Zum Greifen nah - Wallace Stroby - E-Book

Zum Greifen nah E-Book

Wallace Stroby

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Beschreibung

Wieder eine starke Frau, wieder ein starker Thriller von Wallace Stroby! Als die junge Polizistin Sara Cross mitten in der Nacht zu einem abgelegenen Highway gerufen wird, erfährt sie, dass ihr Kollege und Ex-Freund Billy einen Mann erschossen hat. Er behauptet, der Mann habe während einer Verkehrskontrolle plötzlich eine Waffe gezogen. Sara will ihm glauben, dass es Notwehr war, doch es bleiben Zweifel. Als die Witwe des Toten Druck macht und sich auch noch der Berufskiller Morgan an ihre Fersen heftet, verstrickt sich Sara immer tiefer in den Fall. Um sich und ihren Sohn zu beschützen, muss sie die Wahrheit herausfinden - um jeden Preis.

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Wallace Stroby • Zum Greifen nah

Wallace Stroby

Zum

Greifen

nah

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernd Gockel

PENDRAGON

1

Sara bremste und lenkte ihren Wagen an die Böschung. Was sie sah, schlug ihr gleich auf den Magen. Sieht gar nicht gut aus, dachte sie.

Der Kies knirschte unter den Reifen, als sie den Crown Vic zum Stehen brachte. Der Polizeifunk begann zu knistern.

„Eight-Seventeen, am Tatort eingetroffen?“ Angie. Sie war in der Polizeizentrale für die Nachtschicht zuständig. „Bereits Kontakt aufgenommen?“

Sara griff zum Funkgerät am Armaturenbrett und gab ihre ID ein. „Eight-Seventeen hier. Gerade erst eingetroffen. Melde mich wieder.“

Im gleißenden Licht ihrer Scheinwerfer sah sie Billy, der hinter seinem grün-weißen Streifenwagen stand, die Hände in die Hüften gestemmt, und hinüber zum Sumpf blickte. Gleich dahinter erkannte sie einen grauen Honda Accord jüngeren Baujahrs, dessen Kofferraum geöffnet war. Zusammen mit dem blassgelben Licht der Scheinwerfer tauchte das rotierende Blau und Rot der Streifenwagen die Szene in ein surreales Licht.

Sie hängte ihr Mikro in die Halterung am Armaturenbrett, prägte sich die Szene bestmöglich ein und verfluchte die Tatsache, dass die Gelder für die Dash-Cams noch immer nicht freigegeben worden waren. Sie schaute auf die Uhr: Zehn nach Zwei.

Billy drehte sich zu ihr um und verzog keine Miene, bewegte aber kaum merklich seine Backenknochen: An scheinend hatte er ein Kaugummi im Mund. Nach einem kurzen Blick in ihre Richtung schaute er wieder zum Sumpf hinüber.

Im Sheriff ’s Office hatte sie ihn zwar nicht gesehen, war sich aber ziemlich sicher, dass auch er heute Nachtdienst hatte. Als sie seine Stimme im Polizeifunk hörte, war die Vermutung zur Gewissheit geworden. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass sich ihre Pfade vor Dienstende kreuzen würden, während der andere Teil panische Angst vor einer Begegnung hatte. Als sie über Funk die Nachricht erhielt, dass bei einer Konfrontation Schüsse gefallen seien, hatte sie gleich das Schlimmste befürchtet. Und nun stand er da, von Gott und der Welt verlassen, und schaute hinaus auf den Sumpf.

Was hast du bloß angestellt, Billy Boy? Und warum musstet du es ausgerechnet in meiner Dienstzeit tun?

Sie öffnete die Tür, nahm ihr mobiles Funkgerät vom Beifahrersitz und setzte ihren Fuß auf den Schotter. Sie steckte das Funkgerät in den Dienstgürtel und stöpselte das Mikro ein, das an ihrem linken Hemdkragen befestigt war. Mit ihrem rechten Daumen öffnete sie das Holster, das die Glock an ihrem angestammten Platz hielt.

Der Kontrast zum klimatisierten Streifenwagen erwischte sie wie ein Schlag. Die schwüle Luft, für Mitte Oktober alles andere als normal, war so dick, dass man sie hätte schneiden können. Der Mond war heute Nacht nirgends zu sehen, doch dafür funkelten über ihrem Kopf Millionen von Sternen.

Laut Nummernschild kam der Honda aus New Jersey. Billy hatte seinen Wagen gleich dahinter geparkt – ordnungsgemäß in einer leichten Schräge, um nach dem Aussteigen nicht vom entgegenkommenden Verkehr verletzt werden zu können.

Er drehte sich halb um. „Hallo Sara.“

„Hallo Billy. Alles okay mit dir?“

Er wandte sich wieder ab und schaute Richtung Sumpf. Sie hatte ihre Haare zusammengebunden und spürte, wie sich in ihrem Nacken Schweißtropfen bildeten, die nun unter ihre kugelsichere Weste rollten. Sie blieb neben ihm stehen und folgte seinem Blick in die Dunkelheit. Hinter dem Straßenrand war das Gelände zunächst abschüssig, bevor der eigentliche Sumpf begann. Das durchnässte Gras am Rande konnte man noch vergleichsweise gut erkennen, doch im Schatten der Bäume, die von wuchernden Flechten komplett bedeckt wurden, war es stockfinster. Ein Mann, das Gesicht ins Gras gedrückt, lag direkt vor dem Bäumen. Das unnatürlich angewinkelte rechte Bein lag unter dem linken, der rechte Arm war weit ausgestreckt.

„Da ist er“, sagte Billy.

Sie ließ ihren Blick um die eigene Achse gleiten. Seit sie den Funkruf erhalten hatte und auf die Country Road 23 abgebogen war, hatte sie kein Auto mehr gesehen. Nur Ortsansässige benutzten diese Strecke – und das praktisch auch nie in der Nacht. Gen Osten reihten sich endlose Zuckerrohrfelder hintereinander, bis man in der Ferne den schwachen Lichtkegel der Stadt erahnte. Im Westen erstreckte sich das flache Marschland bis nach Punta Gorda und der Küste, nur unterbrochen von den gespenstischen Silhouetten der Zypressen. Der Geruch fauler Eier, durch das Sulfur im Sumpf ausgelöst, lag schwer in der Luft.

Die Funkgeräte der beiden Streifenwagen begannen unisono zu krächzen, erzeugten hinter den geschlossenen Türen aber nur unverständliche Geräusche. Dafür meldeten sich in der Dunkelheit Dutzende Ochsenfrösche – als wollten sie die polizeilichen Anordnungen nicht unkommentiert lassen. Dann, in einer deutlich tieferen Tonlage, das dumpfe Röhren eines Alligators. Die rotierenden Blinklichter auf den Streifenwagen schienen die Bäume und den leblosen Körper bunt bemalen zu wollen.

„Ist er tot?“, fragte sie.

Er nickte. „Oder knapp davor. Er hat sich jedenfalls die ganze Zeit nicht bewegt. Die Sanitäter sind unterwegs.“

„Hab ich mitbekommen.“

Sie nahm die schwere Stabtaschenlampe aus der Schlaufe ihres Dienstgürtels und schaltete sie ein. Das helle Halogenlicht fraß sich durch die Dunkelheit am Fuß der Böschung. Sie fuhr mit dem Lichtkegel den Körper des Mannes ab, dann den Kopf, der leicht nach rechts gedreht war. Selbst von hier aus konnte sie sehen, dass seine Augen weit geöffnet waren. Khakihosen, blaues Oberhemd, ein dunkler Fleck zwischen den Schulterblättern, das ganze Hemd von Blut durchtränkt. Es war ein farbiger Mann, noch jung, und viel zu elegant gekleidet, als dass er einer der Einheimischen hätte sein können.

„Ich werd mal runtergehen und ihn mir genauer anschauen“, sagte sie.

„Sei vorsichtig. Wenn du in eins der Löcher trittst und das Gleichgewicht verlierst, kannst du dir leicht das Fußgelenk brechen.“

Sie nahm die Taschenlampe in die linke Hand, hielt die rechte auf dem Holster und machte vorsichtig einen kleinen Schritt hinunter. In der Entfernung hörte sie Sirenen.

Immer auf einen sicheren Halt bedacht, fand sie langsam ihren Weg nach unten. Als sie einen Schritt aufs Gras machte, hatte sie das Gefühl, auf einen nassen Schwamm zu treten: Die Sohlen ihrer Schuhe versanken augenblicklich im Wasser.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe den Boden vor sich ab und hielt die Augen nach Schlangen auf. Irgendetwas bewegte sich und platschte kurz darauf ins Wasser. Die Frösche verstummten für einen Moment, setzten ihr Quaken dann aber fort.

Sie richtete die Taschenlampe auf die Waffe im Gras – vielleicht dreißig Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt. Es war ein bläulich glänzender Revolver, vermutlich ein .38er, mit Hartgummi-Griff. Sie leuchtete die nähere Umgebung systematisch ab, um vielleicht eine andere Waffe oder Fußabdrücke zu finden, doch nichts.

„War sonst noch jemand im Wagen?“, rief sie die Böschung hoch. Die Sirenen waren bereits deutlich nähergekommen.

„Nein. Nur er. Ich sagte ihm, er solle stehenbleiben. Ich sagte es laut und deutlich.“

Sie ging in die Hocke und vermied es, mit ihren Knien den Boden zu berühren. Halb unter seinem Gesicht sah sie eine Goldrandbrille, die mit einem Bügel noch über dem Ohr hing. Er sah wie ein Teenager aus, hatte kurzgeschorene Haare und einen kleinen goldenen Ring im rechten Ohrläppchen. Seine Augen waren weit geöffnet.

Sie ließ den Schein der Taschenlampe an seinem Körper entlanggleiten. Der linke Arm lag angewinkelt unter seinem Torso, der rechte war weit ausgestreckt, als wolle er mit den Fingern auf den Revolver zeigen. Die hellbraunen Lederschuhe waren frisch poliert, die Sohlen noch neu und glänzend. Mit diesem Schuhwerk wäre er auf dem glitschigen Gras nicht weit gekommen.

Sie berührte die Seite seines Halses, registrierte noch einen Hauch von Wärme, aber keinen Puls mehr.

„Ist er tot?“, rief Billy von oben.

„Ja, er ist tot.“

Irgendetwas bewegte sich in den Bäumen. Instinktiv fuhr ihre Hand zum Holster. Ein Schatten löste sich aus dem Tiefschwarz der Bäume und schwebte geräuschlos davon. Sie fragte sich, um welchen Vogel es sich wohl handelte und verfolgte für einen Moment seinen Flug. Gegen das sternenhelle Firmament sah seine Silhouette fast wie ein schwarzer Scherenschnitt aus.

Sie kletterte wieder die Böschung hoch und achtete auch diesmal darauf, bei jedem Tritt einen sicheren Halt zu haben. Als sie den Schotter erreicht hatte, sah sie Billy am Kofferraum des Hondas stehen.

„Schau dir das mal an“, sagte er. „Der helle Wahnsinn.“

Sie ging zu ihm hinüber und richtete ihre Taschenlampe in den Kofferraum. Er war leer – bis auf eine halb geöffnete Werkzeugtasche aus Nylon, in der sie metallisch glänzende Gegenstände ausmachte.

„Hast du das vorher schon gesehen?“, fragte sie.

„Ja. Er war nervös und verhielt sich verdächtig. Ich forderte ihn auf, den Kofferraum zu öffnen. Als ich die Tasche sah, machte er die Biege. Er solle anhalten, rief ich ihm hinterher, doch als er da unten angekommen war, richtete er die Waffe auf mich, drückte aber nicht ab.“

Seine Stimme klang fremd. Sie schaute ihn an und bemerkte, dass seine Augen feucht glänzten.

Die Sirenen in der Ferne schienen näherzukommen, wurden dann aber wieder schwächer.

„Kalt hier draußen“, sagte er. „Wann ist es bloß so kalt geworden?“

Er stockte zwischen den Worten und atmete so unregelmäßig, als würde er hyperventilieren. Keine Frage: Er stand unter Schock.

„Setz dich besser in den Wagen“, sagte sie. Sie klemmte sich die Taschenlampe unter den Arm, zupfte die dünnen Kevlar-Handschuhe aus ihrem Gürtel, streifte sie über die Hände und stellte sicher, dass sie hautnah saßen.

„Ich bin okay“, sagte er.

„Du siehst aber gar nicht so aus.“

Sie leuchtete mit der Taschenlampe in die Nylontasche und zog den halb geöffneten Reißverschluss ganz zurück. Sie sah eine kompakte, mattschwarze MAC-10 Maschinenpistole, darunter zwei halbautomatische Revolver: eine silberne Smith & Wesson mit Hartgummi-Griff sowie eine blaumetallische Heckler & Koch, beides 9mm-Waffen. Dazu noch Schachteln mit Munition und zusätzlichen Magazinen für die MAC-10. Kein Wunder, dass der Junge die Biege gemacht hat.

Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. Billy stand an der Böschung, die Hände auf die Knie gestützt, spuckte erst sein Kaugummi aus und erbrach dann eine wässrige Flüssigkeit auf den Kies.

„Ich bin okay“, sagte er zwischen den Brechanfällen und streckte eine Hand hoch, als wolle er mögliche Sympathiebekundungen gleich im Keim ersticken. „Ich bin okay.“

Er spuckte zum Abschluss noch einmal, richtete sich auf und drehte sich weg – um dann wieder seinen Oberkörper nach vorne zu beugen, da sich anscheinend der nächste Anfall ankündigte. Sie hörte, wie er zwischendurch verzweifelt nach Luft schnappte. Der Junge wird mir noch ohnmächtig werden.

Er stemmte seine Hände auf die Hüften und atmete mehrfach tief durch, um den Brechreiz endgültig zu überwinden. Sie schaute ihn für einen Moment an, ging dann um den Honda herum und leuchtete ins Innere. Auf dem Fußboden vor dem Beifahrersitz sah sie eine gefaltete Straßenkarte von Florida, auf der Rückbank einen Kindersitz und eine braune Reisetasche.

„Er hat ein Kind“, sagte Billy. „Hast du den Sitz gesehen? Er muss ein Kind haben.“

Vielleicht auch nicht.

Sie schaute die Straße hinunter. Zwei Streifenwagen und ein Notarzt-Van hatten gerade eine leichte Kuppe hinter sich gelassen und näherten sich dem Tatort.

Sie schaute ihn an.

„Gibt es irgendetwas, was du mir sagen möchtest?“, fragte sie. „Bevor der Sheriff eintrifft?“

Er schaute auf die eintreffenden Streifenwagen, dann wieder auf sie und schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. „Tut mir leid, Sara, aber ich hatte keine Wahl.“

„Du hast getan, was du tun musstest. Es wird schon alles wieder ins Lot kommen.“

Mit noch immer laufenden Sirenen kamen die beiden Streifenwagen neben ihrem Crown Vic zum Halt. Der Sanitäter fuhr noch ein Stück weiter zum Honda. Sie trat an Billys Seite und wartete.

Noch einmal heulten die Sirenen auf, um dann endgültig zu verstummen. Diverse Wagentüren wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Die beiden standen allein im grellen Scheinwerferlicht.

Sie schaute hoch und sah in weiter Ferne die Silhouette eines Vogels, der gerade eine Ansammlung von Sternen passierte. Als sie noch einmal hinschaute, war er verschwunden. Sie fragte sich, ob es vielleicht nur eine Fata Morgana gewesen war.

„Und“, fragte Sheriff Hammond, „was halten wir von dem Schlamassel?“

Sie saßen in seinem Büro und hatten die Tür geschlossen. Die wandhohen Fenster boten einen Blick auf den Rest des Reviers; durch das Fenster hinter seinem Schreibtisch sah sie eine kleine Rasenfläche mit dekorativen Kalksteinbrocken und einem leeren Flaggenmast, der von unsichtbaren Lichtquellen angestrahlt wurde.

Er trug Jeans und ein Flanellhemd und war so früh am Morgen verständlicherweise noch nicht rasiert. Seine Haare waren für einen Sheriff eher zu lang – und die geplatzten Blutgefäße auf seiner vernarbten Nase sprachen auch eine unmissverständliche Sprache. Hammond stammte ursprünglich aus Mississippi und war vor dreißig Jahren nach Florida gekommen, hatte seinen jovial rollenden Südstaaten-Akzent aber nie verloren.

Sara hatte sich eine Flasche Wasser aus dem Getränkeautomaten im Mannschaftsraum gezogen, sie bislang aber noch nicht angerührt. Sie sehnte sich nach einer Aspirin. Es war seit Monaten ihre erste Nachtschicht gewesen – und sie hatte die ganze Zeit lang ihre Müdigkeit nicht abschütteln können. Obendrein machte eine pochende Vene an ihrer Schläfe sie darauf aufmerksam, dass eine Migräne im Anmarsch war.

„Nach allem, was ich gesehen habe, kann ich den von ihm geschilderten Tathergang nur bestätigen“, sagte sie. „Die Zeitspanne zwischen dem Vorfall und meiner Ankunft war so knapp, dass ich mir alternative Erklärungen beim besten Willen nicht vorstellen kann.“

Er nahm einen neuen, noch nicht angespitzten Bleistift in die Hand und lehnte sich zurück. Sein Schreibtisch ähnelte eher einem Schlachtfeld. Eine entschärfte Handgranate, die er aus Vietnam mitgebracht hatte, diente als Briefbeschwerer, um einen unbändigen Stapel mit Papieren unter Kontrolle zu halten. Metallkörbe regelten den Post-Ein- und Ausgang. Dazwischen thronte ein gerahmtes Foto seiner Tochter als Teenager.

Auf einer Anrichte hinter ihm stand ein Computer, der um diese Tageszeit aber nicht eingeschaltet war. Daneben lag, in einer Schutzhülle aus Plastik, der traditionelle Sheriff-Hut, den er aber nur bei formellen Anlässen trug. Auch die „Smokey the Bear“-Hüte, wie sie gewöhnlich von Rangern getragen wurden, hatte er ausrangiert und stattdessen schwarze Baseballkappen eingeführt. Dass selbst diese Kappen nicht mehr zwingend getragen werden mussten, hatte ihm Sara immer hoch angerechnet.

Er kratzte sich am Kinn und klopfte mit dem Bleistift auf die Schreibtischkante. Sie spürte, dass er sich in seiner Haut höchst unwohl fühlte.

„Der Anwalt der Polizeigewerkschaft ist bereits auf dem Weg“, sagte er. „Boone vom Büro des Staatsanwalts in La Belle ist noch am Tatort, wird aber ebenfalls bald hier einlaufen. Er wird auch mit Ihnen sprechen wollen. Könnte ein bisschen unangenehm werden.“

„Warum das?“

„Wir werden ihm von der Beziehung zwischen Billy und Ihnen erzählen müssen.“

War das nicht längst ein offenes Geheimnis?

Sie schraubte den Verschluss ihrer Flasche auf und trank einen Schluck.

„Verstehe ich, Sheriff. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass unsere Beziehung bereits über zwei Jahre zurückliegt.“

„Ich weiß. Ich wollte Sie ja auch nur vorgewarnt haben. Wir leben hier nun mal in der Provinz. Landkreis, Kleinstadt, Polizeirevier – alles ist sehr überschaubar. Wenn wir’s ihm nicht sagen, wird er es von jemand anderem erfahren. Ist also vernünftiger, dass wir das Kind gleich beim Namen nennen.“

„Ich werd’s ihm sagen.“

„Sie sind nun mal eine Frau in einem rein männlichen Umfeld, Sara. Das macht Ihre Situation nicht gerade leichter. Ich weiß, dass es nicht fair ist, aber Sie sollten realistischerweise damit rechnen, dass es hier einige Leute gibt, die gewisse Vorurteile gegen Sie entwickeln.“

„Verstehe ich.“

„Das war Ihre erste Nachtschicht seit – wann? – acht Monaten?“

„Neun.“

„Und es war die erste Schicht mit ihm, seit Sie beide sich getrennt haben?“

Sie nickte, trank mehr Wasser und stellte die Flasche auf den Boden. Er zog einen Block auf dem Schreibtisch näher an sich heran.

„Haben Sie schon die Identität des Fahrers?“, fragte sie. Es war vier Uhr morgens inzwischen – und sie fühlte, wie die Müdigkeit in ihre Knochen kroch. Nachdem sich das Adrenalin verflüchtigt hatte, empfand sie jeden Kontakt mit der Außenwelt als anstrengend und wollte nur noch schlafen.

Er bog den Schreibblock ein wenig, um seine Notizen lesen zu können.

„Derek Willis“, sagte er. „Zweiundzwanzig Jahre. Hatte einen gültigen Führerschein. Wohnhaft in Newark/New Jersey. Eine Haftstrafe – allerdings nur eine Bagatelle: Er hatte in einem geknackten Wagen eine Spritztour gemacht. Ansonsten warf der Computer nichts über ihn aus.“

„War auch der Wagen auf ihn angemeldet?“

„Nein, der Besitzer des Wagens ist ein Wendell Abernathy, ebenfalls aus Newark, ebenfalls ohne Eintrag im Strafregister.“

„Sind die Feds schon involviert?“

„Noch nicht.“

„Gut“, sagte sie.

„Kann sich aber schnell ändern. Hängt davon ab, was Boone ausbuddelt. Wenn er etwas Substantielles findet, wird er natürlich die Bundesbehörde informieren müssen.“

„In jedem Fall war dieser Willis kein Tourist, der mitten in der Nacht mit einer Tasche voller Waffen durch die Gegend fuhr.“

„Gehe ich auch nicht von aus.“

„Und was zum Teufel hatte er in dieser gottverlassenen Gegend überhaupt verloren? Wenn man auf dem Weg in den Süden ist, ist die Interstate die schnellste und unproblematischste Lösung.“

„Auf all diese Fragen werden wir hoffentlich schon bald eine Antwort bekommen.“

Sie trank noch mehr Wasser und massierte mit den Fingern ihre linke Schläfe.

„Wer kümmert sich um Ihren Junior?“, fragte er. „JoBeth. Sie übernachtet bei mir.“

„JoBeth Ryan?“

„Sie hat inzwischen den Führerschein. Macht die Sache für sie etwas einfacher.“

„JoBeth ist ein gutes Mädchen. Und ihr Vater ist ein guter Mann. Springt sie oft als Babysitter für Sie ein?“

„Sie kommt mit Danny gut klar. Er mag sie.“

„Wie geht’s ihm denn?“

„Er hat gute Tage und schlechte. Die Chemo hat ihm arg zugesetzt.“

„Haben Sie jemals wieder von seinem Vater gehört?“

Sie schüttelte den Kopf und schaute zur Seite.

„Sorry“, sagte er, „geht mich nichts an.“

„Kein Problem. Aber es gibt nichts zu erzählen. Wir wurschteln uns einfach durch. Geht ja nicht anders.“

„Das geht uns wohl allen so.“

„Haben sie sonst noch was im Wagen gefunden?“

„Bisher nicht. Howie hat ihn in der Werkstatt. Wir werden ihn morgen in seine Einzelteile zerlegen. Tut mir leid, Sara, ich hätte mir die Frage gerade verkneifen sollen.“

„Nicht der Rede wert. Was sagen die Mediziner?“

„Noch nicht allzu viel.“ Er klopfte mit dem Bleistift auf sein Knie – dankbar, dass sie nicht weiter auf das leidige Thema eingegangen war. „Drei Einschüsse, alle aus Billy Flynns Glock. Zwei im Brustkörper“ – er zeigte auf die Stelle an seiner eigenen Brust –, „einer auf der linken Seite. Dazu eine Austrittswunde auf dem Rücken. Sieht ganz so aus, als hätten sie bei den ersten Schüssen noch frontal zueinander gestanden – was für uns natürlich ein positiver Tatbestand ist. Als er zu Boden ging, drehte er sich um seine eigene Achse – was dann die dritte Kugel erklärt. Seine Waffe wurde nicht gefeuert, war aber geladen. Wir versuchen, Angehörige des Toten aufzutreiben. Ich erwarte auch den Rückruf eines Kollegen aus New Jersey, den ich zufällig kenne.“

Draußen am Fenster wurde es fast schon hell.

„Sie sollten sich vom Dienst abmelden und aufs Ohr legen“, sagte er.

Sie griff ihre Flasche, stand auf und spürte die Verspannung in ihren Knien. Sie blickte zu den anderen Räumlichkeiten des Reviers hinüber und sah, dass Angie, der nächtliche Dispatcher, sie von der gegenüberliegenden Seite beobachtete. Sara entgegnete den Blick ihrer wasserstoffblonden Kollegin, bis diese den Kopf wegdrehte.

„Sie haben Dienst von Montag bis Freitag, richtig?“

Sie nickte.

„Gut, dann haben Sie ja das Wochenende für sich. Wollen Sie Montag mit Ihrer Schicht wieder anfangen?“

Sie nickte erneut.

„Sie können aber auch gerne vierundzwanzig Stunden dranhängen. Wir finden schon einen Ersatz. Sagen Sie nur Laurel frühzeitig Bescheid.“

„Ich werde schon wieder auf Vordermann sein.“

„Das können Sie ja noch Sonntagabend entscheiden. Boone wird Sie sicher morgen anrufen – was bedeutet, dass Sie für das Interview reinkommen müssen.“

„Ich weiß.“

Sie streckte sich und drückte ihre Hände gegen das untere Rückgrat. Durch eine offene Tür konnte sie sehen, wie Billy mit Sam Elwood sprach, dem stellvertretenden Sheriff, der auch für interne Ermittlungen zuständig war. Billy saß in einem Stuhl neben Elwoods Schreibtisch – die Ellenbogen auf den Knien, den Kopf auf die Hände gestützt – und starrte auf den Boden. Das eigentliche Interview würde erst beginnen, wenn Boone und der Anwalt der Polizeigewerkschaft eingetroffen waren.

„Er wird momentan noch vom Adrenalin über Wasser gehalten“, sagte Hammond, „doch wenn das abfällt, wird es ihn voll treffen. Bis der Fall geklärt ist, geben wir ihm bezahlten Urlaub, um ihn dann langsam wieder in den Apparat einzuführen – am besten anfangs mit einem Schreibtischjob, um ihn langsam aufzubauen. Ich habe erlebt, wie ausgewachsene Männer auf einen derartigen Vorfall reagieren: Einige können damit umgehen, andere nicht.“

Sie beobachtete, wie sich Billy mit der Hand durchs Haar fuhr. Er sah wie ein kleiner Junge aus, der – resigniert und in sich zusammengesackt – auf seine gerechte Strafe wartet. Sie fühlte eine plötzliche Zuneigung für ihn und verspürte den Wunsch, ihn zu berühren, ihn zu trösten, ihm zu versichern, dass schon alles wieder in Ordnung kommen werde. Aber sie konnte nicht – und wollte es eigentlich auch nicht.

Als sie das Revier verließ, sah sie ihn noch einmal kurz durch die offene Tür von Elwoods Büro. Er schaute sie für einen langen Augenblick an und drehte erst seinen Kopf, als Elwood ihm eine Frage stellte.

Auf dem Weg zum Ausgang passierte sie auch die Funkzentrale. Angie nickte ihr zu, ohne ein Wort zu sprechen. Sara stieß die große Glastür auf und trat in den brandneuen Tag hinaus.

Sie lenkte ihren Chevy Blazer in die Einfahrt, parkte neben JoBeth’s Escort und stellte den Motor ab. Die Sonne lugte bereits über den Horizont, die Vögel zwitscherten – doch jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte wie Hölle.

Sie stieg aus, verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung, warf ihre Multifunktionstasche über die Schulter und ging über die Natursteine zur Haustür. Dannys Dreirad lag noch immer dort, wo er es gestern Abend liegengelassen hatte. Sie griff sich das Rad, vom Tau noch feucht, und stellte es neben den Eingang, damit niemand darüber stürzen würde.

JoBeth schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie hatte sich eine Wolldecke übergestreift, doch da sie auf der Seite lag, baumelte ihr linker Arm fast bis auf den Fußboden. Die TV-Fernbedienung und ihr Handy befanden sich gleich daneben, während ein wissenschaftliches Lehrbuch und ein Spiralheft auf dem Couchtisch lagen.

Es war angenehm kühl im Haus. Die Klimaanlage summte stoisch vor sich hin. Sara ließ ihre Tasche im Wohnzimmer liegen und ging über den Flur zu Dannys Zimmer. Die Tür stand halb offen. Er schlief mit dem Gesicht zur Wand, hatte sich in seine Nascar-Decke gekuschelt und einen grünen Stoff-Dino im Arm. An der Wand hing noch die Winnie-the-Pooh-Tapete, die sie aber bald austauschen wollte: Er war inzwischen einfach zu alt dafür. Auf eine Wand hatten sie eine Pappe mit verschiedenen Sternbildern geklebt, auf eine andere einen Zeitstrahl mit gemalten Dinosauriern, die in Reih und Glied über die ganze Wand marschierten.

Er war jetzt sechs Jahre alt und vergleichsweise klein für sein Alter. Die Haare waren kurz geschnitten – was aber nicht verbergen konnte, dass sie an einigen Stellen komplett ausgefallen waren. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete, wie er regelmäßig atmete. Ohne dass es ihr bewusst war, kam sie oft nachts an die Tür und versicherte sich, dass er noch immer unter den Lebenden weilte.

Dass du das alles durchmachen musstest ist einfach nicht fair. Aber manchmal, mein Junge, liebe ich dich so sehr, dass ich Angst habe, mein Herz könnte platzen. Und ich werde nie zulassen, dass irgendwer oder irgendwas dich von meiner Seite reißt.

Nach einer Weile raffte sie sich auf und ging zu ihrem Schlafzimmer am Ende des Gangs. Sie verstaute die Glock und das zusätzliche Magazin in ihrem kleinen Safe im Kleiderschrank, zog ihr grünes Diensthemd aus und riss die Velcro-Verschlüsse ihrer Weste auf. Das weiße T-Shirt darunter war völlig verschwitzt. Sie zog alles aus und ließ es achtlos auf den Boden fallen.

Im Badezimmer löste sie ihre Haare und drehte die Dusche auf. Als das Wasser endlich heiß war, kletterte sie hinein und postierte sich so, dass die heißen Strahlen besonders die verkrampften Muskelpartien bearbeiteten. Nach einer Weile merkte sie, wie sich die Spannung langsam löste. Sie drehte das Wasser ab, griff zum Handtuch und streifte sich anschließend T-Shirt und Jogginghose über. Sie nahm zwei Schmerzpillen und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter.

In der Küche holte sie zwei Zwanziger aus dem leeren Mehlbehälter, fand einen Briefumschlag, steckte das Geld hinein und schrieb vorne drauf: JoBeth, hatte eine verkürzte Schicht letzte Nacht. Kann aber sein, dass ich heute nochmal ins Revier muss. Melde mich. Nochmals Danke. S.

Barfuß ging sie ins Wohnzimmer. JoBeth schnarchte leise vor sich hin. Sara steckte den Briefumschlag ins Notizbuch und stellte sicher, dass die Haustür auch richtig geschlossen war. Danach ließ sich ihre körperliche Erschöpfung beim besten Willen nicht mehr ignorieren.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer überzeugte sie sich noch einmal, dass er wirklich schlief – und ließ dann ihre Tür halb offen, um jedes seiner Lebenszeichen hören zu können. Sie ließ sich ins Bett fallen und schlüpfte unter eine dünne Decke. Da die Sonne einen Weg durch die Jalousien fand, war es im Zimmer bereits hell. Sie überlegte, ob sie noch einmal aufstehen sollte, um die schweren Vorhänge zuzuziehen, doch ihr Körper lehnte alle weiteren Aktivitäten ab.

Als sie die Augen schloss, sah sie rotierende rot-blaue Lichter und eine dunkle Gestalt, die in unnatürlicher Position auf einem feuchten Grasfleck lag. Der Kopf löste sich langsam vom Boden und drehte sich zu ihr um. Derek Willis schaute ihr direkt in die Augen und sagte nur ein Wort: Warum?

Sie verbannte die Szene aus ihrem Hirn, drehte sich auf die andere Seite und zog ein zweites Kissen an sich heran. Sie nahm es fest in beide Arme und fiel in einen traumlosen Schlaf.

2

Ein paar verlorene Schneeflocken trieben durch die Straßen – es war gerade erst Ende Oktober –, als Morgan seinen klapprigen Chevy Monte Carlo in die Lyons Avenue dirigierte. Die ausgebrannten Brownstone-Häuser gehörten hier ebenso zum Stadtbild wie die verlassenen Autowracks, die bis aufs Skelett ausgenommen worden waren. Als er an einer Baulücke vorbeikam, sah er zwei Männer, die an dem Feuer standen, das sie sich in einer der alten, 200 Liter fassenden Öltonnen gemacht hatten. Sie schauten ihm aufmerksam nach, als er an ihnen vorbeifuhr.

An der nächsten Straßenecke stand ein provisorisches Altärchen, das vor einem Telefonmast aufgebaut worden war. Er sah ein paar flackernde Kerzen, einen Teddybären sowie ein weißes T-Shirt, das an den Holzmast genagelt war. Irgendetwas war darauf geschrieben, doch er konnte es aus der Entfernung nicht entziffern.

Auf der Kassette lief „I Miss You“ von Harold Melvin and the Blue Notes – die lange Version –, doch er hielt es instinktiv für angebracht, die Lautstärke nun zu reduzieren. Er bog langsam in eine Seitenstraße ein und schaute sich die Häuser genauer an. Das gesuchte Brownstone – die einst großzügigen Fenster mit billigem Sperrholz vernagelt – war schräg vor ihm auf der linken Seite.

Er rollte mit seinem ratternden Auspuff langsam vorbei, schaute sich die desolate Fassade an und registrierte die visuellen Duftmarken, die rivalisierende Gangs auf dem Sperrholz hinterlassen hatten. Hoffentlich hatten sie nicht auch noch einen Hund im Haus.

Er fuhr einen Block weiter, drehte und parkte vor einer leeren Schaufensterfront. Als er den Motor abstellte, produzierten die acht Zylinder noch ein paar Fehlzündungen, gaben dann aber Ruhe.

Seine Augen noch immer aufs Haus gerichtet, griff er in seinen Ledermantel und holte eine Flasche Vicodin heraus. Er spürte noch immer die Schmerzen auf der rechten Seite, direkt unter den Rippen. Sie meldeten sich immer zurück, wenn er Stress hatte. Er schüttelte eine Pille heraus, brach sie in zwei Teile, legte eine Hälfte auf die Zunge und schluckte sie runter. Als er sein Gesicht zufällig im Rückspiegel sah, zuckte er zusammen. Sein Gesicht war schmaler geworden und das Haar so grau, dass man es nur noch als aschgrau bezeichnen konnte.

Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Er steckte die andere Hälfte der Pille wieder in die Flasche, die Flasche in den Mantel und öffnete die Tür.

Als er ausstieg, meldete sich umgehend die Arthritis in seinen Hüften zu Wort. Wenn es so frühzeitig kalt wurde, durfte man sich auf einen brutalen Winter einstellen. Er schloss seinen Wagen ab, schaute nach links und rechts, sah aber keine Menschenseele. Alle Häuser hier waren von der Stadtverwaltung als abbruchreif klassifiziert worden, doch die mehrfach versprochene Sanierung war immer nur ein Versprechen geblieben. Die einzigen Leute, die hier lebten, waren Hausbesetzer – junge Drogensüchtige und alte Schnapsleichen, die sich bei Einbruch des Winters ein warmes Plätzchen suchten.

Es war noch früh an diesem kaltgrauen Nachmittag, sein Atem fror bereits in der Luft. Seinen Baumwollhandschuhen zum Trotz hatte er kalte Hände. Als er auf das Haus zuging, knirschten zerborstene Flaschen und Crack-Phiolen unter seinen Stiefeln. In diesem Teil der Stadt waren die Straßen mit Scherben übersät.

Er hielt vor dem Haus an. Es hatte drei Stockwerke und war einmal der Stolz eines wohlhabenden weißen Mannes gewesen. Der verwilderte Vorgarten war winzig, die Treppe hinauf zur vernagelten Tür zerfallen. Ein elektrisches Verlängerungskabel führte von einem Fenster im ersten Stock zum Nachbarhaus.

Er holte sein Handy heraus und öffnete das Kurzwahl-Display. Rohan antwortete nach dem ersten Klingeln.

„Yo.“

„Morgan hier. Wie komm ich denn rein in dieses gottverdammte Haus?“

„Du bist früh dran, Mann. An der Seite des Hauses gibt’s eine Tür.“

Morgan ging ums Haus und passierte einen kleinen Garten. Eine Vogeltränke, in ihre Einzelteile zerfallen, lag achtlos im Unkraut. Er sah die Tür, die in diesem Moment auch prompt von innen geöffnet wurde. Im Ein gang stand ein pummeliger Teenager – vierzehn, fünfzehn Jahre alt – in einer roten North Face-Jacke und Schlabberjeans. Unter der Jacke trug er ein schwarzes T-Shirt mit den roten Worten STOP Snitching. Morgan schaute an ihm vorbei ins Innere des Hauses.

„Habt ihr einen Hund hier?“

„Einen was?“

„Hund. Einen Pitbull oder sowas?“

„Nein Mann, hier gibt’s keine Hunde.“

Morgan ging in eine große, kahle Küche, in der alle Anschlüsse aus der Wand gerissen waren. Die Decke, mit Wasserflecken übersät, hing bereits durch und machte den Eindruck, als könne sie jeden Moment runterknallen.

Der Junge schloss die Tür hinter ihm wieder ab. Zwei Sicherungsbolzen und ein massiver Riegelverschluss, der im Fußboden verankert war. Alles nagelneu.

„Wart mal“, sagte der Junge.

Morgan drehte sich um und hob die Arme. Der Junge tastete ihn unter dem Mantel sorgfältig ab, ging dann auf die Knie und untersuchte die Hosenbeine. Zum Abschluss glitt er mit beiden Händen über den Mantel, fühlte die Flasche mit Pillen und holte sie heraus.

„Was sind das denn für Dinger?“

„Das sind meine“, sagte Morgan.

Der Junge schüttelte die Flasche und steckte sie wieder in Morgans Tasche. Er nickte zum Flur. „Alles klar.“

Durch den Flur kam Morgan zu einer alten Holztreppe, deren Geländer bereits arg lückenhaft geworden war. Diverse Verlängerungskabel – allesamt Profiqualität – schlängelten sich die Stufen hinunter und verschwanden dann hinter der Treppe. Morgan folgte ihnen, bis er in ein Wohnzimmer trat.

Rohan saß auf einem alten Sofa in der Mitte des Raums und hantierte mit ein paar Utensilien, die auf einem klapprigen Couchtisch vor ihm lagen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt einer Zigarre, die er gerade mit einer Rasierklinge aushöhlte. Ein Plastikbeutel mit Marihuana lag gleich daneben. Eine Stehlampe neben dem Tisch lieferte das einzige Licht. Ein elektrisches Heizöfchen glühte in der Ecke.

„Ihr Jungs lebt hier?“, fragte Morgan. „Das ist doch nicht euer Ernst.“

Rohan schaute nicht auf. Mit dem Handrücken wischte er den Tabak vom Tisch und stopfte das Gras in den Blunt.

„Nein, Mann, das ist nur der Laden“, sagte er. „Hier machen wir die Geschäfte.“

Er war Mitte Zwanzig und trug die identische North Face-Jacke, ein weißes Basketballhemd darunter, schwarze Jeans und Timberlands. Seine langen Haare waren in Braids geflochten. An seinem Hals sah Morgan ein Tattoo mit drei Tatzen. Ein verchromter Revolver lag auf einem Kissen zu seiner Rechten.

Der Junge drängte sich an Morgan vorbei und postierte sich neben den Heizkörper, der vor dem alten Kaminsims stand. Er spreizte die Beine und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Hüfte konnte Morgan den Kolben eines Revolvers sehen.

Rohan feuchtete die aufgeschlitzten Zigarrenblätter mit seiner Zunge an und presste sie zusammen, sah sich sein Kunstwerk an und leckte noch einmal. Er nahm ein Feuerzeug vom Tisch und fuhr mit der Flamme solange an den feuchten Blättern entlang, bis die Kante versiegelt war.

„Wie alt bist du denn?“, fragte der Junge.

Morgan schaute ihn an. „Was geht dich das an?“

„Frag ja nur.“

„In der guten alten Zeit mischte Morgan ganz vorne mit“, sagte Rohan. „Ein Gangster der alten Schule.“ Er schaute zum ersten Mal hoch. „Er war der trouble man, wie er im Buche steht – oder im gleichnamigen Film sogar zu sehen ist.“ Er schaute den Jungen an. „Hast du den Film je gesehen, Raj? Mit dem Soundtrack von Marvin Gaye? Wie der Bursche mit seinem Lincoln Continental durch die Gegend rollt und überall die Kacke ans Dampfen bringt?“

„Fehlanzeige.“ Raj schüttelte den Kopf.

Rohan zündete den torpedoähnlichen Blunt mit dem Feuerzeug an, sog den Rauch tief ein und reichte den Joint gleich weiter. Raj nahm ihn, inhalierte und reichte ihn umgehend zurück. Der beißende Geruch breitete sich schnell im ganzen Zimmer aus. Rohan blies eine volle Ladung zur Seite aus und hielt den Joint in Morgans Richtung. Morgan schüttelte den Kopf.

„Das ist Mörderstoff“, sagte Rohan, „nicht der Kinderkram, mit dem Mikey-Mike dieser Tage die Menschheit beglückt.“

„Aus welcher Quelle kommt denn der Stoff “, fragte Morgan.

Rohan zuckte mit den Schultern und reichte den Joint wieder an Raj.

„Wir leben eben in der freien Marktwirtschaft“, sagte Rohan. „Wenn das Produkt nichts taugt oder der Preis nicht stimmt, geht der Kunde halt woanders shoppen. Alle wissen doch, dass Mikeys Stoff nichts mehr taugt, seit die Kolumbianer in den Bau wanderten. Sein Coke ist genauso mies. Und das H auch. Und irgendwann rächt sich so was. Er kratzt nur noch minderwertigen Scheiß zusammen – und alle auf der Straße wissen es.“

„Das war ein Engpass, der bald behoben sein wird.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Beim letzten Mal kam er auch nicht mit Nachschub rüber, wenn ich mich recht erinnere. Ich hab weiß Gott viel von seinem Stoff unters Volk gebracht – und wir haben uns dumm und dusselig verdient. Aber damals war sein Zeug auch noch gut, während heute der Wind aus einer anderen Ecke pfeift.“ Raj reichte den Blunt zurück – und Rohan legte ihn zum Abkühlen auf die Tischkante.

„Er weiß genau, dass nicht alles optimal lief in letzter Zeit“, sagte Morgan, „aber er wird die Sache auch wieder ins Lot bringen. Er hat exzellente neue Kontakte – was bedeutet, dass schon bald wieder exzellenter Stoff auf den Tisch kommt.“

„Wenn er das macht, können wir reden. Wenn der Shit gut ist, machen wir wieder Geschäfte. Wenn nicht, dann eben nicht. So laufen die Sachen nun mal.“

„Ihr beiden wart doch wie Pech und Schwefel“, sagte Morgan. „Wenn es sich weiter rumspricht, dass ihr nicht mehr an einem Strang zieht, ist niemandem damit gedient.“

„Willst du mir etwa das Lied von der Loyalität singen? Es geht nur ums Produkt. Es ist schon schwer genug, momentan über die Runden zu kommen. Man will schließlich nicht irgendeinen Scheiß an den Mann bringen, man will den Leuten kein Geld dafür abnehmen – und dann auch noch meinen, dass sie dir die Füße küssen. Meine Leute haben auch einen Ruf zu verteidigen – und ich hab so was wie eine Verantwortung für sie.“

„Versteh ich ja alles. Mikey hat mir eine Kostprobe von dem neuen Stoff mitgegeben. Bläute mir ein, dass du’s unbedingt auschecken sollst.“

Rohan schaute zu Raj, dann zurück zu Morgan. „Warum machst du’s so spannend? Damit hättest du doch gleich rausrücken können.“

Raj lachte. „Ja, nun zeig uns endlich den Scheiß.“

Morgan schenkte ihm einen vernichtenden Blick, doch Raj ließ sich nicht bluffen und schaute ihm fest in die Augen.

„Morgan hat eben noch immer die alten Sprüche drauf“, sagte Rohan. „Ich kann mich noch gut an den Jive von damals erinnern: Like it is, brother, like it is. Wo hast du denn den Scheiß?“

„Im Auto. Ein Stück die Straße hoch. Du probierst es – und wenn’s dir gefällt, kommt mehr davon. Wenn nicht, ist der Fall abgeschlossen.“

„Hast du etwa noch immer deine alte Hämorriden-Schleuder? Ein Cutlass – oder was war’s?“

„Monte Carlo.“

„Du solltest Mikey mal ernsthaft ins Gebet nehmen. Er sollte dir eine neue Karre spendieren. Mit deiner Gurke kannst du dich doch nirgendwo mehr blicken lassen.“

Morgan ging durch den Flur wieder zur Küche, sah einen grauen Schatten über den Boden huschen und in der offenstehenden Vorratskammer verschwinden. Ratte.

Raj kam hinter ihm und begann die diversen Schlösser zu entriegeln.

„Bin in einer Minute zurück“, sagte Morgan.

„Kann ich dir auch nur empfehlen.“

Morgan ging durch den Garten zurück auf die Straße. Sein Monte Carlo war genau einen Block entfernt. Die Straße war nach wie vor menschenleer. Er ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Raj stand vor dem Hauseingang und schaute ihm nach, verlor ihn aber kurzfristig aus den Augen, da Morgan hinter der hochgeklappten Kofferraumhaube stand.

Morgan griff in eine Army-Decke und zog seine Beretta heraus. Obwohl er Handschuhe trug, lag die Waffe wie ein eiskalter Klumpen in seiner Hand. Er steckte sie in seine rechte Manteltasche und griff dann nach einer Papiertüte, die im Radkasten versteckt war. In der Papiertüte befand sich ein Plastikbeutel mit dem Marihuana. Morgan steckte das Gras in seine linke Manteltasche und schloss den Kofferraum.

Die vereinzelten Schneeflocken, die inzwischen dicker und feuchter waren, wurden vom Wind durch die Straße getrieben. Ein paar lose Seiten einer Zeitung, die durch die Abflussrinne wirbelten, wickelten sich um sein Bein. Morgan streifte sie ab und ließ sie vom Winde verwehen. Mit beiden Händen in den Taschen ging er zurück zu dem Haus. Er spürte das Gewicht der Beretta in seiner Tasche.

Die Schmerzen und Beschwerden, die ihn noch vor wenigen Minuten geplagt hatten, waren mit einem Mal wie weggeblasen. Als er wieder in den Garten bog, trat Raj zur Seite und ließ ihn passieren.

Zurück im Haus, holte Morgan den Plastikbeutel aus der Tasche. Raj nahm ihn an sich, schloss die Tür und verriegelte die Schlösser. Er hielt den Beutel vor seine Augen und schüttelte ihn kräftig durch.

„Sieht genauso aus wie der alte Scheiß“, sagte er.

„Testet es an. Dann sehen wir weiter.“

Sie traten in den Flur, Raj vorweg. Morgan ließ ihn ein paar Schritte gehen, zog seine Beretta und sagte „Yo“.

Der Junge drehte sich um und sah den Revolver. Morgan schoss ihm zwei Mal in die Brust. Die beiden Schüsse, die im engen Flur wie ausgewachsene Detonationen klangen, drückten den Jungen gegen die Wand. Aus den Austrittswunden spritzte das Blut. Morgan stieg zügig über den zusammensackenden Körper und ging Richtung Wohnzimmer.

Rohan, Revolver in der Hand, war bereits vom Sofa aufgesprungen. Morgan drückte ab und traf ihn in der linken Schulter. Rohans Beine verdrehten sich und gaben nach. Er stürzte auf die Kante des Kaffeetisches, während sein Revolver zurück aufs Sofa flog.

Morgan stieß den Tisch zur Seite und richtete die Beretta auf ihn. Rohan rollte auf seine andere Seite und schnappte nach Luft. Er hielt eine Hand in die Höhe, als wolle er einen weiteren Schuss damit abwehren.

„Cash“, sagte Morgan.

„Im Kamin. Da oben. Der Stoff auch.“

Morgan ging zum Kamin, behielt Rohan aber stets im Auge. Er steckte seine linke Hand in den Abzug und fühlte den Filter der Rauchabzug-Klappe. Er drückte sie nach oben, bis er mit den Fingern ein weiches, filzartiges Material berührte. Es war ein Rucksack aus Segeltuch. Er machte einen satten Bums, als Morgan ihn auf den Boden fallen ließ.

„Es ist alles da drin“, sagte Rohan. „Nimm ihn mit.“ Morgan ging mit einem Knie zu Boden und öffnete den Reißverschluss. Geldstapel in Banderolen, ein zum Straßenverkauf vorbereitetes G-Pack mit Mini-Portionen Coke oder H im Wert von eintausend Dollar. Morgan schüttete alles auf den Boden. Rohan hatte seine ausgestreckte Hand zurückgezogen und drückte damit auf seine blutende Schulter. Das weiße Shirt unter seiner Jacke hatte sich bereits rot verfärbt.

Morgan stand wieder auf, richtete die Beretta auf ihn und legte den Finger um den gekrümmten Abzug. Er nickte zum Sofa hinüber. „Wenn du noch einen Versuch unternehmen möchtest, das Ding zu benutzen, wäre der Zeitpunkt wohl jetzt gekommen, mein Sohn.“

Rohan schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die leiseste Absicht, irgendetwas zu benutzen.“

„Auch gut“, sagte Morgan und drückte dreimal ab. Die leeren Hülsen fielen zu Boden, ein paar Fasern aus Rohans gefütterter Jacke flogen durch die Luft.

Morgan schob die Geldbündel wieder in den Rucksack und hob ihn hoch, ließ das G-Pack aber auf dem Boden liegen. Eine Belohnung für den Glücklichen, der die Leichen finden würde.

Er steckte seine Beretta in die Tasche und machte sich auf die Suche nach den Patronenhülsen. Bei der letzten tat er sich etwas schwerer, fand sie dann aber doch unter dem Sofa. Während er wieder aufstand, keuchte er heftig.

Als er mit seiner Arbeit zufrieden war, ging er zurück zum Flur und fand auch dort die gesuchten Hülsen. Raj bewegte sich nicht, doch auf seinen Lippen bildeten sich kleine Bläschen. Offensichtlich atmete er noch. Morgan sah, dass sich sein Brustkörper unter dem blutigen T-Shirt noch immer unmerklich hob und senkte.

Morgan ließ ihn liegen, öffnete die Riegel in der Küche und zog die Tür hinter sich zu. Auf der Straße, noch immer totenstill, blies ihm der Wind ins Gesicht. Er ging zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und warf den Rucksack hinein. Als er losfuhr, lief die Kassette weiter. Noch immer Teddy Pendergrass, der seine verflossene Flamme beschwört, dass er diesmal wirklich ein neuer Mann sei.

Morgan bog rechts auf die Lyons Avenue und machte sich auf den Rückweg nach Newark. An der nächsten Kreuzung trat eine Schülerlotsin mit blauer Uniform und orangefarbener Weste auf die Straße. Sie hatte ein unübersehbares STOP-Zeichen in der Hand.

Nachdem er gebremst hatte, postierte sich die Lotsin auf der Mitte der Straße und winkte die Kinder hinüber. Vierte oder fünfte Klasse, schätzte er. Die Mädchen hatten Schleifchen im Haar, trugen bereits ihre Wintermäntel und rosarote Ranzen aus Vinyl auf dem Rücken. Die Jungs rannten als erste hinüber, lachten und waren bester Laune.

Ganz zum Schluss kam ein Mädel, das nicht älter war als Neun oder Zehn. Sie drehte sich um, schaute Morgan durch die Windschutzscheibe an und verzog dabei keine Miene.

Schau mich nicht so an, kleines Mädchen, dachte er. Ich weiß, was ich getan habe.

Die Schülerlotsin ermahnte sie zur Eile und lächelte Morgan entschuldigend an. Er grüßte mit der Hand zurück und nahm die Fahrt wieder auf.

Der Schnee, den der Wind gegen die Scheibe blies, war inzwischen nass und blieb auf dem Glas haften. Er schaltete die Scheibenwischer an, verfolgte für einen Moment den dumpfen Takt der Wischblätter, drehte dann aber lieber die Musik etwas lauter. Teddy war noch immer am Jammern: Miss you, miss you, miss you.

3

Er saß am Tresen der Tiger Tail-Bar, als sie ihn sah. Ein Schnapsglas und ein Heineken standen vor ihm, Johnny Cashs „Folsom Prison Blues“ ertönte aus der Jukebox.

„Die Nummer geht garantiert auf dein Konto“, sagte sie. „Stimmt’s?“

Er drehte sich um. „Hey, Sara.“

Sie setzte sich auf den Barhocker neben ihn. Althea, die Barfrau, hatte sie erkannt und kam näher.

„N’Abend, Deputy Cross. Ein Guinness?“

„Bitte.“

Billy nippte an seiner Flasche und spielte mit dem leeren Schnapsglas.

„Was war das denn?“, fragte Sara.

„Peppermint Schnapps.“

„Ich dachte, dass das nur Kinder trinken.“

„Ja, ziemlich schlimmes Zeugs. Aber es erfüllt seinen Zweck.“

Althea kam mit einem Pint Guinness zurück. Billy schob einen nassen Zwanzig-Dollar-Schein über den Tresen. Althea nahm ihn und verschwand.

„Kaum zu glauben, dass du noch immer auf den Beinen bist“, sagte Sara. „Hast du heute überhaupt ein Auge zugemacht?“

„Ein bisschen.“

Althea brachte das Wechselgeld. Das Guinness war kälter, als es Sara lieb war, aber definitiv dunkel und stark. Für eine Weile hatte sie Gefallen an den „Black and Tans“ gefunden, Guinness gemischt mit hellerem Bier. Doch inzwischen griff sie eher selten zum Glas – und wenn sie’s denn tat, konnte ihr das Bier nicht dunkel genug sein. Die Männer, die sie kennenlernte, schienen von Frauen mit einer derartigen Vorliebe wohl nie gehört zu haben.

„Haben sie dich heute Morgen zur Schnecke gemacht?“, fragte sie.

„Boone von der hiesigen Staatsanwaltschaft ist eigentlich ganz okay. Wusstest du, dass er hier in der Gegend mal als Deputy gearbeitet hat?“

„Nein.“

„Ja, er musste ganz unten auf der Leiter anfangen – genau wie du und ich. Unter Hammond schaffte er’s bis zum Deputy. Als Winston sich damals als Generalstaatsanwalt bewarb, sorgte Hammond dafür, dass viele Leute bei seinem Namen das Kreuzchen machten. Sollte er gewinnen, musste Winston dann im Gegenzug Boone übernehmen. Aber das sind alles Geschichten, die wohl vor deiner Zeit passierten.“

„War es denn ein Schritt auf der Karriereleiter – oder wollte Hammond ihn bloß loswerden?“

„Vielleicht ein bisschen von beidem. Boone ist schon ein Guter, nur vielleicht etwas …“, er trank einen Schluck Bier, „überambitioniert. Er und Elwood machten das Interview zusammen. Alles auf Video.“

„Wer verfasst denn den Report?“

„Boone, schätze ich.“

„Und, was hat er gesagt?“

„Dass es unvermeidliche Schüsse waren. Was sollen sie auch sonst sagen? Sie waren unvermeidlich. Was sie ein bisschen nervt, ist die Tatsache, dass ich der Schütze, aber auch der einzige Augenzeuge bin – zumindest der einzige, der noch lebt. Haben sie mit dir auch schon gesprochen?“ „Nein, aber Elwood rief mich an. Ich treffe sie morgen. Obwohl ich natürlich nur das zu Protokoll geben kann, was ich nach meinem Eintreffen sah.“

„Tut mir leid.“

„Was muss dir da leidtun?“

„Dass es gerade dich erwischt hat. Ich wusste nicht mal, dass du Dienst hattest.“