor, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, was den schmächtigen noch schmächtiger wirken ließ. »Der Sepp und der Martl vo drümer worn’s, die vo Klaamicherlasgsees sin schuld. Die hom zum Stänkern ogfanger!« Er schüttelte seinen Zeigefinger wenig bedrohlich durch die Luft. »Wecher der roten Marianne.«

Die rote Marianne? Ging es hier um politische Gesinnung?

Im Nu heizte sich die Stimmung wieder auf. Beschimpfungen wurden lauter, Fäuste flogen durch die Luft. Wenn Paula nicht bald etwas unternahm, würde man wahrscheinlich mit brennenden Fackeln und Mistgabeln ins Nachbardorf ziehen. Den Bayern war alles zuzutrauen, auch wenn die Franken ja angeblich keine waren, sondern Franken, sagten sie jedenfalls.

»Wo ist Marianne? Ist das die Braut? Und wo sind dieser Sepp und der Martl?«

»Der Sepp und der Martl sin abgehaut, däi Schlappschwänz. Und die Marianne is drin im ›Bock‹.«

Paula betrat das Wirtshaus. Lange Tafeln waren weiß gedeckt und mit roten Blumengestecken geschmückt. Die Hochzeitsgesellschaft war überschaubar. Ein Teil hatte wohl der Schlägerei beigewohnt, rauchte draußen oder vertrat sich die Beine. Eine Drei-Mann-Band spielte »Spanish Eyes«. Drei Paare schaukelten über den fleckigen Holzboden mehr oder weniger im Takt dazu.

Es roch nach Hochzeitssuppe, Schweinelendchen mit Kroketten und Eis mit heißen Himbeeren, zumindest bildete sich Paula das ein – nach dem sich seit dreißig Jahren am hartnäckigsten haltenden Hochzeitsmenü. Aber Karotten-Ingwer-Gazpacho, gratinierte Jakobsmuscheln, Seeteufel und Macchiato-Mousse konnte sie sich in Ingreisch auch nicht vorstellen.

Paula erkannte die rote Marianne sofort. Was für Haare! Bei ihrer sinnlich roten Lockenpracht musste Paula schlagartig an die Sängerin Milva denken. Marianne Gabler war ein Häuflein Elend, dem die genau wie sie schniefende Braut die Hand tätschelte. Die Tochter musste nach ihrem Vater kommen. Sie war schwarzhaarig und trug eine Prinz-Eisenherz-Frisur, die wie eine Perücke wirkte und einen seltsamen Kontrast zu dem femininen weißen Brautkleid bildete. Paula stellte sich vor und nahm den beiden Frauen gegenüber an dem Tisch in der hintersten Ecke des Nebenraumes Platz. »Haben Sie mich gerufen, Frau Gabler?«

»Nein, ich war das«, sagte die Braut. »Ich heiß jetzt Zilinsky, Chrissie Zilinsky.« Sie hielt die rechte Hand hoch, an deren einem Finger ein Ring funkelte. »Die von drüben sind schuld. Die sind absichtlich von Klaamicherlasgsees rübergekommen und haben zu pöbeln angefangen. Mein Mann«, kurzes verliebtes Lächeln, »und mei Babba, also mein Vater, die haben sich das natürlich nicht gefallen lassen… Ein Wort gab das andere. Mein Bruder hat den Martl einen Schwinger versetzt, der Sepp dem Hias, und bis mir gschaut hom, war a Fetzenschlägerei im Gang. Aber die vo drübm hom ogfanger, wergli!« Chrissie sprach vorwiegend Hochdeutsch, doch je größer ihr Erregungsgrad wurde, desto mehr fränkische Brocken mischten sich darunter. »Was wollen die von drüben überhaupt auf meiner Hochzeit? Und dauernd sind die auf mei Mama losgegangen.«

»Ach, lass doch, Kind!«

»Doch, Mama, sie haben dir immer wieder etwas nachgerufen. Ich hab nur nicht verstanden, was genau.« Chrissie legte ihre Hand wieder auf die ihrer Mutter. »Was haben sie gerufen, Mama?«

Marianne Gabler zog ihre Hand weg und legte beide in den Schoß. »Ach, Chrissie, die waren betrunken. Das musst du nicht ernst nehmen.«

Paula hakte noch einmal nach, doch die grundlegende Aussage blieb dieselbe: Die von drüben, die aus Kleinmichlgsees, waren schuld, woran auch immer. Nachdem bei dem zähen Gespräch nicht mehr herumzukommen schien, wünschte Paula Chrissie noch eine schöne Hochzeit und schnappte sich vor dem »Grünen Bock« erneut den Stämmigen im Trachtenanzug. »Sagen Sie mal, was war denn nun eigentlich wirklich los? Es ging doch gar nicht um die beiden grünen Buben, sondern um die Marianne Gabler. Was ist das für eine Geschichte mit ihr?«

Der Mann klopfte sich aus einem bauchigen Schnupftabak-Fläschchen eine Prise auf die Handkante und zog das Pulver in die Nase.

Paula beobachtete ihn fasziniert. War das die Vorstufe zum Koksen? Ob sie das auch einmal probieren sollte? Vielleicht konnte sie so den angestauten beruflichen wie auch sexuellen Frust abbauen?

Der Mann zog ein großes rot-weißes Schnupftuch aus seiner Hosentasche und röhrte mit Inbrunst hinein.

»Die Marianne soll damals dem Johannes, ihrm Moo, ein Kuckuckskind untergschoben hom. Vor der Hochzeit!« Eine Mittfünfzigerin im Dirndl und mit Stoffblumen im Dekolleté drängte sich vor den Stämmigen, ein spöttisch überlegenes Grinsen auf den Lippen. »Also, die von drüben…«, sie zeigte mit dem Kopf nach Kleinmichlgsees, »behaupten des. Und dann homs’ gfragt, ob die Chrissie vielleicht auch schon einen Braten in der Röhre hat. Und dann homs’ recht dreckert glacht. Und dann, bis mir lang gschaut hom, hot der Horst dem Frank anne gscheuert und der Beni dem Helmut, dass ’s grauscht hot im Schächterla.« Paula wollte schon nachfragen, aber die Frau kam ihr mit einer Erklärung zuvor: »Der Horst ist der Chrissie ihr Bräutigam, und der Frank is vo drübn, und der Beni–«

»Aber die Sache mit der Marianne Gabler, wenn sie denn wahr ist, die muss doch schon ewig her sein«, unterbrach sie Paula.

»Jo mei. Halt so lang, wie die Chrissie alt ist – achtzehn Joahr.« Anzügliches Grinsen, die Hände vor der Brust gefaltet.

Paula wunderte sich. Und da kriegten die sich heute noch in die Wolle?

Nachdem sich sämtliche Streithähne getrollt hatten und alle blutigen Nasen versorgt worden waren, beschloss die Kommissarin, einen Abstecher zur Resi in den »Goldenen Hirschen« zu machen.

Während sie den Duft des starken Kaffees bereits witterte, kreisten ihre Gedanken noch immer um die Schlägerei. Sie hätte ein paar von den Krawallmachern verhaften sollen, einfach so. Vielleicht wäre es ihnen eine Lehre gewesen, und sie hätten nie wieder eine Hochzeit gestört. Wobei, eventuell gehörte das ja auf dem Land bei einer Vermählung dazu wie die berühmt-berüchtigten Prügeleien zur Kirchweih. Hätte sie ein paar der Knaben mitgenommen, hätten ihre Kollegen und sie wenigstens für ein paar Stunden was zu tun gehabt. Andererseits

Hugo Boss

Polizeiobermeister Richard Staudinger genoss das kribbelnde Gefühl in seinem Brustkorb. Was für ein Höhenflug. Endlich hatte er einen Verdächtigen! In Ermangelung hochtechnischer erkennungsdienstlicher Hilfsmittel oder eines Phantombildzeichners war er dabei, anhand der Beschreibung der Zeugin Rita Popp das Gesicht des Übeltäters eigenhändig aufs Papier zu bringen.

Doch Rita schüttelte jedes Mal den Kopf, sobald er Nase oder Mund in das Oval mit Ohren zeichnete, bis sie sich schließlich verabschiedete. »Du, Richard, ich muss wieder nieber in die Metzgerei. Abber wenn du die Nosn aweng länger machst, dann könnt’s passen.«

Seine Kollegin, Polizeimeisterin Maria Heberer, polierte währenddessen die Blätter der Gummibäume auf dem Fensterbrett mit Bier. Ein alter Tipp ihrer Großmutter: Bier verlieh nicht nur Haar, sondern auch Topfpflanzen Glanz. Alle anderen Aufgaben hatte sie bereits erledigt: Die Heizungskörper waren geputzt, die Aktenordner abgestaubt, der Kühlschrank war ausgemistet und abgetaut…

Auf der Wache herrschte tote Hose. Es wollte einfach nichts passieren. Wo doch vor ein paar Wochen gleich drei Morde geschehen waren. War das eine Aufregung gewesen! Zwei davon hatten sich später zwar als tragische Unglücksfälle herausgestellt, aber tot war tot – und das alles im sonst so friedlichen Kleinmichlgsees, was selbst schon Fuchs und Hase in Richtung Großstadt verlassen hatten.

Gott sei Dank hatte Richard seine Gartenzwerge. Vielmehr – er hatte sie eben nicht mehr! Unterdessen wurden schon fünf Stück vermisst. Entwendet aus verschiedensten Vorgärten. Die Fälle reichten bis in den Frühsommer des vergangenen Jahres zurück. Der oder die Täter, vielleicht ja sogar eine organisierte Bande aus Osteuropa, gingen raffiniert vor und hatten bisher keine nennenswerten Spuren hinterlassen.

Richard hatte zwischenzeitlich sogar in Erwägung gezogen, einen Köder in Form eines Gartenzwergs mit installierter Webcam auszulegen respektive aufzustellen, aber nun gab es eine Zeugin. Rita Popp, die Frau des Metzgers, wollte eine nicht ortsansässige verdächtige Person um ihren Garten herumschleichen gesehen haben. Männlich, runde Gesichtsform, ohne Bart, aber mit finsteren Augen, etwa eins sechzig bis eins neunzig groß, dunkel- bis hellbraunhaarig, Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahre.

Richard ließ den Bleistift sinken, knüllte das vor ihm liegende Blatt Papier zusammen und warf es über seine Schulter. Die Zeugenaussage war ganz eindeutig Mist! Anhand von Ritas Beschreibung konnte so gut wie jeder Kleinmichlgseeser Mann der Täter sein. Ja, sogar er, Richard Staudinger, entsprach dem Profil des Unbekannten. Die Rita erzählte manchmal wirklich einen Schmarrn!

»Wo bleibt denn die Frischkes? Ob sie zur Hochzeit eingeladen wurde?«, fragte Richard Maria und faltete aus dem nächsten Blatt Papier ein Schiffchen. »Hoffentlich bringt sie uns was vom Hochzeitskuchen mit.« Bei Feiern dieser Art wurde gebacken wie das Donnerwetter, und jeder, weil ja auch jeder eingeladen war, nahm am Schluss ein großes Kuchenpaket mit nach Hause, für das Richard jetzt wer weiß was gegeben hätte.

»Wenn sie aus Ingreisch zurück ist, geht sie in den ›Goldenen Hirschen‹ und besäuft sich sinnlos, hat sie gemeint«, sagte Maria.

Allmählich machten sich die Polizisten ernsthafte Sorgen um ihre Chefin. Wenn nicht bald wenigstens ein kleines Verbrechen geschah, würde die Hauptkommissarin bestimmt schwermütig werden. Sie litt ohnehin bereits unter der Situation.

Wer steckte so etwas auch einfach so weg? Von der Kripo Nürnberg aufs Land versetzt zu werden? Beschönigend ausgedrückt: zur Dienststellenleiterin wegbefördert zu werden. Oder offen und ehrlich ausgesprochen: vom Polizeipräsidium in die Pampa entsorgt zu werden.

In Nürnberg hatte Paula Frischkes als nicht teamfähig gegolten und war wegen ihrer Spontanaktionen und Alleingänge bekannt wie ein bunter Hund gewesen. Ihr Spitzname im Kollegenkreis: »Solo-Paula«. Eine aufgeflogene Razzia im Drogenmilieu hatte ihr das Genick beziehungsweise ihre polizeiliche Karriere in der fränkischen Metropole gekostet. Dabei hatte die Kommissarin doch nur Leben retten wollen. Aber als mutige Frau unter Männern hatte man es eben nicht leicht. Nein, dachte Maria, leicht hatte sie es wirklich nicht, die Frischkes.

Denn der fünfunddreißigjährigen blonden Singlefrau haftete ein weiterer Makel an. Der Franke an sich war ja ein aufgeschlossener Mensch, liebenswert und humorvoll, wenn er einen denn erst einmal ins Herz geschlossen hatte. Aber bis dahin war es ein langer, steiniger und wortkarger Weg. Einem Stoderer, einem Städter aus Nürnberg, begegnete der Kleinmichlgseeser demzufolge auch erst einmal mit Vorsicht, aber wenn dieser Stoderer dann auch noch aus Berlin stammte! Wie die Frischkes! Also, a Preiß war–

Die Tür wurde unter grässlichem Quietschen aufgestoßen.

Die müsste wer mal dringend ölen, dachte Richard.

Gitta Fürbringer brach über die Wache herein. Sie schäumte vor Wut. »So a Sauerei!«, schimpfte sie und schlug mit der Faust auf den Besuchertresen. Richard tat einen Satz auf seinem Bürostuhl. Aufregungen wie diese war er nicht gewohnt.

Maria sah nur kurz auf. »Hallo, Gitta!«, sagte sie und polierte die Gummibaumblätter weiter.

»Do draußen läfft a Exibiddzionist rum! Worum dät ihr do nix dagegen? Wos machd ihr eigentlich überhabbd?«

Verlegen versteckte Maria Lappen und Bierflasche hinter ihrem Rücken, Richard wischte das Papierschiffchen seitlich vom Schreibtisch. Wenn er mal auf der Wache ein bisschen privatisierte…

»Stellt des Ferkel sich vuur mich hin und zeichd mir sei Ding!«

»Du meinst ehrlich einen Exhibitionisten? So einen, der Guck-guck mit seinem Ähem-ähem macht?« Maria gab ihre Heimlichkeiten auf. Fasziniert führte sie die Bierflasche zum Mund.

Richards Augen wanderten zwischen Maria und Gitta hin und her. »Du willst doch nicht sagen, wir haben einen Sittenstrolch im Ort?«

»Ja-ha!«, machte Gitta, dann sagten die drei wie aus einem Mund: »Der kann doch bloß aus Ingreisch sein!«

Die uralte Hassliebe.

»Wie hat er denn ausgeschaut?«, fragte Richard, zückte seinen Stenoblock und nahm seinen Bleistift wieder zur Hand.

»Also, horch amol, des wärd mir fei etz zu beinlich! Wäier ausgeschaut hot? Wäi halt so a Ding ausschaut!« Gitta verschränkte die Arme vor ihrer mütterlichen Brust.

»Sein Gesicht mein ich«, knurrte Richard.

»Ach so, ach Goddla, so direkt ins Gsicht hob iich dem Moo eigentlich ned gschaut. Vielmehr aff den sein Huusnschlitz! Und bis iich mich vo meim Schreckn erhullt ghabd hob, woar der Kerl auch scho davogloffn.«

»Der Täter war also ein Mann«, stellte Richard fest und leckte die Bleistiftspitze an.

Maria und Gitta rollten synchron mit den Augen.

»War er groß, klein? Dick, dünn? Wenigstens das musst du doch wissen!«, herrschte Richard Gitta an, um seinen Patzer zu vertuschen.

»Er war groß und schlank.«

Richard konnte nicht anders, er musste unwillkürlich an sein Gartenzwerg-Phantom denken.

Paula hatte den wunderbaren Geschmack des doppelten Espressos noch im Mund. Resi, die Wirtin vom »Goldenen Hirschen«, machte außer knusprigen Schweinsbraten und saftigen braunen Bratwürsten auch einen ausgezeichneten Kaffee. Die braune Pfütze, die der Staudinger auf der Wache durch den Filter jagte, war dagegen ungenießbar. Auch wenn sich Paula unterdessen einzureden versuchte, man könne sie trinken. Dass dem eigentlich nicht so war, merkte sie jedes Mal, wenn sie bei der Resi fremdging.

Nach der seltsamen Hochzeit hatte Paula dringend einen Doppelten nötig gehabt. Dennoch: Endlich wieder einmal mit polizeilicher Arbeit betraut worden zu sein, hatte sie in bedeutend gehobenere Laune als noch vor einer Stunde versetzt. Da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, inkognito ein paar Fensterscheiben einzuwerfen, damit wenigstens ihre Kollegen etwas zu tun hatten.

»Wir haben einen Exhibitionisten, Frau Frischkes!«, platzte es aus Maria sofort heraus, als sich gerade mal Paulas Nase in der Wache befand. Maria strahlte übers ganze Gesicht. Ihre Chefin würde aus dem Fall sicherlich wieder ein ganz großes Ding machen. Bei den Mordfällen vor ein paar Wochen war sogar ein Team vom Polizeipräsidium Nürnberg angerückt, und es hatte Lagebesprechungen und Pressekonferenzen gegeben. Es war fast so schön wie im Fernsehen gewesen.

Maria fand, dass ihr bisheriges Leben so fad gewesen war wie ihr Äußeres. Matschbraunes Haar, das zu einem Pagenkopf geschnitten war, den ihre welligen Haare jedoch verhunzten. Trug sie nicht Uniform, steckte sie in Jeans und bedruckten T-Shirts, jedwede Weiblichkeit war ihr fremd. Außerdem knabberte sie an den Fingernägeln, was Nagellack, den sie an der Frischkes so bewunderte, leider nicht zuließ. Tja, der Frischkes merkte man Berlin eben noch an. Die war immer chic, trug Stöckelschuhe, sexy Blusen, enge Jeans und kurze Röcke, die Richard gelegentlich zum Stottern brachten.

Einen Exhibitionisten? Paulas Gesicht nahm schlagartig Farbe an. »Was? Wir? Wer?«, stammelte sie.

»Unsere einzige Zeugin hat nur nach unten geschaut, leider nicht in sein Gesicht«, sagte Richard leicht verschnupft und deutete auf Gitta. Solche Zeugen konnte er leiden. Er stand auf und zog sich die Hose am Bund hoch.

Die Kommissarin schlüpfte aus ihrem indigofarbenen Blazer, warf ihn achtlos über die Lehne ihres Bürostuhls und schob ihre blonden Strähnen hinter das Ohr. Ein Exhibitionist. In diesem Kaff. Der musste doch vollkommen verblödet sein! Wen wollte der denn erschrecken? Hier gab es doch fast nur alte Tanten und senile Krauter. »Dann erzählen Sie mal, Frau Fürbringer.«

»Allmächd, naa!«, rief Gitta plötzlich aus und rieb sich verlegen die Nase. »Etz hätt iich vuur Schreck beinah wos anders vergessen. An Dodn hob iich a scho widder gfundn.« Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln. »Sorry, echt!«

»Einen Toten?« Paula sah Gitta scharf an. Hatte sie sich verhört?

»Du hast wieder eine Leiche gefunden?« Maria nahm einen zweiten Schluck vom Bier.

»Hast du wenigstens dem ins Gesicht geschaut?«, fragte Richard.

Gitta dachte angestrengt nach. Sie konnte sich an sein Gesicht nicht erinnern. Der Exhi beziehungsweise das, was sie von ihm hatte sehen müssen, ließ die Erinnerung an die Leiche fast völlig verblassen. »Gut gerochen hat er«, sagte sie.

»Geh, Gitta, das ist ja pervers!« Richard schüttelte den Kopf.

»Doch. Der Mann is nämlich auf mich draufgfallen, und dabei hob iich sei Rasierwasser grochn. Hugo Boss.«

Richard notierte den Namen auf einem Block. »Du kennst den Toten also?«

»Iich? Naa.«

»Aber du hast doch eben gesagt, sein Name ist Hugo Boss?« Richard zog die Nase hoch. »Irgendwie ist mir der Name auch nicht unbekannt. Ist das vielleicht auch einer von drüben aus Ingreisch?«

Maria machte den Mund auf, sagte aber nichts. Kaum zu glauben, dass der Richard das alles ernst meinte.

Paula fuchtelte mit der Hand durch die Luft, als wolle sie diesen Blödsinn hinauswedeln. »Wo liegt der Tote? Äh… und wieso ist der auf Sie draufgefallen?« Sie schlüpfte wieder in ihre Jacke und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

Gitta zog es vor, die letzte Frage zu ignorieren. »Am Sportplatz. Er hot a Luuch im Kupf.«

»Ein Loch im Kopf«, übersetzte Richard für Paula und notierte. Mit der Bleistiftspitze klopfte er auf den Block. »Sittenstrolch. Rasierwasser. Loch im Kopf. Das geht mir jetzt ein bisschen zu schnell. Mal schön alles nacheinander. Am besten nehme ich zuerst mal deine Personalien auf, Gitta. Name?« Bei Richard Staudinger musste alles seine Ordnung haben. Er war Uniformträger. Beamter. Vierzig Jahre und katholisch.

»Du fängst glei anne, Richard! Du weißt doch mein Namen!«

»Ist ja nur fürs Protokoll, Gitta. Muss alles seine Richtigkeit haben.«

»Schreib: Schigglgruber Zensi.«

»Gitta, bitte, so heißt du doch gar nicht.«

Die Fürbringerin holte tief Luft. »Wäi du zur Bolizei kummer bist, is mir a Rätsel.«

Paula legte die Hand auf Richards Schulter. »Der Herr Staudinger ist eben ein sehr gewissenhafter Mensch, und genau das schätze ich so an ihm.«

Der Polizeiobermeister grinste von einem Ohr zum anderen.

Zu viert kletterten sie in den Dienstwagen, dem altersbedingt der Schriftzug ›Polizei‹ so gut wie abgeblättert war.

Paula drehte den Zündschlüssel, der Wagen röhrte asthmakrank. »Kann es sein, dass wir kein Benzin mehr haben?«, fragte sie.

Richard und Maria schauten sich nur stumm an.

»Na gut, dann laufen wir eben rasch das Stück«, schlug Paula vor. Sie hatte nichts gegen frische Luft und Bewegung, doch damit war sie allein auf weiter Flur.

Gitta maulte während des gesamten Weges zum Sportplatz. Maria hielt mit der Chefin Schritt, hatte aber in null Komma nichts knallrote Wangen. Richard wischte sich mit einem gebügelten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Seine Zunge klebte am Gaumen.

Der Tote lag seltsam verrenkt auf dem Boden, seine Beine hingen noch im Wagen.

Gitta zuckte die Schultern. »Sorry!«

»Ist das der Mann?«, fragte Richard.

»Wenn den ned anner gegen seinen Zwillingsbruder austauscht hot, dann ja.« Fragen konnte der Richard manchmal stellen! Gitta rollte mit den Augen. Aber im Prinzip war er ein ganz feiner Mensch. Und mit Leib und Seele Polizist. Vielleicht hinkte er modisch und mit seinen Anschauungen der Zeit etwas hinterher, aber er war zuverlässig und ehrlich.

Ihm fehlte halt eine Frau. Seine Schwester, die Trudel, bei der und ihrem Mann er im Haus wohnte, kümmerte sich zwar um ihn, bekochte ihn und bügelte seine Wäsche, aber das konnte doch kein eheliches Heim samt Frau ersetzen. Würde sich irgendwann der passende Deckel für Richard ausgerechnet nach Kleinmichlgsees verirren? Die Chancen standen schlecht.

»Die Reifen sind abgefahren. Der rechte Seitenspiegel fehlt.« Richard schritt um den Wagen herum. »Der TÜV ist auch abgelaufen, sauber, sauber!« Er zückte seinen Strafzettelblock.

»Sag mal, Richard, haben wir jetzt nicht was Dringlicheres zu tun? Vielleicht die Leiche?« Maria nahm ihm den Kuli aus den Fingern.

»Was soll das? Ordnung muss sein. Ich würde sagen, da ist ein nicht gerade geringes Bußgeld fällig, eine Verwarnung reicht nicht mehr.« Er nahm Maria den Stift wieder weg.

»Richard, der Mann ist tot!«

»Schon, aber es ist ja gar nicht sicher, ob er der Fahrzeughalter ist. Wissen wir denn, ob der überhaupt einen Führerschein hat? Habt ihr das schon überprüft?«

Maria gesellte sich zu ihrer Chefin.

»Seine Papiere habe ich«, sagte Paula, »die steckten im Jackett. Der Mann heißt Kilian Staller, wohnt in Nürnberg. Kennt den jemand von euch?« Sie blickte in die Runde.

Kopfschütteln.

Staller lag da wie von einer höheren Macht wütend auf das Fußballfeld geknallt. Die Gitta hatte ganze Arbeit geleistet. »Warum haben Sie den Mann nicht im Auto sitzen lassen, Frau Fürbringer?«

»Sorry, Frau Kommissarin, des wor die Schwerkraft.«

Paula ging in die Knie. Staller schaute sie aus leeren Augen an. »Der Schuss hat ihn mitten in die Stirn getroffen.«

»Vielleicht wurde er mit einem Zielfernrohr abgefeuert. Benutzt so was nicht die Mafia?«, freute sich Maria. Endlich wieder ein Mord, der Frischkes war Dank!

»Es könnte auch ein Jagdunfall gewesen sein«, stellte Richard fest. »Selbstmord wohl eher nicht. Dann müsste hier ja irgendwo die Waffe liegen.«

Gitta stieg ungeduldig von einem Bein aufs andere.

»Sie können jetzt gehen, Frau Fürbringer«, sagte Paula. »Aber kommen Sie doch morgen noch einmal auf der Wache vorbei, auch wegen des Exhibitionisten.«

Wortlos stapfte Gitta davon.

»Ein Toter und ein Sittenstrolch. An einem Tag.« Staudinger kratzte sich am Kinn. »Womöglich hängt beides miteinander zusammen.«

Paula konnte es sich im Moment nicht vorstellen, aber an einem Ort, an dem sich sonst drei gelangweilte Polizisten verzweifelt an Gartenzwerg-Diebstähle klammerten, war so einiges denkbar.

»Vielleicht kannte der Staller den Sittenstrolch«, mutmaßte Richard weiter.

»Du meinst, der Tote war ein unliebsamer Zeuge?«, fragte Maria.

»Klar, der Schweinehund läuft herum und entblößt sich. Staller erwischt ihn dabei. Erkennt ihn. Vielleicht ist der Exhi ein angesehener Bürger, ein Prominenter, dem es peinlich wäre, geschnappt zu werden.« Richard wippte auf den Fersen auf und nieder. »Heute wird doch alles sofort an die Öffentlichkeit gezerrt und von der Presse breitgetreten. Da bist du eine hohe Position schnell los. Und auch deine Frau. Wenn du denn eine hast.«

Maria bückte sich und schnupperte. »Die Gitta hat recht. Hugo Boss.«

Richard machte den Mund auf.

»Sag jetzt bitte nichts, Richard!«

Paula rief den Erkennungsdienst. Im Stillen sprach sie ein Gebet: Lieber Schutzpatron aller geächteten Kriminalkommissarinnen, bitte halte mir die Nürnberger Würstchen vom Hals. Amen.

Nürnberger Würstchen

Eine Stunde später trafen die Kriminaltechniker am Auffindeort ein.

Staudinger hatte vorgeschlagen zu webbeln, um zu entscheiden, wer zurück in die Wache musste, um dort die Stellung zu halten. Dafür mussten Zehnerla gegen eine Hauswand geworfen werden, aber in Ermangelung einer Wand und des nötigen Kleingeldes wurde daraus nichts. Stattdessen spielten sie »Schere, Stein, Papier«, kamen aber nicht überein, ob Papier oder nicht doch Schere den Stein besiegte. Bimsstein, meinte Staudinger, sei womöglich mit einer Schere zu durchtrennen.

Da kaum davon auszugehen war, dass heute noch ein weiterer Mord geschehen würde, beschlossen die Polizisten schließlich, gemeinsam auf dem Fußballplatz auf die Kriminalkommissare aus Nürnberg zu warten.

Maria betrachtete sich in den Seitenscheiben des Mercedes, zupfte ihren Pony in die Stirn, schlug sich mit den Händen die Wangen rosig und betrachtete sogar kritisch ihren Po.

Richard blies die Backen auf und machte demonstrativ ein Gesicht, das signalisierte: Wegen dem Nürnberger Würschdla brauchst dich nicht aufbrezeln. Du hast schließlich einen Freund!

Doch Aufbrezeln und Maria waren per se zwei getrennte Welten. Make-up bestand bei ihr aus Labello und Nivea-Creme. Sie war nicht dick, neigte aber zur Rundlichkeit, was die unvorteilhaft geschnittene Polizeiuniform noch betonte. Maria war knapp über dreißig und seit acht Jahren mit Tobias liiert. Alle Schalt- und Lichtjahre fuhren sie nach Nürnberg ins Kino, ansonsten begleiteten sie sich auf die Geburtstage der Verwandtschaft. Samstags schauten sie in Marias Wohnung fern, sonntags musste Tobias zeitig ins Bett und fuhr gleich nach dem »Tatort« heim. Geschwisterliebe war leidenschaftlicher.

Als sich zur Aufklärung der drei Mordfälle vor ein paar Wochen die Nürnberger Kripo eingeschaltet hatte, hatte sich unter den Herren auch Oberkommissar Stefan Angst befunden. Ein Gemütsmensch wie Richard, aber wesentlich attraktiver, fand Maria. Wesentlich!

»Jetzt mach halt nicht so ein Gesicht, Richard. Solange Tobias mir keinen Antrag macht, darf ich mich noch umgucken, ob der Markt nichts Besseres hergibt.«

Richard schüttelte den Kopf. Seit die Berlinerin Frischkes auf dem Revier das Sagen hatte, war die Maria nicht wiederzuerkennen. Die reinste Revoluzzerin. Um modetechnisch nicht hinter den Männern von der Kripo nachstehen zu müssen, spuckte er sich in die Hand und fuhr sich übers Haar. Seinen Haarschnitt bezog er seit seiner Jugend einmal im Monat beim Dorffriseur, und schon damals war der Schnitt aus der Mode gewesen. Aber Richard war kein Mensch, der Veränderungen mochte, also blieb er dabei.

Er schnäuzte sich kräftig und begrüßte Stefan Angst schulterklopfend, als hätten sie seinerzeit eine Schlacht miteinander geschlagen. Aber zwei mysteriöse Todesfälle und einen Mord aufzuklären, das war ja nun auch nicht ohne gewesen. Wobei sich die Kleinmichlgseeser Polizisten zu Recht damit brüsten durften, dass sie ohne Paula Frischkes so schnell nicht zum Erfolg gelangt wären. Wenn denn überhaupt!

»Und? Gibt’s im ›Hirschen‹ noch die gouden Schäuferla?«, fragte Stefan.

»Freilich!«, sagte Paula und blickte sich nervös um. Wo war er denn bloß?

Endlich stellte Maria die offensichtliche Frage: »Wo ist denn Is Weggla? Ist der nicht mit von der Partie?« Sie wurde noch einen Touch röter, als sie schon war. »Ich meine natürlich den Herrn Weck.«

Paula und Hauptkommissar Andreas Weck waren zu Paulas Zeiten in Nürnberg Kollegen gewesen. Man munkelte, sogar mehr als das. Aber sollte es tatsächlich so gewesen sein, hielten beide es gut geheim.

Paula war mächtig enttäuscht, dass Andreas nicht mitgekommen war.

Stefan seufzte. »Is Weggla ist an einem ungelösten Fall dran. Dafür habe ich euch einen anderen Kollegen mitgebracht.« Er nickte mit dem Kopf Richtung heranrasendem, Staub aufwirbelndem BMW.

Den Kleinmichlgseeser Polizisten fielen die Mundwinkel hinunter. Unisono stöhnten sie: »Der Gutmut!«

Hauptkommissar Dietrich Gutmut stieg aus dem Wagen. An seinem Designeranzug traute sich keine Falte, sich blicken zu lassen. Die Kurzhaarfrisur saß, kein Härchen wagte, im Wind zu wehen. Er war groß. Stattlich. Gut aussehend. Er war ein ausgezeichneter Kriminalist. Tadellos. Klug. Aber menschlich war er eine Sau. Seine Unterstellten fürchteten ihn. Er ging über Leichen. Wen er verhaftete, der landete auch im Gefängnis. Wer ihm widersprach, spielte mit dem Leben. Gutmut war gefürchtet und verhasst. Er war der Teufel. Und höchstwahrscheinlich hatte ihm Paula die Versetzung vom Präsidium in das Bauernkaff zu verdanken.

Sie streckte ihm die Hand entgegen: »Na, mal wieder nichts zu tun in Nürnberg? Oder wollen Sie von uns lernen?« Sie spielte auf ihre mordsmäßige Erfolgssträhne vor ein paar Wochen an. Die Nürnberger Würstchen waren ihr keine große Hilfe gewesen.

Richard, Maria und Stefan zuckten vor Schreck über ihre Angriffslust zusammen.

»Reine Vorsichtsmaßnahme, Frau Frischkes. Ihnen muss man auf die Finger schauen.«

Die Kriminaltechniker hatten währenddessen ihre Arbeit aufgenommen. Gutmut marschierte auf den toten Staller zu, als Paulas Blick auf seine Schuhe fiel. Lackschuhe!

»Dem Mann wurde allem Anschein nach in die Stirn geschossen«, stellte Gutmut fest. »Anschließend hat man ihn mit Gewalt aus dem Auto gezerrt. Die Frage stellt sich, warum? Wollte man ihn von hier fortschaffen? Und wieso steht der Wagen im Fußballtor?« Gutmut fuhr herum. »Herr Staudinger, wissen wir, wer der Tote ist?«

Paula reichte ihm die Fahrzeugpapiere. »Kilian Staller aus Nürnberg.«

Ohne sich zu bedanken, nahm Gutmut die Papiere an sich. »Sie wissen schon, werte Kollegin, dass ich Ihnen dieses Mal genau auf die Finger schauen werde. Bei Ihrer Arbeitsweise kann man nie wissen, was dabei herauskommt. Ich möchte Sie nur an jene wochenlang geplante Polizeiaktion in Nürnberg erinnern, die aufflog, weil Sie wieder einmal auf eigene Faust agierten.« Er konnte es einfach nicht lassen, immer wieder musste er ihr das aufs Butterbrot schmieren. Ihre Erfolge in Kleinmichlgsees hingegen unterschlug er. Der Hauptkommissar konnte es einfach nicht verwinden, dass Paula die drei völlig voneinander unabhängigen Fälle aufgeklärt und ihn im Regen hatte stehen lassen. Was er natürlich niemals zugeben würde. Im Präsidium hatte man auch nur die halbe Wahrheit erfahren, sodass Gutmut den gesamten Ruhm eingeheimst hatte.

»Nur zu, werter Kollege, aber seien Sie nicht allzu enttäuscht, wenn ich Ihnen mit der Aufklärung des Falls auch dieses Mal wieder zuvorkommen werde«, haute Paula auf den Putz.

»Herr Staudinger!«, plärrte Gutmut und beachtete Paula nicht mehr.

Richard trabte lustlos an. Wahrscheinlich würde Dietrich Gutmut ihn wieder mit einer Sonderbratwurst betrauen, und das, wo er doch nichts weniger leiden konnte als Sonderaufträge und Überstunden. Beides hatte es in seiner bisherigen Polizeilaufbahn nur äußerst selten gegeben, und davor sollte ihn auch der Nürnberger gefälligst in Zukunft verschonen. Schließlich war die Frischkes seine Vorgesetzte, nicht dieser Lackaffe!

»Wir haben Name und Adresse. Würden Sie wohl die Familie ausfindig machen, vorbeifahren und sie über den Tod informieren? Und nehmen Sie Frau Frischkes mit«, sagte Gutmut, und es war ein Befehl.

Nicht nur Richard war perplex. Auch Paula hätte schwören können, Gutmut würde sich den Fall komplett unter den Nagel reißen. Führte er etwas im Schilde, dass er mit der Aufgabenverteilung so freigiebig war?

»Überlastet werden Sie doch gerade nicht sein, oder?«

»Wir haben…«, fing Richard an und erntete von Paula sofort einen scharfen Blick und von Maria einen Knuff in die Seite.

Seine Kollegin verdrehte die Augen. Der Richard würde doch hoffentlich nicht wieder mit den Gartenzwergen daherkommen!

Richard zog ein klitzekleines Gesicht, bevor er in aller Ruhe sagte: »Wir haben einen Exhibitionisten.«

Gutmut starrte ihm auf die Lippen, als klebte dort eine Nudel. »In Ihrem Kleinmichlkaff? Wie bescheuert muss ein Mann sein, um ausgerechnet hier sein Unwesen zu treiben? Wen will er denn in dieser Einöde erschrecken?«

»Gsees«, sagte Richard.

»Von mir aus auch das. Also, Sie fahren zu der Witwe und überbringen die Todesnachricht, Herr Staudinger.« Er schnippte mit dem Finger. »Stefan! Teambesprechung machen wir morgen wieder im ›Goldenen Ochsen‹.«

»›Hirschen‹«, knurrte Richard.

Gutmut blähte die Nüstern. »Also gut, dann eben im ›Goldenen Hirschen‹.«

Stefan leckte sich die Lippen. »Ist recht, Dietrich. Soll ich die Schäuferla schon vorbestellen?«

Gutmuts Blick rammte Oberkommissar Angst unangespitzt in den Boden. »Lass mich in Ruhe mit deinen Schäuferla, kümmere dich lieber um die Location. Lass dir den Nebenraum reservieren. Ich will keine Gäste in der Nähe.«

Da die Dienststelle in diesem Nest erbärmlich klein war, konnte Dietrich Gutmut sich dort unmöglich mit den Kollegen besprechen. Er hegte sogar den Verdacht, dass das Büro der Frischkes einst eine Abstellkammer gewesen war, und lag damit gar nicht so falsch. Paula hatte bei Dienstantritt in Kleinmichlgsees auf ein eigenes Büro bestanden, also hatten die Putzlumpen und Schrubber ihrem Schreibtisch weichen müssen.

Gutmut streckte sich und schritt um den Wagen herum. »Die Reifen sind abgefahren. Der rechte Seitenspiegel fehlt. Der TÜV ist abgelaufen, sauber, sauber!«

Richard machte Maria eine lange Nase.

»Bei euch hier ist wirklich nichts normal«, sagte Gutmut, »aber das haben ja schon die letzten Fälle gezeigt. Menschen stürzen auf der Kellertreppe zu Tode und stolpern zufällig in ein Brotmesser, wo alle Welt schon an einen Serienmörder denkt.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Staller hier versehentlich von dem Geschoss einer Steinschleuder erwischt worden wäre. Von daher denke ich, es reicht, wenn wir das Ermittlungsteam möglichst klein halten. Die Leitung des Falls übertrage ich…« Er blickte in die Runde.

Paula straffte die Schultern.

Stefan deutete mit dem Finger auf sich.

»Dem Herrn Weck?«, fragte Richard hoffnungsvoll.

Golfball

Sie fuhren durchs Knoblauchsland, einem Gemüseanbaugebiet, das durch Nürnberg und Fürth im Süden und durch Erlangen im Westen begrenzt wurde. Links lag der Flughafen. Auf der Bucher Straße steuerte Paula über den Nordring an der Speiseeisfabrik Schöller vorbei. Es nieselte, war kühl geworden. »Der Gutmut will uns überprüfen. Oder schauen, ob er uns ans Zeug flicken kann, damit er zumindest mich so bald wie möglich abschießen kann, wetten?«, geiferte Paula.

Richard krallte sich am Sicherheitsgurt fest. Die Frischkes fuhr wie der Henker, ließ ihn aber auch nie ans Steuer. Und wenn sie sauer war, fuhr sie wie ein besoffener Henker.

Paula stieg auf die Bremse, und Richard bremste mit. Allerdings viel früher als seine Chefin.

Die Stallers wohnten am Plärrer, im Stadtteil Gostenhof, Nürnbergs Multikultiviertel. Wer hier lebte, verfügte entweder über kein nennenswertes Vermögen oder bevorzugte das besondere Flair der Gegend.

Paula suchte an dem Klingelschild nach dem Namen.

»Da! Fünfter Stock«, sagte Richard und drückte den Knopf.

Mit dem Kopf im Nacken blickten sie an der Fassade des Altbaus hoch. Der Türöffner surrte, und sie betraten einen nach muffigem Keller riechenden Hauseingang. Aufzug gab es keinen.

»Gehen Sie schon mal voraus«, sagte Staudinger. »Ich muss mir noch den Schnürsenkel binden.«

Paula seufzte. Wollte ihr Kollege verbergen, wie schnell er aus der Puste kam, oder sich davor drücken, der Bote der schrecklichen Nachricht zu sein? Aber selbst für Paula, die im Training war, war fünfter Stock Altbau nicht von schlechten Eltern.

Frau Staller erwartete sie im Türrahmen und musterte sie misstrauisch. Womöglich war sie darüber verärgert, wieder einmal vorschnell einem Staubsaugervertreter oder den Zeugen Jehovas die Tür geöffnet zu haben. Sie war hager und bleich, sah nach harter Arbeit und freudlosem Leben aus.

Paula stellte sich vor, dann hörten sie zwei Stockwerke tiefer ein lautes Keuchen. Neugierig blickte Frau Staller nach unten.

»Mein Kollege«, erklärte Paula.

»Was wollen Sie?« In Frau Stallers Gesicht prangte eindeutig ein Veilchen, das allerdings bereits am Abklingen war. Vielleicht war sie sogar mal schön gewesen, doch sorgenvolle Jahre ließen ihr Gesicht jetzt verhärmt wirken. Sie trug ausgefranste Jeans und eine lange Tunika, die sie noch dünner erscheinen ließ.

»Dürfen wir reinkommen, Frau Staller? Wir müssten etwas mit Ihnen besprechen.«

Die Frau hielt sich mit einer Hand an der Wohnungstür fest, war nicht gewillt, sie einen Zentimeter weiter zu öffnen.

Endlich tauchte Richard auf dem Treppenabsatz auf. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Huiuiui!«

»Mein Kollege, Polizeiobermeister Staudinger. Dürfen wir jetzt?« Paula blickte ins Treppenhaus. »Was wir zu sagen haben, ist ernst, Frau Staller. Es muss nicht jeder mitkriegen. Es geht um Ihren Mann.«

Frau Stallers Miene verfinsterte sich. »Stimmt was nicht? Ist was mit meinem Mann?«

Richard, noch immer außer Puste, ergriff das Wort. »Sagen wir es mal so: mein aufrichtiges Beileid!«

Paula schluckte, und die frischgebackene Witwe öffnete die Tür.

Frau Staller schlurfte in Sandalen mit schief gelaufenen Absätzen voraus ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa plumpsen und zündete sich eine Zigarette an. Die Schrankwand war abgewohnt, der Teppichboden durchgewetzt. Es roch nach altem Rauch und intensiv nach einer Duftkerze, die auf dem Wohnzimmertisch flackerte. Frau Staller inhalierte tief. »Was isn passiert?«